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Julien Offray de La Mettrie Der Mensch eine Maschine (L'homme plus que machine) Philosophie von Platon bis Nietzsche

Julien Offray de La Mettrie - Monoskop · welches die Liebe zur Wahrheit entflammt, sich ... Neue schafft, indem sie eine Idee mit der Spur einer ähnlichen verbindet, damit aus ihrer

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21.000 La Mettrie-Masch., 9La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Julien Offray de La Mettrie

Der Mensch eine Maschine

(L'homme plus que machine)

Philosophie von Platon bis Nietzsche

21.001 La Mettrie-Masch., 9La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Herrn Haller, Prof. der Medizin in Göttingen.1

Es ist keine Zueignungsschrift, die ich hier an Sierichte; Sie sind über alles Lob erhaben, das ich Ihnenertheilen könnte, und ich weiss nichts Unnützeres undFaderes als eine sogenannte akademische Rede. Auchwill ich keine Auseinandersetzung der neuen Methodebringen, die ich befolgt habe, um einen oft wiederhol-ten und erschöpften Gegenstand wieder aufzunehmen.Sie werden dieses Verdienst wenigstens selbst heraus-finden und im Uebrigen beurtheilen, ob Ihr Schülerund Freund seine Lehrzeit wohl verwendet hat. Nurvon dem Vergnügen will ich reden, das ich bei Abfas-sung dieses Werkes empfunden, mich selbst, nichtmein Buch Ihnen weihen, um mich über die Beschaf-fenheit jenes erhabenen Wohlgefühls aufzuklären,welches die Forschung gewährt. Dies ist der Gegen-stand meines Vorworts. Ich wäre nicht der ersteSchriftsteller, der, weil er nichts zu sagen weiss undder Unfruchtbarkeit seiner Phantasie zu Hilfe kom-men möchte, ein Thema wählt, bei dem es niemalsderselben bedurft hat. - Sagen Sie mir also, Apollo'szwiefacher Sohn, berühmter Schweizer und modernerZertrümmerer, die Sie Alles zugleich verstehn: dieNatur zu messen und, was noch mehr ist, sie zu emp-finden, ja sogar sie auszudrücken; sagen Sie mir,

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21.002 La Mettrie-Masch., 10La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

gelehrter Arzt und noch grösserer Dichter, durch wel-chen Zauber das Studium Stunden in Augenblickeverwandeln kann: erklären Sie mir das Wesen dieserGeistesvergnügungen, die sich von den gewöhnlichenso sehr unterscheiden..... Aber die Lectüre Ihrer eige-nen reizenden Dichtungen hat mich selbst damit zusehr erfüllt, als dass ich nicht versuchen sollte zusagen, was sie mir eingeflösst haben. Der Mensch hat,unter einem solchen Gesichtspunkt betrachtet, nichtsmeinem Gegenstände Fremdartiges.

Die Wollust der Sinne, so lieblich und begehrt siesein mag, so viel Lob ihr auch die offenbar ebensodankbare als feine Feder eines jungen französischenArztes ertheilt hat, gewährt nur einen einzigen Ge-nuss, der zugleich ihr Grab ist. Wenn ihn das völligeVergnügen nicht ganz und gar tödtet, so bedarf erdoch einer gewissen Zeit, um wiederzuerwachen. Wieganz anders die Quellen der geistigen Vergnügungen!Je näher man der Wahrheit kommt, desto reizenderfindet man sie. Ihr Genuss vermehrt nicht nur dasVerlangen, sondern man geniesst schon, sobald manzu gemessen strebt. Man geniesst lange und doch ra-scher als der Blitz vorüberfährt. Darf man sich auchwundern, dass das Vergnügen des Geistes dem derSinne in gleichem Masse überlegen ist, als der Geistdem Körper? Ist nicht der Geist der oberste Sinn, derSammelplatz aller Wahrnehmungen? Münden sie

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21.003 La Mettrie-Masch., 11La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

nicht alle in ihn, wie Strahlen in einen Mittelpunkt,der sie hervorbringt? Suchen wir also nicht länger denunwiderstehlichen Zauber, durch welchen ein Herz,welches die Liebe zur Wahrheit entflammt, sichplötzlich gleichsam in eine schönere Welt versetztfühlt, wo es Götterfreuden schmeckt. Von allen An-ziehungen der Natur ist die stärkste, wenigstens füruns beide, mein lieber Haller, die der Philosophie.Welch schönem Ruhm giebt es, als in ihren Tempeldurch die Vernunft und die Weisheit geführt zu wer-den! Welche ehrenvollere Eroberung, als sieh alleGeister zu unterwerfen!

Lassen wir an uns vorüberziehn alle Gegenständejener Freuden, die den gemeinen Seelen unbekanntsind. Wie schön und umfassend sind sie! Zeit, Raumund Unendlichkeit, Erde, Meer und Firmament, alleKünste und Wissenschaften geben ihren Beitrag zudieser Art von Genuss. Ihm genügt nicht die engeSchranke dieser Welt, er ersinnt sich Millionen ande-re. Die ganze Natur ist seine Nahrung und die Phanta-sie sein Triumph. Betrachten wir Einzelnes.

Bald ist es die Dichtkunst oder die Malerei, balddie Musik oder die Baukunst, der Gesang, der Tanzu.s.w., welche dem Kenner entzückende Freuden be-reiten. Siehe dort die Delbar (Piron's Frau) in einerOpernloge; abwechselnd bleich und roth schlägt siemit Rebel den Takt, geräth mit Roland in Wuth und

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21.004 La Mettrie-Masch., 11La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

wird gerührt mit Iphigenien. Alle Eindrücke des Or-chesters zeichnen sich auf ihrem Antlitze, wie aufLeinwand. Ihre Augen besänftigen sich und ersterben,lachen und bewaffnen sich mit kriegerischem Muthe.Man hält sie für närrisch. Aber sie ist es nicht, manmüsste denn Empfinden des Vergnügens Narrheitnennen. Sie ist nur von tausend Schönheiten durch-drungen, die mir entgehn.

Voltaire vermag sich bei seiner Merope der Thrä-nen nicht zu enthalten; weil er sowohl des Werkes alsder Künstlerin Werth zu ermessen weiss. Sie habenseine Schriften gelesen, während er zu seinem Un-glück die Ihrigen nicht zu lesen im Stande ist. In wes-sen Händen und Gedächtniss findet sie sich nicht?Wessen Herz wäre so hart, von ihnen nicht gerührt zuwerden, und wie sollte sich sein Geschmack nicht An-deren mittheilen? Er spricht mit Entzücken hiervon.

Wenn ein grosser Maler - ich habe es erst jüngstmit Vergnügen bemerkt, als ich die Vorrede zum Ri-chardson las - von der Malerei spricht, wie grossesLob ertheilt er ihr nicht! Er betet seine Kunst an, ersetzt sie über Alles und zweifelt beinahe, dass manglücklich sein könne ohne Maler zu sein. So sehr ister von seiner Kunst bezaubert.

Wer hat nicht eine ähnliche Empfindung desGlückes wie Skaliger oder der ältere Malebrancheverspürt, wenn er schöne Stellen aus griechischen,

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21.005 La Mettrie-Masch., 12La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

englischen oder französischen Tragikern oder gewissephilosophische Werke las ? Die Dacier hatte nie aufdas gerechnet, was ihr Gatte ihr versprach, und siefand hundertmal mehr. Wenn man schon eine Art Be-geisterung beim Uebersetzen und Entwickeln der Ge-danken Anderer empfindet, was dann erst, wenn manselbst denkt? Was bietet dann jenes Hervorbringenund Erzeugen von Ideen, welche durch den Ge-schmack an der Natur und durch das Forschen nachWahrheit erweckt werden? Wie soll man jenen Aktdes Willens oder des Gedächtnisses beschreiben,durch welchen die Seele sich gewissermassen auf'sNeue schafft, indem sie eine Idee mit der Spur einerähnlichen verbindet, damit aus ihrer Uebereinstim-mung und Verknüpfung eine dritte sich bilde? Dennwunderbar ist die Schöpfungsweise der Natur. Sie istso gleichförmig, dass ihre Gebilde fast alle auf diesel-be Art entstehen.

Die Vergnügungen der Sinne verlieren, wenn sieohne Zucht bleiben, ihre ganze Lebendigkeit und sinddann keine Vergnügungen mehr. Hierin gleichenihnen die Freuden des Geistes bis auf einen gewissenGrad. Auch sie muss man zeitweise aussetzen, um siezu kräftigen. Mit einem Wort: die wissenschaftlicheForschung hat ihre Höhepunkte wie die Liebe. Auchden Geist ergreift in solchen Augenblicken, wenn ichmich so ausdrücken darf, eine Starrheit und

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21.006 La Mettrie-Masch., 13La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Regungslosigkeit, bei welcher ihn der Gegenstand,der ihn erfasst und entzückt, so wonnetrunken macht,dass er in Gedanken von seinem eignen Körper undvon Allem, was ihn umgibt, losgelöst scheint, umganz und gar dem anzugehören, was er verfolgt.Durch vieles Empfinden empfindet er nichts. So grossist das Vergnügen, welches man hat, wenn man dieWahrheit sucht oder findet. Von der Macht ihrerReize gibt uns die Extase des Archimedes ein Bei-spiel; bekanntlich kostete sie ihm das Leben.

Mögen die andern Menschen sich in das Gewühlstürzen, um sich nicht kennen zu lernen oder um sichgar zu hassen: der Weise flieht die grosse Welt undsucht die Einsamkeit. Warum gefällt er sich nur, wenner mit sich oder mit seines Gleichen allein ist? Weil erin seiner Seele einen treuen Spiegel besitzt, in wel-chem seine gerechte Selbstliebe ihre Rechnung durchSelbstbetrachtung findet. Wer tugendhaft ist, hat vonseiner Selbsterkenntniss keine andere Gefahr zufürchten, als die angenehme, dass er sich lieben lernt.

Wie in den Augen eines Menschen, der die Erdevon der Höhe des Himmels aus betrachtet, alle Grösseder übrigen Menschen verschwinden, die stolzestenPaläste sich in Hütten wandeln und die stärksten Ar-meen einem Ameisenhaufen gleichen würden, der sichmit der lächerlichsten Wuth im Kampfe um ein Ge-treidekörnchen befindet, so erscheinen die Dinge

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21.007 La Mettrie-Masch., 13La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

einem Weisen, wie Sie es sind. Er lacht über die ei-teln Bemühungen der Menschen, wenn sie durch ihreMenge die Erde versperren und sich um ein Nichts,das mit Recht keinen von ihnen befriedigt, drängenund stossen.

Wie erhaben tritt Pope in seinem Versuche überden Menschen auf. Wie klein erscheinen vor ihm dieGrossen, die Könige. Sie, mein Lehrer und noch mehrmein Freund, der von der Natur dieselbe Kraft desGeistes erhalten aber nicht gebraucht hat und ob sei-ner Undankbarkeit nicht verdiente, einen so hohenRang in der Wissenschaft einzunehmen, Sie lehrtenmich, gleich jenem grossen Dichter zu lachen oder zuseufzen über das Spielwerk und die Kleinigkeiten,welche die Monarchen so ernstlich beschäftigen.Ihnen allein verdanke ich all mein Glück. Nein, dieEroberung der ganzen Welt wiegt das Vergnügennicht auf, welches der Philosoph in seinem Cabinetempfindet, wenn er von seinen stummen Freundenumgeben ist, die ihm Alles sagen, was er zu hörenwünscht. Möge mir Gott nur das Unentbehrliche unddie Gesundheit lassen, das ist Alles, was ich von ihmverlange. Mit der Gesundheit wird mein Herz ohneWiderwillen das Leben lieben; mit dem Unentbehrli-chen wird mein Geist stets zufrieden die Weisheitpflegen.

Ja, das Studium ist ein Vergnügen jedes Alters,Philosophie von Platon bis Nietzsche

21.008 La Mettrie-Masch., 14La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

jedes Ortes, jeder Jahreszeit und jedes Augenblickes.In wem hat Cicero nicht die Lust nach solch be-glückender Erfahrung angefacht? Eine Unterhaltungin der Jugend, mässigt es die aufbrausenden Leiden-schaften, und um es recht zu geniessen, sah ich michmanchmal veranlasst, der Liebe zu opfern. Denn dieLiebe flösst dem Weisen keine Furcht ein: sie weissAlles zu verbinden und eins durch das andere zur Gel-tung zu bringen. Die Wolken, welche seinen Verstandumnebeln, machen ihn nicht träge, weisen ihn nur aufjenes Mittel hin, sie zu zerstreuen - und wahrlich,nicht schneller kann die Sonne die Wolken der Luftentfernen.

Im Alter, in jener Zeit der Erstarrung, wo man an-dere Vergnügungen weder zu bieten noch zu empfan-gen vermag, welch reiche Quelle ist dann die Lectüreund das Nachdenken! Welcher Genuss, alltäglichunter seinen Augen und Händen ein Werk heranwach-sen und sich bilden zu sehen, welches einst künftigeJahrhunderte und noch die eigenen Zeitgenossen ent-zücken wird! »Ich wollte, so bemerkte einst Jemand,dessen Ehrgeiz sich auf die schriftstellerische Lauf-bahn zu werfen begann, ich wollte gern mein Lebendamit zubringen, dass ich von meinem Hause zumDrucker hin und her ginge.« Hatte er Unrecht? Underwirbt man Lob, - welche zärtliche Mutter kanndenn mehr Freude darüber empfinden, dass sie ein

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21.009 La Mettrie-Masch., 15La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

liebliches Kind geboren?Aber wozu noch die Genüsse des Studiums prei-

sen? Weiss doch Jeder, dass es ein Gut ist, welchesden Widerwillen oder die Unruhe anderer Besitzthü-mer nicht in seinem Gefolge hat, dass es ein uner-schöpflicher Schatz ist, der das sicherste Gegengiftder grausamen Langeweile bildet, der mit uns gehtund mit uns in die Ferne zieht, mit einem Worte unsüberallhin folgt. Glücklich, wer die Kette aller Vor-urtheile zerbrochen hat; denn er allein wird diesesVergnügen in seiner ganzen Reinheit kosten. Er alleinwird die süsse Ruhe des Geistes, jene volle Zufrieden-heit einer starken Seele, die ohne Ehrgeiz ist, genies-sen, die das Glück erzeugt oder vielmehr das wahreGlück selbst ist.

Verweilen wir einen Augenblick, um Blumen zustreuen auf die Spuren jener grossen Männer, welcheMinerva gleich Ihnen mit unsterblichem Lorber be-kränzt hat. Hier steht Flora, welche uns einladet mitLinné auf neuen Pfaden die Eisgipfel der Alpen zu be-steigen, um hier am Fusse eines anderen Schneegebir-ges einen Garten zu bewundern, den die Hände derNatur gepflanzt haben und der einst das ganze Erbedes berühmten schwedischen Professors war. Von dasteigen wir in jene Auen, deren Blumen ihn erwarten,um sich in eine Ordnung zu reihen, die sie bis dahinverschmäht zu haben schienen.

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21.010 La Mettrie-Masch., 15La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Dort sehe ich Maupertuis, den Ruhm der französi-schen Nation, den eine andre zu geniessen das Ver-dienst hat. Er erhebt sich vom Mahle eines Freundes,welcher der grösste unter den Königen ist. Wohingeht er? Vom Rathe des Königs in den der Naturfor-scher, wo ihn Newton erwartet.

Was soll ich vom Chemiker, vom Geometer, vomPhysiker und Mechaniker, vom Anatomen u.s.w.sagen? Der letztere hat fast so viel Vergnügen beimUntersuchen des Todten, als der Erzeuger beim Ver-leihen des Lebens.

Aber alles tritt zurück vor der grossen Heilkunst.Der Arzt ist der einzige Philosoph, der sich um seinVaterland verdient macht, wie man längst vor mir ge-sagt hat: er erscheint wie Hellenen's Brüder im Sturmdes Lebens. Welcher Zauber, welch Entzücken!Schon sein Anblick beruhigt das Blut, giebt der erreg-ten Seele den Frieden wieder und lässt aufs Neue diesüsse Hoffnung im Herzen der unglücklichen Sterbli-chen erblühn. Er verkündet Leben und Tod, wie derSternkundige die Sonnenfinsterniss. Jeder hat seineLebensfackel, die ihn erhellt. Aber wenn der Geist dasVergnügen geniesst, die Regeln aufzufinden, die ihnlenken, welcher Triumph für ihn - wie Sie dies alltäg-lich zu erfahren so glücklich sind - wenn die Thatsa-che seine Kühnheit bestätigt.

Der erste Nutzen der Wissenschaften besteht daherPhilosophie von Platon bis Nietzsche

21.011 La Mettrie-Masch., 17La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

in ihrer Pflege selbst; sie ist allein schon ein reellesund solides Gut. Glücklich, wer Geschmack findet amStudium; glücklicher, wem es gelingt, durch dasselbeseinen Geist von Täuschungen und sein Herz von Ei-telkeit zu befreien. Sie sind zu diesem wünschens-werthen Ziele in einem noch zarten Alter von denHänden der Weisheit geführt worden, während soviele Pedanten nach einem halben Jahrhundert vonNachtwachen und Arbeiten, gebeugter unter derBürde der Vorurtheile als unter derjenigen der Zeit,Alles, nur nicht das Denken, gelernt zu haben schei-nen. Das ist führwahr eine seltene Kenntniss, beson-ders unter den Gelehrten, während sie doch wenig-stens die Frucht aller übrigen Kenntnisse sein sollte.Ihrer allein habe ich mich seit meiner Kindheit be-fleissigt. Mögen Sie, mein Herr, beurtheilen, ob esmir gelungen, und mögen Sie dieses Zeugniss meinerFreundschaft stets der Ihrigen werth erachten.

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21.012 La Mettrie-Masch., 17La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Der Mensch eine Maschine

Der Weise begnügt sich nicht mit dem Studium derNatur und der Wahrheit; - er wagt es auch, letztereauszusprechen um der kleinen Zahl von Menschenwillen, welche denken wollen und können, ohneRücksicht auf die grosse Menge der Sklaven des Vor-urtheils, welche ebenso wenig an sie heranzureichenvermögen, als es den Fröschen zu fliegen vergönntist.

Die philosophischen Systeme über die Seele desMenschen lassen sich auf das ältere System des Mate-rialismus und das System des Spiritualismus zurück-führen.

Die Metaphysiker, welche der Materie die Befähi-gung zu denken beizulegen genöthigt gewesen sind,haben sich nichts Unvernünftiges zu Schulden kom-men lassen. Warum? Weil sie in dem Vortheile sichbefinden (denn ein Vortheil ist es in diesem Falle)sich blos falsch ausgedrückt zu haben. In der That,wenn man fragt, ob die Materie denken kann, ohne sievon einem anderen Gesichtspunkte als dem der ihr in-newohnenden Eigenschaften zu betrachten, - sokönnte man eben so gut fragen ob die Materie es ist,welche die Stunden zu bezeichnen vermag. Man siehtim Voraus, dass wir jene Klippe vermeiden werden,

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21.013 La Mettrie-Masch., 18La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

an welcher Locke zu scheitern das Unglück gehabthat.

Die Leibnitzianer, mit ihren Monaden, haben eineunverständliche Hypothese aufgestellt. Sie haben dieMaterie eher vergeistigt, als aus der Seele etwas Ma-terielles gemacht. Wie kann man auch etwas definirenwollen, von dessen Natur man absolut keine Wissen-schaft hat?

Descartes und alle Cartesianer, zu denen man seitlange auch die Malebranchisten zählt, haben densel-ben Fehler gemacht. Sie haben zwei genau zu unter-scheidende Substanzen in dem Menschen angenom-men, als ob sie solche gesehen und richtig gezählthätten.

Die Klügsten haben gemeint, dass die Seele einzigund allein mit der Fackel des Glaubens erkannt wer-den könne; jedoch als vernünftige Wesen haben siedas Recht der Prüfung sieh darüber vorbehalten zukönnen geglaubt, was die heilige Schrift mit demWorte »Geist« hat sagen wollen, welches sie ge-braucht, wenn sie von der menschlichen Seele redet.Sie sind freilich bei ihren Untersuchungen mit denTheologen nicht zu gleicher Meinung über diesenPunkt gelangt; - aber sind denn die Theologen untersich von grösserer Einigkeit über alle die anderenPunkte?

Ich will kurz das Resultat aller ihrer ErwägungenPhilosophie von Platon bis Nietzsche

21.014 La Mettrie-Masch., 19La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

andeuten:Wenn es einen Gott giebt, so ist er der Urheber der

Natur wie der Offenbarung. Er hat uns die eine gege-ben, um die andere damit zu erklären, und es ist Auf-gabe der uns ausserdem verliehenen Vernunft, Naturund Offenbarung mit einander in Einklang zu bringen.

Es hiesse die Natur und die Offenbarung für zweisich zerstörende Gegensätze halten, wollte man denaus beseelten Körpern zu schöpfenden Erkenntnissennicht trauen. Man kann doch nicht die abgeschmackteBehauptung wagen, dass Gott in seinen verschiedenenWerken sich widerspricht und uns betrügt.

Wenn es eine Offenbarung giebt, kann diese alsodie Natur nicht verwerfen. Durch die Natur alleinkann man den Sinn der Worte des Evangeliums, des-sen wahrhafte Ansiegerin allein die Erfahrung ist, ent-räthseln. In der That haben die anderen Commentato-ren bis dahin die Wahrheit nur verwirrt. Wir wollenhierüber durch den Autor des »Schauspiels der Natur«uns gleich ein Urtheil bilden: »Es ist erstaunlich«,sagt er (über Locke), »dass ein Mensch, welcher vonder Seele die herabwürdigende Meinung hat, dass sieaus Koth bestehe, die Vernunft zum Richter und un-umschränkten Ausleger der Mysterien des Glaubenseinzusetzen wagt; denn welche wunderbare Vorstel-lung müsste man vom Christenthum haben, wenn mander Vernunft über dasselbe Gehör geben wollte?«

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21.015 La Mettrie-Masch., 19La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Abgesehen davon, dass diese Erwägungen in Bezugauf den Glauben keine Aufhellung gewähren, bildensie so frivole Einwendungen gegen die Methodederjenigen, welche die heiligen Bücher glauben ausle-gen zu können, dass ich mich beinahe schäme mitihrer Widerlegung die Zeit zu verlieren.

