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1 literatur E nde 1914, als Hugo Ball längst keine patriotischen Illusionen mehr über den Ersten Welt- krieg hatte, schrieb der spätere Mitbegründer des Dadaismus aus Ber- lin an seinen Vetter August Hofmann in München: »Ich lese hier Kropotkin, Bakunin, Mereschkowski (›Der Zar und die Revolution‹) und muß sagen, das ist sehr interessante Lektüre.« Ball woll- te es nicht dabei belassen. Im selben Brief kündigte er an: »Hier geht ein neues Leben los: anarcho-revolutionär (so heißt mans glaub ich).« Zwei Monate später schon, am Abend des 12. Februar 1915, veranstalteten Ball und Richard Huelsenbeck, auch er sollte einer der Dada-Pioniere werden, im Berliner Ar- chitektenhaus eine »Gedächtnisfeier für gefallene Dichter«. Sie erinnerten an Ernst Stadler (»Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht«), Ernst Wilhelm Lotz (»Aufbruch der Jugend«), Walther Heymann (»Nehrungsbilder«) und den Franzosen Charles Péguy. Den französi- schen Schriftsteller nahmen sie im zwei- ten Kriegsjahr bewußt ins Programm und machten es sich mit dieser Entscheidung bei der Presse nicht leichter. Ball gedach- te auf dem Abend seines Freundes Hans Leybold, mit Franz Jung und Ball Her- ausgeber der Münchener Zweiwochen- schrift Revolution. Zu den Beiträgern der expressionistisch-frühdadaistischen Zeitschrift gehörten Johannes R. Becher, Max Brod, Balls spätere Frau Emmy Hennings, Jakob van Hoddis, Erich Müh- sam und viele mehr. Als im November 1913 Georg Groß, der »Psychoanalytiker der Münchener Boheme«, als Anarchist verhaftet, nach Österreich verschafft und auf Betreiben seines Kriminalistenvaters psychiatrisiert wurde, brachte die »Re- volution« eine Sondernummer heraus. Ball, obwohl nicht im klassischen Sin- ne Politiker, ist damals bereits mit anar- chistischem Gedankengut in Berührung gekommen: »Gegen das Gesäß, gegen die Verdauung und gegen das Finanzherz« war die Tendenz der Zeitschrift, erinnert sich Ball. Und: »Jeglichen Fanatismus im Gegensatz zu jeglichem Traum- und Innenleben. Jegliche Anarchie im Ge- gensatz zu jeglichem Bonzentum.« Ball mußte einfach irgendwann auf Bakunin stoßen, den russischen Revolutionär, der im Dezember 1848 an Georg Herwegh schrieb: »Nirgends ist der Bourgeois ein liebenswürdiger Mensch, aber der deut- sche Bourgeois ist niederträchtig mit Ge- mütlichkeit. Selbst die Art dieser Leute, sich zu empören, ist empörend.« Aus der Lektüre sollte für Ball ein mehrjähriges Projekt werden. Bakunin hatte zur dama- ligen Zeit im deutschsprachigen Raum zwar einen Ruf, sein Denken und seine Werke waren aber erst in geringem Um- fang zugänglich. Ball schickte sich an, das zu ändern. Den Plan dazu hatte er bereits in Berlin entwickelt. Nachdem er im Mai 1915 mit Emmy Hennings in die Schweiz emigriert war und der Intellektu- elle Ball tatsächlich Bohemien geworden war (nicht aus Attitüde, es blieb ihm öko- nomisch keine andere Wahl), verschaffte ihm der Schweizer Arzt, libertäre Sozia- list und Schriftsteller Fritz Brupbacher Material und gibt ein Arbeitszimmer in seinem Haus frei. Was Ball, nicht ahnend, daß er für die Schublade arbeiten und einmal zum Katholizismus konvertieren würde, da zusammenstellte, wurde weni- ger eine Biographie im herkömmlichen Sinne, sondern eine Montage aus Stim- men von und über Bakunin. »Michael Bakunin. Ein Brevier«, jetzt von Hans Burkhard Schlichting und Gi- sela Erbslöh herausgeben und mit einem beeindruckendem Kommentar und Nach- wort versehen, gliedert sich in zwei Teile. Der erste umfaßt die Jahre 1815 bis 1849, der zweite die von 1849 bis 1866. Ball beginnt mit dem »Fragment einer Selbst- biographie«, in der sich der Empörer an- kündigt. Bakunin über sich selbst: »Ich Politische Kung-Fu-Kunst: Dietmar Dath entwickelt eine Theorie für die Katastrophen der Gegenwart. Von Christof Meueler Seite 7 Mythomanische Memoiren: Chri- stopher Isherwood läßt sich von der Wahrheit keine Geschichte verder- ben.Von Ingo Flothen Seite 10 Der Held verhebt sich: Patrick Pécherot über den Detektiv Nestor Burma, bevor Leo Malet ihn kannte. Von Hansgeorg Hermann Seite 17 Gegen den Fleischwahn: Das »Hand- buch Vegetarisch« bietet alles für den Einstieg in den Ausstieg. Von Rainer Balcerowiak Seite 23 junge W elt Die Tageszeitung literatur Beilage der Tageszeitung junge Welt Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 Wie von Maikäfern Vor neunzig Jahren begann Hugo Ball mit der Arbeit an seiner Montage »Michael Bakunin. Ein Brevier«. Jetzt erstmals erschienen, bietet es reichlich Zündstoff. Von Robert Mießner Fortsetzung auf Seite zwei O »My head is a bubble with interesting trouble« lautet der Titel, unter dem Fehmi Baumbach Einblick in ihre »wunder- bare Welt der aufgekleb- ten Gedankenblitze« ge- währt, die gerade eben als Bildband im Ventil Verlag erschienen sind. Sämtliche Illustrationen stammen aus diesem Band, den Rebecca Spil- ker auf Seite 24 vorstellt.

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junge Welt Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 1l i t e r a t u r

Ende 1914, als Hugo Ball längst keine patriotischen Illusionen mehr über den Ersten Welt-krieg hatte, schrieb der spätere

Mitbegründer des Dadaismus aus Ber-lin an seinen Vetter August Hofmann in München: »Ich lese hier Kropotkin, Bakunin, Mereschkowski (›Der Zar und die Revolution‹) und muß sagen, das ist sehr interessante Lektüre.« Ball woll-te es nicht dabei belassen. Im selben Brief kündigte er an: »Hier geht ein neues Leben los: anarcho-revolutionär (so heißt mans glaub ich).« Zwei Monate später schon, am Abend des 12. Februar 1915, veranstalteten Ball und Richard Huelsenbeck, auch er sollte einer der Dada-Pioniere werden, im Berliner Ar-chitektenhaus eine »Gedächtnisfeier für gefallene Dichter«. Sie erinnerten an Ernst Stadler (»Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht«), Ernst Wilhelm Lotz (»Aufbruch der Jugend«), Walther Heymann (»Nehrungsbilder«) und den Franzosen Charles Péguy. Den französi-schen Schriftsteller nahmen sie im zwei-ten Kriegsjahr bewußt ins Programm und machten es sich mit dieser Entscheidung bei der Presse nicht leichter. Ball gedach-te auf dem Abend seines Freundes Hans Leybold, mit Franz Jung und Ball Her-ausgeber der Münchener Zweiwochen-schrift Revolution. Zu den Beiträgern der expressionistisch-frühdadaistischen Zeitschrift gehörten Johannes R. Becher, Max Brod, Balls spätere Frau Emmy Hennings, Jakob van Hoddis, Erich Müh-sam und viele mehr. Als im November 1913 Georg Groß, der »Psychoanalytiker der Münchener Boheme«, als Anarchist verhaftet, nach Österreich verschafft und auf Betreiben seines Kriminalistenvaters psychiatrisiert wurde, brachte die »Re-volution« eine Sondernummer heraus.

