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Generationenübergreifend: Jan Wil- lem Stutje über die Lebensgeschich- te des Marxisten Ernest Mandel. Von Christoph Jünke Seite 3 Die kommende Gesellschaft und was die linken Theoretiker Raul Zelik und Elmar Altvater davon halten. Von Jürgen Schneider Seite 5 Die Galeere der Freiwilligen: Wolf- gang Frömberg erzählt in »Spucke« vom Abstieg in die Subkultur. Von Kristof Schreuf Seite 11 Ein Glas voll Überraschungen: Reinhard Heymann-Löwenstein über Weinkultur und Weingenuß. Von Rainer Balcerowiak Seite 12 junge W elt Die Tageszeitung literatur Beilage der Tageszeitung junge Welt Mittwoch, 2. Dezember 2009, Nr. 279 A ls Andreas Dresen im letzten Jahr seinen Film »Wolke 9« vorstellte, war das Publikum hingerissen. Bei der Premie- re in Cannes gab es zehn Minuten lang stehende Ovationen, eine Frau aus dem Publikum marschierte voller Rührung auf Dresen zu und umarmte den Regis- seur dankbar. Erleichterung. Endlich, endlich spricht mal jemand darüber: Sex im Alter. So was findet in den Medien nicht statt. Bestenfalls in abgehalfterte Nachmittagstalkshows werden flippige Alte eingeladen – und ausgebuht. Sex ist was für die Jungen. Wer in Rente geht, ist zu Rommé, Bridge und Canasta ver- dammt. Oder zum Angeln. So verbringt jedenfalls Émile, die Hauptfigur in Pascal Rabatés Graphic- Novel »Bäche und Flüsse«, den Lebens- abend. Der Fang ist für die Kinder oder für die Katz. Spaß macht die Anglerei nur, weil der dicke Edmond mit Émile am Tümpel hockt. Einer kurbelt, der an- dere hält den Kescher, so sehen Männer- freundschaften aus. Große Erzähler sind sie beide nicht. In vier Worten berichtet Émile von seinem großen Fang: »53 Zen- timeter, zehn Minuten Kampf«. Und daß Edmond da was am Laufen hat, muß Émile aus der Kneipe erfahren. Schweigen kann man nicht gut be- schreiben, aber man kann es zeichnen. Rabaté tut das mit kleinen Serien von Bildern, auf denen das Motiv sich kaum verändert. Der hilflose Kleine mit der Mütze druckst herum, dann tut der Dicke mit dem Rollkragenpulli Butter bei die Fische: »Ob ich gebumst habe? Na ja, nicht jedes Mal, aber es kam vor.« Oh lala. Jetzt ist es raus. Der Schwerenöter mit dem Doppelleben erzählt, die dritte, die er durch eine Kontaktanzeige kennen- gelernt habe, hatte »riesige Schwimmer und Beine so lang wie ein Tag ohne Brot. Sie hatte den IQ einer Flunder.« Und weil man schon mal bei den Geständnissen ist, nimmt er Émile mit ins Nebenge- bäude und zeigt ihm die Bilder, die er in letzter Zeit gemalt hat. Klar, auch ein paar radfahrende Fische. Aber die stam- men aus der »surrealistischen Periode«. Jetzt geht es um Aktmalerei. Vorlage ist das »Playmate des Monats«. »Altes Fer- kel«, meint Èmile. Die Akte gefallen ihm trotzdem besser als die Fische. Es war Edmonds letztes Geständnis. Er stirbt. Der Freundeskreis der Algerien- kämpfer salutiert mit Trikolore in der Hand am Grab, und die Angehörigen verbrennen die Schmuddel-Bilder (»Al- tes Ferkel«). Nur zwei kann Émile retten. Die Barbusige und die Breitbeinige hän- gen links und rechts vom Kruzifix über seinem Bett. Das ist aber ein schlechter Trost für den trauernden Freund. Der packt ein Röhrchen Schlaftabletten und seine Angel ein und macht sich auf, sei- nen letzten Fisch zu fangen. Rabatés Erzählweise ist unaufgeregt, seine kolorierten Zeichnungen sind Kleinode der Reduktion. Matte, fast aus- geblichene Farben wirken schon mal al- tersgrau aber nie trist. Das Abgebildete ist auf die Figuren konzentriert. Gesten, Blicke und Körperhaltung vermitteln ganz subtil Stimmungen und Einstellun- gen. Der eine bohrt sich ungeniert in der Nase, der andere zuppelt sich beim Lesen am Ohr, die Dritte streicht sich verlegen die Haare glatt. Rabaté, der als Jugendli- cher im Laden seiner Eltern aushalf und Angelzubehör verkaufte, hat vor allem seinen Émile ganz genau herausgearbei- tet. Der kleine, stille Mann mit dem ge- bückten Gang, der Halbglatze unter dem blauen Mützchen und den wachen Augen ist ein liebenswerter Schelm, den man gerne durch die Geschichte begleitet. Rabaté variiert das Tempo, verfolgt Än- derungen im Gesichtsausdruck manch- mal über mehrere Bilder und springt dann wieder zügig zur nächsten Episode. Er karikiert, um zuzuspitzen, und porträ- tiert, um stimmungsvoll und tiefgründig zu erzählen. Immer hat er sein Milieu genau im Blick. Er kennt das Palaver in den kleinen Bars, die es in Frankreich noch überall gibt, weil öffentlich zugäng- liche Zigarettenautomaten verboten sind und man nur dort seinen Tabak bekommt. Da wird über Kapern und Muschelsoße philosophiert, darum gestritten, ob das komplizierte Gewinde eines Schnecken- hauses ein Gottesbeweis ist und ob Hüh- ner mehr stinken als Schweine. Wenn den Hobby-Winzern die Weinflasche zu voll ist, wird ein Schlückchen abgetrunken und dann erst eingekorkt. Frankreich-Ur- lauber erkennen die französische Provinz aber auch an den Leclerc-Supermärkten und dem kleinen R4 wieder, mit dem Émile unverdrossen durch die Landschaft tuckert. Langweilig wird es auch deshalb nie, weil die Handlung immer wieder Haken schlägt und sich nie dazu verleiten läßt, in die Kitschfallen zu tapsen, die bei dem Thema überall aufgestellt sind. Angeln im Alter Pascal Rabaté erzählt das Märchen vom Rentner Émile, der auszieht, um die Lust neu zu lernen. Von André Weikard Pascal Rabaté: Bäche und Flüsse. Reprodukt, Berlin 2009, 94 Seiten, 18 Euro Sämtliche Abbildungen dieser Beilage sind diesem Band entnommen und er- scheinen mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Fortsetzung auf Seite zwei O

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Generationenübergreifend: Jan Wil-lem Stutje über die Lebensgeschich-te des Marxisten Ernest Mandel. Von Christoph Jünke Seite 3

Die kommende Gesellschaft und was die linken Theoretiker Raul Zelik und Elmar Altvater davon halten. Von Jürgen Schneider Seite 5

Die Galeere der Freiwilligen: Wolf-gang Frömberg erzählt in »Spucke« vom Abstieg in die Subkultur. Von Kristof Schreuf Seite 11

Ein Glas voll Überraschungen: Reinhard Heymann-Löwenstein über Weinkultur und Weingenuß. Von Rainer Balcerowiak Seite 12 jungeWelt

Die Tageszeitung

l i t e rat u r Beilage der Tageszeitung junge Welt

Mittwoch,2. Dezember 2009, Nr. 279

Als Andreas Dresen im letzten Jahr seinen Film »Wolke 9« vorstellte, war das Publikum hingerissen. Bei der Premie-

re in Cannes gab es zehn Minuten lang stehende Ovationen, eine Frau aus dem Publikum marschierte voller Rührung auf Dresen zu und umarmte den Regis-seur dankbar. Erleichterung. Endlich, endlich spricht mal jemand darüber: Sex im Alter. So was findet in den Medien nicht statt. Bestenfalls in abgehalfterte Nachmittagstalkshows werden flippige Alte eingeladen – und ausgebuht. Sex ist was für die Jungen. Wer in Rente geht, ist zu Rommé, Bridge und Canasta ver-dammt. Oder zum Angeln.

So verbringt jedenfalls Émile, die Hauptfigur in Pascal Rabatés Graphic-Novel »Bäche und Flüsse«, den Lebens-abend. Der Fang ist für die Kinder oder für die Katz. Spaß macht die Anglerei nur, weil der dicke Edmond mit Émile am Tümpel hockt. Einer kurbelt, der an-dere hält den Kescher, so sehen Männer-freundschaften aus. Große Erzähler sind sie beide nicht. In vier Worten berichtet Émile von seinem großen Fang: »53 Zen-timeter, zehn Minuten Kampf«. Und daß Edmond da was am Laufen hat, muß

Émile aus der Kneipe erfahren. Schweigen kann man nicht gut be-

schreiben, aber man kann es zeichnen. Rabaté tut das mit kleinen Serien von Bildern, auf denen das Motiv sich kaum verändert. Der hilflose Kleine mit der Mütze druckst herum, dann tut der Dicke mit dem Rollkragenpulli Butter bei die Fische: »Ob ich gebumst habe? Na ja, nicht jedes Mal, aber es kam vor.« Oh lala. Jetzt ist es raus. Der Schwerenöter mit dem Doppelleben erzählt, die dritte, die er durch eine Kontaktanzeige kennen-gelernt habe, hatte »riesige Schwimmer und Beine so lang wie ein Tag ohne Brot. Sie hatte den IQ einer Flunder.« Und weil man schon mal bei den Geständnissen ist, nimmt er Émile mit ins Nebenge-bäude und zeigt ihm die Bilder, die er in letzter Zeit gemalt hat. Klar, auch ein paar radfahrende Fische. Aber die stam-men aus der »surrealistischen Periode«. Jetzt geht es um Aktmalerei. Vorlage ist das »Playmate des Monats«. »Altes Fer-kel«, meint Èmile. Die Akte gefallen ihm trotzdem besser als die Fische.

Es war Edmonds letztes Geständnis. Er stirbt. Der Freundeskreis der Algerien-kämpfer salutiert mit Trikolore in der Hand am Grab, und die Angehörigen

verbrennen die Schmuddel-Bilder (»Al-tes Ferkel«). Nur zwei kann Émile retten. Die Barbusige und die Breitbeinige hän-gen links und rechts vom Kruzifix über seinem Bett. Das ist aber ein schlechter Trost für den trauernden Freund. Der packt ein Röhrchen Schlaftabletten und seine Angel ein und macht sich auf, sei-nen letzten Fisch zu fangen.

Rabatés Erzählweise ist unaufgeregt, seine kolorierten Zeichnungen sind Kleinode der Reduktion. Matte, fast aus-geblichene Farben wirken schon mal al-tersgrau aber nie trist. Das Abgebildete ist auf die Figuren konzentriert. Gesten, Blicke und Körperhaltung vermitteln ganz subtil Stimmungen und Einstellun-gen. Der eine bohrt sich ungeniert in der Nase, der andere zuppelt sich beim Lesen am Ohr, die Dritte streicht sich verlegen die Haare glatt. Rabaté, der als Jugendli-cher im Laden seiner Eltern aushalf und Angelzubehör verkaufte, hat vor allem seinen Émile ganz genau herausgearbei-tet. Der kleine, stille Mann mit dem ge-bückten Gang, der Halbglatze unter dem blauen Mützchen und den wachen Augen ist ein liebenswerter Schelm, den man gerne durch die Geschichte begleitet.

Rabaté variiert das Tempo, verfolgt Än-

derungen im Gesichtsausdruck manch-mal über mehrere Bilder und springt dann wieder zügig zur nächsten Episode. Er karikiert, um zuzuspitzen, und porträ-tiert, um stimmungsvoll und tiefgründig zu erzählen. Immer hat er sein Milieu genau im Blick. Er kennt das Palaver in den kleinen Bars, die es in Frankreich noch überall gibt, weil öffentlich zugäng-liche Zigarettenautomaten verboten sind und man nur dort seinen Tabak bekommt. Da wird über Kapern und Muschelsoße philosophiert, darum gestritten, ob das komplizierte Gewinde eines Schnecken-hauses ein Gottesbeweis ist und ob Hüh-ner mehr stinken als Schweine. Wenn den Hobby-Winzern die Weinflasche zu voll ist, wird ein Schlückchen abgetrunken und dann erst eingekorkt. Frankreich-Ur-lauber erkennen die französische Provinz aber auch an den Leclerc-Supermärkten und dem kleinen R4 wieder, mit dem Émile unverdrossen durch die Landschaft tuckert. Langweilig wird es auch deshalb nie, weil die Handlung immer wieder Haken schlägt und sich nie dazu verleiten läßt, in die Kitschfallen zu tapsen, die bei dem Thema überall aufgestellt sind.

Angeln im AlterPascal Rabaté erzählt das Märchen vom Rentner Émile, der auszieht, um die Lust neu zu lernen. Von André Weikard

Pascal Rabaté: Bäche und Flüsse. Reprodukt, Berlin 2009, 94 Seiten, 18 EuroSämtliche Abbildungen dieser Beilage sind diesem Band entnommen und er-scheinen mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Fortsetzung auf Seite zwei O

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Mittwoch, 2. Dezember 2009, Nr. 279 junge Welt 2 l i t e r a t u r

Émile unternimmt eine letzte Reise zum Haus, in dem er aufgewachsen ist. Das steht noch, wird aber mittlerweile von einer Landkommune bewohnt, die den Alten aufnimmt. Es wird zusammen Obst geklaut, getanzt, gekifft und Gitarre gespielt.

Der lebensmüde Kauz ist niedlich, wenn er sich wegen seines runzeligen Körpers schämt, nackt mit den Hippies ins Flußwasser zu steigen und dann we-gen seiner Erektion schämt, wieder aus dem Wasser rauszukommen. Émile, der auf der Suche nach der verlorenen Sexua-lität wieder mutiger wird, schaut beim Warten auf Madame zwar noch mal unter der Bettdecke nach, ob da auch alles in Ordnung ist, läßt sich dann aber von der eigenen Biologie überzeugen und flüstert am Morgen danach lüstern: »Ich erkunde dich, ich zähle deine Falten und streichle sie mit meinen Händen voller Altersflek-ken«, während seine Krücke am Nacht-tischchen lehnt und das Gebiß im Wasser-glas schwimmt.