Das Hervorragende der Vernunft hängt nicht voneinem grossen sinnlosen Worte ab (ihrer Unkörper-lichkeit nehmlich), sondern von ihrer Gewalt, ihrerAusdehnung oder ihrer Scharfsichtigkeit. Wenn dem-nach eine Seele aus Koth augenblicklich alle die Be-ziehungen und den Zusammenhang einer unendlichenMenge schwer erfassbarer Gedanken zu begreifen ver-mag, so würde sie augenscheinlich einer thörichtenund dummen Seele, wäre diese auch aus den köstlich-sten Stoffen gemacht, vorzuziehen sein. Das machtnoch keinen Philosophen, mit Plinius über das Er-bärmliche unseres Ursprungs zu erröthen. Das, washier gering erscheint, ist gar sehr kostbar; - scheintdoch die Natur darauf ihre grösste Kunst und die mei-sten Apparate verwendet zu haben. Aber wie derMensch, selbst wenn sein Ursprung aus einer demAnscheine nach noch trüberen Quelle herzuleitenwäre, nichtsdestoweniger das vollkommenste allerWesen sein würde - gleich viel, woher seine Seelekäme, so ist eine Seele, welche rein, edel und erhabenist, als schöne Seele zu bezeichnen, als eine Seele,

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21.016 La Mettrie-Masch., 20La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

welche denjenigen achtungswerth macht, der mit ihrausgestattet.

Die zweite Folgerungsweise von Pluche scheint mirschon im System fehlerhaft, welches dem Fanatismussehr nahe kommt; denn wenn wir uns in die Vorstel-lung eines Glaubens hineindenken können, welchermit den klarsten Principien, mit den unwiderleglich-sten Wahrheiten in Widerspruch steht, - so müssenwir zur Ehre der Offenbarung und ihres Urhebersglauben, dass diese Vorstellung falsch ist und dasswir noch nicht den Sinn der Worte des Evangeliumskennen.

Von zwei Dingen ist nur das eine möglich; entwe-der Alles ist Täuschung, sowohl die Natur selbst, alsauch die Offenbarung, oder es kann nur die Erfahrungüber den Glauben Auskunft ertheilen. Aber was giebtes Lächerlicheres als die Meinung unseres Autors?Mir däucht, dass ich einen Peripatetiker höre, welchersagt: »Man darf an die Erfahrung von Toricelli nichtglauben; denn wenn wir an sie glauben, wenn wir denAbscheu vor der Leere im Raume ablegen wollten,welche wunderbare Philosophie müssten wir dannhaben?«

Ich habe gezeigt, wie falsch Pluche urtheilt2, umzunächst zu beweisen, dass, wenn es eine Offenba-rung giebt, sie nicht hinlänglich durch die blossekirchliche Autorität und ohne Prüfung der Vernunft

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21.017 La Mettrie-Masch., 21La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

dargethan ist, wie alle diejenigen behaupten, welcheletztere fürchten; - dann aber auch, um die Methodederjenigen vor aller Anfechtung zu sichern, welcheden Weg, den ich ihnen, vorzeichne, betreten möch-ten, nehmlich die Auslegung übernatürlicher, an sichunbegreiflicher Dinge an die Einsicht, welche Jedemvon der Natur verliehen ist, zu knüpfen.

Die Erfahrung und die Beobachtung müssen in die-ser Beziehung uns hier allein zu Führern dienen.Diese sind in unzähliger Menge in den Jahrbüchernder Aerzte zu finden, welche Philosophen gewesensind, und nicht etwa bei den Philosophen, welchenicht zugleich Aerzte gewesen sind. Jene haben dasLabyrinth des Menschen durchwandert und aufge-klärt; sie allein haben uns jene Triebfedern enthüllt,welche unter Bedeckungen, die unseren Augen sovielWunder entziehen, verborgen sind; jene allein, in ru-hige Betrachtung unserer Seele versenkt, haben siesowohl in ihrer Erbärmlichkeit, als in ihrer Grössetausendmal überrascht ohne sie in dem einen dieserZustände mehr zu verachten, als in dem anderen zubewundern. Noch einmal, die Naturforscher alleinsind es, welche ein Recht haben, hier mitzusprechen.Was sollten uns die Anderen sagen und besonders dieTheologen? Ist es nicht lächerlich, sie ohne Scheuüber einen Gegenstand entscheiden zu hören, welchensie nicht in der Lage gewesen sind kennen zu lernen?

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21.018 La Mettrie-Masch., 21La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Sie waren ja im Gegentheil gänzlich von trüben Stu-dien, die sie zu tausend Vorurtheilen hingeleitethaben, abgelenkt, sie waren, um Alles mit einemWorte auszudrücken, dem Fanatismus anheimgefal-len, welcher ihrer Unwissenheit in Betreff des körper-lichen Mechanismus noch ausserdem Vorschub lei-stet. Aber obschon wir die besten Führer gewählthaben, werden wir noch viel Dornen und Widerwär-tigkeiten in dieser Laufbahn finden.

Der Mensch ist eine Maschine, welche so zusam-mengesetzt ist, dass es unmöglich ist, sich zunächstvon ihr eine deutliche Vorstellung zu machen undfolglich sie zu definiren. Desshalb sind alle Untersu-chungen theoretischer Natur, welche die grössten Phi-losophen angestellt haben, das heisst, indem sie ge-wissermassen auf den Flügeln des Geistes vorzugehenversuchten, vergeblich gewesen. Also kann man nurpractisch, oder durch einen Versuch der Zergliederungder Seele, nach Art der Aufklärung über die körperli-chen Organe, ich will nicht sagen mit Sicherheit dieNatur des Menschen enträthseln, aber doch wenig-stens den möglichst höchsten Grad von Wahrschein-lichkeit über diesen Gegenstand erreichen.

Ergreifen wir also den leitenden Stab der Erfahrungund lassen wir die Geschichte aller eitlen Ansichtender Philosophen unberührt auf sich beruhen. Wennman blind ist und doch glaubt, man könne sich ohne

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21.019 La Mettrie-Masch., 22La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

diesen Stab begehen, so ist das der höchste Grad derVerbendung. Wie sehr Recht hat doch ein Neuerer,der da sagt, dass nur die Eitelkeit allein aus den fol-genden Ursachen nicht denselben Nutzen zieht als ausden ersten!

Man kann und man muss alle jene schönen Geisterselbst in ihren nutzlosesten Arbeiten bewundern, Des-cartes, Malebranche, Leibnitz, Wolf etc., aber wel-chen Vortheil hat man aus ihren tiefen Gedanken undaus allen ihren Werken zu ziehen vermocht? Begin-nen wir also und sehen wir uns an, nicht das, was mangedacht hat, sondern das, was man um der Ruhe desLebens willen denken muss.

Soviel Temperamente es giebt, ebenso viele ver-schiedene Geister, Charaktere und Sitten kann manaufzählen. Galenus sogar hat diese Wahrheit gekannt,welche Descartes und nicht Hippokrates, wie der Ver-fasser der Geschichte der Seele meint, soweit getrie-ben hat, dass er die Medicin allein für fähig hält, dieGeister und die Sitten mit dem Körper verändern zukönnen. Wahr ist es, dass das melancholische, dascholerische, das phlegmatische und sanguinischeTemperament je nach der Beschaffenheit, dem Reich-tum und der verschiedenen Anordnung der Säfte ausjedem Menschen einen verschiedenen machen. Wäh-rend der Krankheiten verdunkelt sich entweder dieSeele und zeigt kein Zeichen ihres Daseins, in einem

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21.020 La Mettrie-Masch., 23La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

anderen Falle möchte man meinen, dass sie verdop-pelt sei, so heftig wird sie im Zustande der Wuth er-regt; in einem noch anderen Falle verliert sich derSchwachsinn und die Wiedergenesung gestaltet auseinem Blödsinnigen einen vernünftigen Menschen.

Endlich aber kann der schönste Geist verdummenund ist nicht wieder zu erkennen; denn dahin sind diemit so grossem Aufwand, mit so vieler Mühe erlang-ten schönen Kenntnisse! Hier ist ein Gelähmter, wel-cher fragt, ob sein Bein in seinem Bette sei. Dort istein Soldat, welcher sich im Besitze des Armes wähnt,welchen man ihm abgeschnitten hat. Das Andenkenan seine gewohnten Empfindungen und an den Ort, anwelchen seine Seele sie hinversetzte, bringt seine Täu-schung und diese Art von Phantasie zu Wege. Es ge-nügt eine Bemerkung über das ihm fehlende Glied,um ihn an alle Bewegungen desselben zu erinnern undsie ihn fühlen zu lassen, wobei die Vorstellung in dasunaussprechlichste Missbehagen versetzt wird.

Dieser da weint wie ein Kind beim Nahen desTodes, welchen jener verspottet. Was war denn beiCanus Julius, bei Seneca, bei Petronius nöthig, umihre Unerschrockenheit in Kleinmüthigkeit oder inFeigheit zu verwandeln? Eine Verstopfung in derMilz, der Leber, ein Hinderniss in der Pfortader.Warum? Weil das Vorstellungsvermögen sich mit denEingeweiden ebenfalls verstopft. Und so entstehen

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21.021 La Mettrie-Masch., 23La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

aus derselben Quelle alle jenen sonderbaren Erschei-nungen hysterischer und hypochondrischer Zustände.

Was würde ich Neues sagen, wollte ich mich näherüber diejenigen auslassen, welche in Wehrwölfe,Hähne, Vampyre verwandelt zu sein glauben, welchesich einbilden, dass die Todten sie aussaugen? Wozumich erst bei den Irren aufhalten, welche ihre Naseoder andere Glieder ihres Leibes in Glas verwandeltsehen und denen man rathen muss auf Stroh zu schla-fen, weil sie sonst fürchten, dass ihr Körper zerbre-chen könne; die man aber Gebrauch und Fleisch ihrerGlieder wiederfinden lässt, indem man Feuer in'sStroh legt und ihnen so die Furcht beibringt, ver-brannt zu werden? Der Schreck hat in diesem Falleschon manchmal die Gliederlähmung behoben. Dochich kann über Jedermann bekannte Dinge leicht hin-weggehen.

Ich will mich auch nicht länger bei den Einzelhei-ten über die Wirkung des Schlafes aufhalten. Mansehe einen müden Soldaten! Er schnarcht im Graben,beim Donner von hundert Kanonen. Seine Seele hörtnichts, sein Schlaf ist ein vollkommener Schlagfluss.Eine Bombe ist im Begriff ihn zu zerschmettern; viel-leicht wird er sie weniger empfinden, als das Insekteinen Fusstritt.

Andrerseits kann jener Mensch, welchen die Eifer-sucht, der Hass, der Geiz, oder der Ehrgeiz verzehrt,

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21.022 La Mettrie-Masch., 24La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

nirgends Ruhe finden. Der stillste Ort, die erfri-schendsten und beruhigendsten Getränke sind sämmt-lich für denjenigen unnütz, welcher sein Herz nichtvon der Qual der Leidenschaften befreit hat.

Seele und Körper schlafen zusammen ein. Sobalddie Blutbewegung ruhiger wird, verbreitet sich einesanfte Empfindung von Frieden und Ruhe in der gan-zen Maschine. Die Seele empfindet süsse Beruhigungbeim Sinken der Augenlider und verliert ihre Spann-kraft mit den Fibern des Gehirns. Sie wird auf dieseWeise nach und nach wie gelähmt mit allen Muskelnihres Körpers. Die Muskeln können die Last desKopfes nicht mehr tragen, der Kopf kann das Gewichtdes Gedankens nicht mehr aushalten, er ist im Schla-fe, als sei er nicht vorhanden.

Wenn der Blutumlauf mit zu grosser Schnelligkeitvon Statten geht, kann die Seele nicht schlafen. Wenndie Seele zu aufgeregt ist, kann das Blut sich nicht be-ruhigen; es jagt durch die Adern mit hörbarem Ge-räusch. Das sind die beiden wechselseitigen Ursachender Schlaflosigkeit. Ein blosser Schrecken im Traumeruft ein Klopfen des Herzens mit verdoppelten Schlä-gen hervor, und entreisst uns der Nothwendigkeit oderder Behaglichkeit der Ruhe, wie ein lebhafterSchmerz oder drückende Sorgen es thun würden. Wieendlich das blosse Aufhören der SeelenverrichtungenSchlummer hervorruft, so giebt es sogar während des

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21.023 La Mettrie-Masch., 25La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Wachens (welches alsdann nur ein halbwacher Zu-stand ist) eine Art von Halbschlaf der Seele, welchersehr häufig ist, Träume nach Schweizer Art, welchebeweisen, dass die Seele nicht immer, um zu schlafen,auf den Körper wartet: denn schläft sie auch nichtganz und gar, wie viel fehlt noch daran! Ist es ihrdoch unmöglich gewesen, einen einzigen Gegenstandzu finden, der ihre Aufmerksamkeit zu erwecken ver-mocht hätte unter jener unzähligen Menge verwirrterEinfälle, die, wie eben so viele Wolken, gewissermas-sen den Dunstkreis unseres Gehirns erfüllen.

Das Opium steht mit dem Schlafe, welchen es ver-schafft, in zu nahen Beziehungen, um seine Erwäh-nung hier zu unterlassen. Dieses Heilmittel berauschteben so wie der Wein, der Kaffee etc. jeden in seinerWeise und je nach der Dosis. Es macht den Menschenglücklich in einem Zustande, welcher das Grab jederEmpfindung, gleich wie das Bild des Todes ist. Wieangenehm ist diese Lethargie! Die Seele möchte sichihrer niemals entäussern. Sie war eine Beute dergrössten Schmerzen: nun fühlt sie nur noch das ein-zige Vergnügen, nicht mehr zu leiden und die reizend-ste Ruhe zu geniessen. Das Opium ändert sogar denWillen: es bezwingt die Seele, welche wachen undsich unterhalten wollte, derart, dass der Mensch gehtund sich ins Bett legt. Ich übergehe mit Stillschwei-gen die Geschichte der Gifte.

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21.024 La Mettrie-Masch., 25La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Der Kaffee, das bekannte Gegengift des Weines,erregt in hohem Grade unsere Phantasie, leitet da-durch den Kopfschmerz ab und zerstreut unserenKummer, ohne uns, so wie das auch mit jenem Ge-tränke der Fall, hiervon für den folgenden Tag ver-schonen zu können.

Betrachten wir die Seele in ihren anderen Bedürf-nissen:

Der menschliche Körper ist eine Maschine, welcheselbst ihr Triebwerk aufzieht, das lebendige Bildeines perpetuum mobile (beständig bewegten Gegen-standes). Die Nahrungsmittel unterhalten, was dasFieber erregt. Ohne jene schmachtet die Seele, geräthin Wuth und stirbt im höchsten Grade der Ermattung.Sie ist wie eine Kerze, deren Licht, ehe es erlöscht,noch einmal aufflackert. Aber wenn man den Körperernährt, wenn man in seine Gefässe einen kräftigenSaft, stärkende Getränke eingiesst, dann wird auch dieSeele stark wie diese und bewaffnet sich mit stolzemMuthe; der Soldat, welcher beim blossen Genuss vonWasser geflohen wäre, wird heldenmüthig und gehtunter dem Klang der Trommel freudig in den Tod. Insolcher Weise setzt erhitzendes Getränk das Blut,welches durch kühlenden Trunk beruhigt wordenwäre, in stürmische Bewegung.

Welche Gewalt übt doch ein Mahl! Die Freude er-wacht in einem traurigen Herzen wieder; sie erfüllt

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21.025 La Mettrie-Masch., 26La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

die Seele der Tischgenossen, welche durch anziehendeLieder, in denen der Franzose sich hervorthut, sie aus-drücken. Der Melancholische allein ist niederge-drückt, und der Mann des Studiums ist hierzu nichtmehr geeignet.

Das rohe Fleisch macht die Thiere wild; die Men-schen würden bei derselben Nahrung es werden. Letz-teres ist so wahr, dass die englische Nation, welchedas Fleisch nicht so gekocht wie bei uns, sondern rothund blutig isst, an dieser mehr oder weniger grossenWildheit welche theils solchen Nahrungsmitteln,theils anderen durch die Erziehung allein unschädlichzu machenden Ursachen entspringt, Theil zu nehmenscheint. Diese Wildheit ruft in der Seele Hochmuth,Hass, Verachtung anderer Nationen, Ungelehrigkeitund ähnliche den Charakter herabsetzende Regungenhervor, wie denn grobe Nahrung den Geist plump undschwerfällig macht, so dass seine wesentlichsten. Ei-genschaften in Faulheit und Gleichgültigkeit beste-hen.

Pope hat die ganze Herrschaft der Gefrässigkeitwohl gekannt, wenn er sagt: »Der ernste Catiusspricht immer von Tugend und glaubt, dass derjenige,welcher die Lasterhaften leidet, selbst lasterhaft ist.Diese schönen Grundsätze dauern bis zum Mittages-sen; dann zieht er einen Bösewicht, der einen feinenTisch führt, einem frugalen Heiligen vor.«

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21.026 La Mettrie-Masch., 26La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

»Man sehe einmal«, sagt er ausserdem, »denselbenMenschen, so lange er gesund oder wenn er krank ist;man betrachte ihn im Besitze eines schönen Amtesoder nach dem Verluste desselben; man sieht ihn danndas Leben lieben oder verabscheuen, närrisch aufsJagen, trunken in einer Provinzial-Versammlung,artig auf dem Balle, ein guter Freund in der Stadt,ohne Vertrauen am Hofe«.

Wir haben in der Schweiz einen Richter, NamensSteigner von Wittighofen, gehabt, der nüchtern derrechtschaffenste und selbst nachsichtigste unter denRichtern war. Aber wehe dem Unglücklichen, welchervor Gericht stand, wenn jener von einem grossen Mit-tagessen kam! Dann war er der Mann dazu, den Un-schuldigen wie den Schuldigen hängen zu lassen.

Wir denken als rechtschaffene Menschen und sindsogar nur rechtschaffene, wenn wir heiter oder beherztsind; Alles hängt von der Weise, in welcher unsereMaschine gestimmt ist, ab. Man könnte in gewissenMomenten sagen, die Seele wohne im Magen undVan Helmont, der ihren Aufenthalt in den Pylorusversetzte, habe sich nur darin geirrt, dass er den Theilstatt des Ganzen nahm.

Zu welchen Ausschreitungen kann der grausameHunger uns treiben! Keine Rücksicht mehr für dieje-nigen, welchen man das Leben verdankt, oder denenman es gegeben hat; man zerfleischt sie ohne

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21.027 La Mettrie-Masch., 27La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Weiteres, man macht sich aus ihnen abscheulicheFeste, und in der Wuth, von der man hingerissenwird, wird der Schwächste immer die Beute desStärksten.

Die Schwangerschaft, dieses ersehnte Abbild derBleichsucht, begnügt sich nicht in ihrem Gefolge amhäufigsten die krankhaften Veränderungen des Ge-schmackes, welche beide Zustände begleiten, auftre-ten zu lassen, sie hat auch hin und wieder die Seelezur Vollstreckerin der scheusslichsten Komplotte ge-macht; es waren dies die Wirkungen eines vorüberge-henden Wahns, der ja sogar das natürliche Gesetz er-stickt. So verändert sich das Gehirn, jene Gebärmutterdes Geistes, mit derjenigen des Leibes in seiner Weisezu verderblicher Thätigkeit.

Ein anderes Beispiel gewährt die Leidenschaft desMannes oder Weibes, welche von der Enthaltsamkeitund Gesundheit geplagt werden. Dann gehört wenigfür dieses schüchterne und bescheidene Mädchendazu, um jegliche Scheu und Schande zu verlieren; essieht seine Erniedrigung mit denselben Augen an,womit eine zweideutige Frauensperson den Ehebre-cher ansieht. Wenn ihre Bedürfnisse nicht rasche Be-friedigung finden, wird sie sich nicht auf die einfachenZufälle einer Gebärmutterwuth, auf die Manie etc. be-schränken, diese Unglückliche wird an einem Uebel,wofür es so viele Aerzte giebt, sogar sterben müssen.

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21.028 La Mettrie-Masch., 28La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Es bedarf nur zweier Augen, um den nothwendigenEinfluss des Alters auf die Vernunft zu sehen. DieSeele folgt den Fortschritten des Körpers, wie denje-nigen der Erziehung. Im schönen Geschlechte folgtdie Seele noch der Zartheit des Temperaments. Daherrühren diese Zärtlichkeit, diese Zuneigung, diese leb-haften Gefühle, welche mehr auf Leidenschaft als aufVernunft zurückzuführen sind; diese Vorurtheile, die-ser Aberglauben, deren starkes Gepräge kaum vertilg-bar ist etc. Der Mann, im Gegentheil, bei dem Gehirnund Nerven an der Unerschütterlichkeit alles FestenTheil nehmen, erfreut sich eines stärkeren Geistes,kräftigerer Gesichtszüge. Die Erziehung, welche beiden Frauen mangelhaft ist, stellt seine Seele auf einenoch höhere Stufe der Kraft. Mit solchen Hilfsmittelnder Natur und Kunst, wie sollte er da nicht erkenntli-cher, grossmüthiger, beständiger in der Freundschaft,fester im Unglück sein? etc. Aber wer (um etwa demGedankengange des Verfassers der Briefe über diePhysiognomieen zu folgen) die Anmuth des Geistesund des Körpers mit fast allen zartesten und feinstenEmpfindungen des Herzens verbindet, darf uns nichtum die doppelte Stärke beneiden, welche dem Mannenur deshalb gegeben zu sein scheint, um sich bessermit dem Beize der Schönheit zu durchdringen, an-derntheils um zu seinem Vergnügen besser beitragenzu können.