Ball, obwohl nicht im klassischen Sin-ne Politiker, ist damals bereits mit anar-chistischem Gedankengut in Berührung gekommen: »Gegen das Gesäß, gegen die Verdauung und gegen das Finanzherz« war die Tendenz der Zeitschrift, erinnert sich Ball. Und: »Jeglichen Fanatismus im Gegensatz zu jeglichem Traum- und Innenleben. Jegliche Anarchie im Ge-gensatz zu jeglichem Bonzentum.« Ball mußte einfach irgendwann auf Bakunin stoßen, den russischen Revolutionär, der im Dezember 1848 an Georg Herwegh schrieb: »Nirgends ist der Bourgeois ein liebenswürdiger Mensch, aber der deut-sche Bourgeois ist niederträchtig mit Ge-mütlichkeit. Selbst die Art dieser Leute, sich zu empören, ist empörend.« Aus der Lektüre sollte für Ball ein mehrjähriges Projekt werden. Bakunin hatte zur dama-ligen Zeit im deutschsprachigen Raum zwar einen Ruf, sein Denken und seine Werke waren aber erst in geringem Um-fang zugänglich. Ball schickte sich an, das zu ändern. Den Plan dazu hatte er bereits in Berlin entwickelt. Nachdem er im Mai 1915 mit Emmy Hennings in die Schweiz emigriert war und der Intellektu-elle Ball tatsächlich Bohemien geworden war (nicht aus Attitüde, es blieb ihm öko-nomisch keine andere Wahl), verschaffte ihm der Schweizer Arzt, libertäre Sozia-list und Schriftsteller Fritz Brupbacher Material und gibt ein Arbeitszimmer in seinem Haus frei. Was Ball, nicht ahnend, daß er für die Schublade arbeiten und einmal zum Katholizismus konvertieren würde, da zusammenstellte, wurde weni-

ger eine Biographie im herkömmlichen Sinne, sondern eine Montage aus Stim-men von und über Bakunin.

»Michael Bakunin. Ein Brevier«, jetzt von Hans Burkhard Schlichting und Gi-

sela Erbslöh herausgeben und mit einem beeindruckendem Kommentar und Nach-wort versehen, gliedert sich in zwei Teile. Der erste umfaßt die Jahre 1815 bis 1849, der zweite die von 1849 bis 1866. Ball

beginnt mit dem »Fragment einer Selbst-biographie«, in der sich der Empörer an-kündigt. Bakunin über sich selbst: »Ich

Politische Kung-Fu-Kunst: Dietmar Dath entwickelt eine Theorie für die Katastrophen der Gegenwart. Von Christof Meueler Seite 7

Mythomanische Memoiren: Chri-stopher Isherwood läßt sich von der Wahrheit keine Geschichte verder-ben. Von Ingo Flothen Seite 10

Der Held verhebt sich: Patrick Pécherot über den Detektiv Nestor Burma, bevor Leo Malet ihn kannte. Von Hansgeorg Hermann Seite 17

Gegen den Fleischwahn: Das »Hand-buch Vegetarisch« bietet alles für den Einstieg in den Ausstieg. Von Rainer Balcerowiak Seite 23 jungeWelt

Die Tageszeitung

l i t e r a t u r Beilage der Tageszeitung junge Welt Donnerstag,18. März 2010, Nr. 65

Wie von MaikäfernVor neunzig Jahren begann Hugo Ball mit der Arbeit an seiner Montage »Michael Bakunin. Ein Brevier«. Jetzt erstmals erschienen, bietet es reichlich Zündstoff. Von Robert Mießner

Fortsetzung auf Seite zwei O

»My head is a bubble with interesting trouble« lautet der Titel, unter dem Fehmi Baumbach Einblick in ihre »wunder-bare Welt der aufgekleb-ten Gedankenblitze« ge-währt, die gerade eben als Bildband im Ventil Verlag erschienen sind. Sämtliche Illustrationen stammen aus diesem Band, den Rebecca Spil-ker auf Seite 24 vorstellt.

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Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 junge Welt 2 l i t e r a t u r

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war mehr skeptisch, als gläubig, oder viel-mehr indifferent. Ich glaube, Indignation und Revolte waren wohl die ersten Ge-fühle, die sich energischer in mir entwik-kelten.« Nach einer kurzen militärischen Laufbahn und einer philosophischen Zeit in Moskau, Bakunin wurde ausgewiese-ner Hegel-Kenner, ging er nach Berlin. In

einem Brief an seinen Freund und Förde-rer Alexander Herzen schreibt er aus der preußischen Hauptstadt: »Berlin ist eine gute Stadt – vortreffliche Musik, billiges Leben, sehr anständiges Theater, in den Konditoreien viele Zeitungen, und ich le-se sie alle der Reihe nach, mit einem Wor-te alles gut, sehr gut.« Ein Ärgernis aber gibt es: »Die Deutschen sind schreckliche Philister. Wäre der zehnte Teil ihres rei-

chen geistigen Bewußtseins ins Leben übergegangen, so wären sie herrliche Leu-te. Bis jetzt aber sind sie, ach, ein höchst lächerliches Volk …«. »Philister« sollte eine von Bakunins Lieblingsschmähun-gen werden. Arnold Ruge, Mitbegründer der »Halleschen Jahrbücher für deutsche Kunst und Wissenschaft« und nach Aus-bruch der Märzrevolution 1848 Breslau-er Abgeordneter der Frankfurter Natio-

nalversammlung, erinnert sich an eine Leipziger Begegnung mit Bakunin. Ruge, in einem politischen Meeting sitzend, er-hielt die Nachricht, Bakunin wolle ihn sprechen. »Laß Deine Philister im Stich«, riet er ihm, und: »Komm, alter Freund, trinken wir eine Flasche Champagner! Es wird ja doch nichts draus. Ein Re-deübungsverein mehr, weiter nichts.« Er fügte hinzu: »Glaub du nur nicht, daß ihr

Sachsen die Philister gepachtet habt. Pa-ris schwärmt davon wie von Maikäfern.« Bakunin hatte sich 1844 in Paris nieder-gelassen, mit Karl Marx heftig diskutiert, mit Pierre-Joseph Proudhon Freundschaft geschlossen und an der Februarrevolution 1848 teilgenommen.

Das permanente, von der Generation Balls aufgegriffene Sticheln gegen den Bürger als solchen war Bakunin kein Selbstzweck. Geistiges Bewußtsein ins Leben überführen, der kurze Halbsatz aus dem Brief an Herzen, das war es, worum es dem russischen Adelssohn ging. Unbe-dingt dazu gehörte für ihn die Revolution. 1866, hinter Bakunin lag der Versuch, Deutsche und Slawen zum gemeinsamen Kampf gegen die herrschende Unordnung aufzurufen, eine die Gesundheit zermür-bende Kerkerhaft in Rußland, die Flucht über Yokohama, San Francisco, Panama-Stadt und Boston und mehr als eine po-litische Enttäuschung, schrieb er an Her-zen und Nikolaj Ogarjow: »Ich weiß, daß Euch das Wort Revolution verhaßt ist, aber was ist zu tun, Freunde? Ohne Revo-lution ist es weder Euch noch irgendeinem andern möglich, einen Schritt vorwärts zu machen. Um doppelt so praktisch zu sein, habt Ihr Euch eine unmögliche Theorie einer sozialen Umwälzung ohne eine po-litische ausgedacht, eine Theorie, die in jetziger Zeit ebenso unmöglich ist wie eine soziale Revolution ohne eine politi-sche, beide Umwälzungen gehen Hand und bilden eigentlich ein Ganzes.« Das längere Schreiben schickte er aus Italien, wo Bakunin in Auseinandersetzung mit Giuseppe Mazzini und Giuseppe Gari-baldi seine für Ball wichtige Kritik des Patriotismus und seine anarchistische Theorie entwickelte. Es war in Italien, daß sich Bakunin das erste Mal selber als Anarchist bezeichnete.