Der Film zum Comic, der einem beim Blättern unweigerlich vor Augen kommt,

ist schon abgedreht und soll im kommen-den Frühjahr in die französischen Kinos kommen. Obwohl Rabaté das Drehbuch selbst schrieb und Regie führte, ist es kei-ne Animation, sondern ein Realfilm, mit Daniel Prévost in der Hauptrolle.

Nach einer Studie der Universität Chicago haben 53 Prozent der 65 bis 74jährigen Amerikaner noch Sex. 37 Prozent der Männer klagen über Erek-tionsstörungen, 39 Prozent der Frauen über eine trockene Scheide. Wer nicht auf öde Statistiken steht und sich un-terhaltsamer mit Alterslust, Einsamkeit, Freundschaft und der Liebe beschäftigen will, für den ist »Bäche und Flüsse« das Richtige. Ein Comic ohne »Puff«, »Peng« und »Krach«, dafür aber mit feiner Ironie, die wie ein Hintergrund-rauschen die spielerischen Zeichnungen begleitet. Andreas Dresen gewann 2008 mit »Wolke 9« in Cannes den Jurypreis in der Nebenreihe »Un certain regard«, Rabaté gewann 2007 mit »Bäche und Flüsse« beim Comic-Festival in Ang-oulême den »Prix de la Critique«. Nicht schon wieder Socken zu Weihnachten. Buch und DVD kann man auch gut zu-sammen verschenken.

O Fortsetzung von Seite eins

Mit seiner neuesten Publika-tion »Imperialismus und Moderne« unternimmt Thomas Metscher den Ver-

such, den modernen Kunstbegriff kate-gorial aufzuarbeiten, gesellschaftlich zu bestimmen und historisch zu rekonstru-ieren: Die Untersuchung »betrifft, auf fundamentaler Ebene, die Wirklichkeit und Möglichkeit moderner Kunst, die Analyse ihrer kategorialen Bedingungen, die Erkundung von Kriterien ihrer Kritik. Dabei geht es (…) um einen formations-geschichtlichen Begriff moderner Kunst. Ich frage nach ihrer ästhetisch-ideologi-schen Grundkonstellation, ihrer Konstitu-tion und Funktion als Teil des Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse.«

Metscher entdeckt die historischen und gesellschaftlichen Grundbedingungen moderner Kunst im Imperialismus und der Krise der bürgerlichen Gesellschaft, welche ohne massive Gegenwehr die fun-damentale Zurücknahme ihrer fortschritt-lichen Elemente wahrscheinlich macht. Die Gegenwart sei gekennzeichnet von der Möglichkeit sowohl einer Rebarbarisie-rung als auch einer grundlegenden Soziali-sierung der Gesellschaft; und Gradmesser für die Aussagekraft von Kunst sei die Fä-higkeit, diese Widersprüchlichkeit durch die Darstellung bewußt machen zu kön-nen. Dabei ist für Metscher die spätkapi-talistische Gesellschaft durch einen »kon-stitutionellen Irrationalismus« gezeichnet, insofern das Gesellschaftsganze »keiner Gesamtrationalität mehr« gehorcht außer der des Profits, womit ihr grundlegend »Irrationalität und Widersinn eingeschrie-ben« sind. Dieser gesellschaftliche Sach-verhalt zeitigt verheerende Folgen für das Bewußtsein der Menschen, und zwar so-

wohl im Alltag als auch in Kunst, Wissen-schaft und Philosophie. Die Spielarten des Irrationalismus sind also Ausdruck eines grundlegenden Irrationalismus der spät-bürgerlichen Gesellschaft. Das bedeutet, daß der Irrationalismus keine Lüge ist, sondern eine einfache Spiegelung der em-pirischen Verhältnisse im menschlichen Bewußtsein darstellt, das sich aber über die gesellschaftlichen Grundlagen seines Zustandekommens (und damit seiner prin-zipiellen Überwindbarkeit) nicht im Kla-ren ist. »Das bedeutet: der Irrationalismus ist in bestimmten Grenzen wahrheitsfähig. Seiner kritischen Geschichtsschreibung kann es deshalb nicht nur um den Nach-weis seiner Unwahrheit, sondern muß es zugleich um das Ausarbeiten seiner Wahr-heit gehen.« Die aktuellen Ausprägungen dieser rationalen Unvernunft macht Met-scher an der Philosophie der postmoder-nen Denkzwerge und den Doktrinen des Neoliberalismus fest.

Der modernen Kunst stehen verschiede-ne Wege offen. Sie kann diese Unvernunft ignorieren und verklären oder darstellen und decodieren. Sie kann also dazu bei-tragen, daß ihre Rezipienten dem gesell-

schaftlichen Wahnsinn mit Ahnungslosig-keit oder Resignation oder aber kämpfe-risch begegnen. Hierbei ist nach Metscher die Frage nach Abstraktheit oder Konkret-heit der Kunst von untergeordneter Natur: »In Wahrheit hat die realistisch-mimeti-sche Kunst aller Zeitalter von Formen der Abstraktion (der Dekomposition, Reduk-tion, formalen Veränderung, Verfremdung sinnlich wahrgenommener Welt) ausgiebig und in höchst unterschiedlichen Weisen Gebrauch gemacht. Die direkte (kopieren-de) Reproduktion gegenständlicher Wirk-lichkeit (…) dürfte eher die Ausnahme als die Regel sein. Die Unterscheidung, die zu treffen ist, ist die von gegenständlich-welt-hafter (= mimetischer) und gegenstands-loser (= selbstreferentieller) Kunst.« Dies bedeutet nicht, daß die Frage der Form nicht von Belang wäre, im Gegenteil, da die jeweils gewählte Form bereits eine (mitunter unbewußte) Haltung zur Welt (und zu ihrer Darstellbarkeit) impliziert. Gerade weil der Inhalt so wichtig ist, wird auch die Frage nach seiner künstlerischen Rekonstruktion, also die Form, entschei-dend, die jedoch in ihrer dialektischen Verkoppelung mit dem Inhalt nach Met-

scher immer Ausdruck einer »ästhetischen Weltanschauung« ist. An rein formalen Kriterien läßt sich also die Frage nach der Fortschrittlichkeit bzw. Rückschritt-lichkeit von Kunst nicht festmachen: »Wie es eine rechte und eine linke Avantgarde gibt (und viele Positionen dazwischen), gibt es einen kritisch-revolutionären und einen konservativen, ja irrational-reaktio-nären Realismus (z. B. im Roman).« Dies bedeutet nun aber wiederum nicht, daß an der politischen Gesinnung des Künst-lers sein künstlerischer Wert zu messen sei, denn »in der bedeutenden Kunst [ist] die Werkbedeutung stets komplexer als die Autorenideologie«. Diese Gedanken exemplifiziert Metscher meisterhaft und führt aus an den Autoren Thomas Mann, Ernst Weiß und Bertolt Brecht, deren Wer-ke bestimmt keine unzulässige Reduktion erfahren, wenn man ihnen einen Hang zur grundsätzlichen Entschlüsselung und Hi-storisierung ihrer gesellschaftlichen und ästhetischen Gegenwart unterstellt. Met-schers Ausführung ist zwingend und lu-zide und stellt nichts anderes dar als eine elementare Einführung in die Problembe-reiche moderner Kunst.

Irrationalität und WidersinnWelche Wege stehen der modernen Kunst offen: Der Philosoph Thomas Metscher über »Imperialismus und Moderne«. Von Reinhard Jellen

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Thomas Metscher: Imperialismus und Moderne. Verlag neue Impulse, Essen 2009, 183 Seiten, 14,80 Euro

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junge Welt Mittwoch, 2. Dezember 2009, Nr. 279 3l i t e r a t u r

Ernest Mandel war einer der origi-nellsten und produktivsten Den-ker der linken sozialistischen Bewegung. Seine über zwei Dut-

zend Bücher und unzähligen Artikel zur politischen Ökonomie des Kapitalismus, zur ökonomischen und politischen Theorie und zu Fragen der Weltgeschichte und Poli-tik, sind in über 30 Sprachen übersetzt und erreichten ungewöhnliche Auflagenhöhen – wegen seiner bemerkenswerten Fähig-keit, die teilweise recht schwierigen Fein-heiten der marxistischen Kapitalismuskri-tik in allgemeinverständliche Sprache zu übersetzen, und wegen eines offenen Mar-xismusverständnisses, das die Fallstricke des an Moskau oder Peking orientierten Dogmatismus ebenso vermied wie die theorielose Handwerkelei reformistischer Sozialdemokraten. Der leidenschaftliche politische Aktivist, fesselnde Redner und schneidende Polemiker beeinflußte damit weltweit Hunderttausende junger politi-sierter Menschen und schulte Zehntausen-de politische Aktivisten.

Diesen europäischen Weltbürger bel-gischer Herkunft (er sprach alle großen europäischen Sprachen fließend) verband jedoch eine ganz besondere Beziehung zu Deutschland und vor allem zur deutschen Linken. Die familiären und politischen Ursprünge dieser besonderen Beziehung lassen sich nun in der Biografie Jan Willem Stutjes nachlesen. Mandels Eltern waren in jungen Jahren aus dem osteuropäischen Judentum nahe Krakaus ausgebrochen und hatten sich in den Niederlanden niederge-lassen, wo es Mandels Vater im Textilge-schäft zu ansehnlichem Vermögen brachte. Parallel engagierte sich Henri im linkskom-munistischen Milieu, lernte Wilhelm Pieck und Karl Radek persönlich kennen, ging in der Revolutionszeit 1918 nach Berlin und arbeitete dort im Pressebüro der Kommuni-stischen Internationale, bis er im Anschluß an die Meuchelmorde an Luxemburg und Liebknecht entsetzt zurück nach Antwer-pen ging und sich aus der aktiven Politik wieder zurückzog. Es blieben die Liebe zu Deutschland, die politische Hoffnung auf sozialistische Emanzipation und vielfältige Kontakte.

Daß sein erster Sohn Ernest 1923 sogar in Frankfurt am Main zur Welt kommen sollte, war also nicht ganz überraschend, aber doch eher zufällig. Ernest und sein jüngerer Bruder Michel wuchsen jedenfalls mehrsprachig auf, bekamen intensiven Zu-gang zur klassischen bürgerlich-humani-stischen Bildung und eine entsprechend

verwurzelte Liebe für Musik und Literatur mit auf den Weg. Der junge Ernest genoß eine unbeschwerte Jugend und galt schon früh als temperament- und phantasievolles Wunderkind, das, so Stutje, immer gewin-nen wollte.

Bereits mit 13 Jahren schrieb er Leser-briefe, in denen er die Gleichgültigkeit ge-gen Ungerechtigkeit anprangerte. Es war die Mitte der dreißiger Jahre, im Hause der Mandels fanden zahllose politische Flücht-linge aus dem faschistischen Deutschland Unterschlupf und der junge Ernest politi-sierte sich schnell – nicht zuletzt unter dem prägenden Einfluß seines Vaters. Vor allem das Jahr 1936, die Moskauer Prozesse und der Ausbruch der spanischen Revolution sollte die Familie nachhaltig und im anti-stalinistischen Sinne beeinflussen. Henri Mandel wurde Förderer und Aktivist der jungen IV. Internationale, und der jugend-liche Ernest nahm wie selbstverständlich

an den Versammlungen und Diskussionen teil. Bald schon verteilte er nicht nur illega-le Flugblätter, sondern stellte sie auch her und begann, für sie zu schreiben. Er wurde zum führenden Kader und kurz vor Kriegs-ende festgenommen, um nach Flucht und abermaliger Festnahme in ein deutsches Arbeitslager verschleppt zu werden – was er offenbar nicht ganz so schlimm finden konnte, schließlich ermöglichte ihm dies, wie er damals hoffte, vor Ort dabei zu sein, wenn die lang ersehnte deutsche Revoluti-on nach Faschismus und Krieg ausbrechen würde.

Aus der deutschen Revolution sollte be-kanntlich nichts werden, doch Ende der vierziger Jahre war er wieder da, griff mit Artikeln auch persönlich in die Debatten

der westdeutschen Linken ein. Am linken Rande der Sozialdemokratie schrieb er in der renommierten Rheinischen Zeitung und wurde zu Beginn der fünfziger Jahre der spiritus rector der kleinen linkssozia-listischen Zeitschrift pro und contra. 1952 veröffentlichte er unter Pseudonym eine kleine Broschüre, in welcher er mit dem sozialdemokratischen Revisionismus eines Carlo Schmid abrechnete, und pflegte enge Verbindungen zu führenden Linkssoziali-sten wie Viktor Agartz, Wolfgang Abend-roth, Leo Kofler, Theo Pirker und Peter von Oertzen. Und in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre war er ein treibender Mitarbeiter der Sozialistischen Politik, dem Sprachrohr der sozialdemokratischen und Gewerkschaftslinken, das – vergeblich – gegen die »Godesbergisierung« anschrieb und organisierte.

Neben Abendroth war Mandel schließ-lich der einzige dieser ersten Generation

der Neuen Linken, die in den sechziger Jahren direkten persönlichen Kontakt und intellektuellen Zugang zur sogenannten zweiten Generation der Neuen Linken fand, zu den jungen SDS-Aktivisten Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl u.v.a., aus deren Kreisen schließlich auch seine erste Frau Gisela kam. Er war ein gern gesehener Gast auf SDS-Seminaren und -tagungen, einer der großen Redner des Vietnamkongresses 1968. Und er hat sie beflügelt, die jungen Berliner Studieren-den, denen er als Lehrbeauftragter und Habilitant der FU die Wissenschaft vom Spätkapitalismus beibrachte, bis die Tole-ranz der sozial-liberalen Koalition platzte. 1972 verkündete Innenminister Genscher ein bis Ende der siebziger Jahre dauerndes

Einreiseverbot und antwortete dem empör-ten niedersächsischen Kultusminister Oert-zen im privaten Gespräch: »Ach, Herr von Oertzen. Glauben Sie nicht, daß ich nicht weiß, was Ernest Mandel geschrieben hat. Gerade das macht ihn so gefährlich.«

Jan Willem Stutje erzählt diese treffen-de Anekdote nicht. Aber sein lesenswertes (und angenehm zu lesendes) Buch bietet alles, was eine gute Biografie bieten muß. Es erzählt die Geschichte der Familie eben-so wie die der weltpolitischen Umstän-de. Es schildert die zentralen Erfahrungen persönlicher wie politischer Art und ver-deutlicht die Wechselwirkungen der politi-schen Konjunkturen mit der Entfaltung des wissenschaftlichen Talents. Wir lernen die zentralen Ansätze und Theoreme des Mar-xisten Mandel kennen und ebenso politisch wie wissenschaftlich einzuordnen. Und wir hören erstmals von dem bitteren Preis, den der rastlose Weltrevolutionär im Persönli-

chen zu zahlen hatte, als die weltpolitische Krise des Übergangs von den siebziger zu den achtziger Jahren mit einer auch persön-lichen Krise Mandels zusammenfiel.