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21.029 La Mettrie-Masch., 29La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Es ist nicht nothwendiger ein eben so grosser Phy-siognomiker als dieser Autor zu sein, um den Vorzugdes Geistes aus der Gestalt, aus der Bildung der Zügezu erraten, wenn sie bis zu einem gewissen Punkteausgesprochen sind, - als man ein grosser Arzt zusein braucht, um ein Uebel mit allen deutlichen Sym-ptomen zu erkennen. Man betrachte die Bildnisse vonLocke, Steele, Boerhaave, Maupertuis etc., man wirdnicht erstaunt sein ihre Physiognomien kräftig und mitAdleraugen zu finden. Man überblicke eine Mengeanderer, man wird immer das Schöne des grossenGeistes und oft sogar den braven Mann im Schelmeunterscheiden. Man hat beispielsweise bemerkt, dassein berühmter Dichter (in seinem Bildnisse) den Aus-druck eines Diebes mit dem Feuer des Prometheusvereinigte.

Die Geschichte liefert uns ein denkwürdiges Bei-spiel von der Macht der Luft. Der berüchtigte Herzogvon Guise war so vollkommen überzeugt, dass Hein-rich III., welcher ihn hundertmal in seiner Gewalt ge-habt hatte, niemals zu ermorden wagen würde, dass ernach Blois reiste. Der Kanzler Chyverni erfuhr seineAbreise und rief aus: »der Mann ist verloren!« Als dieverhängnisvolle Voraussage eingetroffen war, fragteman ihn nach der Ursache und er antwortete: »Ichkenne den König seit 20 Jahren; er ist von Natur gutund sogar schwach; aber ich habe bemerkt, das das

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21.030 La Mettrie-Masch., 29La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Geringste ihn ungeduldig macht und ihn in Wuthsetzt, wenn es kalt ist.«

Manches Volk ist schwerfälligen, dummen Geistes;manches andere von lebhaftem, leichtem, durchdrin-gendem Verstande. Woher sollte dies anders kommen,als theilweise in Folge der Nahrung, theilweise inFolge väterlicher Uebertragung3, theilweise ausjenem Gemische verschiedenartiger Elemente, welcheim unermesslichen Luftraume schweben? Der Geisthat wie der Körper seine epidemischen Krankheitenund seinen Scorbut.

Die Herrschaft des Klima's ist der Art, dass einMensch, welcher es wechselt, diesen Wechsel unwill-kürlich empfindet. Er ist eine wandelnde Pflanze, wel-che sich selbst überpflanzt hat; ist das Klima nichtmehr dasselbe, so muss sie folgerichtig entarten, odersich verbessern.

Man nimmt ferner Alles von denjenigen, mit denenman lebt, an, ihre Gesten, ihre Stimmen etc., gleichwie das Augenlid sich senkt bei der Drohung desSchlages, auf den man vorbereitet ist, oder aus dersel-ben Ursache, aus welcher der Körper des Zuschauersmaschinenmässig und unwillkürlich alle Bewegungeneines guten Pantomimikers nachmacht.

Was ich eben gesagt habe, beweist, dass die besteGesellschaft für einen geistvollen Menschen die seini-ge ist, wenn er nicht eine ähnliche findet. Der Geist

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21.031 La Mettrie-Masch., 30La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

verrostet mit denjenigen, welche keinen haben, weil ernicht geübt wird; beim Ballspiel wirft man den Ballschlecht zurück wenn er von Jemand schlecht ausge-schlagen wird. Ich möchte lieber einen einsichtsvollenMenschen, der gar keine Erziehung gehabt hat, alseinen, der schlecht erzogen worden, vorausgesetztdass er noch jung genug wäre. Ein schlecht geleiteterGeist ist wie ein Schauspieler, welchen die Provinzverdorben hat.

Die verschiedenen Zustände der Seele stehen alsoimmer in einem bestimmten Verhältnisse zu denjeni-gen des Körpers. Aber am diese ganze Abhängigkeitund ihre Ursachen besser darzulegen, wollen wir hierdie vergleichende Anatomie benutzen, wir wollen dieEingeweide des Menschen und der Thiere öffnen; umdie menschliche Natur kennen zu lernen, wenn unshierüber nicht schon eine zutreffende Parallele derBauart Beider aufklärt.

Im Allgemeinen ist die Gestalt und die Zusammen-setzung des Gehirns der Vierfüssler beinahe die glei-che, wie beim Menschen. Dasselbe Ausssehen, diesel-be Anordnung überall, jedoch mit dem wesentlichenUnterschiede, dass der Mensch von allen Thieren ammeisten Gehirn - und dieses am meisten gewunden -im Verhältniss zu seiner Körpermasse hat; dann kom-men der Affe, der Biber, der Elephant, der Hund, derFuchs, die Katze etc., nehmlich die Thiere, welche am

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21.032 La Mettrie-Masch., 31La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

meisten dem Menschen gleichen, denn man bemerktauch bei ihnen dieselbe stufenweise Analogie inBezug auf das corpus callosum, in welches Lancisiden Sitz der Seele bereits vor dem verstorbenen de laPeyronnie verlegt hatte, welcher jedoch diese Mei-nung durch eine Menge von Erfahrungen erläutert hat.

Nach allen Vierfüsslern sind es die Vögel, welcheam meisten Gehirn haben. Die Fische haben einendicken Kopf, aber er ist leer an Verstand, wie derKopf vieler Menschen. Sie haben kein corpus callo-sum und sehr wenig Gehirn, das auch den Insectenmangelt.

Ich werde mich nicht weiter in Einzelheiten überdie Varietäten in der Natur, noch in Meinungsäusse-rungen hierüber einlassen, denn die Varietäten, wiedie Meinungen sind zahlreich; man lese bloss - umselbst darüber urtheilen zu können - die Abhandlun-gen von Willis De Cerebro und De anima brutorum.

Ich werde nur das, was aus diesen unwiderleglichenBeobachtungen klar sich ergiebt, vorbringen, dassnehmlich 1) je wilder die Thiere sind, sie desto weni-ger Gehirn haben; 2) dass dieses Eingeweide sich ei-nigermassen nach Verhältniss ihrer Gelehrigkeit zuvergrössern scheint; 3) dass hier eine eigenthümlicheBedingung für immer von der Natur festgestellt ist,die darin besteht, dass man um so mehr an Instinktverliert, je mehr man von Seiten des Geistes gewinnt.

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21.033 La Mettrie-Masch., 31La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Was ist nun grösser, der Verlust oder der Gewinn?Man glaube übrigens nicht, dass ich hierdurch be-

haupten will, der Umfang des Gehirns allein sei genü-gend, um über den Grad der Gelehrigkeit der Thiereurtheilen zu dürfen; die Beschaffenheit desselbenmuss auch noch der Menge entsprechen und die festenTheile müssen mit den flüssigen in dem für die Ge-sundheit erspriesslichen Gleichgewichte sich befin-den.

Wenn der Schwachsinnige nicht Mangel an Gehirnhat, wie man gewöhnlich bemerkt, so wird an diesemEingeweide eine fehlerhafte Consistenz, eine zugrosse Weichheit beispielsweise, auszusetzen sein.Dasselbe gilt von den Narren; die Fehler ihres Ge-hirns entziehen sich nicht immer unseren Nachfor-schungen; aber wenn die Ursachen des Schwachsinns,der Narrheit etc. nicht wahrnehmbar sind, wo sollman da die Gründe für die Verschiedenheit aller Gei-ster aufsuchen? Sie würden Luchs- und Argus-Augenentschlüpfen. Ein Nichts, eine kleine Faser, etwas,was die feinste Anatomie nicht entdecken kann, würdezwei Thoren aus Erasmus und Fontenelle, welcher esselbst in einem seiner besten Gespräche bemerkt, ge-macht haben.

Ausser der Weichheit des Hirn-Markes bei denKindern, bei den kleinen Hunden und bei den Vögeln,hat Willis bemerkt, dass die Corps cannelés zerstört

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21.034 La Mettrie-Masch., 32La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

und wie entfärbt bei allen diesen Thieren sind unddass ihre Striae eben so unvollkommen gebildet sindwie bei den Gelähmten. Er fügt der Wahrheit gemässhinzu, dass der Mensch eine sehr grosse Protuberantiaannullaris hat, und darauf, immer stufenweise abneh-mend, der Affe und die anderen vorher genanntenThiere, während das Kalb, der Ochse, der Wolf, dasSchaf, das Schwein etc., bei denen dieser Theil vonsehr geringem Umfang ist, sehr grosse Nates und Te-stes haben.

Man mag immerhin nur vorsichtig und zurückhal-tend aus diesen und vielen anderen Beobachtungenüber eine gewisse Unbeständigkeit der Gefässe undder Nerven Folgerungen ziehen, jedoch können soviel Verschiedenheiten nicht zufällige Spiele derNatur sein. Wenigstens bezeugen dieselben die Noth-wendigkeit einer guten und ergiebigen Organisation,weil in dem ganzen animalischen Gebiete die Seelesich mit dem Körper erkräftigt und um so mehr Schär-fe erlangt, je mehr der letztere erstarkt.

Bleiben wir bei der Betrachtung der verschiedenenGelehrigkeit der Thiere stehen. Ohne Zweifel führt dieAehnlichkeit, wenn sie des richtigsten Verständnissessich erfreut, den Geist zu keiner anderen Erkenntniss,als dass die von uns erwähnten Ursachen die ganzeVerschiedenheit zwischen jenen und uns ausmachen,obgleich man gestehen muss, dass unserem

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21.035 La Mettrie-Masch., 33La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

schwachen auf die gröbsten Beobachtungen be-schränkten Verständniss, das Band, welches Ursacheund Wirkung verknüpft, unsichtbar ist. Es liegt hiereine Art von Harmonie vor, welche die Philosophenniemals erkennen werden.

Unter den Thieren giebt es einige, welche sprechenund singen lernen; sie behalten Melodien und fassenalle Töne eben so genau wie ein Musiker. Die ande-ren, welche indess mehr Geist zeigen, wie die Affen,bringen dies nicht zu Stande. Wie kann dies andersals durch einen Fehler in den Sprachorganen gesche-hen? Aber gehört denn dieser Fehler so zur Bildungdes Thieres, dass man ihm mit keinem Mittel zu Hilfekommen kann? Mit einem Worte, sollte es durchausunmöglich sein, dem Thiere eine Sprache zu lehren?Ich glaube es nicht. Ich würde vorzugsweise den gros-sen Affen nehmen, bis der Zufall uns eine uns ähnli-chere Art hätte entdecken lassen; denn der Annahmesteht nichts entgegen, dass in uns unbekannten Ge-genden es solche Affen giebt. Dieses Thier gleicht unsso sehr, dass die Naturalisten es als wilden Menschenoder Waldmenschen bezeichnet haben. Ich würde ihnunter denselben Bedingungen, wie Amman seineSchüler, nehmen; nehmlich ich möchte, dass er wederzu jung noch zu alt sei; denn diejenigen, welche manuns nach Europa bringt, sind gemeiniglich zu alt. Ichwürde denjenigen wählen, der die geistreichste

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21.036 La Mettrie-Masch., 34La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Physiognomie besässe und der am besten in tausendkleinen Verrichtungen, was diese mir versprochen,hielte. Endlich, da ich mich nicht für würdig halte,sein Erzieher zu sein, würde ich ihn in die Schule zudem eben genannten ausgezeichneten Lehrer gebenoder zu einem anderen eben so geschickten, wenn eseinen giebt.

Man weiss aus dem Buche von Amman und ausallen denjenigen4, welche sein Verfahren übersetzthaben, alle die Wunder, die er an Tauben von Geburt,in deren Augen er - wie er sich selbst ausdrückt -Ohren gefunden hatte, zu verrichten wusste, und inwie kurzer Zeit er sie verstehen, reden, lesen undschreiben lehrte. Ich behaupte, dass die Augen einesTauben heller sehen und verständnissvoller auffassen,als wenn er nicht taub wäre, weil der Verlust einesGliedes oder eines Sinnes die Kraft oder das Ver-ständnissvermögen eines anderen erhöhen kann. Aberder Affe sieht und hört, er begreift was er hört undsieht; er fasst so vollkommen die Zeichen, welcheman ihm macht, dass er, wie ich nicht bezweifle, beijedem Spiele, oder bei jeder Uebung Amman's Schü-ler überragt. Weshalb sollte also die Erziehung derAffen unmöglich sein? Warum konnte der Affe nicht,wenn man die nöthige Sorgfalt auf ihn verwendet,nach Art der Tauben die erforderlichen Bewegungennachahmen, um zu sprechen? Ich wage nicht zu

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21.037 La Mettrie-Masch., 34La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

entscheiden, ob die Sprachorgane des Affen, mag manauch machen was man will, im Stande seien, deutlichund vernehmlich zu reden, aber die absolute Unmög-lichkeit würde mich in Erstaunen setzen wegen dergrossen Aehnlichkeit des Affen und des Menschen,und weil es bis jetzt kein bekanntes Thier giebt, des-sen Inneres und Aeusseres dem letzteren in so auffäl-liger Weise gleichen. Locke, welcher gewiss niemalsder Leichtgläubigkeit verdächtig gewesen ist, hat kei-nen Anstand genommen an die Geschichte zu glau-ben, welche der Chevalier Temple in seinen Memoi-ren erzählt, nehmlich von einem Papagei, welcherpassende Antworten gab und, wie wir, sich hinterein-ander zu unterhalten gelernt hatte. Ich weiss, man hatsich über diesen grossen Philosophen lustig gemacht5; aber würde derjenige viel Parteigänger gefundenhaben, welcher der Welt angezeigt hätte, dass es Zeu-gungen giebt, welche ohne Eier und ohne Weibchenvor sich gehn? Und doch hat Trembley Zeugungen,welche ohne Vermischung und durch blosse Theilungstattfinden, entdeckt. Wäre Amman nicht auch füreinen Narren gehalten worden, wenn er sich, bevor ersich auf glückliche Erfahrung berufen konnte, ge-rühmt hätte, Schüler, wie die seinigen, zu unterrich-ten, und noch dazu in so kurzer Zeit? Indess habenseine Erfolge die Welt in Staunen versetzt und er istwie der Verfasser der Geschichte der Polypen in

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21.038 La Mettrie-Masch., 35La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

raschem Fluge zur Unsterblichkeit gelangt. Wer sei-nem Geiste die Wunder, welche er beweist, verdankt,überragt meines Erachtens den, welcher die seinigenvom Zufall hat. Wer die Kunst, das schönste der Rei-che noch mehr zu verschönern und ihm Vollkommen-heiten, welche es noch nicht hatte, zu verlesen, ent-deckt hat, muss über den müssigen Stifter leichtferti-ger Systeme oder den eifrigen Urheber unfruchtbarerEntdeckungen gestellt werden. Die EntdeckungenAmmans sind wohl von einem höheren Werthe; er hatMenschen dem blinden Triebe entzogen zu welchemsie verurtheilt zu sein schienen; er hat sie mit Ideen,mit Geist, mit einem Worte mit einer Seele ausgestat-tet, die sie sonst niemals gehabt hätten. Welches Kön-nen möchte man höher veranschlagen! Die Hilfsmittelder Natur sind schrankenlos, unendlich, besonders mitUnterstützung von grosser Kunst.

Dieselbe Mechanik, welche den EustachischenKanal bei den Tauben eröffnet, könnte sie nicht auchdie Affen zum Sprechen bringen? Könnte das glückli-che Verlangen, des Lehrers Aussprache nachzuahmen,nicht auch die Sprachorgane der Thiere, welche soviel andere Zeichen mit so grosser Geschicklichkeitund Erkenntniss nachmachen, von ihrem Bann befrei-en? Ich besorge nicht nur nicht, dass man mir irgendeine wirkliche beweisende Erfahrung aufführenkönne, welche meine Meinung in das Bereich des

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21.039 La Mettrie-Masch., 35La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Unmöglichen und Lächerlichen zu verweisen ver-möchte, sondern die Aehnlichkeit der Bauart und derVerrichtungen des Affen ist auch von der Art, dass ichfast nicht zweifle, wenn man dieses Thier vollkom-men übte, man käme damit zu Rande, ihm das Aus-sprechen und folglich das Verstehen einer Sprache zulehren. Das würde alsdann kein wilder noch verfehlterMensch sein, sondern ein vollkommener, ein kleinerStadt-Mensch, der ebenso viel stoffliche Grundlageoder Musculatur als wir selbst besässe, um zu denkenund seine Erziehung sich zu Nutze zu machen. Vonden. Thieren zu den Menschen ist der Uebergangnicht gewaltsam; die wahren Philosophen werden dieszugeben. Was war der Mensch vor der Erfindung derWorte und der Kenntniss der Sprachen? Ein Thier inseiner Art, welches mit weit weniger natürlichem In-stinkt, als die anderen, für deren König er sich damalsnicht hielt, nur in demselben Verhältniss vom Affenund den anderen Thieren unterschieden war, wie derAffe es von den letzteren ist, nehmlich durch Ge-sichtszüge, auf welchen ein höherer Grad von Unter-scheidungskraft ausgeprägt ist.

Lediglich zu der Anschauungs-Erkenntniss derLeibnitzianer gezwungen, sah er nur Gestalten undFarben ohne etwas unter diesen unterscheiden zu kön-nen; alt wie jung, ein Kind in jedem Alter, stammelteer seine Gefühle und seine Bedürfnisse, wie ein Hund,

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21.040 La Mettrie-Masch., 36La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

der ausgehungert oder von der Ruhe gelangweilt ist,zu fressen oder herumzulaufen verlangt. Die Worte,die Sprachen, die Gesetze, die Wissenschaften, dieschönen Künste, sind gekommen, und durch sie istendlich der rohe Diamant unseres Geistes geschliffen.Man hat einen Menschen abgerichtet wie ein Thier;man ist Schriftsteller geworden wie Lastträger. EinGeometer hat erlernt die schwersten Beweise und Be-rechnungen darzulegen, wie ein Affe seinen kleinenHut abzunehmen oder aufzusetzen und auf seinem ge-lehrigen Hunde zu reiten. Alles ist durch Zeichen zuWege gebracht; jede Art hat begriffen, was sie begrei-fen konnte, und so haben die Menschen auf dieseWeise die symbolische Erkenntniss, wie selbige vonunseren deutschen Philosophen noch heute genanntwird, erlangt.

Man sieht also, nichts ist so einfach wie die Me-chanik unserer Erziehung! Alles lässt sich auf Töneoder auf Worte zurückführen, die von dem Munde deseinen durch das Ohr des andern ins Gehirn gehen,welches zu gleicher Zeit vermittelst der Augen dieGestalt der Körper erhält, deren willkürliche Zeichendiese Worte sind.

Aber wer hat zuerst geredet? Wer ist der erste Leh-rer des Menschengeschlechts gewesen? Wer hat dieMittel erfunden die Gelehrigkeit unserer Organisationnutzbar zu machen? Ich weis darüber nichts; der

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21.041 La Mettrie-Masch., 37La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Name jener glücklichen und ersten Geister ist in derNacht der Zeiten verloren gegangen. Aber die Kunstist die Tochter der Natur; letztere hat ihr lange voran-gehen müssen.

Man muss annehmen, dass die am besten organisir-ten Menschen, diejenigen, für welche die Natur ihreWohlthaten erschöpfte, die anderen unterrichtet habenwerden. Sie werden beispielsweise kein neues Ge-räusch haben hören, keine neuen Gefühle empfinden,nicht von allen diesen schönen Gegenständen, welchedas entzückende Schauspiel der Natur bilden, habenlebhaft berührt werden können, ohne sich in demFalle jenes Tauben von Chartres, dessen Geschichteuns der grosse Fontenelle zuerst mitgetheilt, zu befin-den, der zum ersten Male mit 40 Jahren, den wunder-baren Klang der Glocken hörte.

Sollte nun der weitere Schluss abgeschmackt er-scheinen, dass diese ersten Sterblichen nach Art die-ses Tauben oder nach der Art der Thiere und derStummen (wieder eine andere Gattung von Thieren)ihre neuen Gefühle auszudrücken versuchten undzwar durch Bewegungen, welche von der Einrichtungihres Vorstellungsvermögens abhingen, und folglichdann durch angezwungene Töne, wie sie jedem Thiereals natürlicher Ausdruck seines Erstaunens, seinerFreude, seines Entzückens oder seiner Bedürfnisse ei-genthümlich sind? Denn diejenigen, welche die Natur

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21.042 La Mettrie-Masch., 37La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

mit einem feineren Gefühle begabt hatte, haben ge-wiss auch mehr Geläufigkeit es auszudrücken gehabt.

So haben nach meiner Auffassung die Menschenihr Gefühl oder ihren Instinkt angewendet, um Geist,und endlich ihren Geist, um Kenntnisse zu empfan-gen. Durch folgende Mittel, soweit ich die Sache be-greife, hat man das Gehirn mit Gedanken, zu derenAufnahme die Natur es geschaffen hatte, erfüllt.Dabei half eins dem andern, der kleine Anfang führtezu allmäliger Vergrösserung, bis alle Dinge im Welt-all so leicht unterschieden wurden, als ständen sie imKreise herum.