Leider endet Balls Sammlung mit dem Statut der »Fraternité internationale«, Ba-kunins »Internationaler Brüderschaft«. Wer sich über seine zunehmenden Kon-flikte mit Karl Marx und Friedrich En-gels, mit der Zeit in der Internationalen Arbeiterassoziation und seinem Aus-schluß auf deren Kongreß in Den Haag 1872 befassen möchte, sollte zu Arthur Lehnings »Unterhaltungen mit Bakunin« greifen, aber sein ganzes abenteuerli-ches Leben abdecken. Die Differenz zur Marxschen Richtung wird aber bereits in Balls Sammlung deutlich. Dem Buch war wenig Glück beschieden, obwohl ohne die umfangreichen Arbeiten daran Balls

»Zur Kritik der deutschen Intelligenz« kaum entstanden wäre. Nach anfängli-chem Publikationsinteresse von René Schickele und Erich Reiss konnte Hugo Ball keinen Verleger finden. Nach seinem frühen Tod vermittelte Hermann Hesse, Ball war sein Biograph geworden, Emmy Hennings einen Kontakt zum Berliner Malik-Verlag. Auch dieser Versuch blieb erfolglos. Emmy Ball-Hennings in einem Brief: »Rasputin und Lenin sind mehr Trumpf in Deutschland.«

Hugo Ball: Sämtliche Werke und Briefe, Band 4. Herausgegeben von der Deutschen Akade-mie für Sprache und Dichtung zu Darmstadt in Zusammenarbeit mit der Hugo-Ball-Gesell-schaft, Pirmasens, Band 4: Michael Bakunin. Ein Brevier. Herausgegen von Hans Burkhard Schlichting unter Mitar-beit von Gisela Erbslöh. Wallstein Verlag 2010, 579 Seiten, 39 Euro.

literatur erscheint als Beilage der Tageszei-tung junge Welt im Verlag 8. Mai GmbH, Torstr. 6, 10119 Berlin. Redaktion: Conny Lösch (V. i. S. d. P.); Anzeigen: Sil-ke Schubert; Gestaltung: Michael Sommer. Die nächste Beilage literatur erscheint am 16. Juni 2010.

O Fortsetzung von Seite eins

Beilage, Mittwoch, 21. aprilWladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, wurde am 22. April 1870 – vor 140 Jahren – geboren. Sein Aufstieg zum Führer der Oktoberrevolution 1917 und zu einem der bedeutendsten Politiker des 20. Jahrhunderts war mit einem immensen publizistischen und theoreti-schen Werk verbunden, das weit über Rußland hinaus Resonanz fand. Als der Marxismus nach dem Zerfall der So-wjetunion wieder einmal für tot erklärt wurde, betrachtete man die Ideen des russischen Revolutionärs erst recht als erledigt.

Beilage inklusive der aktuellen Ausgabe für 1,20 Euro am Kiosk erhältlich. Anzeigenschaltung unter 0 30/53 63 55-39. Anzeigen- und Druckunter-lagenschluß: 14.4.

len in

jungeWeltDie Tageszeitung

Sie lügen wie gedruckt. Wir drucken, wie sie lügen.

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junge Welt Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 3l i t e r a t u r

Ist sozial, was Arbeit schafft? Wie es die Propaganda der schwarz-gelben Regierung will? Oder geht es um das Leitbild einer »guten

Arbeit«, das SPD, Gewerkschaften und Sozialverbände in unterschiedlichen Nuancen vor sich hertragen? Für den österreichischen Romancier Robert Menasse haben die scheinbar konträren politischen Konzeptionen von Erwerbs-arbeit mehr miteinander gemein, als ih-re Verfechter sich vorstellen können. Die Annahme, es könne eine Form der Arbeit geben, die in gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen besteht und dabei nicht entfremdet ist, hält er für einen gefährlichen Irrglauben, der schon den Arbeitsbegriff des deutschen Faschismus geprägt habe. Denn auch in den liberalen Gesellschaften des We-stens, da ist sich Menasse sicher, werden Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit unter den herrschenden Bedingungen durch Arbeit zerstört: »Freiheit wird vernichtet, weil Arbeit die Menschen zu Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt macht, in einer Weise, daß sie zu immer größerer Willfährigkeit, Unterwürfig-keit und Bescheidenheit, zur Preisgabe ihrer Freiheit und ihrer sozialen Ge-fühle im Kampf um ihren Arbeitsplatz bereit sind. Demokratie wird vernichtet, weil Demokratie politisches Denken

voraussetzt, Arbeit aber nur betriebs-wirtschaftliche Logik zuläßt. Es ist kein Zufall, daß es in den sogenannten demokratischen Gesellschaften keine Arbeitsdemokratie gibt. [...] Und Ge-rechtigkeit wird vernichtet, weil keiner, der sich im Kampf um freie Arbeit be-findet, durch Arbeit auch nur annähernd so viel eigenes Vermögen produzieren kann wie jene, die über arbeitsfreies Einkommen verfügen. Der Kampf um die Arbeit vernichtet sogar das Bewußt-sein von der Ungerechtigkeit der Vertei-lung des gesellschaftlich erarbeiteten Reichtums.« Menasse verdeutlicht, wie unter kapitalistischen Produktionsver-hältnissen das wichtigste Versprechen der Technik nicht eingehalten wird: die Befreiung der Menschen von der Ar-beit. »Je größer die Produktivität durch Maschinen und Technologien wird, um-so mörderischer kämpfen die Menschen

darum, daß ihnen die Arbeit eben nicht abgenommen wird. Heute, am histo-risch höchsten Stand von technischer Produktivität, sind die Menschen sogar bereit, für ihren Arbeitsplatz eine Ver-längerung der Arbeitszeit in Kauf zu nehmen. Und Arbeitnehmerorganisatio-nen sind bereit, das zu verhandeln. Sie sollten wegen Wiederbetätigung belangt werden: Seit den Nazis hat es niemand

gewagt, von der relativen zur absoluten Mehrwertproduktion zurückzukehren (also von der Erhöhung der Produktivi-tät innerhalb einer bestimmten Zeit zur Verlängerung der Arbeitszeit). Das ist der lange Schatten von Dachau in der modernen Arbeitswelt, ja, wir haben die Losung gelernt: Arbeit macht frei!«

Die in »Permanente Revolution der Begriffe« versammelten Essays und

Vorträge Menasses haben ein zentrales Thema: die Selbstzerstörung liberaler Demokratien nach der Niederlage der sozialistischen Staatenwelt. Spätestens nach 1989 haben die wirtschaftlichen und politischen Eliten einen gesell-schaftlichen Konsens aufgekündigt, der für die Entwicklung Westeuropas nach 1945 entscheidend war: »für wachsende Gerechtigkeit bei der Verteilung des ge-

sellschaftlich produzierten Reichtums zu sorgen, um jene Krisen und Kämpfe zu vermeiden, die schließlich zu zwei Weltkriegen und zu dem berühmten Schwur ›Nie wieder!‹ geführt hat-ten.« Das Europa des Lissaboner Ver-trags beschreibt Menasse daher als ein Projekt, »das vormals demokratische Staaten zum Zwecke der gemeinsamen Abschaffung der Demokatie gegründet