Ein Stück weit zog sich der Intellektu-elle daraufhin aus der praktischen Politik zurück, doch Ende der achtziger war er wieder da, im Kampf um eine linke Wen-dung des Zusammenbruchs des »Realso-zialismus«. Mandels »letztes Gefecht« nennt es sein Biograf und abermals war der Schauplatz Deutschland, diesmal Ost-berlin. Ein „außergewöhnliches intellek-tuelles und literarisches Talent“ (Stutje) brach sich ein letztes Mal an den Realitä-ten der Weltgeschichte. Doch wer darüber den Stab brechen möchte, ist nicht dabei gewesen.

Für die WeltrevolutionJan Willem Stutje über das Leben und Werk des belgischen Internationalisten Ernest Mandel. Von Christoph Jünke

Jan Willem Stutje: Re-bell zwischen Traum und Tat. Ernest Mandel (1923–1995). VSA Verlag, Hamburg 2009, 470 Sei-ten, 39,80 Euro

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Mittwoch, 2. Dezember 2009, Nr. 279 junge Welt 4 l i t e r a t u r

Carsten Otto ist keineswegs ein Autohasser. Der vor allem durch seine Rundfunk- und Zeitungsessays bekanntge-

wordene Autor gehört lediglich zu jener in Deutschland recht seltenen Spezies der Führerscheinlosen. Das eröffnet un-gewohnte Betrachtungsperspektiven: Als Beifahrer, Fußgänger oder Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel. Und als staunenden Beobachter einer »entwik-kelten automobilen Gesellschaft«, in der nicht nur der pure Besitz, sondern auch Preis, Ausstattung und Art der Benut-zung eines PKW zu bestimmenden Fak-toren des Selbstwertgefühls geworden sind. Das mag nicht verwundern, wenn sogar in Flaggschiffen des gehobenen »Qualitätsjournalismus« wie der Zeit, Autofahren in den Rang einer »zivilen Grundfähigkeit« erhoben wird.

60 Episoden hat Carsten Otte in »Goodbye Auto. Ein Leben ohne Führer-schein« zusammengetragen. Er besuch-te die Kathedralen des Autofetischismus wie Tiefgaragen, Tuningmessen, Wasch-anlagen und Fahrzeugfabriken. Er schil-dert die Begegnungen mit PS-Maniacs in der Grundschule, auf Campingplätzen bis hin zu autistischen Bastlern. Und er wird dabei von einem unerschütterlichen histo-rischen Optimismus getragen: Aufgrund der sich verschärfenden Energie-, Um-welt- und Infrastrukturprobleme sei das Auto in seiner bisherigen Form ohnehin »ein Auslaufmodell«, ist Otte überzeugt.

Seine kleinen Erzählungen sind mei-stens eher von kopfschüttelndem Mitleid als von eifernder Wut auf die luftverpesten-den, menschengefährdenden und krachma-chenden Beförderungsmaschinen und ihre Halter geprägt. So beschreibt er genüßlich den entsetzten Gesichtsausdruck einer hoff-nungsvollen Aprés-Ski-Bekanntschaft, der er den lässig hingeworfenen BMW-Cabrio-Zündschlüssel mit dem Geständnis der Führerscheinlosigkeit zurückgeben muß.

Ottes Weg in die Autoabstinenz zeich-nete sich schon in der Grundschule ab, als die Hackordnung in der Klasse maß-geblich durch den automobilen Status der Eltern bestimmt wurde. Um mögli-chen Hänseleien wegen des bescheidenen häuslichen Gefährtes zu entgehen, erfand Klein-Carsten im Gymnasium schließlich einen elterlichen Ferrari, und nachdem eine ihm gewogene Mitschülerin seine kleine Notlüge durch einen »Erfahrungs-bericht« über eine Mitfahrt in dem »Su-perschlitten« untermauerte, war endlich Ruhe an dieser Front.

Auch das Vorbild des älteren Bruders, der sich nach einem alkoholbedingten Führerscheinentzug einem – von Otte ein-drucksvoll geschilderten – »Idiotentest« zur Wiedererlangung der Fahrerlaubnis unterziehen mußte, bestärkte den Autor in seiner Entscheidung. Und während sich seine meisten Bekannten in den Seme-sterferien bereits per PKW in Urlaubsge-filde verabschiedeten, verlegte sich Otte aufs trampen. Diese mittlerweile ziemlich aus der Mode gekommene Art der Fortbe-wegung will er als Erfahrung zwar nicht missen, aber »unerträgliche Laberta-schen, geheimnisvolle Schweiger, Leute, die sechs Stunden Heino hören, oder sich bei Tempo 130 einen runterholen« hätten das Vergnügen manchmal getrübt.

Während der Autor diesen und einigen anderen Facetten des führerscheinlosen Lebens noch amüsante Seiten abgewinnen kann, schimmern bei der Beschreibung der alltäglichen Diskriminierung von Nicht-Automobilisten einige Zornesfalten durch die Zeilen. So werde man mangels öffentlicher Verkehrsanbindung faktisch vom Besuch fast aller Einrichtungen der gehobenen Gastronomie außerhalb von Großstädten ausgeschlossen, ärgert sich der bekennende Gutesser Otte. Eine ande-re Episode betrifft die Chancenlosigkeit bei Vorstellungsgesprächen, auch wenn die angestrebte Tätigkeit keineswegs zwingend mit automobiler Fortbewegung verknüpft. Seinen lockeren Schreibstil verläßt der Autor ferner, wenn es um die

Rücksichtslosigkeit von Gehwegparkern, Autobahnrasern und Tempo-30-Zonen-Ignorierern geht. Ein Dorn im Auge sind ihm auch »Fachjournalisten«, die – nicht ganz uneigennützig – jeden noch so ab-artigen »Gelände«- oder »Sport«wagen in den höchsten Tönen als Inbegriff mo-derner Mobilität preisen, sowie Politiker, die sich zu willfährigen Handlangern der kurzfristigen Interessen einiger deutscher Konzerne machen lassen.

Doch über allem schwebt anfangs er-wähnter historischer Optimismus und so etwas wie der – scheinbar unausrottbare – Glaube an den »Markt«, der alles richten wird, sowie das Vertrauen in die »Ein-sichtsfähigkeit« der Konzernlenker. Bei diesen Passagen wird das ansonsten recht unterhaltsame Buch dann etwas ärgerlich. Otte sinniert über Hybrid- und Elektro-motoren, computergestützte Verkehrsleit-systeme in allen PKW und ähnliches als Weg in eine »menschlichere« automobile Zukunft. Kein Wort davon, daß die allge-meine Umwelt- und besonders die CO2-

Bilanz von Autos bereits verheerend ist, bevor sie den ersten Liter Sprit verbraucht haben. Kein Wort davon, daß auch ver-meintlich »umweltfreundliche« Autos die Städte verstopfen, die Zersiedelung der Landschaft fördern und einen immer gigantischeren Straßenausbau nach sich ziehen werden. Die Alternative zum Auto von heute ist nicht das »Auto von mor-gen«, sondern die Reduzierung des moto-risierten Indivualverkehrs zugunsten öf-fentlicher Transportangebote, vorrangig auf der Schiene. Doch mögliche rigide Maßnahmen gegen den Autowahn und dessen Profiteure klingen für Otte nach einer »Ökodiktatur«, in welcher »der ADAC als kriminelle Vereinigung im Un-tergrund agieren« müßte.

Aber was soll’s: Schließlich handelt es sich bei »Goodbye Auto« nicht in erster Linie um eine verkehrs- und umweltpo-litische Streitschrift, sondern um einen autobiografisch geprägten Episodenband. Und als solcher ist er allemal gut zu le-sen.

Führerschein und FahrzeugpapiereIn »Goodbye Auto« beschreibt Carsten Otte sein Leben ohne Fahrerlaubnis – und entwirft nebenbei Grundzüge einer neuen Mobilität. Von Heiko Lindmüller

Carsten Otte: Goodbye Auto – Ein Leben ohne Führerschein. Goldmann Verlag, München 2009, 348 Seiten, 8,95 Euro

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junge Welt Mittwoch, 2. Dezember 2009, Nr. 279 5l i t e r a t u r

Vermessung der Utopie. Ein Gespräch über Mythen des Kapitalismus und die kom-mende Gesellschaft« lautet

der Titel eines soeben erschienenen Bu-ches von Raul Zelik und Elmar Altvater. Der Zeitpunkt für eine solche Vermes-sung sei günstig, zeige doch die gegen-wärtige Krise, daß eine andere Politik möglich und notwendig sei. Wovon die Gesprächspartner ausgehen, verraten sie allerdings nur auf der Website (www.vermessung-der-utopie.de), auf der mo-deriert über ihr Buch diskutiert werden soll: »Der real existierende Kapitalismus steuert zielstrebig auf seinen Zusammen-bruch zu.« Mit der Exhumierung der Zu-sammenbruchstheorie wird geleugnet, daß die krisenhafte Bewegung des Ka-pitals bisher stets zu einer Verstärkung und Modernisierung dieses gesellschaft-lichen Verhältnisses führte. Sie erklärt, warum in dem Gespräch das globale Multiversum der Eigentumslosen als Ak-teur ausgeblendet wird, warum es nicht unter der Überschrift »Der kommende Aufstand« geführt wurde, wie der Titel des Pamphlets des französischen Comité invisible lautet, in dem die vor uns lie-genden Aufgaben radikal benannt sind.

So sicher, wie sich die Gesprächspart-ner Altvater/Zelik über das Ende des Ka-pitalismus sind, so unsicher sind sie sich über den Charakter ihres eigenen Unter-fangens. Zunächst heißt es, »ein Nicht-Ort, ›ein Land, das noch nicht ist‹, lasse sich schlecht ausmessen, es könne also nur um eine »negative Vermessung« ge-hen, nicht darum, sich eine bessere Welt auszudenken. Gegen Ende des 20stündi-gen Gesprächs ist dies ganz vergessen, da ist die Utopie »konkret«, »regulierend«, »in einem radikalen Sinne demokratisch« und »marktkritisch« auch. Schon auf den ersten Seiten wird die Utopie als »hand-fester Widerspruch« definiert, werden die Maßgaben für eine utopisches Projekt be-nannt: »… den Menschen auf Erden ein Auskommen zu ermöglichen und sie nicht länger auf das Paradies zu verweisen.« Diese Aussage Altvaters ergänzt Zelik: »… wobei es aber nicht nur um ›Brot‹, um die Grundversorgung des Menschen geht, sondern auch um etwas, das man allgemein und knapp mit dem Begriff des anderen, glücklichen Lebens beschreiben könnte. Ein Leben, in dem Kommunika-tion, Arbeit, soziale Beziehungen einen anderen Stellenwert und Inhalt besitzen.« Nachdem Altvater auf die notwendige Reflexion über utopische Entwürfe ver-wiesen, auf die Frage, ob diese zu einer »herrschaftsfreien Welt« führen, widmen sich die Gesprächspartner zunächst dem Begriff Ökonomie. Altvater verweist auf die Marxschen »Grundrisse«: »Da wird die Erzeugung von freier Zeit als zentra-les Ziel nichtkapitalistischen Wirtschaf-

tens definiert.« Wolle man aber dahin kommen, rüttele man am institutionellen Rahmen, aus dem man sich nicht einfach hinausbewegen könne. Altvater redet dem

westdeutschen Arbeiterreformismus, der es verstand, sich mit dem Unternehmer-kommando zu arrangieren, das Wort: »Die gemeinsame Verortung im sozialen Raum ist die Grundlage für eine Vielfalt von so-zialen Kompromissen, beispielsweise für die Kooperation von Gewerkschaften und Unternehmensmanagement.«

Der nächste Themenblock des Ge-sprächs, überschrieben »Die Krise(n) und ihr Management«, gibt zu wenig her, um als Ansatz einer Analyse der derzeitigen Krise gelten zu können. Es sei an dieser Stelle auf das Buch »Die globale Kri-se« verwiesen, in dem Karl Heinz Roth die aktuelle Krisendynamik rekonstruiert (VSA-Verlag, 2009).

Im Krisenzusammenhang beruft sich Altvater auf den südafrikanischen Schrift-steller J. M. Coetzee, der eine Entzivili-sierung des Kapitalismus auf höchstem technologischen Niveau befürchte, und sagt: »Wenn wir die Entwicklung aus-gehend von den dominanten Tendenzen prognostizieren sollten, käme eine tief-schwarze Utopie heraus.« Tiefschwarze Utopie? Als wüßten wir nicht von Walter Benjamin, daß die Katastrophe unabläs-sig Trümmer auf Trümmer häuft: »Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ›so wei-ter‹ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene.«

Im Themenbereich »Der gescheiterte Sozialismus« reden Zelik und Altvater, das Problem Markt und Plan im Hin-terkopf, hauptsächlich über den dritten sozialistischen Weg, den des früheren Jugoslawiens, um schließlich auf Lenin zu sprechen zu kommen, dessen Den-ken – so Zelik – sehr stark Machtfragen gegolten habe, vor allem aber der Mög-lichkeit des politischen Bruchs. »Nur wer voluntaristisch daherkommt, den Willen zum Bruch, die Bereitschaft zu Konflik-ten mitbringt, wird unter den existieren-den Machtverhältnissen Verschiebungen erreichen können.« Altvater erwidert, daß es weder ausreiche, einfach abzuwarten, noch das Abwarten voluntaristisch zu be-enden. Sein Neoleninismus bestünde dar-in, »dieses Problem zu formulieren«.