Wie eine Violinsaite oder eine Klaviertaste erbebtund einen Ton von sich giebt, so sind die Saiten desGehirns, von hellen Funken getroffen, zur Ueberliefe-rung oder Wiedergabe der Worte, welche sie berühr-ten, angeregt worden. Aber da der Bau des Gehirnsvon der Art ist, dass, sobald die einmal zum Sehenwohl geformten Augen das Gemälde der Gegenständeerhalten haben, es nicht umhin kann, die Bilder unddie Verschiedenheiten derselben aufzunehmen, so hatebenso die Seele, wenn die Zeichen dieser Verschie-denheiten im Gehirn angegeben oder eingegrabenworden sind, nothwendigerweise ihre Verhältnisse ge-prüft, eine Prüfung, welche ihr ohne die Entdeckungder Zeichen oder die Erfindung der Sprachen unmög-lich war. In jenen Zeiten in denen das Weltall fast

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21.043 La Mettrie-Masch., 38La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

stumm war, war die Seele bezüglich sämmtlicher Ge-genstände, wie ein Mensch, welcher, ohne eine Ideevon Proportion, ein Gemälde oder Sculpturen betrach-tet; ein solcher Mensch könnte hieran nichts unter-scheiden; oder er würde sich wie ein kleines Kind ver-halten, (die Seele war ja damals in ihrer Kindheit)welches in seiner Hand eine gewisse Anzahl Stroh-hälmchen oder Holzstückchen hält und sie im Allge-meinen mit zerstreutem, oberflächlichem Blicke, ohnesie zählen oder unterscheiden zu können, ansieht.Aber man setze eine Art Flagge oder Fahne an jenesStück Holz z.B., welches man Mast nennt, man setzedergleichen an einen anderen ähnlichen Körper, manlasse den zuerst angetroffenen vermittelst des Zei-chens 1, und den zweiten vermittelst des Zeichensoder der Ziffer 2 gezählt werden, so wird dieses Kindsie zählen können und auf diese Weise hintereinanderdie ganze Rechenkunst lernen. Sobald eine Figur ihmeiner anderen durch ihr Zahl-Zeichen gleich erschei-nen wird, wird es ohne Mühe schliessen, dass dieszwei verschiedene Körper sind, dass 1 und 1 zwei,dass 2 und 2 vier sind6.

Diese wirkliche oder scheinbare Aehnlichkeit derGestalten ist die Grundlage aller Wahrheiten und allerunserer Kenntnisse, unter denen diejenigen, deren Zei-chen weniger einfach und weniger begreifbar sind,sich offenbar schwerer als die anderen erlernen lassen,

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21.044 La Mettrie-Masch., 39La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

weil sie mehr Geist erfordern, um jene unendlicheMenge von Worten zu umfassen und zu vereinigen,durch welche die Wissenschaften, die ich meine, ihreWahrheiten zum Ausdruck bringen; während die Wis-senschaften, welche durch Ziffern oder andere kleineZeichen sich kundgeben, leicht erlernt werden; undohne Zweifel verdanken die algebraischen Berechnun-gen dieser Leichtigkeit mehr noch als ihrer augen-scheinlichen Gewissheit ihre grosse Beliebtheit.

Dieses ganze Wissen, womit der Wind die Gehirn-kugel unserer hochmüthigen Pedanten schwellt, istalso nur eine ungeheuere Anhäufung von Worten undGestalten, welche im Kopfe alle die Wege ausma-chen, durch welche wir unterscheiden und uns der Ge-genstände erinnern. Alle unsere Gedanken erwachen,gleichwie ein Gärtner, welcher die Pflanzen kennt,sich alle ihre Benennungen bei ihrem Anblicke verge-genwärtigt. Diese Worte und diese Gestalten DieseWorte und diese Gestalten, welche durch erstere be-stimmt werden, sind im Gehirne so aneinander ge-knüpft, dass man sich ziemlich selten eine Sache vor-stellt, ohne den Namen oder das Zeichen, welche mitihr verbunden sind.

Ich gebrauche immer das Wort Vorstellen, weil ichglaube, dass man sich Alles vorstellt, und dass alleTheile der Seele mit Recht auf das Vorstellungsver-mögen allein zurückgeführt werden können, da jene

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21.045 La Mettrie-Masch., 39La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

alle von diesem ihre Aeusserungsweise zugetheilt er-halten, so dass also der Verstand, das Urtheil, das Ge-dächtniss nur Theile der Seele sind, welche keines-wegs selbstwaltend auftreten, sondern auf die markigeUmhüllung eingeschränkt sind, auf welche die imAuge gemalten Gegenstände wie von einer magischenLaterne zurückgeworfen werden.

Aber wenn das merkwürdige und unbegreiflicheErgebniss der Gehirn-Organisation ein solches ist,wenn Alles durch das Vorstellungsvermögen sich er-fassen und auseinandersetzen lässt, wozu brauchtdann das denkende Princip im Menschen getheilt wer-den? Machen die auf Seite der Einfachheit des GeistesStehenden sich nicht eines offenbaren Widerspruchesschuldig? Denn ein Ding, welches man theilt, kannohne Abgeschmacktheit nicht mehr für untheilbar an-gesehen werden. Dahin führt also der Missbrauch derSprachen und die Anwendung jener grossen WorteSpiritualität, Immaterialität etc., welche man ganznach Belieben anwendet, ohne dass sie, selbst vongeistreichen Leuten, verstanden werden.

Nichts ist leichter als ein System, welches, wie die-ses hier, auf das innige Gefühl und die eigene Erfah-rung jedes Individuums gegründet ist, darzuthun. Istdas Vorstellungsvermögen, oder jener phantastischeTheil des Gehirns, dessen Natur uns ebenso unbe-kannt als die Art seiner Thätigkeit ist, von Natur klein

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21.046 La Mettrie-Masch., 40La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

oder schwach, so wird es kaum die Kraft haben, dieUebereinstimmung oder Aehnlichkeit seiner Ideen zuvergleichen; es wird nur das ihr Gegenüberstehendeoder es am lebhaftesten Afficirende sehen können;und noch dazu auf welche Weise! Aber immer bleibtes wahr, dass das Vorstellungsvermögen allein be-greift; von ihm werden alle Gegenstände mit denWorten und Gestalten, welche sie charakterisiren, ver-gegenwärtigt, und ich wiederhole demnach, dass dasVorstellungsvermögen die Seele ist, weil es in allenRollen derselben auftritt. Durch dieses Vermögen,durch seinen schmeichelnden Pinsel nimmt das kalteSkelett der Vernunft lebhaftes und rothes Fleisch an:durch dasselbe blühen die Wissenschaften, verschö-nern sich die Künste, reden die Wälder, seufzen dieEchos, weinen die Felsen, athmet der Marmor, Allesgewinnt Leben unter den leblosen Körpern. Dasselbefügt der Zärtlichkeit eines verliebten Herzens den pi-kanten Reiz der Wollust hinzu; es lässt dieselbe imCabinet des Philosophen wie des staubigen Pedantenkeimen; es bildet endlich die Gelehrten wie die Red-ner und Dichter. In thörichter Art von den Einen ver-schrieen, von Anderen unnütz ausgezeichnet, und vonAllen schlecht gekannt, folgt es der Spur der Grazienund der schönen Künste und malt nicht nur die Natur,sondern vermag sie auch zu beurtheilen. Es überlegt,richtet, dringt ein, vergleicht, ergründet. Könnte es so

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21.047 La Mettrie-Masch., 41La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

gut die Schönheiten der Gemälde, welche einen Ein-druck in ihm hervorgerufen, empfinden, ohne derenVerhältnisse zu entdecken? Nein; da es den Vergnü-gungen der Sinne sich nicht zuwenden kann, ohne ihreganze Vollkommenheit oder Wollust zu kosten, kannes über das, was es mechanisch aufgefasst hat, nichtin Erwägungen eingehen, ohne alsdann das Urtheilselbst zu sein.

Je mehr man die Vorstellungskraft, oder den kärg-sten Geist übt, desto mehr nimmt er, so zu sagen, anUmfang zu, desto mehr vergrössert er sich, wird stark,mächtig, umfassend und denkfähig. Die beste Organi-sation bedarf dieser Uebung.

Die Organisation ist das erste Verdienst des Men-schen; vergebens machen die Moralphilosophen denEigenschaften, welche man von der Natur erhält, denRang von schätzenswerthen Vorzügen streitig undlassen nur die Talente, welche man mit Hülfe vonUeberlegung und Gewandtheit erlangt, gelten; dennich möchte wissen, woher Geschicklichkeit, Wissen-schaft und Tugend kommen, wenn nicht eine gewisseAnlage uns geeignet macht, geschickt, gelehrt und tu-gendhaft zu werden? Und wer giebt uns diese Anlage?Doch Niemand anders als die Natur. Nur durch siebesitzen wir schätzenswerthe Eigenschaften, ihr ver-danken wir Alles, was wir sind. Warum sollte ichnicht diejenigen, welche natürliche Vorzüge besitzen,

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21.048 La Mettrie-Masch., 41La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

ebenso wie die achten, welche durch erworbene undgleichsam entliehene Tugend glänzen? Gleichvielwelches das Verdienst sei und woher es auch stamme,es ist der Achtung würdig; man muss es nur zu würdi-gen verstehen. Geist, Schönheit, Reichthümer, Adel,obgleich Kinder des Zufalls, haben alle ihren Werth,so gut wie Geschicklichkeit, Gelehrsamkeit, Tugendetc. Diejenigen, welche die Natur mit ihren kostbar-sten Gaben überhäuft, müssen diejenigen beklagen,denen sie verweigert worden sind; aber sie dürfen ihreUeberlegenheit ohne Hochmuth und als Kenner wür-digen. Eine schöne Frau wäre eben so lächerlich sichfür hässlich zu halten, als ein geistvoller Mensch, derein Thor zu sein glaubt. Uebertriebene Bescheidenheit(wahrlich ein seltener Fehler) ist eine Art Undankbar-keit gegen die Natur. Ein anständiger Stolz dagegenist das Zeichen einer schönen und grossen Seele, wel-che edle Züge, gleichsam als seien sie vom Gedankengeformt, verrathen.

Wenn die Organisation ein Verdienst ist, und zwardas erste Verdienst, und die Quelle aller anderen, soist der Unterricht das zweite. Sei ein Gehirn noch sogut gebaut, ohne ihn würde es dem reinen Untergangegeweiht sein, ebenso wie ohne den Einfluss von Ge-sellschaft der wohlgestalteteste Mensch nur ein groberBauer wäre. Aber ebenso drängt sich die Frage auf,welches denn die Frucht einer noch so vorzüglichen

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21.049 La Mettrie-Masch., 42La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Schule sein würde, ohne ein Gehirn, welches demEingange oder der Aufnahme der Gedanken sich nichtvollkommen eröffnet hätte? Es ist eben so unmöglichauch nur eine Idee einem Menschen zu geben, deralles Verstandes beraubt ist, als ein Kind bei einerFrau zu erzeugen, bei der die Natur die Zerstreutheitso weit getrieben hätte, dass sie ihre Geschlechtstheilezu bilden vergass, wie ich es bei einer Frau gesehenhabe, welche weder Schamspalte, noch Scheide, nochGebärmutter hatte und welche aus diesem Grunde 10Jahre nach ihrer Hochzeit von ihrem Manne wiedergeschieden wurde.

Aber wenn das Gehirn zugleich gut organisirt undgut unterrichtet ist, so ist es ein vollkommen besäetes,fruchtbares Land, welches das Hundertfache von dem,was es empfangen, hervorbringt, oder, (um den bildli-chen Styl, der, um das Gemeinte besser auszudrückenund selbst die Wahrheit anmuthig zu machen, oft nö-thig ist, aufzugeben) das Vorstellungsvermögen,durch Kunst zu der schönen und seltenen Würde eineshervorragenden Geistes erhoben, fasst alle begriffenenIdeenverbindungen genau auf, umfasst mit Leichtig-keit eine erstaunliche Menge von Gegenständen, umdaraus endlich eine lange Kette von Schlüssen zu zie-hen. Diese sind zuvörderst nur neue Beziehungen,welche aus der Vergleichung der ersten hervorgingen,mit welchen die Seele eine vollkommene Aehnlichkeit

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21.050 La Mettrie-Masch., 43La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

findet. So ist, meines Erachtens, die Zeugung des Gei-stes. Ich sage findet, wie ich früher die Bezeichnung»Augenscheinlich« für die Aehnlichkeit der Gegen-stände gewählt habe. Nicht dass ich denke, unsereSinne trügen, wie Vater Malebranche es behauptethat, oder dass unsere Augen, von Natur ein wenigtrunken, die Gegenstände nicht sehen, wie sie an undfür sich sind, obgleich die Mikroskopiker es uns alleTage beweisen; sondern um keinen Streit mit denPyrrhoniern zu haben, unter denen Bayle sich hervor-gethan hat.

Ich sage von der Wahrheit im Allgemeinen, wasFontenelle von gewissen Dingen im Besonderen sagt,man müsse sie der gesellschaftlichen Annehmlichkeitzum Opfer bringen. Es ist der Sanftmuth meines Cha-rakters eigen, jedem Streite vorzubeugen, wenn essich nicht darum handelt der Unterhaltung einen stär-keren Reiz zu verleihen. Die Cartesianer kämen hiervergeblich zum Zeugenbeweise mit ihren angeborenenIdeen; ich gäbe mir gewiss nicht den vierten Theil soviel Mühe als Locke, um solche Hirngespinnste anzu-greifen. Wozu sollte in der That die Abfassung einesgrossen Buches nützen, um eine Lehre, welche vordreitausend Jahren zum Grundsätze erhoben war, dar-zulegen.

Nach den Grundsätzen, welche wir aufgestellthaben und welche wir für wahr halten, muss

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21.051 La Mettrie-Masch., 43La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

derjenige, welcher am meisten Vorstellungskraft hat,zugleich als der am meisten mit Geist oder mit Genieausgestattete angesehen werden, denn alle dieseWorte sind gleichbedeutend und ich wiederhole, es istein schändlicher Missbrauch, wenn man verschiedeneDinge zu sagen glaubt, während man nur verschie-dene Worte oder Laute, an welche man keinen wirkli-chen Gedanken oder Unterschied geknüpft hat, vor-bringt.

Das schönste, grösste oder stärkste Vorstellungs-vermögen ist also am meisten für die Wissenschaften,wie für die Künste geeignet. Ich entscheide nicht, obes mehr Geist bedarf, um in der Kunst eines Aristote-les, oder eines Descartes, als in derjenigen eines Euri-pides oder eines Sophokles sich auszuzeichnen, undob die Natur sich in grössere Unkosten versetzt hat,um Newton, als um Corneille zu erschaffen, (was ichsehr bezweifle;) aber es ist gewiss die verschieden an-gewendete Vorstellungskraft allein, welche ihren ver-schiedenen Triumph und ihren unsterblichen Ruhmhervorgerufen hat.

Wenn Jemand in dem Rufe steht, wenig Urtheil,aber viel Vorstellungskraft oder Phantasie zu besit-zen, so will dies sagen, dass letztere, sich selbst zusehr überlassen, gleichsam fast immer beschäftigt,sich in dem Spiegel ihrer Empfindungen zu beschau-en, nicht genügend gewöhnt worden, diese selbst mit

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21.052 La Mettrie-Masch., 44La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Aufmerksamkeit zu prüfen, weil sie von den Ein-drücken oder den Bildern tiefer durchdrungen war, alsvon ihrer Wahrheit oder ihrer Aehnlichkeit.

In der That ist die Lebhaftigkeit der Phantasie sogross, dass sie ohne die Aufmerksamkeit, welche derSchlüssel oder die Mutter der Wissenschaften ist, dieGegenstände nur oberflächlich zu berühren und zustreifen im Stande ist.

Man betrachte den Vogel auf dem Aste, es siehtaus, als sei er zum Davonfliegen immer bereit; ebensoist es mit der Vorstellungskraft. Immer von dem Wir-bel des Blutes und der Einfalle davongetragen, zeich-net eine Welle die Spur, die die folgende wieder ver-wischt; die Seele sucht oft vergebens sie einzuholenund muss darauf gefasst sein das nicht rasch genugErgriffene und Zurückgehaltene zu beklagen. Und sozerstört und erneuert die Vorstellungskraft ohne Un-terlass - ein treues Bild der Zeit - ihre Schöpfungen.

So steht es durch Verwirrung und beständige undrasche Aufeinanderfolge mit unseren Gedanken; siejagen sich wie eine Woge die andere treibt, so dasswenn die Vorstellungskraft nicht, so zu sagen, einenTheil ihrer Muskeln in Thätigkeit setzt, um ihrGleichgewicht auf den Seilen des Gehirnes zu erhal-ten und eine Zeit lang dadurch auf einem fliehendenGegenstande festen Fuss zu fassen, ohne gleich aufeinem andern, dessen Beschauung erst später erfolgen

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21.053 La Mettrie-Masch., 44La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

soll, zu fallen, - sie niemals des schönen Namens»Verstand« würdig sein wird. Sie wird in lebhafterWeise, was sie ebenso empfunden haben wird, aus-drücken; sie wird die Redner, die Musiker, die Maler,die Dichter, aber niemals einen einzigen Philosophenausbilden. Wenn man im Gegentheil die Einbildungs-kraft schon von Kindheit an daran gewöhnt, sichselbst einen Zaum aufzulegen, sich nicht zu ihrem ei-genthümlichen Ungestüm, der nur glänzende Schwär-mer erzeugt, fortreissen zu lassen, seine Gedanken zufesseln und beisammenzuhalten und sie nach allenSeiten zu beleuchten, damit man einen Gegenstandvon allen Gesichtspunkten betrachten könne, - dannwird es, durch Vereinigung von leichter Auffassungund Ueberlegung, den grössten Kreis von Gegenstän-den umspannen, und seine in der Kindheit, wenn siedurch Bemühung und Uebung gezügelt ist, für eine sogute Vorbedeutung gehaltene Lebhaftigkeit wird sichdann zu jenem klaren Scharfsinn gestalten, ohne wel-chen man wenig Fortschritte in den Wissenschaftenmacht.

Hiermit sind die einfachen Grundlagen angegeben,auf denen das Gebäude der Logik aufgerichtet wordenist. Die Natur hatte sie dem ganzen Menschenge-schlechte dargeboten, aber einige haben sie benutzt,andere gemissbraucht.

Ungeachtet dieser Vorzüge des Menschen vor denPhilosophie von Platon bis Nietzsche

21.054 La Mettrie-Masch., 45La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Thieren thut man ihm nur Ehre an, wenn man ihn ineine Klasse mit ihnen einreihet. Bis zu einem gewis-sen Alter ist er wahrhaftig mehr Thier als sie, weil erweniger Instinct bei der Geburt mitbringt.

Welches Thier würde denn mitten in einem Milch-strome sterben? Nur der Mensch. Aehnlich jenemalten Kinde, von welchem ein Neuerer, nach Arnob'sVorgange erzählt, kennt er weder die sich für ihn eig-nenden Nahrungsmittel, noch das Wasser, welchesihn ertränken, noch das Feuer das ihn zu Asche ma-chen kann. Man lasse zum ersten Male ein Kerzen-licht vor den Augen eines Kindes brennen, so wird esunwillkürlich den Finger hineinstecken, als ob es er-fahren wollte, von welcher Art die neue, von ihmwahrgenommene Erscheinung sei; es wird auf eigeneUnkosten die Gefahr kennen lernen, aber nicht zumzweiten Male dabei ertappt werden.

Man setze das Kind ferner mit einem Thiere an denRand eines Abgrundes, es wird allein hineinfallen; esertrinkt, wo das Thier sich durch Schwimmen rettet.Mit vierzehn oder fünfzehn Jahren merkt der Menschkaum die grossen Vergnügungen, die seiner bei Fort-pflanzung seiner Gattung harren; ist er schon Jüng-ling, versteht er sich nicht allzu gut bei einem Spielezu benehmen, welches die Natur so rasch den Thierenlehrt; er verbirgt sich, als ob es eine Schande wäre,Vergnügen zu empfinden und dazu geschaffen zu

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21.055 La Mettrie-Masch., 46La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

sein, damit man glücklich werde, während die Thieredamit prahlen, Cyniker zu sein. Ohne Erziehung, sinddiese auch ohne Vorurtheile. Aber lasset uns fernerdiesen Hund und dieses Kind betrachten, welche allebeide ihren Herrn auf einer Heerstrasse verlorenhaben: das Kind weint, es weiss nicht welchen Heili-gen es anrufen soll; der Hund, durch seinen Geruchbesser als das andere von seiner Vernunft geleitet,wird ihn bald gefunden haben.

Die Natur hatte uns also geschaffen, um unter denThieren zu stehen, oder um eben hierdurch die Wun-der der Erziehung, welche uns allein aus dem gleichenStande mit ihnen zieht und uns endlich über sie em-porhebt, besser in die Augen springen zu lassen. Abersollte man diesselbe Unterscheidung den Tauben, denBlindgeborenen, den Schwachsinnigen, den Narren,den wilden Menschen oder den im Walde mit denThieren erzogenen, sollte man sie denjenigen bewilli-gen, deren hypochondrische Stimmung das Vermögender Vorstellung verloren hat, endlich allen jenen Thie-ren mit menschlicher Gestalt, welche nur den gröbstenInstinkt an den Tag legen? Nein, alle diese Menschen,die es zufolge ihrer Leibesbeschaffenheit und nicht inFolge ihres Geistes sind, verdienen keine besondereKlasse.

Wir haben nicht die Absicht uns zu verhehlen, dassman zu Gunsten der ursprünglichen Unterscheidung

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21.056 La Mettrie-Masch., 46La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

des Menschen von den Thieren, gegen unsere Mei-nung Einwendungen aufwerfen kann. Es ist, sagt man,im Menschen ein natürliches Gesetz, eine Kenntnissdes Guten und des Bösen, welche in das Herz derThiere nicht eingegraben worden ist.

Aber ist dieser Einwand, oder vielmehr diese Be-hauptung auf die Erfahrung gegründet, ohne welcheein Philosoph Alles verwerfen kann? Besitzen wireine solche, welche uns überzeugt, dass der Menschvon einem allen anderen Thieren verweigerten Strahleerhellt worden ist? Wenn es also eine solche nichtgiebt, so können wir auch nicht sowohl das, was inden Thieren und selbst in den Menschen sich zuträgt,erkennen, als vielmehr nur empfinden, was das Innereunseres eignen Seins schmerzlich berührt. Wir wis-sen, dass wir denken und dass wir Gewissensbissehaben; ein inneres Gefühl zwingt uns nur allzusehr eseinzuräumen; aber um anderer Leute Gewissensbissezu beurtheilen, genügt das in uns lebende Gefühlnicht; desshalb muss man anderen Menschen auf ihreignes Wort, oder nach Maassgabe der wahrnehmba-ren und äusseren Zeichen, welche wir in uns selbstbemerkten, als wir dasselbe böse Gewissen und die-selben Qualen empfanden, in dieser Beziehung Glau-ben schenken.