haben«. Während die von den Bürgern gewählten nationalen Parlamente, ihre Souveränität weitgehend an EU-Rat und -Kommission abgeben, sind Rat und Kommission als eigentliche Gesetzge-ber nicht demokratisch legitimiert. Das gewählte Europäische Parlament wie-derum darf keine gesetzgebenden In-itiativen ergreifen. »Kurz: Die, die wir wählen, machen nicht die Gesetze, und die, die die Gesetze machen, haben wir nicht gewählt. Wir haben also eine zwar ungenügende, aber immerhin in Ansät-zen vorhandene Demokratie aufgege-ben, um demokratiepolitisch nichts, ab-solut nichts dafür zu bekommen.« Bei-nahe altmodisch hält Menasse fest am klassischen Begriff des Engagements. Er unterstützt die globalisierungskriti-sche Bewegung ATTAC, mischt sich leidenschaftlich in die Debatte um die EU-Verfassung ein und kritisiert den Zerfall des Bildungssystems in Europa. Er benötige mindestens zwei Flaschen Wein, um das Wort »Chance« im Zu-sammenhang mit dessen heutigem Zu-stand überhaupt ertragen zu können. »Durchgeschleust werden durch Aus-bildungsfabriken, ohne die Chance, auf einen Gedanken zu kommen, eingeübt zu werden auf bloßes Funktionieren unter dem Titel Praxisbezug, Bezug auf eine Praxis, die zu verstehen schon nicht mehr Bestandteil der Ausbildung ist.« Daß es Menasse nicht bei schönen Worten belässt und noch sehr gut weiß, was praktische Solidarität bedeutet, ha-ben die protestierenden Studierenden in Österreich mehrfach erleben dürfen. Er ging zu ihnen in die Hörsäle und ermutigte sie, ihren Streit für eine ge-rechtere Gesellschaft unbeirrt von al-len Diffamierungen durch Politik und Konzernmedien weiterzuführen: »Die Kritiker der Bewegung haben nie ver-standen, daß es den Studenten nicht um ureigene Privilegien geht. Die Studen-ten haben politische Fragen angespro-chen, die jeden Österreicher betreffen. Sie haben daran erinnert, daß es ein Menschenrecht auf Bildung gibt – und das aus gutem Grund: Es gibt keine Demokratie von Idioten.« Mit der vor-liegenden Essaysammlung ist Menasse ein stilistisch ebenbürtiger Nachfolger seiner legendären Frankfurter Poetik-vorlesung »Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung« gelungen. Dia-lektisch geschult, rhetorisch ausgefeilt und pointensicher.

Der lange Schatten von DachauRobert Menasse erklärt, warum Arbeit im Kapitalismus unfrei macht. Von Thomas Wagner

Robert Menasse: Per-manente Revolution der Begriffe. Vorträge zur Kritik der Abklärung. Suhrkamp Verlag, Frank-furt a.M. 2009, 124 Seiten, 9 Euro

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Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 junge Welt 4 l i t e r a t u r

Ob die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) für die Drucklegung der auf einem Symposium zum 90. Jahres-

tag ihrer Gründung gehaltenen Reden finanzielle Unterstützung vom Bundesministerium für Wissen-schaft und Forschung in Berlin erhalten hätte, erscheint fraglich. Die österreichischen Kommuni-sten wurden dagegen von dem entsprechenden Ministerium in Wien damit bedacht. Das hat die Alfred-Klahr-Gesellschaft in den Stand gesetzt, einen Band mit Studien zur Geschichte der KPÖ herauszubringen. Bei un-seren Nachbarn im Süden ticken die Uhren doch noch anders, ob-wohl die Kommunisten dort in den Kreisen der Herrschenden ebensowenig gut gelitten sind und ihre Partei seit dem Tag ih-rer Gründung, dem 3. November 1918, angefeindet wird und sie selbst mit Vorurteilen und Ver-dächtigungen überhäuft werden.

Das bezeugte mir vor zwei Jahren eine Episode. Schwim-mend im Atlantik und ein wenig draußen, wo man gewöhnlich mit Meer und Wellen allein ist, traf ich auf einen »Mitschwimmer«. Bei solcher Gelegenheit kommt man über »Guten Tag« oder »Grüß Gott« oder neudeutsch »Hallo« ins Gespräch. Ich war auf einen Österreicher aus Graz ge-stoßen. »Da kennen Sie doch den Kaltenegger?« Antwort: »Das ist der einzige anständige Kommu-nist in Österreich.« So sehr mich das Lob für den Mann freute, dessen Vorträge ich gelegentlich an der Karl-Franzens-Universität gehört hatte, es sprach mir doch davon, daß es die Genossen im Alpenlande nicht eben leicht ha-ben. Urteile und Vorurteile, Er-kenntnisse und Irrtümer, Erfolge und Fehlschläge, Verdienst und Versagen kennzeichnen ihren Weg. Davon wurde während des Symposiums in Wien und Graz gesprochen, eingedenk der Warnung »An solchen Geburtstagen neigt man zur Ver-klärung, man will an kritische Punkte der Vergangenheit eher nicht rühren«. Die hatte der Vorsitzende der Landesorgani-sation in der Steiermark, der erfolgreich-sten in der kleinen Partei, in Erinnerung

gebracht. Nein, des Schönfärbens hat sich kein Referent schuldig gemacht. Damit haben auch die österreichischen Kommu-nisten ihre eigenen bitteren Erfahrungen. Und auch wo der Leser auf Ausgelassenes

stößt, rührt dies nicht von abgesteckten Tabuzonen her, sondern zeigt an, daß Fra-gen an die Geschichte weiterer Aufklä-rung bedürfen.

Die Hauptvorträge bestritten Histori-ker: Hans Hautmann (1918/19), Winfried R. Garscha (1920–1945) und Manfred

Mugrauer (1945–1955/56) und wieder-um Hautmann, der auch über die 60er bis 90er Jahre referierte, einen Zeitraum, für den eingestandenermaßen lange und vergeblich ein Experte gesucht worden

war. Was entwickelt wurde, trägt deutlich den Stempel der Selbstverständigung und Selbstvergewisserung. Das bringt es mit sich, daß vor allem die eigene Klientel angesprochen wird. Erzählende und auch nur Aussagen illustrierende Passagen fehlen weitgehend. Die Kenntnis vieler

Details und von Personen, mit deren Nen-nung zu zurückhaltend umgegangen wird, setzen die Autoren voraus. Doch keine Frage: Diese Spezialistengruppe besäße das Zeug, eine weniger lehrbuchhafte Par-

teigeschichte zu schreiben.Dem Blick aufs Ganze folgen

Einzelstudien, die sich mit Initia-tiven, Ereignissen und Episoden aus der Geschichte der Kom-munisten in Graz, mit dem Wi-derstand in der Steiermark, den österreichischen Kommunisten im USA-Exil, der Agrarpolitik im Burgenland und dem prole-tarischen Theater in der Ersten Republik befassen. In dieser Gruppe nimmt die eingehende Studie Hautmanns über die »Vor-fälle des 15. Juni 1919 in Wien« einen besonderen Platz ein. An diesem Tage versuchte die junge Kommunistische Partei nach un-garischem Vorbild einen Vorstoß zur Errichtung der Rätemacht, der scheiterte. Erstmals veröffentlicht wird auch das Protokoll der Sit-zung der Untersuchungskommis-sion, die im Parteisekretariat die Ereignisse des Tages erörterte.

Im knappen Schlußteil werden Politikfelder der Gegenwart abge-handelt einschließlich der auf ih-nen Agierenden. Namentlich was Ernest Kaltenegger und Franz Stephan Parteder über die Poli-tik der Partei in der Steiermark und in der Landeshauptstadt, wo die KPÖ bei der Gemeinderats-wahl 2003 sensationell mehr als 20 Prozent der Stimmen gewann, an Erfahrungen mitteilen und zu bedenken geben, könnte Links-politikern in der Bundesrepublik zusätzlich Anstoß sein, ihre ei-gene Rolle im politischen Alltag zu prüfen. Hervorsticht die War-nung, nicht im parlamentarischen Betrieb zu versumpfen, sondern beständigen Kontakt mit den Wählern zu wahren, sich um die außerparlamentarische politische Mobilisierung zu kümmern, ohne die letztlich weder Menschen zu

gewinnen noch Ergebnisse zu erzielen sind.

Schade, daß dem Band ein Anhang fehlt. In ihm hätten sich eine knappe Chro-nik der Ereignisse, Zahlenangaben über Mitglieder und Wähler und ein Personen-register gut und hilfreich ausgemacht.