Dann sind die Gesprächspartner beim Thema »Die kommende Gesellschaft« angelangt und reden über die Vorzüge von Genossenschaften, von commons, von den neuen Internetgemeinschaften also, und von Linux als der freien Kooperation von Produzenten. Auf die Frage Zeliks, wie man sich Entscheidungsprozesse un-ter sozialistischen Bedingungen vorzu-stellen habe, antwortet Altvater zunächst, diese müßten »in Form einer facettenrei-chen Demokratie geschehen, in der auf verschiedensten Ebenen Versammlungen durchgeführt werden«. Sowjets, Räte al-so, von der Situationistischen Internatio-

nale einst als »der erste Grundsatz der ge-neralisierten Selbstverwaltung« bezeich-net, die in den Mittelpunkt der Revolution des alltäglichen Lebens zu rücken sind, haben in Altvaters Utopie allerdings kei-nen Platz: »Ich wüßte nicht, wie bei zig Millionen oder gar Hunderten von Millio-nen Staatsbürgerinnen und -bürgern eine direkte Demokratie organisiert werden könnte. Es geht also gar nicht anders. Der Parlamentarismus, so unzulänglich er auch ist, hat seinen Platz.«

Gegen die Vorstellung vom evolutionären Übergang zum Neuen und die vom revolu-tionären Bruch führt Zelik den griechischen Urbanisten Stavrides ins Feld, der auf der Grundlage von Walter Benjamin und Gio-rgio Agamben den Begriff der »Schwelle« auch für Projekte der Utopie vorschlage. Die Schwelle – so Zelik – stelle einen Über-gangszustand dar, »eine Passage, in der eine Kontinuität des Bestehenden gewahrt ist und sich doch der Raum für völlig Anderes öffnet«. Dies scheint mir eine sehr gewagte Benjamin-Interpretation zu sein. Benjamin ging es darum, die mit Jetztzeit gelade-ne Vergangenheit aus dem Kontinuum der Geschichte herauszusprengen. Er setzte nicht auf den Glauben an den Fortschritt, sondern auf die Entschlossenheit, mit dem herrschenden Unrecht aufzuräumen. In seinen »Passagen«-Notizen findet sich der Eintrag: »Der unersetzliche politische Wert des Klassenhasses besteht gerade darin, die revolutionäre Klasse mit einer gesunden Indifferenz gegen die Spekulationen über den Fortschritt auszustatten.«

Trümmer auf TrümmerRaul Zelik und Elmar Altvater reden über die kommende Gesellschaft. Von Jürgen Schneider

Raul Zelik/Elmar Alt-vater: Vermessung der Utopie. Ein Gespräch über Mythen des Kapita-lismus und die kommen-de Gesellschaft. Blumen-bar, München 2009, 206 Seiten, 14,90 Euro

UNRAST VerlagUNRAST VerlagPostfach 8020 • 48043 MünsterTel.: (0251) 666-293 Fax: -120Besuchen Sie uns: www.unrast-verlag.de

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Mittwoch, 2. Dezember 2009, Nr. 279 junge Welt 6 l i t e r a t u r

Hilde Stieler betritt in der von Franz Pfemfert heraus-gegebenen Buch-

reihe Der Rote Hahn 1918 die literarische Bühne:

»Laß, Bruder, leise deine Hand mich rühren!

In dieser Finsternis, die wir erleiden,

Laß uns die Flamme der Gemeinschaft schüren.«

Mit diesen Versen aus dem Gedicht »Feinde«, das dem Zyklus »Der Regenbogen« entnommen ist, nimmt Hil-de Stieler dezidiert Stellung zu dem Irrsinn des Krieges; ihr Protest richtet sich gegen Chauvinismus und Militaris-mus. Jahre später solidarisiert sie sich mit von den National-sozialisten verfemten und als entartet etikettierten Künst-lern wie Paul Klee, George Grosz, Eugenie Fuchs oder Max Ernst, indem sie sich an einer Ausstellung des Freien Künstlerbundes in Paris betei-ligt.

Nun können wir die Schriftstellerin und Künstle-rin Hilde Stieler in der Über-setzung ihres Buches »Les confessions d´Annouchka« entdecken, das der AvivA Verlag unter dem etwas un-glücklich gewählten, da miß-verständlichen Titel »Die Edelkomparsin von Sanary« veröffentlicht hat. Mit die-sen Aufzeichnungen liefert Hilde Stieler, geboren 1879 in Zürich, wagemutig eine individuelle Analyse ihres an Erlebnissen und Ereig-nissen reichen Lebens ab; offenherzig beschreibt sie ihre Seelenzustände über die Zeitläufte hinweg.

Weder verschweigt sie das traumatische Erlebnis des Suizids ihres geliebten Vaters, der »einer der bekannte-sten Chemiker seiner Zeit« war und in ihr die Neigung zur Literatur, Kunst, Musik und vor allem zum Theater weckte, noch die von Konflikten, Verletzungen und Eklats gezeichnete Ehe mit Kurt Stie-ler: »Es ist eigentlich unglaublich, wie

schlecht man einander kennt nach zwan-zig Jahren Ehe!«

In dem 1929 herausgegebenen, auto-biographisch gefärbten Roman »Monika Molander« lassen sich diese Szenen einer Ehe wie die Zeit und das Künstlerleben in München und Berlin vor 1914 verfolgen. Joseph Breitbach, Autor der Erzählungen

»Rot gegen Rot«, nennt ihn, wie Manf-red Flügge in seinem aufschlußreichen Nachwort ausführt, einen Schlüsselroman um Walter Rathenau und Franz Blei. Hil-de Stielers neuer Lebensgefährte Erich Klossowski, den sie als ein »zutiefst me-lancholisches Wesen« ansieht und der »sich in Deutschland nicht recht zu Hau-

se« fühlt, gibt ihr Rückhalt und unterstützt sie in ihren künstlerischen Neigungen. Gemeinsam leben sie ab 1928 in Frankreich und gegen En-de 1932 in Sanary sur Mer, einem Ort, der nach 1933 »zu einem wahren intellektuellen und künstlerischen Zentrum wurde, dank bekannter oder gar berühmter Persönlichkei-ten, die vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten geflohen waren und hier eine Zuflucht gefunden hatten.« Freimütig gesteht sie, daß sie in ihrem ganzen Leben kei-ne so mondäne und ereignis-reiche Existenz geführt habe wie in den Jahren zwischen 1933 und 1939: »Drei Dinge beschäftigten uns: die Politik, die Gefühle und die Kunst.« Zu ihrer größten Überra-schung reüssiert sie »als na-ive Malerin«.

In Sanary trifft sie Hein-rich Mann wieder, der ihr in größter seelischer Not, als sie fürchtete, »durch die Schei-dung eine Außenseiterin zu werden«, beistand. Für ihn empfindet sie »tiefe Sympa-thie«, ist er doch »seit jeher links eingestellt« und franko-phil, aber zugleich spürt sie bei ihm »eine große innere Einsamkeit«.

Nicht allein von dieser Be-gegnung ist in den »Bekennt-nissen« die Rede. Ihre feinen Porträtierungen einer Lily Klee, Eva Herrmann, Sybille Bedford, Colette, eines Franz Werfel wie Aldous Huxley gehören zum Eindrücklich-sten des Buches.

Als Zäsur in ihrem Leben erweist sich der Tod Erich Klossowskis im Jahre 1949, mit dem die Erinnerungen enden, brutal »die Zerbrech-

lichkeit eines Menschenlebens« vor Au-gen führend. Sie selbst stirbt 1965, verein-samt und vergessen. Wer mehr über Hilde Stieler erfahren möchte, greife zu dem Buch »Die Edelkomparsin von Sanary«. Zu wünschen wäre zudem eine Neuaufla-ge ihres Romans »Monika Molander«, der antiquarisch nicht greifbar ist.

Eigentlich unglaublichDie Künstlerin und Schriftstellerin Hilde Stieler im AvivA Verlag neu aufgelegt. Von Christiana Puschak

Hilde Stieler: Die Edel-komparsin von Sanary. AvivA Verlag, Berlin 2009, 342 Seiten, 22,50 Euro

Kuba aus dem Blickwinkel einer Tänzerin. Betrachtet mit den Au-gen einer jungen New Yorkerin

ohne Schulausbildung, ohne politisches Interesse. Mit einem bemerkenswerten Abstand von über 30 Jahren berichtet die aus Mexiko stammende Schriftstellerin Alma Guillermoprieto in ihrem Werk »Ha-vanna im Spiegel« von ihrem bewegten Aufenthalt auf Kuba im Jahre 1970.

»Mein Leben als Tänzerin war bis dahin in gleichmäßigen, vorhersehbaren Lini-en verlaufen«, stellt sie schon zu Beginn des Romans fest. Im Alter von 16 Jah-ren ist sie mit ihren Eltern von Mexiko nach New York gezogen, wo sie fortan ihre Leidenschaft für das Tanzen auslebte. Sich selbst beschreibt sie als typische New Yorkerin der sechziger Jahre. Abgetragene T-Shirts, löchrige Leggings und ungleiche Socken bilden ihre Arbeitskleidung. Und doch scheint sie sich nie richtig mit ihrer Heimatstadt angefreundet zu haben. Die-se These untermauern Feststellungen wie »Kakerlaken bildeten die Fauna der New Yorker Küchen« oder »wenn ich morgens zur Cafeteria ging, in der ich arbeitete, stolperte ich über Junkies, die sich mit der Modedroge Heroin zugedröhnt hatten«. »I Love NY« klingt anders.

Ihr größtes Problem sind allerdings ihre Selbstzweifel. In ihren Augen waren schon

immer die anderen Tänzerinnen besser als sie selbst. »Zu breite Hüften, zu kurze Bei-ne«. Kein Morgen, an dem sie sich nicht vor dem Spiegel ihre Defekte vor Augen führte. Auch das Angebot, in ein fremdes Land zu gehen, um dort Modern Dance zu unterrichten, interpretiert sie nicht als Privileg oder Chance, die Welt kennenzu-lernen, sondern als Zurückweisung, als Verschwörung mit dem Ziel, sie loszuwer-den.

Letztlich willigt sie jedoch ein und ent-scheidet sich für Kuba als Arbeitsplatz. Sie hatte schon soviel von der Insel gehört, »vom Vollmond, der glänzend über dem Meer stand«, vom Malecón oder von stür-mischen Affären. Sogar die Geschichten über Fidel und die Revolution erschienen ihr romantisch. Ihre politische Naivität beschreibt sie selber als eine Mischung aus Antiautoritarismus, Antiklerikalismus, Horror vor Folter, Empörung über soziale Ungleichheit und Tierquälerei. Das einzi-ge, was sie über Politik zu wissen glaubt ist, daß die kubanische Revolution das

Gute und die Regierung der Vereinigten Staaten das Böse darstellen. Schließlich stamme sie selbst aus der linksrevolutionä-ren Tradition Mexikos.

Mit gemischten Gefühlen landet sie am 1. Mai 1970 in Havanna. Nach ersten An-laufschwierigkeiten am Flughafen, geht es an die ENA (Escuela Nacional del Arte) im Stadtteil Cubanacán, 15 Kilometer von der Hauptstadt Havanna entfernt. Dort soll sie die nächste Zeit als Tanzlehrerin arbei-ten. Sie fällt von einem Kulturschock in den nächsten. Keine Coca-Cola-Werbung schmückt die Reklametafeln, sondern aus-schließlich Liebeshymnen an die Revoluti-on. Sie setzt sich in Taxis mit defekten Mo-toren, die allein mit einer Haarklammer wieder zum Laufen gebracht werden.

Nebenbei muß sie sich auch beruflich einleben und sich mit ihrer neuen Rolle als aktiver Teil des sozialistischen Systems an-freunden. In ihrem Schlafzimmer, das sich innerhalb der Schule befindet, kommen ihr erste Zweifel am Projekt, die es zu über-winden gilt. Weshalb war sie überhaupt

gekommen? Warum sind die Kubaner so sehr im Einklang mit der Revolution? Hat sie, als einfache und ungebildete Tänzerin, überhaupt eine Daseinsberechtigung?

Verzaubert von der Rhetorik der Revo-lution und der «unwiderstehlichen Art” Fidel Castros, beschäftigen sie plötzlich Begriffe wie Menschheit, Solidarität, In-ternationalismus, Imperialismus oder Op-fer, die sie vorher, in dieser Intensität, nie wahrgenommen hatte. Zu ihrer eigenen Verwunderung beginnt sie ein politisches Bewußtsein zu entwickeln und konzen-triert sich darauf, nicht nur ihren Arbeits-platz, sondern auch das Land an sich, seine Mentalität und seine Menschen kennen-zulernen.

Es sind rührende Anekdoten einer Künstlerin, die wissen will, »wie der Mo-tor läuft«. Kubanisches Terrain wird auf li-terarischer Ebene mit erfrischender Unvor-eingenommenheit betreten und ein Kuba beschrieben, was so heute wohl nicht mehr anzutreffen ist. Jedem zu empfehlen, dem eine Zeitreise zu teuer ist.

Pirouette ins kalte WasserAlma Guillermoprieto kommt als unpolitische junge Tänzerin nach Kuba und aus dem Staunen nicht mehr heraus. Von Luis »Lucry« Cruz

Alma Guillermoprieto: Havanna im Spiegel. Aus dem Spanischen und Englischen von Matthias Wolf. Berenberg Verlag. Berlin 2009, 400 Seiten, 25 Euro

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junge Welt Mittwoch, 2. Dezember 2009, Nr. 279 7l i t e r a t u r

Irgendwie dachte ich, ich hätte mehr Bücher von Maxim Biller im Regal stehen, aber dann waren es doch nur zwei: die Debüterzählungen »Wenn

ich einmal reich und tot bin« (1990) und die Artikelsammlung »Die Tempojahre« (1991). Die Bände standen ganz oben im Regal, ich mußte den Kinderhochstuhl aus dem Eßzimmer holen, um an sie her-anzukommen – und falls Sie ein bißchen schwer von Kapee sein sollten: Das ist jetzt ein literarisches Bild.