Aber um zu entscheiden ob die Thiere, welchenicht reden, das sittliche Naturgesetz auch empfangen

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21.057 La Mettrie-Masch., 47La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

haben, muss man sich folgerichtig an die Zeichen hal-ten, von denen ich eben gesprochen, vorausgesetzt,dass sie vorhanden sind. Die Tatsachen scheinendafür zu reden. Der Hund, der seinen Herrn gebissen,weil er ihn reizte, scheint dies im nächsten Augen-blicke schon zu bereuen; man sieht ihn traurig, be-trübt, er wagt nicht sich zu zeigen und gesteht seineStrafbarkeit durch eine demüthige, beschämte Mieneein. Die Geschichte bietet uns ein berühmtes Beispielvon einem Löwen, welcher einen seiner Wuth über-lassenen Menschen nicht zerreissen wollte, weil er ihnals seinen Wohlthäter wiedererkannte. Wie wün-schenwerth wäre es doch, dass der Mensch selbstimmer die gleiche Erkenntlichkeit für Wohlthaten unddieselbe Achtung vor der Menschlichkeit an den Taglegte! Man hätte dann weder die Undankbaren, nochjene Kriege zu fürchten, welche die Geissel des Men-schengeschlechts und die wahren Henker des natürli-chen Sittengesetzes sind.

Aber ein Wesen, dem die Natur einen so frühzeiti-gen, klaren Instinct gegeben hat, welches urtheilt, ver-knüpft, überlegt und nachdenkt, soweit der Kreis sei-ner Thätigkeit sich erstreckt und es ihm erlaubt; einWesen, welches von Wohlthaten angezogen, vonübler Behandlung verscheucht wird und es bei einembesseren Herrn versucht, ein Wesen, von einem demunsrigen ähnlichen Baue, welches dieselben

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21.058 La Mettrie-Masch., 48La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Verrichtungen, dieselben Schmerzen, dieselben demGebiete seiner Vorstellung und der Beschaffenheitseiner Nerven entsprechenden, mehr oder weniger leb-haften Vergnügungen hat, ein solches Wesen solltenicht deutlich veranschaulichen, dass es sein eignesund unser Unrecht wohl empfindet, dass es Gutes undBöses kennt und mit einem Worte sich seines Thunsund Lassens bewusst ist? Sollte seine Seele, welchedieselbe Freude, dieselben Kränkungen, denselbenSchrecken wie die unsrige bezeugt, ohne jeden Wider-willen bei dem Anblick des zerfleischten Mitge-schöpfs bleiben oder gar nachdem es dieses selbst un-barmherzig zerstückelt hat? Wenn man dies anzuneh-men nicht berechtigt ist, so wäre also die fraglichekostbare Gabe den Thieren nicht verweigert worden;denn weil sie uns deutliche Zeichen ihrer Reue, wieihrer Einsicht blicken lassen, so dürfte es keine abge-schmackte Ansicht sein, dass Geschöpfe, Maschinenfast von derselben Vollkommenheit als wir, gleichuns zum Denken und zum Empfinden der Natur ge-schaffen seien.

Man wende mir nicht ein, die Thiere seien meistwilde Wesen, die das Unglück, das sie anstiften, zufühlen ausser Stande sind; denn wissen sämmtlicheMenschen besser zwischen Lastern und Tugenden zuunterscheiden? Es hat unsere Gattung ebenso gutWildheit aufzuweisen als die ihrige. Die Menschen,

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21.059 La Mettrie-Masch., 48La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

welche aus barbarischer Gewohnheit das Naturgebotübertreten, sind aus diesem Grunde nicht so gepei-nigt, als diejenigen, welche es zum ersten Male über-schreiten und welche die Macht des Beispiels nichtverhärtet hat. Dasselbe gilt von den Thieren, wie vonden Menschen. Beide können mehr oder weniger wildvon Temperament sein und sie werden es noch mehrin Gesellschaft derjenigen, welche es sind. Aber einsanftes, friedliches Thier, welches mit anderen ähnli-chen Thieren und von milden Nahrungsmitteln lebt,wird dem Blute und dem Gemetzel Feind sein; eswird innerlich erröthen es vergossen zu haben, mitdem Unterschiede vielleicht, dass, da bei ihnen Allesden Bedürfnissen, dem Vergnügen und der Lebensbe-quemlichkeit, die sie nicht mehr als wir gemessen, ge-opfert wird, es so scheint, als brauchten ihre Gewis-sensbisse nicht so lebhaft als die unsrigen zu sein,weil wir nicht derselben Nöthigung als sie unterwor-fen sind. Die Gewohnheit stumpft ab und ersticktvielleicht die Gewissensbisse, wie die Vergnügungen.

Aber ich will einen Augenblick annehmen, dass ichmich täusche und dass es nicht richtig sei, dass fastdie ganze Welt über diesen Punkt sich im Unrecht be-finde, während ich allein Recht haben sollte; ichräume ein, dass die Thiere, selbst die ausgezeichnet-sten, die Unterscheidung zwischen dem moralischGuten und Schlechten nicht kennen, dass sie kein

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21.060 La Mettrie-Masch., 49La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Gedächtniss für die Aufmerksamkeit, für das Gute,das man ihnen erwiesen, keine Empfindung ihrer eige-nen guten Eigenschaften haben; dass jener Löwe bei-spielsweise, dessen ich nach so vielen Anderen Er-wähnung gethan, sich nicht erinnern solle, dass er dasLeben jenem Manne nicht habe rauben wollen, denman zu einem Schauspiele, das unmenschlicher alsalle Löwen, Tiger und Bären war, seiner Wuth über-liefert hatte, - während unsere Mitbürger sich schla-gen, Schweizer gegen Schweizer, Brüder gegen Brü-der, sich erkennen, fesseln und ohne Gewissensbissetödten, weil ein Fürst ihre Mordthaten bezahlt. Ichnehme endlich an, dass die natürliche Moral denThieren nicht verliehen worden sei; was wird sich dar-aus ergeben? Der Mensch ist nicht aus einem kostba-reren Leim geknetet, die Natur hat nur ein und densel-ben Teig verwandt und nur die Sauerteige sind dabeiverschieden ausgefallen. Wenn das Thier also dieVerletzung des innern Gefühls, von dem ich rede,nicht bereut, oder wenn es desselben vielmehr gänz-lich beraubt ist, so muss der Mensch nothwendiger-weise sich in demselben Falle befinden, und damitlebe wohl Naturrecht und alle jene schönen Abhand-lungen, welche man hierüber veröffentlicht hat! Dasganze Thierreich würde des ersteren durchweg be-raubt sein. Aber wiederum, wenn der Mensch nichtumhin kann zu gestehen, dass, wenn die Gesundheit

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21.061 La Mettrie-Masch., 49La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

ihm nur die Freiheit des Willens lässt, er immer dieRechtschaffenen, Edeldenkenden, Tugendhaften, vonden Unedlen, Nichttugendhaften und Unrechtschaffe-nen unterscheidet; wenn es leicht ist, das Lasterhaftevon dem Tugendhaften schon durch das blosse Ver-gnügen, oder andrerseits durch das eigene Widerstre-ben - gleichsam die natürlichen Wirkungen Beider -zu unterscheiden, - so folgt daraus, dass die aus dem-selben Stoffe gebildeten Thiere, einem Stoffe, wel-chem vielleicht nur ein Grad von Gährung gefehlt hat,um in Allem den Menschen gleiche Thiere daraus her-vorgehen zu lassen, an denselben Vorrechten des ani-malischen Wesens Theil nehmen müssen, und dassalso keine Seele, keine empfindende Substanz demGefühle der Reue fremd sein kann. Die folgendeUeberlegung soll das Gesagte erhärten:

Man kann das sittliche Naturgesetz nicht zerstören.Es ist allen Thieren so stark eingeprägt, dass ichdurchaus nicht zweifle, auch bei den wildesten undrohesten gebe es Augenblicke der Reue. Ich glaube,dass das wilde Mädchen von Chalons in der Champa-gne die Strafe für ihr Verbrechen in sich getragenhaben wird, wenn es wahr ist, dass sie ihre Schwestergefressen hat. Ich denke dasselbe von Allen, welcheselbst unfreiwillige Verbrechen oder dieselben aufGrund eigenthümlicher Beschaffenheit ihres Körpersbegehen: von Gaston von Orleans, der sich zu stehlen

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21.062 La Mettrie-Masch., 50La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

nicht enthalten konnte; von einer gewissen Frau, diein der Schwangerschaft demselben Laster unterworfenwar, welches auch auf ihre Kinder sich vererbte; vondem Weibe welches in demselben Zustande ihrenGatten frass; von jenem andern, welches die Kindererwürgte, ihre Körper einsalzte und davon alle Tage,wie von kurzer Zeit im Salze gelegenem jungenSchweinefleisch zehrte; von jener Tochter eines Räu-bers, welche im Alter von 12 Jahren zur Menschen-fresserin wurde, und die, obschon sie als einjährigesKind ihre Eltern verloren hatte, von rechtschaffenenLeuten auferzogen worden war; - und von so vielenandern hier nicht weiter erst zu nennenden Beispielen,von denen unsere Beobachter erfüllt sind und welchealle beweisen, dass es tausend erbliche, von Eltern aufKinder, von Amme auf Säugling, übergehende Lasterund Tugenden giebt. Ich sage also und räume ein,dass diese Unglücklichen die Ungeheuerlichkeit ihrerThat meist nicht auf der Stelle empfinden. Die Fress-sucht z.B. kann jeden Funken von Gefüllt erlöschen;es ist dies eine heftige Begierde des Magens, welcheman zu befriedigen gezwungen ist. Aber wenn jeneFrauen wieder zu sich gekommen und gleichsamnüchtern geworden sind, welche Gewissensbisse fürsie bei der Erinnerung an den Mord, welchen sie andem Theuersten, was sie hatten, begangen haben! Wieschrecklich die Strafe für eine unfreiwillige Uebelthat,

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21.063 La Mettrie-Masch., 51La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

welcher sie nicht widerstehen konnten, bei welcher siedes Bewusstseins beraubt gewesen! Jedoch ist diesein Zustand, welcher den Richtern nicht hinlänglichklar ist. Von den erwähnten Frauen wurde die eine ge-rädert und verbrannt, die andere lebendig begraben.Ich verkenne keineswegs, was das Interesse der Ge-sellschaft, erheischt. Aber unzweifelhaft wäre wün-schenswerth, dass als Richter nur ausgezeichneteAerzte fungirten. Sie allein könnten den unschuldigenVerbrecher vom schuldigen unterscheiden Wenn dieVernunft die Sklavin eines verderbten oder wüthen-den Sinnes ist, wie sollte sie ihn dann beherrschenkönnen?

Aber wenn das Verbrechen seine mehr oder weni-ger grausame Strafe selbst mit sich bringt, wenn dielängste und barbarischeste Gewohnheit die Reue ausden unmenschlichsten Herzen nicht ganzherauszureissen vermag, wenn sie vielmehr durch dieblosse Erinnerung an ihre Frevelthaten zerrissen wer-den, warum will man das Vorstellungsvermögenschwacher Geister mit einer Hölle, mit Gespensternund mit Feuerschlünden schrecken, welche in Wirk-lichkeit noch weniger vorhanden sind, als diejenigenPascals.7

Was braucht man denn zu Fabeln seine Zuflucht zunehmen, wie ein rechtgläubiger Papst selbst gesagthat, um dieselben Unglücklichen zu quälen, welche

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21.064 La Mettrie-Masch., 52La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

man dem Tode geweiht, weil man sie durch ihr eige-nes Gewissen, welches ihr erster Henker ist, nicht hin-länglich bestraft findet? Ich will damit nicht sagen,dass alle Verbrecher ungerecht bestraft würden; ichbehaupte nur, dass diejenigen, deren Willen verderbtund deren Gewissen erloschen ist, vermöge ihrer Ge-wissensbisse, wenn sie wieder zu sich selbst kommen,genügend bestraft sind, Gewissensbisse, ich wagenochmals diese Bemerkung, von denen, wie mirscheint, die Natur in diesem Falle von einer unheil-schwangeren Nothwendigkeit fortgerissene Unglück-liche hätte befreien müssen.

Die Verbrecher, die Boshaften, die Undankbaren,endlich diejenigen, welche keine Empfindung für dieNatur haben, unglückliche und des Tages unwürdigeTyrannen, mögen aus ihrer Barbarei sich immerhinein grausames Vergnügen bereiten, in Augenblickender Ruhe und Ueberlegung erhebt sich doch das Ge-wissen, zeugt wider sie, und verurtheilt sie, fast un-aufhörlich von seinen rächenden Händen zerrissen zuwerden. Wer die Menschen quält, wird von sich selbstgequält, und die Pein, welche er empfindet, wird dasgerechte Maass der von ihm Anderen bereiteten sein.

Andererseits ist es ein so grosses Vergnügen Guteszu thun und das erfahrene Gute zu fühlen und dankbarzu erkennen, es liegt eine grosse Befriedigung in derAusübung der Tugend, in dem Besitze der Sanftmuth,

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21.065 La Mettrie-Masch., 52La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Menschlichkeit, Zärtlichkeit, Nächstenliebe, des Mit-gefühls und der Grossmuth (dies Wort allein schliesstalle Tugenden in sich), dass, wer auch immer das Un-glück hat nicht tugendhaft geboren zu sein, von mirfür genug bestraft erachtet wird.

Wir sind ursprünglich nicht, um Gelehrte zu sein,erschaffen worden; wir sind es vielleicht nur durcheine Art Missbrauch unserer organischen Fälligkeitengeworden, und zwar zur Last des Staates, der eineMenge Müssiggänger ernährt, welche die Eitelkeit mitdem Namen Philosophen geschmückt hat. Die Naturhat uns einzig und allein erschaffen, um glücklich zusein; ja Alle, vom Wurme, der auf dem Boden kriecht,bis zum Adler hinauf, der sich in den Wolken verliert.Desshalb hat sie allen Thieren einigen Antheil an demNaturgebot gegeben, einen mehr oder weniger auser-lesenen Antheil, je nachdem die normal beschaffenenOrgane jedes Thieres es mit sich bringen.

Wie werden wir nun das Naturgebot definiren ? Esist dies ein Gefühl, welches uns lehrt, was wir nichtthun sollen, indem wir wünschen, dass man es unsnicht thue. Ich darf wohl diesem allgemein bekanntenSatze hinzufügen, dass dieses Gefühl mir nur eine ArtFurcht oder Schrecken zum Heile der Gattung und desIndividuums zu sein scheint; wir achten nehmlich dieBörse oder das Leben Anderer vielleicht nur darum,weil wir uns unsere Güter, unsere Ehre und uns

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21.066 La Mettrie-Masch., 53La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

selbst erhalten wollen, ähnlich jenen Ixions des Chri-stenthums, welche nur, weil sie die Hölle fürchteten,Gott lieben und so viel eingebildeten Tugenden nach-hängen.

Man sieht, dass das Naturgebot nur ein inneres Ge-fühl ist, welches noch zum Vorstellungsvermögen ge-hört, gleich allen anderen, zu denen man den Gedan-ken zählt. Folglich setzt es einleuchtenderweise wederErziehung, noch Offenbarung, noch einen Gesetzge-ber voraus, man müsste es denn mit den bürgerlichenGesetzen nach der lächerlichen Art der Theologenvermengen wollen.

Die Waffen des Fanatismus können diejenigen,welche diese Wahrheiten behaupten, vernichten, abersie werden diese Wahrheiten selbst niemals zerstören.

Damit ziehe ich das Vorhandensein eines höchstenWesens nicht in Zweifel; es scheint mir im Gegentheilder höchste Grad von Wahrscheinlichkeit für dasselbezu sprechen; aber da diese Existenz nicht in höheremGrade die Nothwendigkeit einer Gottesverehrung, alsjede andere beweist, so ist dies eine theoretischeWahrheit, welche mit der Praxis ganz und gar nichtszu thun hat, so dass, da man nach so vielen Erfahrun-gen sagen kann, die Religion setze vollkommeneRechtschaffenheit nicht voraus, dieselben Gründe zuder Meinung berechtigen, sie sei durch den Atheismusnicht ausgeschlossen.

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21.067 La Mettrie-Masch., 54La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Wer weiss übrigens, ob die Ursache des menschli-chen Daseins nicht eben in seinem Dasein liege? Viel-leicht ist er auf irgend einem Punkte der Erdoberflä-che dem Zufall hingeworfen worden, ohne dass manwie oder warum wissen kann, nur dass er, gleichjenen von einem Tage zum andern erscheinenden Pil-zen oder jenen die Gräben begrenzenden und dieMauern bedeckenden Blumen, leben und sterbenmuss.

Verlieren wir uns nicht ins Unendliche, wir sindnicht dazu angethan, hiervon auch nur die geringsteIdee zu haben; es ist uns durchaus unmöglich zum Ur-sprunge der Dinge den Pfad aufzufinden. Es ist über-dies für unsere Ruhe gleich, ob der Stoff ewig sei,oder ob er erschaffen worden ist, ob es einen Gottgiebt oder keinen. Welche Narrheit ist es, sich umdesswillen zu quälen, was zu erkennen unmöglich istund was uns nicht glücklicher machen wurde, wennwir damit zu Stande kämen.

Aber, sagt man, lesen Sie alle Werke eines FénelonNieuwentit, Abadie, Derham, Raïs etc., nun gut! Waswerde ich aus ihnen lernen, oder was habe ich viel-mehr aus ihnen gelernt? Das sind nur langweiligeWiederholungen beeiferter Schriftsteller, von denender eine dem andern nur ein die Grundsätze des Athe-ismus mehr zu stärken als zu untergraben geeignetesGeschwätz hinzufügt. Der Umfang der Beweise,

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21.068 La Mettrie-Masch., 54La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

welche man aus dem Anblicke der Natur schöpft, ver-leiht ihnen keine grössere Kraft. Der Bau eines Fin-gers, eines Ohres, eines Auges allein, eine Beobach-tung von Malpighi, beweisen Alles und ohne Zweifelviel besser als Descartes und Mallebranche; oder viel-mehr alles Uebrige beweist nichts. Die Deisten undselbst die Christen müssten sich also mit der Bemer-kung begnügen, dass in dem ganzen animalischenReiche dieselben Absichten mit Hilfe einer unendli-chen Menge verschiedener, jedoch durchweg genauabgemessener Mittel ausgeführt werden. Denn mitwelchen stärkeren Waffen könnte man die Atheistenniederstrecken? In der That scheinen, wenn meineVernunft mich nicht trügt, der Mensch und das ganzeWeltall zu dieser Einheit der Absichten auserkorenworden zu sein. Die Sonne, die Luft, das Wasser, dieOrganisation, die Gestalt der Körper, Alles ist in demAuge wie in einem Spiegel angeordnet, welcher derVorstellung getreu die darin abgemalten Gegenständein der gesetzmässigen Weise darstellt, wie sie für dieunendliche Menge von durch das Gesicht wahrzuneh-menden Körpern erforderlich ist. Im Ohre finden wirüberall eine auffallende Verschiedenheit, ohne dassdiese verschiedene Einrichtung beim Menschen, denThieren, den Vögeln, den Fischen, verschiedene Ge-brauchsweisen mit sich brächte. Alle Ohren sind mitso grosser mathematischer Genauigkeit gebildet, dass

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21.069 La Mettrie-Masch., 55La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

sie in gleicher Weise denselben einzigen Zweck,nehmlich den zu hören, erstreben. Sollte der Zufall,frägt der Deist, denn ein so grosser Messkünstler sein,dass er die Werke, für deren Urheber man ihn hält, soverschieden gestaltet, ohne dass so grosse Unterschie-de ihn an der Erreichung desselben Ergebnisses hin-dern können? Er fügt noch als Einwarf jene zu künfti-gem Gebrauche in dem Thiere augenscheinlich enthal-tenen Theile hinzu: den Schmetterling in der Raupe,den Menschen im Samenthierchen, einen ganzen Po-lypen in jedem seiner Theile, die Klappe des ovalenLochs, die Lunge im Fötus, die Zähne in ihrem Al-veolen, die Knochen in den Flüssigkeiten, welche sichvon ersteren absondern und auf unbegreifliche Weiseerhärten. Und da die Anhänger dieses Systems nichtsvernachlässigen, um es zur Geltung zu bringen unddaher Beweis auf Beweis zu häufen niemals müdewerden, wollen sie Alles benutzen und selbst dieSchwäche des Geistes in gewissen Fällen. Sehet,sagen sie, die Spinoza, die Vanini, die Desbarreaux,die Boindins, Apostel, welche dem Deismus mehrEhre als Unrecht anthun; die Dauer ihrer Gesundheitist das Maass ihrer Ungläubigkeit gewesen; und inder That ist es, so fügen sie hinzu, selten, dass manden Atheismus nicht abschwört, sobald die Leiden-schaften mit dem Körper, ihrem Werkzeuge, schwachgeworden sind.