Ohne TabuzonenZur Geschichte der KPÖ: ein Band mit Vorträgen gibt Aufschluß. Von Kurt Pätzold

Manfred Mugrauer (Hg.): 90 Jahre KPÖ. Studien zur Geschichte der Kommunistischen Partei Österreichs. Eigenverlag der Alfred Klahr Gesell-schaft, Wien 2009, 348 Seiten, 15 Euro

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junge Welt Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 5l i t e r a t u r

Der israelische Architekt Eyal Weizman leitet das Centre for Research Architecture am Londoner Goldsmiths

College, wo mit einem erweiterten Ar-chitekturbegriff gearbeitet wird. Weiz-mans Buch »Sperrzonen – Israels Archi-tektur der Besatzung« ist die erste syste-matische Untersuchung der israelischen Raumordnung und -kontrolle. Das Buch konnte bislang die sonst so worteifrigen deutschen Apologeten israelischer Be-satzungspolitik in Schach halten.

Weizman zeigt auf, wie Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung als strate-gische Werkzeuge der Besatzungspolitik begriffen werden. Unter dem »Architek-tengeneral« Ariel Scharon gerieten sie zu einer »Fortsetzung des Krieges mit ande-ren Mitteln«. Weizman untersucht, mit welchen Mitteln räumliche Enteignung und Kontrolle in den besetzten Gebieten betrieben werden. Er sieht diese jedoch nicht als direktes Ergebnis einer »Top-down«-Planung der Regierung. Vielmehr spiegelten sich in ihnen »eine Vielzahl technischer, rechtlicher und politischer Konflikte um territoriale, demografische und archäologische Fragen wider, um Wasser- und Immobilienangelegenheiten sowie um politische Konzepte wie das der Souveränität, das der Sicherheit und das der Identität«. Weizman geht es dar-um, gebaute Realitäten, wie etwa eine Siedlung, einen Checkpoint, eine Straße oder die durch die Westbank führende Mauer, an der seit 2002 gebaut wird, nicht als Eins-zu-eins-Verkörperungen israe-lischer Herrschaftsplanung, sondern als Diagramme der komplexen politischen Kräftefelder um sie herum zu sehen. So habe sich die Gestalt der Mauer, der Ma-nifestation von Machtpolitik, staatlicher Ideologie und Menschenrechtsverlet-zungen, den unterschiedlichen Formen politischen Drucks angepaßt. Sie sei zu »einer diskontinuierlichen und fragmen-tarischen Reihe von in sich selbst ge-schlossenen Barrieresystemen geworden. Man kann sie wohl am ehesten als Um-setzung der vorherrschenden Bedingung von Segregation verstehen, nämlich als bewegliche Grenze. Denn sie ist keine durchgezogene Linie, die das Gebiet in zwei Teile aufteilen würde. Nachdem sich die ›Tiefenbarrieren‹ vervielfältigt haben, hat sich das Erscheinungsbild des Gebiets mehr und mehr dem von Karten skandinavischer Küstenregionen ange-nähert, wo Fjorde, Inseln und Seen die Trennung zwischen Land und Wasser nur diffus erkennen lassen.«

Nachdem die Oberfläche des West-jordanlandes durch Mauern und andere Barrieren in Segmente zersplittert war, machten sich israelische Planer daran, diese als zwar getrennte, doch überlap-pende Nationalgeographien miteinander zu verweben. Der israelische Historiker Meron Benvenisti hat ausgeführt, daß diese beiden nationalen Geographien, die auf demselben Gebiet Platz haben sollen, »drei Dimensionen in sechs auseinander-sprengen: in drei israelische und drei pa-lästinensische«. Im Verlauf des gesamten Prozesses, so Weizman, habe sich Palä-stina immer deutlicher als »ausgehöhltes Land« abgezeichnet. So lautet denn auch der Originaltitel seines Buches »Hollow Land«. Diese hohle Land entstehe als physische Vergegenständlichung der vielfältigen Versuche, es zu teilen: »zer-schnitten und umschlossen durch seine zahlreichen Absperrungen, ausgeweidet durch unterirdische Tunnels, überspannt und zusammengefügt durch Hochstra-ßen und bombardiert aus einem militä-

risch verfinsterten Himmel«. Das Buch ist entsprechend den unterschiedlichen Schichtungen dieses vertikalen Aufbaus der besetzten Gebiete gegliedert und be-ginnt mit der israelisch-palästinensischen Schlacht um den Grundwasservorrat, von dem 80 Prozent unter der Westbank lie-gen und vorrangig durch Israel genutzt werden.

Ein israelischer Masterplan von 1968 sah vor, in Jerusalem, das laut dem israe-lischen Aktivisten Jeff Halper in seiner ausgedehnten Form die Besatzung ist, al-le Gebäude im annektierten Teil der Stadt

mit Jerusalem-Stein zu verkleiden, um Bauten »fern des historischen Zentrums Authentizität zu verleihen und so die dis-paraten städtebaulichen Bruchstücke ein-heitlich und als organische Teile der Stadt erscheinen zu lassen«. Der Stein, der im Laufe der Zeit als Verkleidungsmaterial immer schmaler wurde, sollte Heiligkeit

verkörpern, die damit unweigerlich zum Gegenstand der Stadtplanung und zur Ausdehnung und Festlegung der heiligen Zone wurde. Weizman verweist auf das Paradox, daß die Bearbeitung des Ma-terials, mit dem das jüdische Jerusalem gekennzeichnet werden soll, zu einem der wichtigsten Zweige der palästinensi-schen Wirtschaft geworden ist. Der Stein wird hauptsächlich in der Umgebung von Hebron und Ramallah gewonnen. Mit der Betonung des Heiligen wurde unter Be-rufung auf keinen Geringeren als Martin Heidegger der Begriff des »Beheimatet-Seins« gegen den des »Wohnens« in Stel-lung gebracht. Die biblische Archäologie wurde ebenfalls in den Dienst genom-men, »Spuren« historischer Authentizität von israelischen Architekten aufgegriffen und in gebaute Gestalt überführt. Städ-teplaner und Architekten arbeiten auch

der Politik der Aufrechterhaltung des von der Regierung vorgegebenen demogra-phischen Gleichgewichts in Jerusalem zu, indem sie sich an der Planung des Verschwindens der arabischen Bevölke-rung, offiziell »stiller Transfer« genannt, beteiligen.

Die Kolonisierung der Westbank, so Weizman, sei nicht das Ergebnis eines Masterplans gewesen. Gerade die inko-härente und konfliktreiche Etablierung eines Netzwerkes strategischer Siedlun-gen in der gesamten Tiefe des Terrains habe sich als eine der Grundlagen für

den Erfolg des Siedlungsprozesses er-wiesen. Unter der Überschrift »Optischer Urbanismus« beschreibt Weizman, daß die Siedlungen auf den Anhöhen nach dem Prinzip der »konzentrischen Orga-nisation« angelegt sind. Das auswärts ge-richtete Arrangement der Häuser lenkt den Blick auf die umgebende Landschaft und die dort Lebenden und dient deren visueller Überwachung. Auch der nach innen gerichtete Blick ist Teil des Panop-tismus, jenes Ensembles von Disziplinar-mechanismen, das Michel Foucault unter Berufung auf Benthams »Panopticon« in »Überwachen und Strafen« beschrieben hat. In der Westbank ist es nicht einfach, keine israelische Siedlung zu sehen. Die israelische Armee darf allerdings seit En-de 2003 Palästinenser erschießen, sollten sie eine Siedlung durch ein Fernglas oder auf andere »verdächtige Weise« beob-achten.