In den 1980er Jahren war Biller der erste Journalist, dessen Name mir ein Be-griff wurde, in den 1990er Jahren begann ich, Short-stories zu schreiben – Vorbild: Maxim Biller –, und wenn ich mich an einen Roman getraut hätte, dann wäre der von Biller nachdrücklich empfohlene Jakob Arjouni mein Leitstern gewesen. Dann begab ich mich in andere Kreise und Gegenden. Immer öfter hörte ich nun den Spruch »Was will er, der Biller?« Ich verstand die Kritik an Billers Antikom-munismus, spürte aber auch den Neid auf einen, der als Polemiker nicht auf der mageren Gehaltsliste von taz, Titanic, konkret etc. stand (obwohl auch Biller einmal für konkret geschrieben hat), der im Fernsehen auftrat und Wert auf schö-ne Kleidung legte. Verdammt gut sah er auch noch aus, und last not least: Er hatte eine interessante, tragische Familienge-schichte im Gepäck, die von der deut-schen Normerzählung abwich. Das nahm man ihm übel, und Biller entschloß sich

zu genießen: »Ich bin Jude, weil ich eines Tages merkte, wie sehr es mir gefällt, die anderen damit zu verwirren, daß ich Jude bin.«

Dann bekam ich lange nichts mit von Biller, sah nur hie und da eine Glosse, ein Interview, eine Kurzgeschichte. Biller dachte ich, ist einer, der das Selbstmitleid liebt, und das ist nun mal, wenn es nicht um den eigenen Kummer geht, recht un-angenehm.

Und schließlich kam der Verbotsfall »Esra«. Da ich nicht in die Situation ge-riet, die Sache gründlich, also schriftlich durchzudenken, da ich das Buch deswe-gen nicht las (bei zvab gibt es aktuell eines der 4 000 vor dem Verbot augelieferten Exemplare zum Preis von 95 Euro), ver-ließ ich mich auf mein moralisches Emp-finden. Das sagte mir: Richtig, daß Biller das Buch geschrieben hat; richtig, daß die darin sich porträtiert bzw. geschmäht Fühlenden dagegen juristisch vorgehen. »Es geht um Rache«, schrieb Jörg Schrö-der, und die sei legitim. Als Verleger hätte er das Buch eben auf anderen, illegalen Wegen lieferbar gehalten. Später schrieb ich selbst einen Roman, und der Verleger sagte mir, seit dem »Esra«-Urteil müsse man sehr vorsichtig sein, ich solle die Klarnamen ändern, was ich nicht woll-te. Und nun also »Der gebrauchte Ju-de – Selbstporträt«. Geniales Cover, dann plötzlich gelindes Erschrecken: Biller wird nächstes Jahr fünfzig, ein weiterer Baustein auf dem Weg zur eigenen Hi-

storisierung. Das Buch liest sich schnell, gut und spannend in einer Nacht weg – kein Wunder: Der ganze Gestus kommt von Fausers »Rohstoff«, allerdings ohne das krampfhafte Bemühen, ein »gutes Buch« zu schreiben (diese Anmerkung ist nötig, solange etwa der Chefkritiker Denis Scheck eine Fauser-Besprechung mit »Literatur im Niemandsland« anmo-deriert – da überkommt einen schon die ganz große Müdigkeit).

Die Biller-Story, das ist mir erst auf Seite elf dieses Selbstbildnisses klar ge-worden, hat einen ganz schlichten Kern: »Anfang der achtziger Jahre gab es in

Deutschland zwei Arten von Juden. Die Juden, die nicht mehr lebten, die nach Palästina und Amerika geflohen waren, die in den Lexika standen. Und Juden, die noch da waren, wenig unsichtbare Ge-schäftsleute, Ärzte und deren Kinder, die jedes Jahr kurz im Fernsehen erschienen, als kleine, dunkle Menschen-gruppe vor einer riesigen Menora oder einer drama-tisch hoch aufgehängten Schiefertafel mit kaum lesbaren hebräischen Buchstaben. Es reg-nete und war windig, und sie hielten sich an ihren Regenschirmen fest, und dann wur-den sie weggeweht und tauchten erst am nächsten 9. November für dreißig Se-kunden wieder in den Nachrichten auf. Jemand wie ich war in Deutschland nicht vorgesehen.«

Was soll man zu dieser Passage zu-erst anmerken? Daß das Schriftstellersein immer seinen Ausgangspunkt darin hat, auf irgendeine Art »nicht vorgesehen« zu sein? Daß Biller 1960 in Prag geboren ist, 1970 mit seinen Eltern nach Deutschland kam, daß er einen russischen, jüdischen Vater hat und mütterlicherseits einen ar-menischen Großvater hat? Daß er sich

mit sechzehn beschneiden ließ, weil er »Jude und nichts als Jude« ist? Daß jüdi-sche Kultur in Deutschland heute sichtba-rer ist, und gleichzeitig ausgerechnet am 9. November von debilen bis aggressiven »Deutschland, Deutschland«-Rufen über-tönt wird? Oder daß Biller sehr anschau-lich nacherzählt, wie eben dieses Groß-reinemachen der deutschen Weste schon lange vor der Wiedervereinigung auf der Agenda der Ich-will-kein-Täterkind-mehr-sein-Deutschen stand? »Secrets are dangerous things, Audrey«, sagt Special Agent Cooper in »Twin Peaks«. Biller fing an als Nervensäge, weil er ein Ge-

heimnisverräter war. Man lese seine radi-kale Analyse der Nachkriegs-, der »Nach-mann-Juden« in »Die Tempojahre«: »Nur die kaltentschlossenen Darwinisten und Kriminellen unter den Holocaust-Über-lebenden konnten nach dem Krieg in den Schoß, aus dem es kroch, wieder hinein-

schlüpfen«. Die Jungen forderte er auf, die »Judengasse« zu

verlassen. Auch diesen Prozeß resümiert Bil-ler in »Der gebrauch-te Jude«. Das macht er hervorragend, ich möchte sagen: männlich; nämlich als einer, der ganz ge-

nau weiß, was der Job ist und der über die Mit-

tel verfügt, ihn zu erfüllen. Trotzdem werde ich meine

Lektürelücke zwischen Billers er-sten Büchern und seinem jüngsten Buch eher nicht füllen. Und das liegt daran, daß ich Philip Roth auf Dauer langweilig finde – und Biller ist der deutsche Philip Roth: Er stellt mir als einziger deutscher Schriftsteller die Frage, ob das Desinter-esse eines deutsch-österreichischen Tä-terenkels am Rothschen Werk vielleicht tiefere, beunruhigendere Gründe haben könnte, als ich sie mir bisher habe einge-stehen wollen.

Nicht vorgesehen»Der gebrauchte Jude«: Maxim Biller resümiert sein Leben in Deutschland. Von Ambros Waibel

Maxim Biller: Der ge-brauchte Jude. Selbst-porträt. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2009, 176 Seiten, 16,95 Euro

TUSHITA Verlag GmbH · Meidericher Straße 6–8 · 47058 Duisburgfon 0203-80097-0 · fax 2030-80097-15 · www.tushita.com

B le nd e - F et eAusstellungseröffnung,

Preisverleihung des jW-Fotowettbewerbs »Blende 2009«. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie alle jW-Leserinnen und -Leser

sind herzlich eingeladen.

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Was?! Mit 23 eine Auto-biografie schreiben? Nein, erwidert Hanna Poddig, es ist keine ty-

pische Autobiografie, sondern »mehr so etwas wie eine Anleitung, ein Reisefüh-rer, für aktivistisches, widerständiges Leben«. Aktivistisches Leben ist zwar nicht immer eine Freude, aber das ist eine Reise eben auch nicht immer. Das Buch »Radikal mutig – Eine Anleitung zum Anderssein« allerdings oft schon, da Hanna Poddig es versteht, in einer klaren, lakonischen Sprache aus ihrem Leben als Vollzeitaktivistin zu berich-ten. Spannend, informativ und witzig zeigt sie auf, was Menschen aufs Spiel setzen, wenn sie gegen Atomindustrie, Gentechnik oder Militärtransporte pro-testieren, weswegen der Titel auch so treffend ist. Oft wird der Widerstand erst gefährlich durch das Verhalten der Exekutive, der die Justiz immer wieder die Mißachtung von Grundrechten ge-währt, selbst wenn es belastende Video-aufnahmen oder Zeugenaussagen von anderen Aktivisten gibt. Wie bei einem

Prozeß in Gießen, wo ein Angeklagter eine Ausstellung über Polizeigewalt mi-torganisiert hatte und vor dem Gerichts-gebäude von Beamten geschlagen wur-de. Das Geschehen wurde gefilmt, aber die Staatsanwältin ließ die Aufnahmen von einer Polizistin auswerten. Diese vom Korpsgeist geblendete Polizistin konnte keine Körperverletzung durch ihre Kollegen erkennen.

Außerdem gibt Poddig Rechtshilfe-tips: Sie schildert, wie ihr Polizisten einen Platzverweis erteilen, der aller-dings ungültig ist, weil das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit über dem Po-lizeirecht steht und sie davon wußte. Hanna Poddig ist eine staatlich geprüfte »engagierte Umweltschützerin«, und

nicht nur eine Mitläuferin, wie Beam-te herausfanden, um ihr Rädelsführer-schaft anzuhängen, nachdem sie mit drei anderen auf einen Laternenmast geklettert war, um ein Vattenfall-kri-tisches Transpi zu entrollen. Und sie ist Aktionärin bei E.on, stellt kritische Fragen, legt Fakten dar und bringt damit schon mal andere Aktionäre zum Zwei-feln, ob ihre Altersvorsorge in Form von E.on-Aktien der Zukunft wirklich zu-träglich ist. Aber vor allem ist sie nicht Deutschland, sondern ein kritischer und gut informierter Mensch und will sich nicht von Kampagnen wie »wir müssen den Gürtel enger schnallen« einlullen lassen. Sie zeigt Zusammenhänge auf, beispielsweise, warum containern, also das Mopsen von weggeworfenen, aber eßbaren Lebensmitteln aus Supermarkt-containern, Umwelt und Arbeiter auf der ganzen Welt schützt, da dadurch kei-ne Ressourcen verschwendet werden.

Und nicht zuletzt ist sie auch szenekri-tisch, beispielsweise wenn es für Antifas kein richtiges Leben im falschen gibt und sie Wurst von Lidl futtern, der sogar Betriebsräte verhindert. Man könnte fast über die absurden Geschichten aus der Welt von Polizei und Justiz lachen, hät-ten Aktivisten nicht die Konsequenzen der Repression zu tragen. Da behaup-tet die Staatsanwaltschaft schon mal, durch Kreidemalen wäre »die öffentli-che Sicherheit und Ordnung« gefährdet und die »telefonische Kommunikation von Bürgern mit der Polizeiwache un-terbunden« gewesen, was auch das Zer-

treten des Kreideeimers und Verletzen der kreidemalenden Hand durch einen Polizistenfuß rechtfertigt. Trotz der oft drastischen Folgen manch mißlungener Aktion verfehlt Hanna Poddigs Buch nicht seine motivierende Wirkung und regt zu einem bewußten und aktivisti-schen Leben an. Eine spannende Lektü-re sowohl für noch lebendige Alt-Acht-undsechziger, wie auch für den wider-ständigen Nachwuchs, der gerade seine erste Demo hinter sich hat. Vermutlich auch, weil Hanna Poddig trotz allem noch lachen und tanzen kann; oder ge-rade deswegen. Sie ist sich der Kraft der Solidarität bewußt und weiß, daß sie ihren Teil dazu beiträgt, daß nicht alles so bleibt wie bisher.

Im Anhang finden sich ein leckeres Rezept für veganes Tiramisu und wei-tere Bücher-, Kampagnen – und Mu-siktips wie der Link zur Website der spaßigen Ska-Punk-Band E-Egal aus Braunschweig, die ihrem Namen zum Trotz schon mal einen Castor-Kessel zum Kochen bringen. Die Lust auf Ver-änderung wird nach diesen Zeilen auch nicht gemindert durch die Tatsache, daß zu den meßbaren Auswirkungen der Krise eine rückläufige Produktion zählt, »aber die von gepanzerten Was-serwerfern am Ansteigen« ist. Deswe-gen: Gemütlich machen, der im Anhang empfohlenen Liedermacherin Klein-geldprinzessin Dota lauschen, wenn sie singt: »Unsere Zukunft verkauft und wir dürfen mit Zinsen uns daraus was borgen« oder das Buch lesen.

Mittwoch, 2. Dezember 2009, Nr. 279 junge Welt 8 l i t e r a t u r

Die RädelsführerinHanna Poddig ist Vollzeitaktivistin und tritt »radikal mutig« für ein konsequenteres Leben im leider noch immer Falschen ein. Von Leonhard F. Seidl

Ich denke nicht, daß ein Schriftsteller nur über seine eigenen Erfahrungen schreiben sollte«, sagt Aravind Adi-

ga. Er stammt aus einer wohlhabenden in-dischen Familie, hat eine Jesuitenschule im indischen Mangalore besucht, später an der Columbia-Universität in New York englische Literatur studiert und lebt heute in der indischen Megametropole Mum-bai. Sein erster Roman »Der weiße Ti-ger«, für den er im vergangenen Jahr den Man-Booker-Preis gewonnen hat, erzählt aus der Perspektive eines Dienstboten in einem Mittelschichtshaushalt, der wie die Mehrheit der indischen Bevölkerung nicht von dem derzeitigen Wirtschafts-wachstum profitiert. »Es ist wichtig, über den Alltag dieser Leute zu schreiben – und nicht nur über die fünf Prozent mei-ner Landsleute, denen es gut geht«, so der 34jährige Adiga. Dieser Verpflichtung ist sein neuer Roman »Zwischen den Atten-taten« treu geblieben.

Der Titel wirkt nach der Lektüre etwas irre führend, denn bis auf einen mißglück-ten Attentatsversuch in einer Jesuitenschu-le erzählt sein neuer Roman nichts über Anschläge. Der Titel ist denn auch eher ein Kunstgriff, adressiert an die arrivierte globale Mittelschicht, die Ereignisse in Indien vor allem dann wahrnimmt, wenn sie so spektakulär sind wie der terroristi-sche Angriff auf Luxushotels in Mumbai im November 2008. Aravind Adiga erzählt Geschichten von Menschen, die von der Mittelschicht normalerweise ignoriert und verachtet werden, darunter auch solche, die die Ausweglosigkeit in den Terrorismus und die Kriminalität treibt. Seine Kurzge-schichten sind Porträts von Grenzgängern, die in der fiktiven Stadt Kittor leben: Eine Stadt mit einigen Hundertausend Einwoh-nern aus unterschiedlichen Religionsge-meinschaften an der Westküste Indiens im Bundesstaat Karnataka, in dem auch Adiga

aufgewachsen ist. In Kittor gibt es eine im Bau befindliche Kathedrale, einen Tempel für die niedere Kaste der »Hoykas«, ein Kino, das pornographische Filme zeigt, konkurrierende Busunternehmen und Rik-schafahrer, ein muslimisches Geschäfts-viertel und eine hinduistische – in Teilen chauvinistische – Bevölkerungsmehrheit. Kurz: Kittor ist eine indische Stadt mit viel Konfliktpotential.