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21.070 La Mettrie-Masch., 56La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Das ist gewiss Alles, was man zu Gunsten desVorhandenseins eines Gottes sagen kann, obgleichdieser letzte Beweisgrund insofern hinfällig erscheint,als solche Bekehrungen nur kurz sind und der Geistfast immer seine alten Meinungen wieder aufnimmtund sich diesen Meinungen gemäss verhält, sobald erin den Körperkräften seine frühere Kraft wiederer-langt oder vielmehr wiedergefunden hat. Wenigstensist dies bedeutend mehr als der Arzt Diderot in seinen»philosophischen Gedanken«, einem erhabenenWerke, welches einen Atheisten nicht überzeugenwird, sagt. Was soll man in der That einem Manneantworten, welcher sich folgendermassen äussert:»Wir kennen die Natur nicht; in ihrem Innern verbor-gene Ursachen könnten Alles hervorgerufen haben.Sehet doch einmal den Polypen von Trembley an!Enthält er nicht in sich die Ursachen, welche zu seinerErneuerung Veranlassung geben? Warum sollte denndie Ansicht so abgeschmackt sein, dass es physischeUrsachen für alles Erschaffene giebt, woran die ganzeKette des weiten Weltalls so nothwendig gebundenund denen sie so unterworfen ist, dass nichts vondem, was geschieht, nicht auch nicht geschehen könn-te; Ursachen, deren durchaus unüberwindliche Un-kenntniss uns zu einem Gotte die Zuflucht nehmenliess, welcher - nach der Meinung Einiger - nichteinmal ein vernünftiges Wesen ist. Auf solche Art den

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21.071 La Mettrie-Masch., 56La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Zufall vernichten, heisst nicht das Vorhandenseineines höchsten Wesens beweisen, weil es ja möglichist, dass etwas dazwischen liegt, was weder Zufallnoch Gott ist; ich will einmal sagen die Natur, derenStudium folglich nur Ungläubige erzeugen kann, wiedie Art zu denken bei ihren glücklichsten Erforschernbeweist.«

Das »Gewicht des Weltalls« ist also weit entfernt,einen wirklichen Atheisten zu vernichten, es erschüt-tert ihn nicht einmal, und alle diese tausend und aber-mals tausend mal aufs Neue widerlegten Beweiseeines Schöpfers, welche man hoch über die sonst beiuns übliche Art zu denken stellt, sind, mag man dieseGründe noch so weit fortsetzen, nur den Antipirrhoni-ern einleuchtend, oder denjenigen welche Vertrauengenug in ihre Vernunft setzen, um über scheinbareDinge zu urtheilen, denen, wie man sieht, dir Athei-sten vielleicht eben so starke und durchaus widerspre-chende Wahrscheinlichkeiten entgegensetzen können.Denn wenn wir die Naturalisten weiter hören, so wer-den sie uns sagen, dass dieselben Ursachen, welche inden Händen eines Chemikers und durch den Zufallverschiedener Mischungen den ersten Spiegel hervor-gebracht haben, in den Händen der Natur das reineWasser, welches der einfachen Schäferin zum. Spie-gel dient, geschaffen, haben; dass die die Bewegung,welche die Welt erhält, sie hat erschaffen können;

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21.072 La Mettrie-Masch., 57La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

dass jeder Körper den Platz, welchen seine Natur ihmanwies, hat einnehmen müssen; dass die Luft ausdemselben Grunde die Erde umgeben musste, auswelchem das Eisen und die anderen Metalle das Werkihres Innersten sind; dass die Sonne ein eben so natür-liches Erzeugniss als die Entstehung der Electricitätist, dass sie mit nicht mehr Grund zur Erwärmung derErde und aller ihrer Einwohner, welche sie manchmalauch verbrennt, geschaffen worden, als der Regen, umdie Körner hervorzubringen, welche er oft auch zuGrunde richtet; dass der Spiegel und das Wasser nichtmit mehr Vorsatz gemacht worden sind, damit mansich darin ansehen könne, als alle glatten Körper,welche dieselbe Eigenschaft haben; dass das Auge inder That eine Art von Spiegel ist, in welchem dieSeele das Bild der Gegenstände, so wie sie ihm vondiesen Körpern gezeigt worden sind, beschauenkann, - aber dass nicht bewiesen ist, dieses Organ seiwirklich ausdrücklich um dieser Beschauung willengemacht oder in die Augenhöhle eingestellt worden;dass es endlich wohl möglich sei, Lucrez, der ArztLamy und alle alten und neuen Epicuräer hättenRecht, wenn sie behaupten, dass das Auge nur da-durch, dass es so gestaltet und gestellt ist, wie dieseben der Fall, zum Sehen geeignet sich zeigt, unddass, dieselben Regeln der Bewegung vorausgesetzt,welche die Natur in der Erzeugung und Entwicklung

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21.073 La Mettrie-Masch., 58La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

der Körper sonst befolgt, dieses merkwürdige Organunmöglich anders organisirt werden und einen andernPlatz erhalten konnte.

Das ist das Für und Gegen, das sind in Kürze diegrossen Ursachen, welche die Philosophen für ewig inzwei Heerlager theilen werden. Ich ergreife keine Par-tei.

Nicht unsere Sache ist es, so grosse Streitigkeitenbeizulegen. Dieses sagte ich einem mir befreundetenFranzosen, einem eben so freien Skeptiker als ich,einem Manne von viel Verdienst und der eines bes-sern Schicksals würdig war. Er gab mir darauf einesehr sonderbare Antwort: Es ist wahr, sagte er zu mir,dass das Für und das Gegen die Seele eines Philoso-phen nicht beunruhigen soll, welcher sieht, dassnichts mit hinlänglicher Klarheit bewiesen ist, umsich seine Uebereinstimmung abnöthigen zu lassen,und dass bestimmtere Anzeichen, die sich von dereinen Seite darbieten, alsbald von abweichenden Ge-danken, welche sich von der andern Seite zeigen, zer-stört werden. Jedoch, meinte er, wird die Welt nur,wenn sie dem Atheismus huldigt, glücklich sein. Fol-gendes waren die Gründe dieses »abscheulichen«Menschen: Wenn der Atheismus allgemein verbreitetwäre, so würden, sagte er, alle Zweige der Religionalsdann mit der Wurzel zerstört und ausgeschnittensein. Dann gäbe es keine Religionskriege mehr, nicht

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21.074 La Mettrie-Masch., 58La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

mehr die schlimmste Art von Soldaten, Soldaten derReligion! Die von einem geheiligten Gifte angesteckteNatur würde ihre Rechte und ihre Reinheit wiederer-langen. Taub für jede anderen Stimme, würden die ru-higen Sterblichen nur den ungezwungenen Rathschlä-gen ihrer eignen Individualität Folge leisten; denndiese sind die einzigen, welche man nicht ungestraftverachtet und welche allein durch die angenehmenPfade der Tugend uns zum Glücke zu führen vermö-gen.

So verhält es sich mit dem Naturgesetze, und weres streng beachtet, ist ein redlicher Mann, der dasVertrauen des ganzen Menschengeschlechts verdient.Wer ihm dagegen nicht gewissenhaften Gehorsam lei-stet, mag er die scheinbaren Aussenseiten einer an-dern Religion so viel zur Schau tragen als er will, istein Betrüger, oder ein Heuchler, welchem ich nichttraue.

Hiernach mag ein eitles Volk immerhin andererMeinung sein; mag es zu behaupten wagen, dass manmit der Offenbarung die Rechtschaffenheit selbst ver-loren giebt, dass man mit einem Worte einer anderenals der Natur-Religion bedarf, welche sie auch seinmag! Welch' ein Elend! Welch' ein Mitleid! Und diegute Meinung, welche jeder von der Religion, die ergewählt, uns beibringen will! Wir buhlen hier nichtum die Stimme des Pöbels. Wer in seinem Herzen

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21.075 La Mettrie-Masch., 59La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

dem Aberglauben Altäre errichtet, ist zur Anbetungder Götzen geboren und nicht um Tugend zu empfin-den.

Aber wenn nun alle Fähigkeiten der Seeledermaassen von der eigenthümlichen Organisationdes Gehirns und des ganzen Körpers abhängen, dasssie augenscheinlich nur eben diese Organisationselbst sind, so halten wir eine sehr erleuchtete Ma-schine vor uns. Denn wenn dem Menschen das Natur-recht auch allein zu Theil geworden wäre, wäre erdesshalb weniger eine Maschine? Räder, einige Fe-dern mehr als in den vollkommensten Thieren, dasGehirn dem Herzen verhältnissmässig näher und auchmehr Blut empfangend bei gleichem Verhältniss, wasweiss ich noch? Unbekannte Ursachen würden immerdieses zarte Gewissen, das so leicht verletzlich ist,diese Gewissensbisse, welche dem Stoffe ebensowenig fremd, als der Gedanke sind, und mit einemWorte die ganze hier vorausgesetzte Verschiedenheithervorbringen. Würde denn die Organisation zuAllem genügen? ja, noch einmal. Da doch der Gedan-ke sich sichtlich mit den Organen entwickelt, warumsollte der Stoff, aus dem sie bestehen, nicht ebensofür Gewissensbisse empfänglich sein, wenn er einmalmit der Zeit die Fähigkeit zu empfinden erlangt hat.

Die Seele ist also nur ein nichtiger Aasdruck, vondem man keine rechte Vorstellung hat und dessen sich

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21.076 La Mettrie-Masch., 60La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

ein guter Kopf nur zur Benennung des in uns denken-den Princips bedienen sollte. Nimmt man auch nurden geringsten Grund zur Bewegung an, so wird esden beseelten Körper nicht an dem Nöthigen fehlen,sich zu bewegen, zu fühlen, zu denken, zu bereuenund sich mit einem Worte in der physischen Welt sowie in der davon abhängenden moralischen angemes-sen zu benehmen.

Wir setzen nichts voraus; wer da meinen sollte, esseien noch nicht alle Schwierigkeiten behoben, derwird Erfahrungen vorfinden, die ihn vollends befriedi-gen werden.

1. Alles Fleisch der Thiere zuckt nach dem Todeum so länger, als das Thier kälter ist und weniger aus-dünstet. Dies beweisen die Schildkröten, die Eidech-sen, die Schlangen etc.

2. Die vom Körper getrennten Muskeln ziehen sichzusammen, wenn man sie reizt.

3. Die Eingeweide behalten lange ihre peristalti-sche oder wurmförmige Bewegung.

4. Eine einfache Warmwasser-Einspritzung belebtnach Cowper das Herz und die Muskeln.

5. Das Froschherz bewegt sich, besonders wenn esder Sonne ausgesetzt ist, noch besser auf einem Ti-sche oder einem heissen Teller, während einer Stundeund noch mehr, sobald man es aus dem Körper her-ausgenommen hat. Scheint die Bewegung dann

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21.077 La Mettrie-Masch., 60La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

rettungslos verschwunden? Man reize bloss das Herz,und dieser hohle Muskel schlägt noch. Harvey hatdieselbe Beobachtung an Kröten gemacht.

6. Baco von Verulam spricht in seiner AbhandlungSylva-Sylvarum von einem des Verraths überführtenManne, welchen man lebendig öffnete und dessen inheisses Wasser geworfenes Herz mehrere Male,immer weniger hoch, bis zur senkrechten Höhe von 2Fuss sprang.

7. Man nehme ein Hühnchen noch im Ei; man ent-ferne sein Herz und man wird dieselben Erscheinun-gen unter beinahe gleichen Umständen wahrnehmen.Die Wärme des Athems allein vermag ein Thier, wel-ches in der Luftpumpe beinahe leblos gemacht ist,wieder zu beleben.

Dieselben Erfahrungen, welche wir Boyle und Ste-nonis verdanken, macht man mit Tauben, Hunden,Kaninchen, von denen einzelne Stücke des Herzenssich ebenso wie das ganze Herz bewegen. Eine glei-che Bewegung sieht man an den getrennten Pfoten desMaulwurfs.

8. Die Raupe, die Würmer, die Spinne, die Fliege,der Aal bieten der Betrachtung Aehnliches dar, unddie Bewegung der abgeschnittenen Theile nimmt imheissen Wasser, wegen der in demselben enthaltenenAnfeuerung, noch zu.

9. Ein betrunkener Soldat hieb einem TruthahnePhilosophie von Platon bis Nietzsche

21.078 La Mettrie-Masch., 61La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

den Kopf ab. Das Thier blieb stehen, dann ging es,lief; als eine Mauer ihm in den Weg kam, wandte essich um, schlug mit den Flügeln, wobei es seinenLauf fortsetzte, und endlich fiel es um. Auf demBoden ausgestreckt, bewegten sich alle Muskeln die-ses Hahnes aufs Neue. Das habe ich gesehen, und esist leicht, nahezu dieselben Erscheinungen bei kleinenKatzen, oder Hunden, denen man den Kopf abge-schnitten, zu sehen.

10. Die Polypen bewegen sich nicht bloss, nach-dem man sie zerschnitten; sie verwandeln sich binnenacht Tagen in eben so viele Thiere, als zerschnitteneTheile vorhanden sind. Ich ärgere mich hierüber umdes Systems der Naturalisten in Betreff der Zeugungwillen, oder ich freue mich desshalb eigentlich, weilnehmlich diese Entdeckung uns die gute Lehre giebt,niemals einen allgemeinen Schluss, selbst auf Grundaller bekannten und entscheidendsten Erfahrungen, zuziehen.

Wir hätten hiernach mehr Thatsachen als wir brau-chen, um unwiderleglich darzuthun, dass jede kleineFaser, oder jeder kleine Theil der organisirten Körpersich vermöge eines eigenthümlichen nicht wie bei denfreiwilligen Bewegungen von den Nerven abhängigen,Princips bewegt; weil die Bewegungen, von denenhier die Rede ist, ausgeführt werden, ohne dass dieTheile, von welchen sie ausgehen, in irgend einem

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21.079 La Mettrie-Masch., 61La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Zusammenhange mit dem Blutumlauf ständen. Wenndemnach diese Kraft sich sogar in kleinen Faserstück-chen bemerklich macht, so muss das Herz, da es eineZusammensetzung von eigenthümlich verflochtenenFasern ist, dieselbe Eigenschaft haben. Die Geschich-te von Baco brauchte mir nicht erst diese Ueberzeu-gung beibringen. Mir war es leicht hierüber zu einemUrtheile zu gelangen, sowohl wegen der vollkomme-nen Aehnlichkeit des Baues beim Menschen- undThierherzen, als auch wegen des Gewichts des erste-ren, in welchem diese Bewegung sich nur, weil siedarin unterdrückt ist, den Augen verbirgt, als auchendlich, weil in den Leichen Alles kalt und unter-drückt erscheint. Wenn man zum Tode verurtheilteVerbrecher, deren Körper noch warm sind, zerlegenkönnte, würde man an ihrem Herzen dieselben Bewe-gungen erblicken, welche man an den Gesichtsmus-keln enthaupteter Leute wahrnimmt.

Dieses Bewegungsprincip ganzer Körper oder inStücke zerschnittener Theile bringt nicht ungeregelteBewegungen hervor, wie man geglaubt hat, sondernsehr regelmässige, und zwar sowohl in warmen undvollkommenen, als auch in kalten und unvollkomme-nen Thieren. Es bleibt also unseren Gegnern kein an-deres Hilfsmittel übrig, als tausend und abermals tau-send Thatsachen, welche jeder leicht bestätigen kann,zu leugnen.

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21.080 La Mettrie-Masch., 62La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Wenn man mich jetzt frägt, welches denn der Sitzdieser unseren Körpern innewohnenden Kraft ist, soantworte ich, dass sie ihn sehr deutlich in dem vonden Alten so genannten Parenchym hat, das heisst inder eigenthümlichen Substanz der Theile, abstrahirtvon den Venen, Arterien, Nerven, mit einem Wortevon der Organisation des ganzen Körpers; und dassfolglich jeder Theil in sich mehr oder weniger lebhafteTriebfedern je nach Bedürfniss enthält.

Treten wir einmal in eine etwas nähere Betrachtungdieser Triebfedern der menschlichen Maschine ein:alle vitalen, animalischen, natürlichen und automati-schen Bewegungen geschehen durch die Wirksamkeitderselben. Zieht sich nicht der Körper maschinenmäs-sig zurück, wenn er beim Anblick eines unerwartetenAbgrundes von Schrecken ergriffen wird? Senken sichnicht die Augenlider bei der Drohung eines Schlages?Verengt sich die Pupille nicht vor der Tageshelle, umdie Netzhaut zu schonen, und erweitert sie sich nicht,um in der Dunkelheit die Gegenstände zu sehen?Schliessen sich die Poren der Haut nicht maschinen-mässig im Winter, damit der Frost nicht ins Innere derGefässe eintritt? Hebt sich nicht der Magen, vomGifte erregt, durch eine gewisse Menge Opium, durchalle Brechmittel etc.? Ziehen sich das Herz, die Arte-rien, die Muskeln nicht während des Schlafs, wiewährend des Wachens zusammen? Leistet die Lunge

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21.081 La Mettrie-Masch., 63La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

nicht den Dienst eines beständig in Bewegung gesetz-ten Blasebalges? Sind nicht alle Schliessmuskeln derBlase, des Mastdarmes etc. maschinenmässig in Thä-tigkeit? Zieht sich das Herz nicht stärker zusammenals jeder andere Muskel? Erheben die aufrichtendenMuskeln das männliche Glied nicht beim Menschen,wie bei den Thieren, welche sich damit auf den Bauchschlagen, und selbst beim Kinde, dessen Glied, wennes gereizt ist, der Aufrichtung fällig wird? Es beweistdies - nebenher gesagt - eine eigenthümlicheSchnellkraft dieses Körpertheils, welche noch weniggekannt ist und deren Wirkungen, trotz aller anatomi-scher Einsicht, noch nicht recht erklärt sind.

Ich werde mich nicht weiter über jene kleinen un-tergeordneten von Jedermann gekannten Triebwerkeverbreiten. Es giebt aber ein anderes, feineres, undwunderbares, welches sie alle belebt; es ist die Quellealler unserer Gefühle, aller unserer Vergnügungen,aller unserer Leidenschaften, aller unserer Gedanken;denn das Gehirn hat seine Muskeln um zu denken,wie die Beine die ihrigen um zu gehen. Ich meinejenes anregende und ungestüme, von Hippocratesenormôn (die Seele) genannte Princip. Dieses Principist vorhanden, und es hat seinen Sitz im Gehirne amUrsprunge der Nerven, durch welche es seine Herr-schaft auf den ganzen übrigen Theil des Körpers aus-übt. Hierdurch erklärt sich Alles, was erklärt werden

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21.082 La Mettrie-Masch., 64La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

kann, sogar die überraschenden Wirkungen derKrankheiten des Vorstellungsvermögens.

Aber damit der Leser nicht durch übermässigeFülle und falsch angebrachte Ausführlichkeit gequältwerde, muss ich mich auf eine kleine Anzahl von Fra-gen und Betrachtungen beschränken:

Warum erzeugen der Anblick, oder die einfacheVorstellung von einer schönen Frau sonderbare Re-gungen und Wünsche in uns? Kommt das, was dannin gewissen Organen vorgeht, von der blossen Naturdieser Organe? Keineswegs; sondern von den Bezie-hungen und einer Art Sympathie dieser Muskeln mitdem Vorstellungsvermögen. Wir haben hier nur alsersten Antrieb das bene placitum der Alten, oder dasBild der Schönheit, welches ein anderes gleichartigeserregt, das in tiefem Schlummer lag, als die Vorstel-lungskraft es erweckte; und wie sollte dies anders zuWege gebracht werden, als durch die Hast und dasGeräusch des Blutes und der Geister, welche mit au-sserordentlicher Schnelligkeit galoppiren und die ca-vernösen Körper zum Schwellen bringen?

Weil es deutliche Vereinigungswege zwischenMutter und Kind giebt8, und weil die Verleugnungder von Tulpius und anderen ebenso glaubwürdigenSchriftstellern (es giebt keine, die es mehr wären), be-richteten Thatsachen eine Härte wäre, so werden wirglauben, dass der Fötus auf demselben Wege den

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21.083 La Mettrie-Masch., 64La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Ungestüm der mütterlichen Vorstellung empfindet,wie ein weiches Stück Wachs allerhand Eindrückeempfängt; wir werden glauben, dass dieselben Zei-chen oder Maale der Mutter sich an dem Fötus ab-drucken können, so unbegreiflich dies ist, was auchBlondel und alle seine Anhänger darüber sagenmögen. Hierdurch geben wir Mallebranche eine Eh-renerklärung, da er wegen seiner Leichtgläubigkeitviel zu sehr von Schriftstellern verspottet wurde, wel-che die Natur nicht genügend beobachtet und ihn zuihrer Meinung haben bekehren wollen.

Wir wollen uns einmal das Bildniss jenes berühm-ten Pope, der wenigstens der Voltaire der Engländerwar, ansehen. Die Anstrengungen, die Nerven seinesGeistes malen sich in seinen Gesichtszügen; sie sindganz in Zuckungen; seine Augen verlassen die Augen-höhle, seine Augenbrauen erheben sich mit den Stirn-muskeln. Warum? Weil der Ursprung der Nerven sicheiner Anstrengung unterzieht und weil der ganze Kör-per gewissermaassen eine mühsame Entbindung mit-empfinden soll. Gäbe es nicht innerlich einen Strick,der solchergestalt an den äusseren zöge, woher solltenalle diese Erscheinungen kommen? Zu ihrer Erklärungerst die Annahme einer Seele zulassen, das hiesse zurThätigkeit des heiligen Geistes seine Zuflucht neh-men.