Am Beispiel des Checkpoints an der Allenby-Brücke zeigt Weizman, daß die Palästinensische Autonomiebehörde le-diglich »Prothesenfunktion« hat. Das Kontrollgebäude ist mit einseitig durch-sichtigen Spiegeln versehen. Die hinter diesen Spiegeln verborgenen Räume kön-nen durch eine Hintertür betreten werden. »In Übereinstimmung mit Artikel X (des Gaza-Jericho-Abkommes, auch Oslo I ge-nannt) sehen eintreffende Palästinenser

immer nur ›einen palästinensischen Poli-zeibeamten und die aufgezogene palästi-nensische Fahne‹. Sie sehen außerdem je einen palästinensischen Polizeischalter vor einem der großen Spiegel in der Halle für ›Ankommende Reisende‹. Die Spie-gel wurden so angebracht, daß die israe-lischen Sicherheitsleute dahinter sowohl die palästinensischen Reisenden als auch das palästinensische Polizeipersonal be-obachten können, während sie selber un-gesehen bleiben.«

Der einseitig durchsichtige Spiegel, so Weizman, habe zu einer neuartigen Ent- und Begrenzung des Begriffs der Souveränität geführt. Der Spiegel, hinter dem US-Agenten und verhaltenspsycho-logisch geschulte Berater in saudiarabi-schen, marokkanischen oder syrischen Gefängnissen die Folter überwachten oder vielleicht sogar leiteten, laufe im Grunde auf eine Ausdehnung der US-Grenzen hinaus; er sei das physische und optische Mittel, durch das eine vormals einheitliche Souveränität geteilt worden sei.

Zur Pflichtlektüre an israelischen Mili-tärakademien zählten auch Schriften der Theoretiker, die den Begriff des Raumes erweitert haben, wie etwa Gilles Deleuze, Félix Guattari und Guy Debord. Weizman zeigt, wie Militärstrategen poststruktura-listische und postkolonialistische Theo-rie absorbiert und transformiert haben. Eine Folge dieser Transformation war der Versuch, Instrumente bereitzustellen, die den älteren Modus territorialer Herr-schaft durch einen neueren »deterrito-rialisierten« ersetzen. Diese »im Ver-schwinden begriffene Besatzung« hat ihren extremen Ausdruck in den luftge-stützten »Liquidierungen« von Palästi-nensern gefunden. Diese werden, wie es in einer Auftragsstudie des israelischen Militärs heißt, nicht als Rache für be-reits begangene Terrorakte befürwortet, sondern als Antwort auf »potentielle« künftige Bedrohungen. Weizman zitiert den ehemaligen Rechtsberater des israe-lischen Militärs, Daniel Reisner: »Inter-nationales Recht entwickelt sich durch seine Verletzung.« Hielten die meisten Regierungen im Jahre 2000 die von Isra-el formulierte Politik der gezielten Tötun-gen für widerrechtlich, so Reisner, habe sich diese Praxis »acht Jahre (und ei-nen Angriff auf die Vereinigten Staaten) später bereits innerhalb der Grenzen der Legitimität im Mittelfeld« befunden. Das wissen auch der deutsche Oberst Klein und seine militärischen und politischen Führer.

Hohles LandEyal Weizman analysiert Israels Architektur der Besatzung. Von Jürgen Schneider

Eyal Weizman: Sperr-zonen – Israels Architek-tur der Besatzung. Aus dem Englischen von Sophia Deeg und Tashy Endres. Edition Nautilus, Hamburg 2009, 350 Sei-ten, 24,90 Euro

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Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 junge Welt 6 l i t e r a t u r

Kurz vor Weihnachten 2006 be-suchte der amtierende Heere-sinspekteur der Bundeswehr, Hans-Otto Budde, das größte

Militärkrankenhaus der Vereinigten Staa-ten außerhalb ihrer Grenzen im pfälzischen Landstuhl. Seit dem Start des Global War on Terrorism nach dem 11. September 2001 wurden dort über 30 000 verwundete GIs behandelt. Bei seinem Rundgang wollte der Heeresinspekteur dort definitiv keine »entmutigten Soldaten« gesehen haben, alle verfügten über eine, so Budde »positive Einstellung«, selbst die Verwundeten rede-ten »alle davon, daß es ihnen besser geht und ihre Genesung Fortschritte« mache. So rundum positiv gestimmt, vermerkte der Heeresinspekteur: »Auch wenn wir irgend-wann sagen können, die Schlachten in Af-ghanistan oder woanders sind beendet, wird der Kampf gegen Terrorismus ewig wei-tergehen.« Der Kampf dagegen dürfe »nie aufgegeben« werden. Die von dem rang-hohen Bundeswehrgeneral ausgesprochene Hoffnung auf einen nie endenden Kampf, der »ewig weitergehen« werde, steht in fun-damentalem Widerspruch zu der von Jürgen Rose in seinem Buch unter dem bedrohli-chen Titel »Ernstfall Angriffskrieg« geschil-derten Zukunftsaussicht. In Anlehnung an das längst vergessene Wort des Bundesprä-sidenten Heinemann: »Der Frieden ist der Ernstfall« geht es Bundeswehr-Oberstleut-nant a. D. Rose darum, die Existenz des Mi-litärs defensiv in Hinblick auf dessen mög-liche Abschaffung zu begründen. So viel Reflexionsvermögen ist in der Bundeswehr wahrscheinlich nur einer engagierten Min-derheit von Verfassungssoldaten gegeben. Und daß man sich damit dort keine Freunde macht, zeigt der Inhalt einer persönlich an Rose gerichteten Mail des Offiziers Daniel Kaufhold, der für das KSK (Kommando Spezialkräfte) aktiv ist – eine Einheit, deren Auftrag bekanntlich darin besteht, völlig frei von substantieller parlamentarisch-po-litischer Kontrolle zu agieren. Hauptmann Kaufhold ließ Rose Ende Juli 2007 nicht nur wissen, daß er »von Offizieren einer neuen Generation« beobachtet werde, sondern daß er ihn auch als »Feind im Innern« beurteile, der beizeiten »zu zerschlagen« sei.

Im Kern verfolgt der Buchautor in seiner Argumentation die Idee, damit »eine Kam-pagne gegen (den) Angriffskrieg« zu star-ten. Mit militärischem Hintergrundwissen ausgestattet, beschreibt er die Verwicklung der Bundesregierung und der Bundeswehr in die völkerrechtswidrigen Angriffskriege (1999 Jugoslawien, 2001 Afghanistan, 2003 Irak). Rose insistiert, daß gegen das in Arti-kel 26 des Grundgesetzes festgeschriebene Verbot eines Angriffskrieges verstoßen und dieses Vergehen nicht geahndet wurde. Er argumentiert gegen eine sich im Zeichen des »kriegerischen Interventionismus im Zeichen von Geopolitik und Geoökono-mie« vollziehende Entwicklung, die von der Dozentin an der Führungsakademie der Bundeswehr, Susanne Jaberg, als eine Los-lösung des »militärischen Instrumentes aus bisherigen strikten verteidigungspolitischen Konditionierungen« beschrieben wird.

Diese Loslösung provoziert dann aller-dings die merkwürdigsten argumentativen Pirouetten, wie Rose nicht müde wird her-auszustreichen. So informierte ein Brief der Generalbundesanwaltschaft an den mi-litärkritischen Arbeitskreis »Darmstädter Signal«, dem der Autor angehört, diesen Anfang August 2006 darüber, daß »nach dem eindeutigen Wortlaut« des Paragra-

phen 80 Strafgesetzbuch »nur die Vorbe-reitung eines Angriffskrieges und nicht der Angriffskrieg selbst strafbar (ist), so daß auch die Beteiligung an einem von anderen vorbereiteten Angriffskrieg nicht darunter fällt«. Rose ist in seiner Kommentierung

die Wut und die Erschütterung über derar-tige juristische Winkelzüge immer wieder deutlich anzumerken.