Seine Grenzgänger passen in kein Schwarz-weiß-Schema, sondern sind am-bivalent - so wie Menschen eben sind. Da wäre etwa der zwölfjährige Zaiuddin, der in der Stadt versucht, ein Auskommen zu finden und dabei maßlos ausgebeutet wird, bis er auf einen fundamentalistischen Paschtunen trifft, von dem er schließlich auch enttäuscht wird. Der versoffene muslimische Textilunternehmer Abbassi ist angewidert von der Korruption. Aus Mitleid mit seinen Näherinnen, von de-nen viele bei der Feinstickerei erblinden, schließt er die Fabrik, um sie dann wenige Tage später wieder zu eröffnen, weil sonst sein Lebensstandard gefährdet ist. Xerox, der aus einer Kaste kommt, deren An-gehörige mit bloßen Händen die Exkre-mente höherkastiger Hindus abtranspor-tieren, ist stolz darauf, lesen zu können. Auf der Straße verkauft er Raubkopien von Büchern. Nicht wegen Hitlers »Mein Kampf«, den er auch im Sortiment hat, sondern wegen Salman Rushdies »Sata-nischen Versen«, deren Verkauf in Indien verboten ist, zertrümmern ihm ein Ver-leger und ein Polizeibeamter mit einer

Eisenstange die Kniescheiben. D’Mello ist der unappetitliche, übergewichtige, rotzende, schnaufende und schimpfende Konrektor der Jesuitenschule in Kittor, der anstelle der Demokratie eine Militär-diktatur bevorzugen würde und den christ-lichen Missionsauftrag in Indien für un-durchführbar hält. Gurujay ist ein Redak-teur mit journalistischem Ethos. Als er auf der Straße die Wahrheit findet und darüber schreiben will, verliert er seinen Job und geht täglich in die Stadtbibliothek, wo er die aktuellen Ausgaben der Tageszeitun-gen auffrißt. Der Fahrradkurier Chanayya muß schwere Möbelstücke transportieren, gerät an die Grenzen seiner körperlichen Belastbarkeit und rechnet sich aus, daß er in wenigen Jahren als Bettler sein Aus-kommen finden muß. Trotz einer kolossa-len Wut über sein Schicksal gelingt es ihm nicht, die arrogante und herablassende Ehegattin eines reichen Unternehmers zu berauben. Dann wäre da noch die Tochter eines drogenabhängigen Bauarbeiters, die die Liebe ihres Vaters verliert, ein maoisti-scher Kader, der nach Jahrzehnten seine Überzeugung aufgibt – und viele andere Gestalten mehr.

Adiga hat alle seine Porträts mit so viel Humor und menschlicher Wärme ge-schrieben, daß die Grausamkeit und Desil-lusion seiner Geschichten erträglich sind. Manchmal schimmert auch Verachtung durch, die er für die Beschränktheit und Ignoranz der Mittelschicht übrig hat, die sich am liebsten mit sich selbst beschäf-tigt. Etwa wenn Ratuna, ein selbsternann-

ter Sexologe, am Stand eines Straßen-händlers im Touristenviertel vorbeigeht, wo T-Shirts feilgeboten werden, die das Mekka der arrivierten, globalisierten Mit-telschicht verhöhnen: »New York Fucking City« steht darauf geschrieben. Oder wenn er die »langen und sehnigen« Oberarme eines Hilfsarbeiters beschreibt: »Er hatte nicht diese schimmernden, hervorquellen-den Muskeln, die man sich in teuren Fit-nessstudios antrainiert«.

Adiga gehört selbst zur Mittelschicht. Auf die Geschichten, so erzählt er, sei er während seiner Arbeit als Journalist ge-stoßen, unter anderem als Korrespondent für die Financial Times und das Time Ma-gazine. »Ich habe viel Zeit an Bahnhöfen verbracht; dort habe ich oft mit Rikscha-Fahrern gesprochen, deren Intelligenz mich beeindruckt hat«, so Adiga, »sie sind witzig, herb, sprachlich geschickt und hegen absolut keine Illusionen über ihre Machthaber«.

Seine Bücher haben wegen ihrer auf-sässigen und wenig glanzvollen Beschrei-bung des wirtschaftlichen Erfolgs in Indi-en auch negative Reaktionen hervorgeru-fen. Er wolle den wirtschaftlichen Erfolg seines Landes nicht angreifen, entgegnete Adiga, aber Schriftsteller wie er sollten sich mit den brutalen Aspekten ihrer eige-nen Gesellschaft, also des indischen All-tags beschäftigen. Das hätten Schriftstel-ler wie Dickens, Flaubert und Balzac im 19. Jahrhundert auch gemacht. »Ich will die Vorstellung hinterfragen, daß Indien die größte Demokratie der Welt ist. Das mag in einem objektiven Sinne so sein, aber die ganz unten – die Armen – haben nur ganz wenig Einfluß.« Adiga meint, die britischen und französischen Schriftsteller hätten damals mit ihren Werken dazu bei-getragen, daß sich die gesellschaftlichen Strukturen in England und Frankreich »gebessert« hätten.

GrenzgängerAravind Adiga zeichnet beeindruckende Porträts und hinterfragt die Vorstellung, daß Indien die größte Demokratie der Welt sei. Von Gerhard Klas

Aravind Adiga: Zwischen den Attentaten. Aus dem Englischen von Klaus Modick. C.H. Beck Verlag, München 2009, 376 Seiten, 19,90 Euro

Hanna Poddig: Radikal mutig. Meine Anleitung zum Anderssein. Rot-buch Verlag, Berlin 2009, 224 Seiten, 14,90 Euro

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junge Welt Mittwoch, 2. Dezember 2009, Nr. 279 9l i t e r a t u r

Mehr Meer«: Ein Buch über die Gezeiten subjektiver Erinnerung und das un-beherrschbare Delta,

dem sie entspringt, manchmal Rinnsal, manchmal Fluß, Geschehen transportie-rend, dessen Ordnung nicht chronolo-gisch ist. Tiefliegende Bilder der Ver-gangenheit werden an die Oberfläche gespült, aufgefordert und eingefangen von Lichtflecken der Gegenwart.

Das Panorama, das in der Niederschrift entsteht, erinnert an eine Sammlung hete-rogener Objekte, arrangiert wie in einer imaginären Wunderkammer, deren gehei-mer Sinn es ist, zu bewahren, zu lehren, zu erfreuen – und zu präsentieren, um die Geheimnisse der Welt zu enträtseln. »Was suche ich?« Und lagen nicht immer kleine und größere Sensationen in den Schränken und Vitrinen der Renaissance, sich erst offenbarend dem zweiten Blick? Wie sonst wären diese Orte zu ihren Na-men gekommen? Wundern, das ist eine ganz besondere Annäherung an die Welt.

»Wer war Vater?« Am Anfang von Ilma Rakusas Erinnerungspassagen steht diese Frage. Ihr folgt ein Dialog, der sich auf die nächsten Seiten schiebt wie auf eine Bühne, im Rampenlicht aufflackert und dann verlischt. Die Szene beleuchtet ein Gespräch zwischen Vater und Tochter. Wie in einer Ouvertüre klingen verschie-dene Motive an, die im Lauf von Ilma Rakusas Mnemosyne-Tableau wieder auftauchen werden. Von Musik ist die Rede, von der Kunst des Humors, von Schweigen und Sprechen, von stetigen Ortswechseln, dem eigenen Standpunkt, geistig wie physisch, von Namen, Men-schen, unterschiedlichen Ländern und immer wieder von den schwierigen, den verworrenen und verwirrenden Zeiten, aber auch von dem, was trägt: Respekt und Achtung, zunächst gegenüber dem Vater, dann gegenüber der Welt. Diese Ouvertüre ist eine Welle von Eindrücken aus mehreren Jahrzehnten: »Mehr Meer« hat Ilma Rakusa die Rückreise zu ihren Orten genannt, die viele waren und in vie-len Ländern lagen, orchestriert von ihren jeweiligen Sprachen und ihrer Musik.

Kindheit und Jugend in Mitteleuropa zu einer Zeit großer Umwälzungen. Ge-prägt ist diese Epoche vom Nachhall der faschistischen Ära und des Zweiten Welt-kriegs, der viele Menschen unbehaust zu-rückgelassen hat. »Mehr Meer« ist ein Er-

innerungsbuch, aber auch die Aufzeich-nung einer persönlichen Topographie, der sehr eigenen und eigensinnigen Methode eines heranwachsenden Mädchens, sich die oft fremde, unsichere Welt anzueig-nen. Dies geschieht auf geradezu süchti-ge Weise, unter Aufbietung aller Sinne, hin- und hergerissen zwischen Neugier und Furcht und im wahren Wortsinn mit grenzenlosem Interesse.

Der Titel ist zugleich Motto. Am En-de angekommen, strebt der Text wieder zum Anfang, die Reisen setzen sich fort, die Ortswechsel, das Sammeln von Bil-dern, Gerüchen, Begegnungen, Tönen. Und auch der Leser wünscht sich mehr/Meer.

Das unendlich scheinende Wasser ist Sehnsuchtsbild und Wirklichkeit zugleich, Metapher und Element. Ge-nug geben kann es nie davon. In der Unendlichkeit und dem Sehnen nach dem Mehr/Meer liegt aber nicht nur der Ausblick auf die unendlich scheinende Weite. Auch der Standpunkt eines von Ästhetik und Intellekt geprägten Lebens äußert sich darin. »Mehr Meer« proji-ziert die nicht endende Hingabe an die Wahrnehmung auch als imaginäre Bil-derfolge auf eine imaginäre Leinwand: die Geschichte einer Forscherin, der Le-benswelt nichts weniger als die Entdek-kung neuer Horizonte bedeutet, sprach-lich, geistig, ästhetisch, topographisch. »Die Welt bestand aus Ausschnitten. Un-begreiflich, was sie von mir wollte und ich von ihr.«

Ilma Rakusa schreibt in vielen Vignet-ten vom Werden eines vom Reichtum der Welt faszinierten Mädchens zur sprach- und musikbesessenen jungen Frau bis hin zur reifen Schriftstellerin, die sich den stetig staunenden Blick bewahrt hat und ihre Eindrücke in ein farb-, form-, ton- und geruchsgesättigtes Gesamtbild über-trägt. Dabei ist die Sprachmelodie fein, die Beschreibung analytisch und detail-genau, geprägt von großer Zärtlichkeit,

manchmal gesäumt von Melancholie.Tatsächlich will schon die kleine Toch-

ter einer ungarischen Mutter und eines slowenischen Vaters, die ihre ersten Jah-re in Rimaszombat und Triest verbringt, Weltforscherin werden. Weltforscher sind immer unterwegs. Objekte des Interesses sind derer unendlich viele – Menschen wie Tiere wie Orte wie Länder – und Grenzen nur Orientierungslinien, die es zu überschreiten gilt, um einen weiteren unbekannten Raum zu öffnen.

Unterwegs. Von Anfang an. Von ei-nem Ort zum anderen. Nur mit kleinem Gepäck. Alles, was die Familie besitzt, paßt in Koffer. Die werden nahezu unter-brechungslos aus- und wieder eingepackt. Auch das Kind. »Fahrend ließ ich mich wie eine eingepackte Ware transportie-ren.« Orte zu wechseln ist Familiensache. Warum? Der Vater beginnt damit. Er hat in Ljubljana Chemie studiert, aber als er nach seiner Promotion Assistent werden soll – das ist Anfang der 40er Jahre – muß er fürchten, der faschistischen Ustascha in die Hände zu fallen. Er geht nach Bu-dapest. 1943 treffen sich die Eltern in Rimaszombat, wo Ilma Rakusa geboren wird. Nach dem Krieg geht es wieder nach Budapest, von dort nach Triest, wo der Vater die Firma Interexport gründet, die 1951 nach Zürich verlegt wird. »Ich

wollte in die Schweiz. Nur die Schweiz wollte uns nicht. Wir saßen schon auf den gepackten Koffern Richtung London, als es im letzten Moment doch noch klapp-te«, erzählt er der Tochter. Die aus den Koffern lebende Familie ist aber nicht nur ein Beispiel für die von Krieg und faschistischen Umtrieben gezeichneten Menschen, sondern vor allem ein bei-spielloses Unterfangen an Offenheit.

Es gibt etwas in diesem Text, das jen-seits der Aufzählung von den Wundern der Wahrnehmung die Entfaltung eines weiteren Wunders beschreibt: Das Mäd-chen, das früh und existentiell Sprache nach Sprache erkundet, erlebt die jeweils neue nicht als fremde, sondern als Erwei-terung: des Klangs, des Horizontes, des Denkens, des Ausdrucksvermögens.

Sprache ist Abenteuer, aber auch Zu-gang zu einem sonst verschlossenen Bereich, Medium und Inhalt zugleich, Untergrund, formulierte Heimlichkeit, manifestierter Traum. Das regt die Phan-tasie an, die Lust zu fabulieren. »Wach-träumend schuf ich die Welt.«

Ilma Rakusa gelingt, was neben dem Schreiben über die Liebe das Schwer-ste überhaupt ist, das eigene entglittene Werden noch einmal – wie eine geheime Schrift – aufflackern zu lassen und glaub-haft zu entziffern, bevor das Bewußtsein wieder seine Gaze darüber breitet.

Sie schreibt von Häusern ohne eigenes Mobiliar, die ebenso schnell eingenom-men wie verlassen werden, von flüchtigen Welten. Dazwischen liegen emotionale Einbrüche, die die Schönheit der vorübe-reilenden Räume perforieren und zeigen, daß auch diese irdisch sind.