In der That, wenn das, was in meinem GehirnePhilosophie von Platon bis Nietzsche

21.084 La Mettrie-Masch., 65La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

denkt, nicht ein Theil desselben und folglich des gan-zen Körpers ist, warum erhitzt sich, wenn ich ruhig inmeinem Bette den Plan zu einem Werke fasse, oderwenn ich einem abstracten Gedanken nachhänge,mein Blut? Warum geht das Fieber meines Geistes inmeine Adern über? Fragt nur die Männer von Phanta-sie, die grossen Dichter, diejenigen, welche ein gutausgedrücktes Gefühl entzückt, welche ein auserlese-ner Geschmack, die Reize der Natur, der Wahrheitoder der Tugend in Wonne versetzen! Durch ihrenEnthusiasmus, aus der Schilderung ihrer Empfindun-gen, werdet ihr über die Ursache aus der Wirkungeuch ein Urtheil bilden; durch jene Harmonie, welcheBorelli, welche ein einziger Anatom besser als alleLeibnitzianer erkannt hat, werdet ihr die materielleEinheit des Menschen erkennen. Denn kurz und gut,wenn die Dehnung der Nerven, welche Schmerz er-zeugt, das Fieber verursacht, von welchem der Geistin Verwirrung und Willenlosigkeit versetzt wird, undwenn wiederum der allzu angegriffene Geist den Kör-per in Unordnung und jenes verzehrende Feuer zuWege bringt, welches einen Bayle schon in seinemMannesalter dahingerafft hat; wenn mancher Kitzelmich begehren lässt, mit glühendem Verlangen michzu wünschen zwingt, worum ich mich in keiner Weiseden Augenblick vorher kümmerte; wenn gewisse Ge-hirneindrücke ihrerseits dasselbe Prickeln und

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21.085 La Mettrie-Masch., 65La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

dieselben Wünsche erregen, - wozu in etwas Zwiefa-ches verwandeln, was augenscheinlich nur eins ist ? - Man beruft sich vergeblich auf die Herrschaft desWillens. Für einen Befehl, den er ertheilt, fügt er sichhundertmal unter das Joch. Und was ist es für einWunder, dass der Körper im gesunden Zustande ge-horcht, weil ein Strom von Blut und von Geistern ihndazu zwingt, da dem Willen eine unsichtbare Legionvon flüssigen Elementen, welche lebhafter als derBlitz und immer bereit ihm zu dienen sind, zur Seitestehen. Aber da seine Macht vermittelst der Nervengeübt wird, so wird er auch durch diese gehemmt.Wird der beste Wille eines erschöpften Liebhabers,wird die heftigste Begierde ihm seine verlorene Kraftwiedergeben? Ach! nein; und er wird dafür zuerst be-straft werden, weil, unter gewissen Umständen, esnicht in seiner Macht liegt, kein Vergnügen zu wol-len. Was ich oben von der Lähmung etc. gesagt habe,kommt hier wieder zur Anwendung.

Die Gelbsucht überrascht Euch! Wisset Ihr nicht,dass die Farbe der Körper von der der Gläser, durchwelche man sie betrachtet, abhängig ist? Wisset Ihrnicht, dass wie die Färbung der Feuchtigkeiten, soauch die der Gegenstände ist, wenigstens mit Rück-sicht auf uns, die wir das eitle Spielwerk von tausendTäuschungen sind? Aber entfernt aus dem Auge dieseFärbung der wässrigen Feuchtigkeit, lasset die Galle

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21.086 La Mettrie-Masch., 66La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

durch ihr natürliches Sieb fliessen, dann wird dieSeele, weil sie andere Augen haben wird, nicht mehrgelb sehen. Giebt man nicht ferner durch Nieder-drückung des grauen Staars, durch Einspritzung inden Eustachischen Canal, den Blinden das Gesicht,den Tauben das Gehör wieder? Wie vielen Leuten,welche vielleicht nur geschickte Charlatane in denJahrhunderten der Unwissenheit waren, hat mangrosse Wunderthaten zugeschrieben! O über die schö-ne Seele und den mächtigen Willen, der nur in soweitzu handeln vermag, als die Körperverhältnisse es ihmerlauben und dessen Geschmack mit dem Alter unddem Fieber sich verändert! Darf man denn erstaunen,dass die Philosophen immer die Gesundheit des Kör-pers vor Augen gehabt haben, um die Gesundheit derSeele zu erhalten ? Wenn Pythagoras mit eben sol-cher Sorgfalt Diät verordnet, als Plato Wein verbotenhat? Ein maassvolles diätetisches Verhalten, welchesdem Körper wohlthut, ist immer dasjenige, mit wel-chem vernünftige Aerzte den Anfang zu machenrathen, wenn es sich um die Bildung des Geistes, umdie Erhebung desselben zur Erkenntniss der Wahrheitund Tugend handelt. Vergebliche Stimmen währendverwirrender Krankheit und erregter Sinnesthätigkeit!Ohne die Vorschriften der Gesundheitspflege predi-gen Epictet, Socrates, Plato, etc. vergebens; jedeMoral ist unfruchtbar für die Unmässigen; die

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21.087 La Mettrie-Masch., 67La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Mässigkeit ist die Quelle aller Tugenden, wie die Un-mässigkeit diejenige aller Laster ist.

Bedarf es noch mehr, (und wozu soll ich micyh indie Geschichte der Leidenschaften verlieren, welchealle durch das Hippocratische enormôn sich erklä-ren?) um zu erweisen, dass der Mensch nur ein Thierist, oder eine Vereinigung von Triebfedern, welchesich durch gegenseitigen Einfluss verstärken, ohnedass man sagen kann, auf welchem Punkte desmenschlichen Kreises die Natur angefangen hat.Wenn diese Triebfedern von einander abweichen, sogeschieht dies nur nach Maassgabe der Körperstelleund vermöge einiger Abstufungen ihrer Kraftverhält-nisse, und niemals vermöge der Verschiedenheit ihreseigentlichen Wesens; und folglich ist die Seele nur einBewegungsprincip, oder ein empfindlicher materiellerTheil des Gehirns, den man, ohne einen Irrthum zufürchten, von dem Gesichtspunkte betrachten darf,dass er eine Haupttriebfeder des ganzen Maschinen-werks ist, welche einen sichtlichen Einfluss auf alleanderen zu üben und sogar zuerst geschaffen wordenzu sein scheint; so dass also alle anderen von ihr nurein Ausfluss wären, wie man aus einigen Beobachtun-gen, welche ich bringen werde und welche an ver-schiedenen Embryonen gemacht worden sind, ersehenwird.

Diese Schwingung, welche zur Natur oderPhilosophie von Platon bis Nietzsche

21.088 La Mettrie-Masch., 67La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Eigenthümlichkeit unserer Maschine gehört und eineEigenschaft jeder Faser, sowie, so zu sagen, jedes fi-brösen Elementes ist, kann, wie dies auch beim Pen-del der Fall, nicht beständig währen. Man muss sieerneuern, so oft sie sich verliert; ihr Kräfte geben,wenn sie schwach wird; sie schwach machen, wennsie durch ein Uebermaass von Stärke und Kraft unter-drückt ist. Hierin allein besteht die wahre Medicin.

Der Körper ist nur eine Uhr, und der frische Chylusder Uhrmacher. Die erste Sorge der Natur, wenn erins Blut tritt, ist die Erregung einer Art Fieber, wel-ches die Chemiker, welche nur von Oefen träumen,für eine Gährung halten mussten. Dieses Fieber rufteine grössere Klärung der Lebensgeister hervor, diemaschinenmässig die Muskeln und das Herz, als obsie auf Befehl des Willens zu ihnen geschickt wordenwären, beleben.

Das sind also die Ursachen oder die Kräfte des Le-bens, welche auf diese Weise während 100 Jahren diebeständige Bewegung des Festen und Flüssigen, wel-che dem einen wie dem andern nothwendig ist, unter-halten. Aber wer kann sagen, ob das Feste zu diesemSpiele, mehr als das Flüssige, und umgekehrt, bei-trägt? Alles, was man hierüber weiss, ist, dass dieThätigkeit der festen Bestandtheile bald ohne dieHülfe der flüssigen vernichtet sein würde. Diese Flüs-sigkeiten erwecken und erhalten die Elasticität der

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21.089 La Mettrie-Masch., 68La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Gefässe, von welcher ihre eigene Circulation abhängt,durch ihren Stoss. Daher kommt es, dass nach demTode die natürliche Triebfeder jeder Substanz mehroder weniger noch stark ist, indem sie auf die letztenLebensäusserungen folgt und über dieselben hinausbleibt, um zuletzt zu erlöschen. In solchem Maasse istes thatsächlich, dass diese Kraft der thierischen Thei-le - obschon sie sich durch die Macht des Kreislaufszu erhalten und zu vermehren vermag - von der Cir-culation unabhängig ist, dass sie auch ohne die Un-verletztheit jeglichen Gliedes oder Eingeweides wohlzu bestehen im Stande ist, wie man gesehen.

Mir ist freilich bekannt, dass diese Lehre nicht vonallen Gelehrten gut geheissen werden, und dass be-sonders Stahl sie sehr gemissbilligt hat. Dieser grosseChemiker hat uns überzeugen wollen, dass die Seeledie einzige Ursache aller unserer Bewegungen sei.Aber das heisst als Fanatiker und nicht als Philosophreden.

Um die Stahl'sche Hypothese zu vernichten, bedarfes nicht so grosser Anstrengungen, als man, wie ichsehe, vor mir gemacht hat. Man braucht nur auf einenViolinspieler sein Augenmerk zu richten. WelcheBiegsamkeit, welche Beweglichkeit in den Fingern!Die Bewegungen sind so schnell, dass die Reihenfol-ge derselben beinahe verschwindet. Demnach bitte ichdie Anhänger von Stahl, oder ich glaube vielmehr

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21.090 La Mettrie-Masch., 69La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

nicht, dass sie es können, obschon sie so gut wissen,was in der Seele vorgeht, - mir zu sagen, wie es mög-lich ist, dass diese so rasch alle Bewegungen ausführt,Bewegungen, welche so weit von ihr, und an so ver-schiedenen Stellen, vorgehen. Das ginge eben sowenig wie bei einem Flötenspieler, welcher glänzendeCadencen auf unendlich vielen Oeffnungen, die ihmunbekannt und auf die er nicht einmal den Fingerlegen könnte, ausführen sollte.

Aber lasset uns mit Hecquet sagen, dass es nichtJedermann erlaubt ist, nach Corinth zu gehen. Undwarum sollte Stahl von der Natur nicht noch mehr be-günstigt gewesen sein, denn als Chemiker und Prakti-ker? Er müsste (o der glückliche Sterbliche!) eine an-dere Seele als der übrige Theil der Menschen erhaltenhaben. Eine regierende Seele, welche mit einer Herr-schaft über die willkürlichen Muskeln unzufrieden,ohne Mühe die Zügel aller Körperbewegungen ansich hielte, sie nach Belieben aufheben, beschwichti-gen, erregen könnte! Mit einer so unumschränktenHerrin, in deren Händen sich gewissermaassen dieSchläge des Herzens und die Gesetze der Circulationbefänden, würde es gewiss kein Fieber mehr geben;keinen Schmerz, kein Siechthum; weder beschämendeImpotenz, noch betrübenden Priapismus. Die Seelewill, und die Triebfedern spielen, sie richten sich aufoder massigen ihre Anspannung. Wie konnten die

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21.091 La Mettrie-Masch., 69La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Federn der Stahlseilen Maschine so rasch verderben?Wer einen so grossen Arzt bei sich hat, müsste un-sterblich sein.

Stahl ist übrigens nicht der einzige, welcher denGrundsatz der Schwingung der organisirten Körperverworfen hat. Grössere Geister haben ihn nicht ange-wandt, wenn sie die Thätigkeit des Herzens, die Auf-richtung der Ruthe haben erklären wollen. Manbraucht nur die Institutionen der Medicin von Boer-haave zu lesen, um zu sehen, welche mühsame undverlockende Systeme dieser grosse Mann sein mächti-ges Genie hat schweisstriefend gebären lassen, weil erdie an den Körpern haftende so deutlich erkennbareKraft nicht zugelassen hat.

Willis und Perrault, zwar etwas untergeordneteGeister, aber fleissige Beobachter der Natur, welcheder berühmte Professor in Leyden nur durch Anderegekannt und - so zu sagen - nur aus zweiter Handgehabt hat, scheinen lieber eine im Körper allgemeinverbreitete Seele, als das Princip, von dem wir spra-chen, gewollt zu haben. Aber in dieser Hypothese,welche schon Virgil, sowie alle Epikuräer hatten, undwelche anfänglich durch die Geschichte des Polypenetwas für sich zu haben scheint, kommen die den Or-ganismus, welchem sie anhaften, überlebenden Bewe-gungen von einem Seelenüberrest, den die sich zu-sammenziehenden Körpertheile noch behalten, ohne

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21.092 La Mettrie-Masch., 70La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

ferner durch das Blut und die Lebensgeister gereizt zuwerden. Man sieht hieraus, dass diese Schriftsteller,deren tüchtige Werke leicht alle philosophischen Fa-beln verdunkeln, sich nur in Betreff der Form dessen,was der Materie die Fähigkeit zu denken gegeben, ge-täuscht haben, ich meine, weil sie sich schlecht ausge-drückt haben, in dunkeln und nichtssagenden Worten.In der That, was ist das »Seelen-Ueberrest«, wenn esnicht die bewegende Kraft der Leibnitzianer bedeutensoll, die schlecht durch einen solchen Ausdruck wie-dergegeben wird, die jedoch besonders Perrault wirk-lich erblickt hat. (Siehe seine Abhandlung über dieMechanik der Thiere.)

Nunmehr, da klar gegen die Cartesianer, die Stah-lianer, die Malebranchisten und die hier mit aufzustel-len wenig würdigen Theologen bewiesen ist, dass dieMaterie sich von selbst bewegt, nicht allein wenn siez.B. so, wie in einem ganzen Herzen, gestaltet ist,sondern selbst dann, wenn eine solche Gestaltung ver-nichtet ist, - so möchte die menschliche Neugierdegern erfahren, wie denn ein Körper, eben dadurch,dass er von seinem Entstehen an mit einem Lebens-hauch begabt ist, sich demzufolge mit der Fälligkeitzu empfinden und endlich mit derjenigen zu denkenausgestattet findet. Und um mit dieser Sache zu einemErgebniss zu gelangen, haben gewisse Philosophensich - bei Gott - wer weiss wie angestrengt! Und wie

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21.093 La Mettrie-Masch., 71La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

geduldig habe ich über diesen Gegenstand so man-ches Gewäsch gelesen!

Alles, was die Erfahrung uns lehrt, ist, dass, solange die Bewegung bestellt - so gering sie auch ineiner oder mehreren Fasern sei - man diese nur zu rei-zen braucht, um eine derartige beinahe erloschene Be-wegung zu erwecken, zu beleben, wie man dies injener Menge, von Erfahrungen, mit denen ich die Sy-steme bewältigen wollte, gesehen hat. Es ist also be-kannt, dass die Bewegung und das Gefühl sich wech-selseitig erregen, sowohl bei den Körpern, wenn sienoch ganz, als auch bei denselben Körpern, wenn ihrBau zerstört ist; gewisser Pflanzen nicht zu gedenken,welche uns dieselben Phänomene der Vereinigung desGefühls und der Bewegung darzubieten scheinen.

Aber mehr noch, wie viel ausgezeichnete Philoso-phen haben bewiesen, dass der Gedanke nur eine Ei-genschaft des Empfindungsvermögens ist; und dassdie vernünftige Seele nur die empfindende Seele sei,welche zur Betrachtung von Ideen und zum Ueberle-gen verwendet worden. Hierdurch allein wäre bewie-sen, dass, wenn die Empfindung erloschen, der Ge-danke es nicht minder ist, wie dies in der Apoplexie,der Lethargie, der Catalepsie etc. der Fall ist. Denndiejenigen, welche angenommen haben, dass die Seelenicht weniger in den soporösen Krankheiten gedachthätte wenn sie sich auch nicht der gehabten Gedanken

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21.094 La Mettrie-Masch., 71La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

zu erinnern vermöchte, haben etwas Lächerliches be-hauptet.

Es wäre eine Thorheit über die Aufsuchung einesMechanismus in Betreff der hier obwaltenden Ent-wicklungsgesetze die Zeit zu verlieren. Das Wesender Bewegung ist uns ebenso unbekannt, als das derMaterie. Das Mittel zu entdecken, auf welche Weisejene sich in derselben erzeugt, ist, mit dem Verfasserder Geschichte der Seele die alte und unverständlicheLehre der »wesentlichen Formen« wiederzuerwecken.Ich bin demnach ganz ebenso ruhig, darüber in Un-kenntniss zu sein, wie die unwirksame und einfacheMaterie, thätig und zur Zusammensetzung von Orga-nen verwendet wird, als über die Unmöglichkeit ohnerothes Glas in die Sonne sehen zu können; und ichbin ebenso zu einem gütlichen Vergleich rücksichtlichder anderen unfassbaren Wunder der Natur, der Ent-stellung des Gefühls und des Gedankens in einemWesen, welches ehemals unseren beschränkten Augennur ein Stückchen Koth erschien, bereit.

Man gestehe mir nur zu, dass mit der organischenMaterie ein Bewegungsprincip verbunden ist, welchessie allein von dem nicht organisirten Stoffe unter-scheitet (dies wird man der unwiderleglichsten Beob-achtung nicht versagen?) und dass Alles in den Thie-ren von der Verschiedenheit dieser Organisation, wieich es genügend dargelegt habe, abhängt; das ist

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21.095 La Mettrie-Masch., 72La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

genug, um das Räthsel der Dinge und des Menschenzu lösen. Man sieht, dass es überhaupt nur eins imWeltall giebt, und dass der Mensch das vollkommen-ste ist. Er ist im Vergleich zum Affen, zu den klüg-sten Thieren, was Huygens's Planetenuhr im Ver-gleich zu einer Uhr des Königs Julianus ist. Wennman mehr Werkzeuge, mehr Räder, mehr Federn zurBezeichnung der Planetenbewegungen bedurfte, alszur Bezeichnung der Wiederholung der Stunden;wenn Vaucanson grössere Kunst anwenden musste,seinen Flötenspieler zu machen als für seine Ente, sohätte er noch bei Weitem bedeutendere Kunst zeigenmüssen, um ein sprechendes Gebilde hervorzurufen,was - besonders unter den Händen eines modernenPrometheus - nicht mehr als unmöglich erachtet wer-den kann. So war es denn ebenso nöthig, dass dieNatur mehr Kunst und Aufwand zur Erschaffung undUnterhaltung einer Maschine, die während eines gan-zen Jahrhunderts alle Schläge des Herzens und desGeistes angeben konnte, verwandte; denn wenn mandaran auch nicht die Stunden nach dem Pulse zählenkann, so kann man wenigstens nach dem Barometerder Hitze und Lebhaftigkeit über die Natur der Seeleein Urtheil gewinnen. Ich täusche mich nicht, dermenschliche Körper ist eine Uhr, aber eine erstaunli-che, und mit so viel Kunst und Geschicklichkeit ver-fertigt, dass, wenn das Rad, welches zur Angabe der

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21.096 La Mettrie-Masch., 72La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Sekunden dient, zum Stillstehen kommt, das für dieMinuten sich weiter dreht und seinen Schritt weitergeht, sowie auch das Viertelstundenrad seine Bewe-gung fortsetzt, und ebenso die anderen Bäder, wenndie ersten verrostet oder aus irgend welcher Ursacheverdorben, ihren Gang unterbrochen haben.

Ist die Verstopfung einiger Gefässe nicht in ebenderselben Weise ungenügend zur Zerstörung oder Un-terbrechung des Hauptsitzes der Bewegungen, wel-cher im Herzen, das gleichsam den für die Eröffnungder Maschine bestimmten Theil bildet, sich befindet;weil ja im Gegentheil die Flüssigkeiten, deren Um-fang vermindert ist, einen kürzeren Weg zu machenhaben, und ihn um so rascher, wie von einem neuenStrome fortgerissen, durchlaufen, als sich die Kraftdes Herzens wegen des Widerstandes, den es am Endeder Gefässe findet, vermehrt? Wenn der Sehnerv al-lein, durch einen auf ihm lastenden Druck, das Bildder Gegenstände nicht mehr durchlässt, ist es denn danicht klar, dass die Beraubung des Gesichts eben sowenig den Gebrauch des Gehörs hindert, als die Be-raubung dieses Sinnes, wenn die Functionen der Por-tio mollis aufgehoben sind, nicht zugleich die des an-dern voraussetzt? Ist es denn nicht ferner Thatsache,dass der Eine hört, ohne sagen zu können, dass es ge-schieht, (ausser nach dem Krankheitsanfalle) und dassder Andere, welcher nichts hört, aber dessen

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21.097 La Mettrie-Masch., 73La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Zungennerven im Gehirn frei sind, maschinenmässigalle durch den Kopf schiessenden Träumereien herer-zählt? Solche Erscheinungen können helldenkendeAerzte nicht überraschen. Sie wissen, wie sie dieNatur des Menschen aufzufassen haben; und - um esim Vorübergehen zu sagen - von zwei Aerzten istmeines Erachtens immer derjenige der bessere, der ammeisten Vertrauen verdienende, welcher am meistenin der Naturlehre oder der Mechanik des menschli-chen Körpers bewandert ist, der sich um die Seele undum alle die Besorgnisse, welche diese Chimäre denThoren und Unwissenden einflösst, nicht kümmert,und der bloss wesentlich sich mit dem reinen Natura-lismus beschäftigt.

Mag also ein gewisser Charp sich immerhin überdie Philosophen, welche die Thiere als Maschine be-trachtet haben, lustig machen. Wie verschieden vonihm denke ich! Ich glaube dass Descartes ein in jederBeziehung achtungswerther Mann wäre, wenn er, ineinem nicht aufklärungsbedürftigen Jahrhundert gebo-ren, den Werth der Erfahrung und Beobachtung unddie Gefahr sich von ihnen zu entfernen, gekannt hätte.Aber es ist nicht weniger gerecht, dass ich diesemgrossen Manne eine autentische Ehrenerklärung ange-deihen lasse, um aller jener kleinen Philosophen mitihren schlechten Witzen und ihrer übel gelungenenNachäffung von Locke willen, welche statt

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21.098 La Mettrie-Masch., 74La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

unverschämt dem Descartes ins Gesicht zu lachen,besser thäten sich zu überzeugen, dass ohne ihn dasFeld der Philosophie, wie dasjenige des gesundenVerstandes ohne Newton, vielleicht noch unbebautwäre.

Es ist wahr, dass dieser berühmte Philosoph sichvielfach getäuscht hat und Niemand stellt es in Abre-de. Aber bei alledem hat er doch die thierische Naturgekannt; er hat zuerst völlig bewiesen, dass die Thierereine Maschinen seien. Wohlan denn, soll man nacheiner Entdeckung von solcher Wichtigkeit, von so vieldazu erforderlichem Scharfsinn, ihm nicht - um ge-recht zu sein - alle seine Irrthümer zu Gute halten!