Zuweilen verzettelt sich der Autor in einer etwas weitschweifigen und auch vordergrün-digen Polemik. Sie gibt zwar erschöpfend Auskunft über seine aktuellen politischen Standpunkte, hinterläßt aber doch zuwei-len den Eindruck, daß weniger davon mehr gewesen wäre. Manchmal mündet die ver-ständliche Wut des Verfassers in der unkri-tischen Übernahme des offiziellen Main-streams. So stimmt er beispielsweise in den Chor derjenigen ein, die beschwören, daß Afghanistan »erneut zur Brutstätte für is-

lamistischen Terrorismus werden« könne. Der detailverliebten Auseinandersetzung Roses mit den Fußangeln des Völker- und Strafrechts ist deutlich anzumerken, daß der Verfasser kein ausgebildeter Jurist ist. In einer Besprechung wurde das vorliegende

Werk dennoch als ein »mutiges Buch von ei-nem mutigen Autor« gewürdigt, »der selbst für seine offene Meinung und seine eigene Verweigerung immense Nachteile und Be-schuldigungen bis hin zu offenen Drohun-gen in Kauf nimmt«. Dem ist zuzustimmen. Auch wenn der Aufbau des Buches teilweise verwirrend ist, was umso bedauerlicher ist, da eine Antikriegsbewegung auf die Sach-kenntnis eines Experten wie Jürgen Rose nicht verzichten kann.Jürgen Rose: Ernstfall Angriffskrieg. Frieden schaffen mit aller Gewalt? Verlag Ossietzky, Hannover 2009, 268 Seiten, 20 Euro

WinkelzügeWieviel Vorbereitung verträgt ein Angriffskrieg, ohne gegen das Grundgesetz zu verstoßen? Jürgen Rose klärt auf. Von Markus Mohr

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junge Welt Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 7l i t e r a t u r

Rosa Luxemburg war gegen das »Gewurstel«, wie Diet-mar Dath es nennt, gegen die Praxis »der kleinen Tröstun-

gen und momentanen Gratifikationen«. Also gegen den Reformismus an und für sich, dem sie in ihrer berühmten Schrift »Sozialreform oder Revolution?« 1899, ihrer Auseinandersetzung mit Eduard Bernsteins Vorschlag, eine Politik des Schlafwagen-Sozialismus zu verfolgen, eine vernichtende Abfuhr erteilte. Und zwar auf theoretischen Höhen, »die den linken wie den rechten Erben dieser Aus-einandersetzung bis heute meist uner-reichbar blieben« (Dath). Denn Luxem-burgs Kampf gegen die »Verwischung des Klassengegensatzes« ist kein kalter Kaffee aus der K-Gruppen-Thermoskan-ne, sondern politische Kung-Fu-Kunst, die zu beherrschen allen marxistisch in-spirierten Kräften dringend anzuraten ist. Das ebenso elegant wie einleuchtend in seiner »Rosa Luxemburg« betitelten »BasisBiographie« über dieselbe her-ausgearbeitet zu haben, ist Daths großes Verdienst. Der Science-Fiction-Schrift-steller, Ex-Spex- und Ex-FAZ-Redakteur bemüht sich ja hierzulande immer ein-drucksvoller im rasanten Alleingang um die Entwicklung einer sozialistischen Theorie für die politischen und kulturel-len Katastrophen der Gegenwart.

Die Theorie des Reformismus, für Dath »die Lieblingslehre von Handwerkern, Ärzten, Ökobauern, Sozialtherapeuten, Kleinbuchhändlern, linken Webdesignern und sonstigen Minderbesitzern«, rich-tet sich für Luxemburg »von selbst und zwar doppelt«: erstens ist sie utopisch und zweitens reaktionär. Weil konträr zu den Irrungen und Wirrungen von Eduard Bernstein, Willy Brandt oder Dietmar Bartsch der Kapitalismus niemals Friede, Freude, Eierkuchen impliziert, hilft gegen den Reformismus als never ending story einer ganz, ganz lieben Linken in den Worten von Dath nur »die Vorstellung von Kampf als steter Verbesserung der Kampf-bedingungen selbst«. Diesem Kampf dient auch ihre Theorie vom »Massenstreik«. Dath rückt diese Konzeption einerseits in die Nähe von Leo Trotzkis oft mißver-standener Idee der »Permanenten Revo-lution«, wendet sie aber andererseits auch gegen die Sucher des sagenumwobenen »Dritten Weges«, gegen die sogenannten Spontis und »beleseneren unter den ›Auto-

nomen‹«, in dem er nüchtern die nicht nur aus Funk und Fernsehen bekannte Rolle der Partei hervorhebt: »Die Partei braucht die Gewerkschaften und den Streik, damit sie nicht zur bürokratischen Maschine mit dem alleinigen Daseinszweck der Siche-rung von Parlamentspfründen für Profipo-litiker erstarrt, der Massenstreik und die Gewerkschaftsbewegung aber brauchen die Partei, weil nur deren Umtriebe ihnen einen programmatischen Fokus zu geben in der Lage sind, damit sich das Streikge-schehen nicht in ermüdenden Pfennigfuch-sereien, in der Illusion von Sozialpartner-schaft mit Armdrücken erschöpft«.

Das ausgesucht Schöne, politisch be-sonders Wertvolle an Daths 142-Seiten-Büchlein besteht darin, wie er jenseits zähfließender akademischer Diskur-se Rosa Luxemburg aus der gängigen Rezep tionsfolklore herausschält, die Lu-xemburgs »Passionsgeschichte« bis hin zu ihrem »schrecklichen Tod« 1919 als Gütesiegel für den eigenen romantischen Moralismus pervertiert, der sie vor allem dafür liebt, daß sie niemals an der Macht war. Dath nennt das die »Widersprüche des Pathetischen«. Die Femistinnen erin-nert er daran, daß für Luxemburg die Be-freiung der Frau nicht ohne die Kraft des organisierten Sozialismus zu denken ist. Denjenigen, die den »Eid« auf Luxem-burgs »Freiheit der Andersdenkenden« schwören, hält Dath entgegen, »wie wich-tig ihr als Voraussetzung für jede Art So-zialismus, und sei’s den demokratischten, massive Eingriffe in die gesamtgesell-schaftlichen Besitzverhältnisse gewesen sind«. Das gilt auch für die Postmodernen, etwa dem in den 80er Jahren populären Autorenduo Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, die sich auf Luxemburgs »Plu-ralismus« berufend, die »neuen sozialen Bewegungen« als geradezu revolutionär ausriefen, weil sie »zu den Kategorien der sozialen und ökonomischen Struktur quer-stehen« würden – gerade deshalb haben diese Bewegungen die bürgerliche Gesell-schaft auch nur bestenfalls atmosphärisch verändert. Die Verdammungen des »Lu-xemburgismus«, die in den kommunisti-schen Parteien zu Stalins Herrschaftszei-ten Mode waren, kann Dath nicht ernst-nehmen, Stalins Bedenken dagegen schon – für Dath richteten sie sich gegen Trotzki und nicht gegen Luxemburg.

Dath selbst begreift Luxemburg als hellsichtige ökonomische Analytikerin,

die das, was heute unter »Globalisierung« verstanden wird, schon im Blick hatte, und als eine dymamische Politikerin, der er mit Lenin vorwirft, die deutsche Sozialdemokratie zu spät gespalten zu haben. Und während Dath in seiner Ein-

führung in das Luxemburgische Denken deren »Leben Werk Wirkung« darstellt und diskutiert, entwickelt er indirekt sei-ne eigene politische Programmatik. Von welchem bundesdeutschen Intellektuel-len kann man das sonst noch behaupten?