Ihre Passagen erzählen davon, wie Er-innern geht, eine Überlistung der Ge-genwart, deren erste Versuche sich in ei-nem kindlichen Spiel andeuten, wenn das Wort mit dem gesprochenen Lufthauch verklingt. »Im Wald … spielte ich das Jetzt-Spiel. Ich rief ›jetzt‹, lauschte dem Echo und wußte, ›jetzt‹ ist vorbei. Kaum ausgesprochen, stürzt die Gegenwart in die Vergangenheit, als fiele sie rücklings ins Meer. Das Echo teilte die Zeit, der ich lauernd auf die Schliche zu kommen versuchte. An die Zukunft dachte ich nicht. ›Jetzt‹. Und wieder ›jetzt‹ … Bis mir schwindelig wurde.«

»Mehr Meer« ist nicht nur ein Plädoy-er, auf die Tiefen des eigenen Speichers zu vertrauen und seinen eigensinnigen Weg zu gehen. Weit über eine Aufzeich-nung subjektiven Erlebens hinaus öff-nen diese zwischen Vergangenheit und Gegenwart mäandernden Passagen den Blick dafür, daß das zweite im ersten be-ginnt und, kaum, daß es begonnen hat, in jenes eingeht. So ist »Mehr Meer« auch ein Buch über den Fluß der Zeit und seine unterschiedliche Strömung. Ein Text, der innehalten läßt, während er den Leser umfließt.

Auf gepackten KoffernEine Welt der Wunder und des Erinnerns: Über Ilma Rakusas preisgekrönten Roman »Mehr Meer«. Von Barbara Bongartz

Ilma Rakusa: Mehr Meer. Droschl Verlag, Graz/ Wien 2009, 350 Seiten, 23 Euro

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Mittwoch, 2. Dezember 2009, Nr. 279 junge Welt 1 0 l i t e r a t u r

Uwe Wöllner kommt aus Hannover-Garbsen, ist ein moderat autistischer Nerd, nicht ganz dumm (»Abi-

schnitt von 3,4«), aber geschlagen mit der Sozialkompetenz eines Kindes. Ihm fehlt diese sich spätestens mit der Ado-leszenz einstellende Korrektivfunktion des Verstandes, mit der ein erwachse-ner Mensch zu unterscheiden weiß, was er öffentlich äußern darf und was er besser für sich behält. Wöllner masselt sich um Kopf und Kragen, und sein ständig die Umwelt brüskierendes, zu-mindest nach dem Ordo der Konsens-gesellschaft offensichtlich asoziales Verhalten bekommt einen ziemlichen Drift ins Anarchische, weil er nicht ganz im Pathologischen aufzugehen scheint. Er selbst weiß um seine Defizite, könn-te sich folglich bis zu einem gewissen Grad anpassen, und auch seine nächsten Verwandten ahnen das und machen ihm

das Leben zur Hölle. Aber er will sich dennoch diesem Konditionierungsdruck nicht beugen. Und er hat einen Trick »Ich nannte ihn den ›Do-little-Trick‹, weil man fast nichts machen mußte, außer eben nichts tun oder das Falsche sagen. Die Folge war immer dieselbe: Die anderen wurden erst wütend, weil sie dachten, man stelle sich dumm, aber dann sagten sie: ›Komm, geh zur Seite, ich mach’s!‹«

Wöllner ist einer der zum ersten Mal in »Mein neuer Freund« auftauchenden Parade- und Ausnahmecharaktere von Christian Ulmen, diesem großartigen Mimen, dem man viel zu lange das wi-derliche Comedy-Rubrum anzuheften versuchte. In seinem ersten Roman »Für Uwe« überführt er die Fiktion einfach in einen anderen Aggregatzustand, läßt er Wöllner selbst seine »abgefahrene Le-bensgeschichte« erzählen. »Das ist eine krasse Ehre für mich. Okidoki, ein eige-

nes Buch! Voll der Becher.« Ein ganzes Buch voller Rollenprosa also, und was Ulmen als Schauspieler gelingt, gelingt ihm auch als Autor. Er geht voll auf in diesem Typen. Seine mit miesen Pen-nälerwitzchen, Abischlaumeiereien und absurd-debilen Verirrungen gestopfte Diktion ist absolut stimmig: »Meine Fa-milie war Mitglied im Tennis- und Hok-keyclub Garbsen. Auch ich mußte da früher Tennis spielen … Einmal spielte ich bei einem Tennisturnier gegen ei-nen Jungen, der nicht räumlich gucken konnte und eine künstliche Luftröhre hatte. Er gewann … In meiner Klasse waren früher fast nur Hockeyspieler. Al-le aus dem THC Garbsen. Alle dumm wie DDR-Brot. Ich versuchte es mit vierzehn ein paar Mal, in deren Hok-keymannschaften zu kommen. Wurde aber nie aufgenommen. Die hatten halt immer so Lacoste an und hörten Modern Talking, und ich stand auf die Scorpions

und hatte damals schon mehr so coole Hemden von Holzfällern an und mei-ne Bugs-Bunny-Mütze, die tausendmal goiler war als jedes Arschloch-Krokodil auf den Polohemden von den Hockey-Seppeln. Ich war einfach zu abgedreht drauf für die.«

Nur der Plot setzt sich gern mal über das Wahrscheinlichkeitspostulat hin-weg, und dann merkt man ein wenig zu deutlich, worum es hier vor allem geht: nämlich nicht um Literatur, sondern um eine möglichst volle Pointenpackung, die sich dann auch für die alsbaldige Verfilmung zu empfehlen sucht. Nicht zuletzt die Standardsituationen im Ko-mödienfach werden hier zu mutwillig hergenommen. Am Anfang die Beer-digung von Wöllners Mutter, die von einem Hockeyball erschlagen wird, am Ende dann die Geburtstagsfeier seines Vaters – beide enden naturgemäß in ei-nem von Uwe absichtsvoll und mit per-fider Effizienz herbeigeführten Eklat. Und daß dieser Kindskopf, der nach dem Tod seiner einzigen Fürspreche-rin in der Familie sofort nach Berlin verstoßen wird, sich dort ausgerechnet bei einem befreundeten Bestattungsun-ternehmer verdingen muß und selbstre-dend gleich das erste Kundengespräch voll in den Sand setzt – tja, wer hätte das für möglich gehalten?!

Egal, witzig ist das allemal und ziem-lich »von Goilistik gehittet«. Dennoch ist das Buch keine bloße Gagschleuder. Wie schon bei Sven Regeners »Herr Lehmann« und Heinz Strunks »Fleck-enteufel«, die hier offensichtlich mal mehr, mal weniger Pate standen, kippt der Witz gelegentlich um in einen huma-nistischen Ernst, der einen beinahe über-rascht und deshalb umso mehr anrührt. Als seine spätere Frau Malina, eine ru-mänische Prostituierte, ihm schließlich beichtet, sie habe ihn nur geheiratet, um an eine Aufenthaltsgenehmigung und sein Erbe zu kommen, was der Leser sowieso längst ahnt, antwortet Uwe mit der Souveränität und Größe des wahr-haft Liebenden. »›Ich weiß‹, sagte ich und lächelte, ›bin ja nicht doof.‹« Uwe Wöllner mag ein »Vollspasti« sein, aber der Mann hat Charakter.

Und Ulmen besitzt immerhin so viel artistische Potenz, dieses asymmetri-sche, gebrochene Liebesverhältnis leit-motivisch zu begleiten und sich gleich-zeitig über solche probaten Formen der Kunsthandwerkelei lustig zu machen. »Sie versuchte, die Tür hinter sich zu schließen, irgend etwas blockierte aber den Spalt. Ich ging ans Fenster und sah ihr nach. Unten stieg sie in ein Taxi. Ich hauchte gegen die Scheibe und mal-te auf dem Kodenswasser ein halbes Herz.« Auch das ist eine wunderbare Filmszene.

Der Do-little-TrickChristian Ulmens Exerzitium in Rollenprosa »Für Uwe«. Von Frank Schäfer

Christian Ulmen: Für Uwe. Kindler Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009, 219 Seiten, 14,90 Euro

Leonora CarringtonDIE WINDSBRAUTIn »bizarren Geschichten«erzählt die surrealistischeKünstlerin traumhafte,eindringliche, wundersameBegebenheiten. Die meistenErzählungen liegen hierzum ersten Mal in deutscherÜbersetzung vor. Mit Bildernder Künstlerin versehen.Broschiert, € 14,90

Eyal WeizmanSPERRZONENIsraels Architektur der Besatzung

Am Beispiel derisraelischen»Raumordnung«in den besetztenGebieten wirdeine Architekturder Abgrenzungund Kontrolleaufgezeigt, dieweltweit zumEinsatz kommt: seies zur Aussperrungverarmter Bevöl-kerungsteile ausden Metropolenoder an den hoch-gerüsteten Gren-zen zwischenNord und Süd.»Sperrzonen zeigt die heutigen Kriegszonen mit ihremCocktail aus Gewalt, Medien, Politik und Extremismusals eine neue postmoderne Umwelt.« Financial TimesBroschiert, 384 Seiten, illustriert, € 24,90

In jeder guten Buchhandlung | Mehr zum Programm: www.edition-nautilus.de Edition Nautilus

Hellmut G. HaasisDEN HITLER JAG ICH IN DIE LUFTDer Attentäter Georg Elser

8. November 1939:Alles war sorgfältigvorbereitet. ImPfeiler hinter demRednerpult hatteGeorg Elser eineBombe installiert.Doch kurz bevor sieexplodierte, hatteHitler, früher alssonst, den MünchnerBürgerbräukellerverlassen. Elser hatals Einzelner undaus eigenemEntschluss gegenden Terror unddie Herrschaft derNazis rebelliert,

»um der Arbeiterschaft und der ganzen Welt den Kriegzu ersparen«.Vollständig überarbeitete und erweiterte NeuausgabeBroschiert, mit 25 SW-Illustrationen, € 19,90

Gail JonesPERDITAPerdita wächst glücklich inder australischen Wildnisauf, bis sie Zeugin einesVerbrechens wird. EinRoman über Freundschaft,Trennung, Verlust undSchuld, in dem Jones dieGeschichte der Verbrechenan den Aborigines aufnimmt.Gebunden mit SU, € 19,90

Witzel, Walter, MeineckeDIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLANDDie echte Alternative zum Feiertagston imSupergedenkjahr.Von Adenauerbis Stammheim,ein popkulturellerDiskurs über60 Jahre BRD-Geschichte.Absolut antiseriös,äußerst unter-haltsam und vonbefreiender Komik!»Drauflosgequat-sche klingt abwer-tend, ist abergerade dasCharmante andiesem triple-biografischenSelbstversuch:drei Männer, nicht im Schnee, nicht auf derTankstelle, sondern mit den Ohren seit eh und jeam Puls der Zeit.« Ulrich Stock, Die ZeitBroschiert, 192 Seiten, € 16,00

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junge Welt Mittwoch, 2. Dezember 2009, Nr. 279 1 1l i t e r a t u r

Es war einmal eine Kölner Mu-sikzeitschrift. Deren Redakteu-re und Mitarbeiter verkauften

ihre Seele nicht, sondern verschenkten sie an die Zeitschrift. Nicht, daß der Teufel gerade auf Geschäftsreise und deswegen kein Verkaufsgespräch mög-lich gewesen wäre. Nein, die Spex, so nannten sie die Leute, die 1980 die Zeitschrift begannen, war so schön, toll und aufregend, daß jeder von ihnen nur zu gerne bereit war, seine Seele einfach so hinzugeben. Außerdem ging es kaum anders. Denn Geld, also mehr als bloß ein ganz bißchen Angestellten-gehalt für die »festen Freien«, wie man sie seit langem nennt, war für die Spex zu viel, zu teuer und also nicht zu ma-chen. Leute außerhalb dieser Zeitschrift nannten das »Selbstausbeutung«. Aber für das, was in und mit der Zeitschrift passierte, klang dieser Begriff viel zu eng. Schließlich kamen sich die Mitar-beiter an ihren Schreibtischen zu Recht so vor, als spielten sie in Wirklichkeit in einer tollen, aufregenden Band. Für eine Reihe ihrer Leser handelte es sich einige Jahre lang sogar um die beste Band in Deutschland.

Die Spex zu lesen fühlte sich entspre-chend an, wie Songs zu hören. Wenn die Musik vorbei beziehungsweise eine

Ausgabe oder auch nur ein bestimmter Artikel oder eine gewisse Plattenbe-sprechung gelesen war, mußte daraus eine Handlung folgen. Unbedingt und gleich. Einer von denen, die auf diese Weise von einer Theorie zu einer Praxis drängten, war Wolfgang Frömberg. Un-terwegs landete er in den Nullerjahren als Literatur- und Filmredakteur bei der Spex, die in seinem ersten, tollen Roman »Spucke« heißt. Beim Vergleich mit den Leuten, die er dort traf oder denen er im Lauf der Arbeit über den Weg lief, konstatiert er nüchtern, daß er »nicht der einzige (war), der die Karriereleiter benutzte, um auf ihr die Sprossen hinab in die Subkultur zu klettern«. Walter Förster, den Frömberg als sein Alter ego die körperlichen Folgen der Ar-beit erleben läßt, hat schon zu Beginn einen kompletten Desillusionierungs-roman hinter sich: »Der Mythos der Selbstzerstörung taugte für ihn schon lange nicht mehr als Gegenmodell zum bürgerlichen Leben.« Die bürgerliche

Selbstzerstörung spielt sich dafür zu jeder Zeit und überall ab, etwa in Bars, die die beiden Seiten der Gesellschaft zeigen: Die auf der einen Seite der The-ke konsumieren, die auf der anderen bedienen. Es mußte bloß gewährleistet sein, daß beide Positionen andauernd besetzt blieben. Das hielt alle auf Trab, bei der Stange, im Lot, am Abgrund.« In den Jahren, die Förster auf der »Ga-leere der Freiwilligen« – ein Bildtitel wie von Albert Oehlen oder Martin Kippenberger – verbringt, hat sich bei Spucke viel verändert. Die Gründungs-mannschaft hat vor einiger Zeit die Ge-schicke der Zeitschrift in die Hände des Wurstfabrikanten Feiersinger gelegt. Der möchte nun immer dringender, das die Redaktion nach Wien umzieht, in die Nähe der Standorte seiner anderen Unternehmungen, zur Kostenersparnis. Förster steckt damit zwischen der lei-digen Pflicht, das Erbe, das die Grün-dungsmannschaft hinterlassen hat, zu achten und der Aussicht auf einen Um-

zug, der für ihn den Verlust des Ar-beitsplatzes bedeuten würde. Denn er wird nicht aus Köln weggehen. Förster ist damit ein Mann des Übergangs und deshalb als Romanfigur so ergiebig. Um ihn herum zieht Frömberg einen konzentrischen Kreis der Romanerzäh-lung nach dem anderen. Neben Begeg-nungen mit Vater, Mutter und eigener Familie beinhalten die die Treffen mit hochinteressanten Schriftstellern: Jörg Schröder, Barbara Kalender, Bret Ea-ston Ellis, Chuck Palahniuk. Sie alle aber klammern noch einige der auf-schlußreichsten, leidenschaftlichsten Unterhaltungen ein, die, mit Verlaub, jemals in einem Roman, der auch von Popmusik handelt, gedruckt wurden. Walter Förster führt sie mit dem Sänger Ali Specht. Specht ist so etwas wie der Lord Byron in diesem Roman. Wie er und Förster um die Liebe, die zur Musik und die zum richtigen Leben, streiten, das war so noch nirgendwo zu lesen. Wunderschön.