Sie sind in meinen Augen durch dieses grosse Be-kenntniss alle wieder gut gemacht. Denn kurz, manmerkt, obschon er sich über die Unterscheidung derbeiden Wesenheiten auslässt, dass dies nur ein Kunst-griff, eine stylistische List ist, um die Theologen,unter dem Anschein einer jedermann auffallenden undnur von ihnen allein nicht wahrgenommenen Aehn-lichkeit, ein verborgenes Gift schlucken zu lassen.Denn diese starke Aehnlichkeit eben zwingt alle Ge-lehrte und wahrhaft Urtheilsfähige einzugestehen,dass jene stolzen und eiteln Wesen, welche mehrdurch ihren Hochmuth als durch den Namen vonMenschen sich hervorthun - wie gross auch ihre Lustist sich zu erheben - im Grunde genommen nur

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21.099 La Mettrie-Masch., 74La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

senkrecht in die Höhe gereckte Thiere und Maschinensind. Sie haben alle jenen merkwürdigen Instinct, auswelchem die Erziehung Geist macht und der immerseinen Sitz im Gehirn, und - an seiner Stelle - z.B.wenn es fehlt oder verknöchert ist, im verlängertenMarke, und niemals in dem kleinen Gehirne hat. Dennich habe es beträchtlich verwundet gesehen, und An-dere9haben es krebsig entartet gefunden, ohne dassdie Seele ihre Vorrichtungen zu üben aufgehört hätte.

Eine Maschine sein, fühlen, denken, das Gute vomBösen unterscheiden können wie das Blaue vom Gel-ben, mit einem Worte mit Erkenntnissvermögen undeinem sicheren Triebe geboren sein und doch nichtsals ein Thier sein, das sind also einander nicht mehrwidersprechende Dinge, als ein Affe oder ein Papageisein, und es verstehen sich der Lust hinzugeben. Dennweil die Gelegenheit sich einmal darbietet es zusagen, wer hätte jemals a priori errathen, dass einTropfen von der Flüssigkeit, welche sich bei der Be-gattung ergiesst, mit himmlischem Vergnügen ver-bunden ist, und dass aus ihm ein kleines Geschöpfhervorgehen würde, welchem einst, wenn gewisse ge-setzmässige Bedingungen nicht fehlen, derselbe Ge-nuss zu Theil werden könnte? Ich halte den Gedankenso wenig unverträglich mit der organisirten Materie,dass er vielmehr eine Eigenthümlichkeit derselbengrade so wie die Elektricität, die Bewegungskraft, die

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21.100 La Mettrie-Masch., 75La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Undurchdringlichkeit, die Ausdehnung etc. zu seinscheint.

Will man noch neue Beobachtungen haben, so fehltes mir nicht an solchen, welche keinen Einwurf ge-statten und beweisen, dass der Ursprung des Men-schen vollkommen demjenigen der Thiere gleiche, wiedies mit alle dem, was wir bereits zur Vergleichungder letzteren mit den ersteren für wesentlich gehaltenhaben, der Fall ist.

Ich berufe mich dabei auf die Glaubwürdigkeit un-serer Beobachter. Sie mögen uns sagen, ob es nichtwahr ist, dass der Mensch nach seinem Ursprünge nurein Wurm ist, aus dem ein Mensch wird, wie aus derRaupe der Schmetterling. Die gewichtigsten10 Auto-ren haben uns gelehrt, wie man zu verfahren habe, umdieses Thierchen zu sehen. Alle Neugierigen haben esgesehen, z.B. Hartsoeker, und zwar im Samen desMannes und nicht in dem der Frau; nur die Thorenhaben über dasselbe sich Skrupel gemacht. Obgleichjeder Tropfen Samen eine unendliche Menge dieserkleinen Würmer enthält, so besitzt, wenn dieselben inden Eierstock geschleudert werden, doch nur der ge-schickteste oder stärkste die Kraft in das von der Fraugelieferte Ei, welches ihm alsdann seine erste Nah-rung giebt, einzudringen und sich darin einzupflan-zen. Dieses Ei, welches man manchmal in den Fallo-pischen Trompeten auffindet, wird durch diese Canäle

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21.101 La Mettrie-Masch., 76La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

in die Gebärmutter gebracht, wo es Wurzel fasst, wieein Getreidekorn in der Erde. Aber obgleich es da-selbst durch sein Wachsthum von 9 Monaten sehrgross wird, unterscheidet es sich nicht von den Eiernder anderen Thiere weiblichen Geschlechts, ausserdas seine Haut (das Amnios) sich niemals verhärtetund sich ungeheuer erweitert, wie man dies zu ersehenim Stande ist, wenn man den Fötus im Augenblick,wo er das Ei zu verlassen im Begriff steht, (was ichzu meinem Vergnügen bei einer Frau, die einen Au-genblick vor ihrer Niederkunft gestorben war, beob-achtet habe) mit anderen kleinen ihrem Ursprung sehrnahen Embryonen vergleicht, denn alsdann ist esimmer das Ei in seiner Schale und das Thier im Ei,welches, in seinen Bewegungen gehindert, sich ma-schinenmässig ans Licht zu bringen sucht, und zu die-sem Behufe zerbricht es zunächst mit dem Kopfediese Membran, aus der es ausschlüpft, wie dasHuhn, der Vogel etc. aus der ihrigen. Ich werde eineBeobachtung hinzufügen, welche ich nirgends finde;nehmlich dass das Amnios darum nicht dünner ist,weil es sich ausserordentlich ausgedehnt hat; indem eshierin der Gebärmutter ähnlich ist, welche durch inihre Substanz infiltrirte Säfte sich aufbläht, unabhän-gig von der Anfüllung und Entfaltung aller ihrer Ge-fässbiegungen.

Betrachten wir den Menschen in und ausser seinerPhilosophie von Platon bis Nietzsche

21.102 La Mettrie-Masch., 76La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Schale, prüfen wir mit einem Mikroskope die jüng-sten Embryonen von 4, von 6, von 8 oder 14 Tagen;nach dieser Zeit genügen dazu die blossen Augen.Was sieht man? den Kopf allein; ein kleines rundes Eimit zwei schwarzen Punkten, welche die Augen be-zeichnen. Vor dieser Zeit ist Alles unförmlich, manbemerkt nur eine markige Masse, welche das Gehirnist, in welchem sich zuerst der Ursprung der Nerven,oder der Anfang der Empfindung und das Herz, wel-ches schon von selbst in dieser Masse die Fähigkeitzu schlagen hat, ausprägt; letzteres ist das Punctumsaliens von Malpighi, welches vielleicht schon einenTheil seiner Lebhaftigkeit dem Einflusse der Nervenverdankt. Hierauf sieht man nach und nach den Kopfden Hals verlängern, der durch Erweiterung zunächstden Brustkorb bildet, in welchen das Herz schon hin-abgestiegen ist, um sich daselbst zu befestigen, woransich der durch eine Scheidewand (das Zwerchfell) ge-trennte Unterleib anschliesst. Diese Erweiterungen er-geben dann einerseits die Arme, die Hände, die Fin-ger, die Nägel und die Haare; andrerseits die Schen-kel, die Beine, die Füsse etc. mit dem bekannten Un-terschiede in der Lage, vermöge deren der Körper sichstützt und im Gleichgewicht hält. Ueberall eine auf-fallende Vegetation. Hier sind es die Haare, welcheden Scheitel unserer Köpfe bedecken, dort sind esBlätter und Blumen. Ueberall leuchtet dieselbe

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21.103 La Mettrie-Masch., 77La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Verschwendung der Natur hervor, und endlich istauch der Geist, der in den Pflanzen herrscht, an demOrte, an welchem wir unsere Seele, diese andere besteKraft des Menschen, haben.

Man fängt an die Einheit der Natur zu fühlen,ebenso die Aehnlichkeit des animalischen und Pflan-zenreichs, wie auch die des Menschen mit der Pflan-ze. Vielleicht sogar giebt es animalische Pflanzen,welche nehmlich während ihres Wachsthums sich ent-weder wie Polypen schlagen, oder andere den Thierenähnliche Inductionen verrichten.

Das ist beinahe Alles, was man über die Zeugungweiss. Dass die Theile, die sich anziehen, welche zurVereinigung und um die oder jene Stelle einzunehmengeschaffen sind sich alle ihrer Natur gemäss verbin-den, und dass sich auf diese Weise die Augen, dasHerz, der Magen und endlich der ganze Körper bil-den, wie es grosse Männer in ihren Schriften gesagthaben, ist wohl möglich. Aber da die Erfahrung unsmitten in diesen Feinheiten verlässt, werde ich keineVermuthungen aufstellen und betrachte Alles, wasmeinen Sinnen nicht auffällt, als ein undurchdringli-ches Geheimniss. Es ist so selten, dass beiderleiSamen sich bei geschlechtlicher Zusammenkunft be-gegnet, dass ich versucht bin zu glauben, der Sameder Frau sei zur Erzeugung unnöthig.

Aber wie soll man die Erscheinungen ohne diesesPhilosophie von Platon bis Nietzsche

21.104 La Mettrie-Masch., 78La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

bequeme Verhältniss der Theile, welches so gute Re-chenschaft über die Aehnlichkeit der Kinder zu gebenvermöchte, warum sie bald dem Vater, bald der Mut-ter ähnlich sind, erklären? Und soll denn andrerseitsder Umstand, dass man um eine Erklärung verlegenist, eine Thatsache aufwiegen? Mir scheint, das männ-liche Geschlecht macht Alles, mag die Frau dabeischlafen oder noch so wollüstig erregt sein. Die An-ordnung der Theile würde also von jeher auf demKeime oder gar auf dem Wurme des Mannes beruhen.Aber das geht ja Alles über den Horizont der ausge-zeichnetsten Beobachter. Denn da ihnen hierin nichtsGreifbares zu Gebote steht, können sie über den Me-chanismus der Bildung und der Entwickelung desKörpers nicht besser urtheilen, als ein Maulwurf überden Weg, den ein Hirsch zu durchlaufen vermag.

Wir sind wahre Maulwürfe auf dem Gebiete derNatur; wir machen auf demselben durchaus keinen an-dern Weg als dieses Thier, und nur unser Hochmuthbegrenzt die Dinge, die keine Grenzen darbieten. Wirbefinden uns in dem Falle einer Uhr, welche sagenwürde; (ein Fabel-Schmidt würde daraus eine Personvon Wichtigkeit in einem werthlosen Werke machen)»Was, jener thörichte Handwerker hat mich gemacht,mich, die die Zeit eintheilt, mich, die so genau denLauf der Sonne bezeichnet, mich, die laut die Stun-den, die ich angebe, wiederholt!« Nein, das ist

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21.105 La Mettrie-Masch., 78La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

unmöglich. Wir verschmähen ebenso, undankbar wiewir sind, diese gemeinschaftliche Mutter aller Herr-schaften, wie die Chemiker sagen. Einer Ursache, diehöher steht als diese, sind - wie wir uns vorstellenoder vielmehr vermuthen - wir für Alles dankbar ver-pflichtet, einer Ursache, welche wirklich Alles auf un-fassbare Art gemacht hat. Nein, die Materie hat nur inAugen, welche aus Mangel an Scharfsichtigkeit sie inihren glänzendsten Werken verkennen, etwas Niedri-ges, und die Natur ist keine beschränkte Werkmeiste-rin. Sie bringt Millionen Menschen mit mehr Leich-tigkeit und Vergnügen hervor, als ein Uhrmacher beider Anfertigung der zusammengesetztesten Uhr Mühehat. Ihre Macht giebt sich in gleicher Weise bei derErzeugung des niedrigsten Insectes, als bei Hervor-bringung des herrlichsten Menschen kund; das Thier-reich kostet ihr nicht mehr Mühe als das Pflanzen-reich, das prächtigste Genie nicht mehr als eine Ge-treideähre. Urtheilen wir also nach dem, was wirsehen, über das, was sich der Neugierde unsererAugen und unserer Nachforschungen entzieht, undgehen hierüber mit unseren Vorstellungen nicht hin-aus. Verfolgen wir den Affen, den Biber, den Ele-phanten etc. in ihren Verrichtungen. Wenn es ein-leuchtend ist, dass sie ohne Verstand nichts auszufüh-ren vermögen, warum ihn diesen Thieren absprechen?Und wenn Ihr ihnen eine Seele zusprechet, Ihr

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21.106 La Mettrie-Masch., 79La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Fanatiker, so seid Ihr verloren; Ihr möget künftig er-klären, so viel Ihr wollt, dass Ihr über die Naturderselben zu keiner Entscheidung gekommen, wäh-rend Ihr mit dieser doch die Unsterblichkeit für unver-träglich haltet. Wer sieht nicht, dass dies eine unge-gründete Behauptung ist? wer sieht nicht ein, dass dieSeele entweder sterblich oder unsterblich wie die uns-rige sein muss, mit der sie das gleiche Schicksal, wel-ches es auch sein mag, zu theilen hat, und dass manalso in die Scilla hineinfällt, will man die Charybdisvermeiden?

Brechet die Kette Eurer Vorurtheile, bewaffnetEuch mit der Fackel der Erfahrung und Ihr werdet derNatur die verdiente Ehre erweisen, statt aus der Un-kenntniss, in welcher sie Euch gelassen, Schlüsse zuihrem Nachtheile zu ziehen. Oeffnet nur die Augenund lasset das für Euch Unbegreifliche auf sich beru-hen; Ihr werdet dann sehen, dass jener Ackersmann,dessen Geist und Einsicht sich nicht über die Grenzenseiner Furche erstreckt, nicht wesentlich von demgrössten Geiste abweicht, wie die Zerschneidung derGehirne von Descartes und Newton es bewiesen hätte;Ihr werdet überzeugt sein, dass der Schwachsinnigeoder der Dumme Thiere mit menschlicher Gestaltsind, wie der Affe mit seiner Fülle von Verstand einkleiner Mensch unter einer anderen Gestalt ist, undkurz dass, da Alles durchaus von der Verschiedenheit

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21.107 La Mettrie-Masch., 79La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

der Organisation abhängt, ein gut gebautes Thier,welchem man die Astronomie gelehrt hat, eine Fin-sterniss voraussagen kann, so gut wie die Heilungoder den Tod, wenn es einige Zeit Geist und Scharf-sicht für die Schule des Hippocrates und auf dasKrankenbett verwandt hat. Durch diesen Faden vonBeobachtungen und Wahrheiten gelangt man dahin,mit der Materie die wunderbare Eigenthümlichkeitdes Denkvermögens zu verknüpfen, ohne dass mandas verknüpfende Band zu sehen vermag, weil die Ur-sache dieser Eigenschaft uns in ihrem Wesen unbe-kannt ist. Wir wollen nicht sagen, dass jede Maschi-ne, oder jedes Thier gänzlich untergeht oder eine an-dere Form nach dem Tode annimmt, denn wir wissendavon durchaus nichts. Aber wenn man versichernwollte, dass eine unsterbliche Maschine ein Hirnge-spinnst sei, oder ein Wesen mit Vernunft, so wäredies ein eben so ungereimter Gedanke, als den z.B.Raupen haben würden, welche beim Anblick der ab-gefallenen Hüllen Ihresgleichen das Schicksal ihrerGattung, als ob dieselbe der Vernichtung anheimfiele,bitter beklagten. Die Seele dieser Insecten (denn jedesThier hat die seinige) ist zu beschränkt, um die Ver-wandlungen der Natur zu begreifen. Niemals hätte eineinziges unter den Klügsten von ihnen sich vorge-stellt, dass es zum Schmetterling werden sollte. Das-selbe gilt von uns. Was wissen wir mehr von unserer

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21.108 La Mettrie-Masch., 80La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Bestimmung als von unserem Entstehen? Unterwerfenwir uns also einer unüberwindlichen Unkenntniss,von welcher unser Glück abhängt.

Wer also denkt, wird klug, gerecht, ruhig über seinSchicksal, und folglich glücklich sein. Er wird denTod erwarten, ohne ihn zu fürchten oder zu wünschen,und mit der Liebe zum Leben begreift er kaum, wie indieser freudenvollen Welt das Gefühl der Unlust einHerz verderben könne. Voll Achtung für die Natur,voll Dankbarkeit, Anhänglichkeit, Zärtlichkeit, nachMaassgabe des Gefühls und der Wohlthaten, welchesie ihm verliehen, endlich auch glücklich darüber,dass er sie empfindet und bei dem reizenden Schau-spiele des Weltalls gegenwärtig ist, wird er die Naturgewiss niemals weder in sich, noch in Anderen zerstö-ren. Was sage ich! Voller Menschlichkeit wird erihren Charakter sogar in seinen Feinden lieben. Manurtheile, wie er die Anderen behandeln wird. Er wirddie Lasterhaften beklagen, ohne sie zu hassen; in sei-nen Augen werden dies nur missgestaltete Menschensein. Aber er wird, wenn er auch die Fehler der Gei-stes- und Körperbildung mit Nachsicht zu beurtheilenhat, nicht Weniger ihre Schönheiten und ihre Tugen-den bewundern. Diejenigen, welche die Natur begün-stigt, werden ihm mehr Rücksichten zu verdienenscheinen, als diejenigen, welche sie stiefmütterlich be-handelt haben wird. So hat man also die

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21.109 La Mettrie-Masch., 81La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Ueberzeugung gewinnen können, dass die Gaben derNatur, die Quelle von Allem, was zu erlangen mög-lich, in dem Munde und dem Herzen des Materiali-sten, sich der Anerkennung erfreuen, welche jeder An-dere ihnen ungerechterweise versagt. Da schliesslichder Materialist, so sehr seine eigene Eitelkeit sich da-gegen auflehnt, überzeugt ist, dass er nur eine Ma-schine, oder ein Thier ist, so wird er seines Gleichennicht übel behandeln; ist er ja allzusehr über dasWesen dieser Handlungen, deren Unmenschlichkeitimmer im Verhältnisse zu der vorhin dargelegtenAehnlichkeitsstufe steht, belehrt und mit einem Wortenicht Willens dem allen Thieren verliehenen Naturge-setze gemäss, an Anderen zu verüben, was er an sichnicht verübt sehen möchte.

Behaupten wir also dreist, dass der Mensch eineMaschine ist und dass es in der ganzen Welt nur eineeinzige verschieden geartete Wesenheit giebt. Das istja keine durch Fragen und Vermuthungen zu Wegegebrachte Hypothese, es ist dies weder ein Werk desVorurtheils, noch sogar meiner Vernunft allein; ichhätte einen Führer, welcher mir so wenig für sichergilt, verschmäht, wenn meine Sinne, so zu sagen miteiner Fackel versehen, mir nicht Veranlassung gege-ben hätten, mit ihrer Leuchte jener zu folgen. Die Er-fahrung also sprach bei mir für die Vernunft; so habeich sie beide mit einander vereint.

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21.110 La Mettrie-Masch., 82La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Aber man hat wohl auch nicht ausser Acht gelas-sen, dass ich mir das stärkste und ganz unmittelbarauf das Ziel losgehende Urtheil erst nach vielfachenphysikalischen Beobachtungen, welche kein Gelehrterwiderlegen wird, gestattet habe; und so erkenne ichauch nur die Gelehrten als Richter über meineSchlussfolgerungen an, - und weise jeden Menschenmit Vorurtheilen, jeden, der weder Anatom noch mitder einzigen hier zulässigen Philosophie, derjenigendes menschlichen Körpers, bekannt ist, zurück. Wasvermöchte gegen eine so feste und dichte Eiche jenesschwache Rohr der Theologie, der Metaphysik undder Schulen; kindische Waffen, ähnlich den Rappie-ren auf unseren Fechtböden, die wohl das Vergnügender Fechtkunst gewähren, aber niemals ihrem Gegnererheblichen Schaden zufügen. Brauche ich erst zusagen, dass ich von jenen hohlen und trivialen Ideenrede, von jenen gestürzten und erbärmlichen Ansich-ten, welche man über die vermeintliche Unverträglich-keit von zwei sich unaufhörlich berührenden und be-wegenden Substanzen äussern wird, so lange derSchatten des Vorurtheils oder des Aberglaubens aufder Erde bleibt? Das ist mein System, oder vielmehrdie Wahrheit, wenn ich mich nicht sehr irre. Sie istkurz und einfach. Streite jetzt, wer da will!

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21.111 La Mettrie-Masch.La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Fußnoten

1 Albrecht von Haller 1708 in Bern geboren und be-fleissigte sich, von ungewöhnlichen Geisteskräftenunterstützt, sowohl der Dichtkunst als der Medizin.1729 ward er Arzt in Bern, 1736 Professor in Göttin-gen und 1749 in den Reichsadelstand erhoben.

2 Er sündigt augenscheinlich durch eine Petitio prin-cipii.

3 Die Geschichte der Thiere und der Menschen be-weist die Herrschaft der Erblichkeit von den Väternauf den Geist und den Körper der Kinder.

4 Der Verfasser der Naturgeschichte der Seele etc.

5 Der Verfasser der Geschichte der Seele.

6 Es giebt Heute noch Völker welche, aus Mangel aneiner grösseren Zahl von Zeichen, nur bis 20 zählenkönnen.

7 In einem Zirkel oder bei Tische bedurfte er immereiner Vormauer von Stühlen, oder Jemandes in seinerNachbarschaft zur Linken, um keine furchtbaren

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21.112 La Mettrie-Masch.La Mettrie: Der Mensch eine Maschine

Abgründe zu sehen, in welche er manchmal hineinzu-fallen fürchtete, so sehr er sich auch bewusst war,dass es Täuschungen seien. Welche schreckliche Wir-kung der Phantasie oder eines sonderbaren Blutum-laufs in einem Gehirnlappen. Einerseits ein grosserMann, war er anderseits zur Hälfte ein Narr. DieNarrheit und die Weisheit hatten jede ihr Departementoder ihren durch die Sichel getrennten Lappen. Vonwelcher Seite hielt er so viel auf Port-Royal? Ich habediese Thatsache in einem Auszuge der Abhandlungüber den Schwindel von la Mettrie gelesen.

8 Wenigstens durch die Gefässe. Ist es sicher, dass essolche nicht auch vermittelst der Nerven giebt?

9 Haller in den Transact. philosoph.

10 Boerhaave Inst. Med. und so viele Andere.

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