Süße SelbstausbeutungManchmal ist Zeitschriftenmachen so aufregend wie in einer Band zu spielen: Wolfgang Frömberg über Spucke. Von Kristof Schreuf

Wolfgang Frömberg: Spucke. Hablizel Verlag, Köln 2009, 224 Seiten, 14,90 Euro

Bevor Libby Munro sich am Fenstergitter in der Hocke selbst erdrosselt, bestellt sie ihrem Mann Bunny und

dem gemeinsamen Sohn Pizza und hängt zwei neue schwarze Anzüge in den Kleiderschrank. Zwar verwüstet sie auch noch die Wohnung, aber alles in allem tut sie, was ihr Gatte längst nicht mehr kann: Sie sorgt vor. Er begibt sich auf eine grell-groteske Höllenfahrt durch Schnellimbisse, Hotelbetten und englische Reihenhäuser. Bunny junior nimmt er mit. Bunny Munro betäubt und stimuliert sich mit Alkohol und Chemie. Er muß auf so ziemlich jede Frau, die ihm unter die Augen kommt. Das sind viele, denn Munro ist gutbe-schäftigter Kosmetikvertreter. Er fährt in einem gelben Fiat Punto durch Sü-dengland, verkauft Illusionen und hält sich für einen Charmeur. Man will es ihm, der mit kopulierenden römischen Pärchen bedruckte Hemden und eine Schmalzlocke trägt, nicht glauben. Ein Monster habe er schaffen wollen,

sagt Nick Cave über den Helden seines zweiten Romans. Es ist ihm gelungen. Aber es ist eins geworden, von dem ei-ne rätselhafte Faszination auszugehen scheint. Munros Eskapaden beginnen natürlich nicht erst nach dem Tod sei-ner Frau. Der Ehe- und Herzensbruch fand lange vorher statt. Man könnte psychologisieren und sich fragen, ob es daran liegt, daß das smarte Scheusal al-lein von seinem Vater, der in der Buch-zeit im Sterben liegt, großgezogen wur-de. Oder wieviel Nick Cave in diesem Buch steckt. Er hat seinen Vater, der ihn mit Dostojewski und Nabokov vertraut machte, früh verloren.

Natürlich wird auch etwas vom Au-tor in »Der Tod des Bunny Munro« zu finden sein. Aber erinnern wir uns: 1989 erschien »Und die Eselin sah den Engel«, Caves erster Roman. Mitte der Achtziger, nach der Auflösung der göttlichen Krawallcombo The Birth-day Party und während der Zeit mit den Bad Seeds, hatte er mit der lang-wierigen Arbeit begonnen. Die deut-

sche Übersetzung erschien im Verlag Peter Selinka, der auch Kathy Acker und Eduard Limonow herausbrachte. Und ja, Caves Romandebüt wurde ein Buch, wie man es sich bei ihm, dem im-mer wieder als Finstermann der Rock-musik Beschriebenen, wohl vorstellt. Lesenswert ist das allemal: Eine deli-rierende Story, in der der Protagonist Euchrid Eucrow sein mieses Leben erzählt, während er im Sumpf versinkt. Die Sekten- und Südstaatenhölle wird schon mal aus der Krähenperspektive geschildert. Bibelverweise kommen hinzu. Und ja, es regnet drei Jahre lang. »Der Tod des Bunny Munro« ist anders. In Deutschland ist das Buch bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. Cave lebt mittlerweile gesünder als vor zwanzig Jahren. Das heißt nicht, daß er jetzt braver oder zahmer schreibt. Nur exakter.

War »Und die Eselin sah den En-gel« eine Anverwandlung des ameri-kanischen Südens, so ist »Der Tod des Bunny Munro« eine gründlich beob-

achtete Geschichte aus dem England des frühen 21. Jahrhunderts. Es ist ein England, das mit seinen Fernsehserien und Konsumwelten ohne jede Mytho-logie präsentiert wird. Zwar gibt es immer noch einen apokalyptischen Fu-ror in diesem Buch: Ein Sexteufel geht um und tötet junge Frauen mit einem Dreizack. Seinen Oberkörper hat er bemalt. Daß seine Hörner aus Plastik sind, muß kein Zufall sein. Während des letzten Telefonats der Eheleute Munro steht der West Pier Brightons in Flammen und Tausende kreischende Stare kreisen darüber. In den Nestern verbrennen ihre Kücken. Das Feuer, Cave wohnt seit Jahren mit Frau und Kindern in dem südenglischen Seebad, hat es wirklich gegeben. Es zerstörte 2003 in mehren Schüben den Pavillon am Ende des Piers. Da die Anlage unter Denkmalschutz steht, kann sie nicht abgerissen werden. Seitdem ragt eine morbide Ruine aus dem Meer und rottet vor sich hin. Das Cavesche Inferno in diesem Buch ist ein sehr konkretes.

Konkretes InfernoNick Caves »Der Tod des Bunny Munro« verrät sein Ende bereits im Titel. Trotzdem ist in seinem zweiten Roman einiges anders. Von Robert Mießner

Nick Cave: Der Tod des Bunny Munro. Aus dem Englischen von Stepha-nie Jacobs. Verlag Kiepen-heuer und Witsch, Köln 2009, 320 Seiten, 19,95 Euro

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Mittwoch, 2. Dezember 2009, Nr. 279 junge Welt 1 2 l i t e r a t u r

Wer über solide humani-stische Bildung verfügt und mehrere grammati-kalisch korrekte Sätze

hintereinander in Wort und Schrift for-mulieren kann, wird heutzutage schnell zum »Universalgelehrten« erklärt. Die-ses Etikett wurde auch Reinhard Lö-wenstein von diversen Medien aufge-klebt. Dabei ist dieser Mann nur ein Weinbauer – was es allerdings sofort zu relativieren gilt. Denn die Kultivierung von Nutzpflanzen aller Art gehört zu den anspruchsvollsten Tätigkeiten, die man sich vorstellen kann. Außerdem zählt Löwenstein nicht zu jenen Win-zern, die ihren Beruf auf die Pflege ihrer Weinberge, die Verarbeitung des Mostes und die Vermarktung des Produktes re-duzieren.

In Deutschland hat er sich den Ruf eines Vorkämpfers für die Authentizität von Weinen erarbeitet, sowohl praktisch als Produzent herausragender Rieslin-ge von steilen Schieferterrassen an der unteren Mosel wie auch theoretisch als Verfasser vieler populärwissenschaft-lich-feuilletonistischer Abhandlungen und Essays. Dreh- und Angelpunkt seiner Überlegungen ist dabei stets das »Ter-roir«. Hinter diesem, etwas unscharfen, französischen Begriff verbirgt sich die Überzeugung, daß ein authentischer Wein Ergebnis der Einflüsse des Bodens, des Mikroklimas und der spezifischen Erfahrungen der Winzer in einer Region ist. Das Gegenmodell ist die Behandlung der Trauben als eine Art Rohstoff, dem man durch diverse Manipulationen einen beliebig reproduzierbaren, von äußeren Einflüssen unabhängigen Geschmack verleihen kann.

Auch das von Löwenstein verfaßte Buch trägt den Titel »Terroir«. Es zeugt von einer langen Reise, die den Win-zersohn raus aus der Enge des mosel-ländischen Weinkaffs Winningen und wieder zurück führte. Dazwischen lagen Tramptouren auf gängigen Hippie-Trails, ein Aufenthalt in Paris, der Anschluß an die Französische Kommunistische Par-tei und ein Arbeitseinsatz auf Kuba. Es

folgte ein Studium der Agrarökonomie und -soziologie in Gießen und schließ-lich 1980 gemeinsam mit seiner Frau Cornelia Heymann die Gründung des Weinguts Heymann-Löwenstein in Win-ningen. Seitdem kultiviert er Riesling auf terrassierten Schiefersteillagen mit dem Anspruch, die geschmackliche Typizität der einzelnen Parzellen herauszuarbei-ten. Es geht Löwenstein um den jeweils speziellen »Sound«, den Weine von un-terschiedlichen, vor einigen hundert Mil-lionen Jahren entstandenen Bodenforma-tionen verliehen bekommen. Die stark differierenden Anteile von Muschelkalk und Eisenoxiden und die unterschied-liche Wärme- und Wasserspeicherfähig-keit sind dabei nur einige der vielen Pa-rameter. Herauskommen sollen Weine, die nicht »fruchtig«, »mineralisch« oder nach »exotischen Früchten« schmecken, sondern nach Kirchberg, Stolzenberg, Röttgen, Blaufüßer Lay oder Laubach. Seine Weine bezeichnet er als »den Klang der Schiefer«.

Mit gängigen Kategorisierungen wie »handwerklich«, »industriell«, »naturbe-lassen« oder »biologisch« produziertem Wein hat Löwenstein nichts am Hut und bemüht sich in seinem Buch um einige not-wendige Klarstellungen. »Wein hat zwar viel mit Natur zu tun, ist aber kein Natur-produkt, sondern ein Kulturgut, eine große zivilisatorische Leistung.« Die beginnt im Anlegen von Weingärten und ihrer Pflege und geht mit der Verarbeitung im Kel-ler weiter. Die postmoderne Ablehnung »industriell gefertigten« Weines ist für den Winzer »pure Heuchelei«. Ohne den wissenschaftlich-technischen Fortschritt wäre die Herstellung größerer Mengen ei-

nigermaßen geschmackvoller und haltba-rer Weine zu keiner Zeit möglich gewesen. Dazu gehören die ungeschlechtliche Ver-mehrung selektionierter Klone, die kon-trollierte Sauerstoffzufuhr, die Zuckeran-reicherung des Mostes vor der Vergärung, die Filtration und die Schwefelzugabe. Alles Verfahren, die auch von »Bio«- oder gar »biodynamischen« Winzern selbstver-ständlich angewendet werden.

Besonders auf die letztere, von ihm »Biodyns« genannte Gruppe ist Löwen-stein nicht gut zu sprechen. Genüßlich zitiert er den Biodyn-Übervater und An-throposophie-Begründer Rudolf Steiner, dessen reaktionär-rassistisches Weltbild sich auch in seiner »Weinphilosophie« findet. Alkohol, so Steiner, bringe den Menschen dazu, »das Ich für sich zu be-anspruchen und nicht mehr in den Dienst des ganzen Volkes zu stellen«. Der – an-zustrebende – erneute »Anschluß an die

geistig-göttlichen Mächte« werde dann aber dazu führen, daß der Genuß von Alkohol aus dem Menschheitsgeschehen verschwinden müsse. Für Löwenstein ist es schlicht »ungeheuerlich«, daß je-mand, »der Wein verteufelt, weil er den Menschen das Bewußtsein, das psycho-logische Ich gebracht hat«, zum Guru der selbsternannten Winzeravantgarde stilisiert wird.

Das heißt nicht, daß Löwenstein der Spiritualität in der Weinkultur nicht ei-nen hohen Stellenwert beimessen würde. Das untermauert er mit einer Art au-genzwinkerndem Schweinsgalopp durch ein paar Jahrtausende Geistesgeschichte, der von intensiver Auseinandersetzung mit Geschichte, Philosophie und Reli-gion zeugt. »Maschinenstürmerei« liegt ihm fern. Er erkennt an, daß mittlerweile sehr viele Weine aus dem Supermarkt für drei Euro »unfallfrei getrunken« werden können. Seine Kritik richtet sich nicht gegen »Industrieweine« an sich, sondern gegen die bewußt betriebene Infantili-sierung des Geschmacks. Der Großteil aller Weine – auch in höheren Preisklas-sen – entsteht durch Food-Design. Eine globale Armee von Chemikern, Tech-nikern und »flying Winemakers« sorge dafür, daß Weine stets nach Obstkörben, Fruchtbonbons, Coca-Cola u. ä. schmek-ken, aber nicht nach ihrer Herkunft. Dem setzt er sein Plädoyer für authentische, für »Terroir«-Weine entgegen. Deren Er-zeugung ist nur bedingt planbar. Mal ist die Gärung – ausschließlich mit Wildhe-fen- nach ein paar Wochen beendet, mal setzt er sie für Monate aus, bis es wieder blubbert. Mal erschließt sich der Wein in seiner Komplexität nach wenigen Jahren, mal erst nach einem Jahrzehnt. Gelungen ist er für Löwenstein, wenn »ein Glas voll Überraschungen« herauskommt, »ein Wein, der verunsichert« und eine »Reise in die spannende Welt zwischen Ordnung und Chaos« bietet. Und jeder, der sein geistreiches wie amüsantes Buch liest, sollte sich zwecks besseren Ver-ständnisses eine Flasche vom Weingut Heymann-Löwenstein dazu gönnen.

Vom Klang der SchieferMuschelkalk statt Coca-Cola. Aufklärung statt Anthroposophie. In seinem Buch »Terroir« geht der Winzer Reinhard Löwenstein den Mythen des Weinbaus auf den Grund. Von Rainer Balcerowiak

Reinhard Heymann-Lö-wenstein: Terroir – Wein-kultur und Weingenuß in einer globalen Welt. Kosmos Verlag, Stuttgart 2009, 173 Seiten, 19,95 Euro. Die Weine: www.heymann- loewenstein.com

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