Gegen das GewurstelSchluß mit der Folklore: Dietmar Dath hat eine Einführung in das Denken von Rosa Luxemburg geschrieben. Von Christof Meueler

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Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 junge Welt 8 l i t e r a t u r

Im Berliner Bezirk Reinickendorf, Eichborndamm 179, befindet sich die »Deutsche Dienststelle (WASt) für die Benachrichtigung von nächsten

Angehörigen von Gefallenen der ehemali-gen deutschen Wehrmacht«. Die Einrich-tung wurde am 26. August 1939 gegründet, gelangte bei Kriegsende in die Hände der US-Armee und ist seit 1951 im Auftrag des Bundes eine Behörde des Landes Berlin. Zu den Beständen gehören laut Selbstdar-stellung u. a.: »Eine alphabetisch geordnete Zentralkartei mit über 18 000 000 Karteikar-ten von Teilnehmern des Zweiten Weltkrie-ges (Wehrmachtsoldaten und Angehörige anderer militärischer bzw. militärähnlicher Verbände). Über 100 000 000 namentliche Meldungen in den Erkennungsmarkenver-zeichnissen und Personalveränderungsli-sten der einzelnen Wehrmachttruppenteile aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Über 150 000 000 personenbezogene Meldun-gen in den Verlustunterlagen der einzelnen Wehrmachttruppenteile, sowie anderer mi-litärischer Verbände des Zweiten Weltkrie-ges.«

Die Kriegsverwaltung ist auch 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aktiv. Im Internetlexikon Wikipedia heißt es über die »Deutsche Dienststelle«: »Auch jetzt sind noch Anfragen möglich; so kön-nen z. B. deutschstämmige Aussiedler (u. a. aus Polen) ihre Abstammung nachweisen, wenn ihr Vorfahre in der Wehrmacht gedient hat.« Das Jahr 1990 hat offenbar nicht nur die Aktensammlung des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), sondern auch die Wehrmachtshinterlassenschaften zum Ge-genstand größeren Interesses gemacht. Der Unterschied: Die Wehrmachtsaktenbehörde kennen wenige, das MfS ist fast die einzige Quelle dessen, was hierzulande »investigati-ver Journalismus« heißt.

Wer die zitierten Daten und Übriges zur WASt noch nicht kennt, kann sie im neuen Roman Hermann Kants »Kennung« nach-lesen. Die durch Gründungsgeschichte und Bestandsumfang monströse Einrichtung spielt dort mit: Ihre Existenz löst die Hand-lung aus, und sie wird Gegenstand eines merkwürdigen Verwirrspiels, inszeniert vom MfS mit dem »aufstrebenden Litera-turkritiker« Linus Cord als Hauptperson. Der wird im März 1961 an seiner Wohnungs-tür von einem MfS-Mitarbeiter gefragt, ob er die Nummer seiner Erkennungsmarke noch kenne, jenes Ovals aus einer silbrigen Metallegierung, das um den Hals gehängt auch heute noch Bundeswehrsoldaten die

Gewißheit verschafft, daß ihr Verbleiben als Leiche auf irgendeinem Schlachtfeld lang-fristig dokumentiert werden kann. Der Li-teraturmensch vom Jahrgang 1927 verneint die MfS-Frage, und die nächste folgt: Ob er bereit wäre, in der »Deutschen Dienst-stelle« fürs Ministe rium nachzufragen. Er

bevorzugt aber gegenseitiges »Voneinander-absehen«, woraufhin das Ministerium sich gleich durch drei Offiziere repräsentieren läßt, die verlauten lassen, in seinen, Cords, Kreisen, sage man: »Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. In unseren Kreisen sagt man: Ein Kontakt ist ein Kontakt ist ein Kontakt. Bei uns ist ein Kontakt eine Rose. Er ist ein Wert, der sich selbst definiert.« Vergessen unmöglich, aber gestattet.

Das Durcheinander, in das der Kritiker gestürzt wird, ist komplett. Wozu der Mum-menschanz dient, weiß er nicht, aber die Fra-ge beschäftigt ihn von da ab bis zum Ende

dieses auf die »Verwirrung des aufstreben-den Kritikers Cord« angelegten Spiels. Sei-ne Grübeleien über Erlebniss aus dem Zwei-ten Weltkrieg und seinen Lebenslauf vom Gleisarbeiter zum Literaturwissenschaftler bringen ihn von der Schreibmaschine und seinem Essayversuch ab. Um dem Durchein-

ander zu entgehen, will er auf eigene Faust die »Deutsche Dienststelle« aufsuchen und gerät nun erst recht ins MfS-Kunstwerk: Die Staatssicherheit enttarnt Kant in diesem Ro-man als als ein l’art pour l’art-Unternehmen, als eine Formalismus-Veranstaltung, deren inhaltistische Auflösung sich allerdings zum guten Schluß des Romans einstellt. Denn die Verwirrung und daraus resultierende Ar-beitsunfähigkeit des Literaturkritikers war das Ziel der Aktion, angeordnet allerdings nicht vom MfS, sondern von der SED-Füh-rung, um Schriftstellern eine Lektion zu erteilen: Die Partei hält nichts vom »allwis-

senden Erzähler«, weil sie das Attribut für sich allein beansprucht. Das MfS aber erfüllt den Auftrag weisungsgemäß, ist aber darum bemüht, den Literaturkritiker nicht zu be-schädigen und am Ende über alles aufzuklä-ren. Das ist ironisch-skeptisch abgehandelt, behandelt aber einen »Grundsatzstreit«: Die Vernichtung oder mindestens Verhinderung von Kunst mit manchmal künstlerischen Mitteln aus politischen Gründen. Der Erzäh-ler in »Kennung« nimmt nämlich Bezug auf die Beseitigung eines Wandbildes, das der Maler Horst Strempel 1948 für die Schalter-halle des Bahnhofs Berlin-Friedrichstraße angefertigt hatte und das nach Formalismus-vorwürfen 1951 übermalt worden war. Der Einfluß der Mächtigen, heißt es, habe hin-gereicht, »die Kunst gründlich ausstreichen zu lassen«. Ob der Literaturkritiker von 1961 nach der »Lektion« wieder zu seiner Arbeit findet, läßt der Roman offen.

Die Identität der Gegensätze auf dem Feld von Politik und Kunst, das hier abge-handelt wird, ist u. a. in einen chinesischen Witz gekleidet, der öfter im Buch erwähnt wird. Der MfS-Frager bringt ihn eingangs ins Spiel, nämlich »die Geschichte, wo der Verurteilte erst merkt, daß er tot ist, als der Henker ihm sagt, er soll mal nicken«. Der Philosoph Odo Marquard meinte ein-mal, nachdem er diesen Witz einem Vortrag vorangestellt hatte: »Mich interessiert, was dieser Kopf denkt, bevor er nickt; denn das müßte doch Ähnlichkeit haben mit Gedan-ken der Philosophie über sich selbst.« Mar-quard meinte skeptisch-resignativ, mehr als »Inkompetenzkompensationskompetenz« komme dabei, bei Philosophie nach dem Ende ihrer Zuständigkeit für Allwissenheit, nicht heraus, also das Eingeständnis der ei-genen Inkompetenz. »Kennung« blickt auf die real-sozialistisch-westberlinische Fabel am Schluß mit einer ähnlichen Haltung: Der letzte Satz des Romanerzählers über Linus Cord, der den abziehenden, ihm gegenüber allen Wirrwar aufgeklärt habenden MfS-Genossen fast nachzuwinken geneigt war, lautet: »Obwohl er bei Gott nicht allwissend klingen wolle, rate er überdies herzlich dazu, vorerst von jeglichem Nicken abzusehen.«

Was so einer denkt, der von den eigenen Leuten fast arbeitsunfähig gemacht wurde, hat mit Gedanken über Sozialismus und Kunst zu tun. So etwas wie die »Deutsche Dienststelle« ist dabei keine zufällige Staf-fage. Die »Deutsche Dienststelle« arbeitet noch, der Kalte-Kriegs-Furor drumherum ist virulent, Sozialismus und Kunst kommen derzeit nur im Roman zueinander.

Ein Kontakt ist ein KontaktDie DDR-Staatssicherheit, die Kunst und die immer noch real existierende Wehrmachtauskunftstelle spielen die Hauptrollen im neuen Roman Hermann Kants. Von Arnold Schölzel

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junge Welt Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 9l i t e r a t u r

Alena Williams’ Buch ist zu-nächst mal wie eine Installa-tion organisiert, quasi dreidi-mensional. Wir müssen uns das

architektonisch vorstellen. Beispiel: der Glaspavillon der Volksbühne vor zwei, drei Jahren. Daß das Buch zweidimensional ist, schadet nichts. Unsere Vorstellung liefert die dritte Dimension. Soweit die Organisa-tionsfrage. Und nun zum Inhalt.

Alena Williams probiert in »Light is a Kind of Rhythm« aus, ob nicht manches aus den frühen Avantgardejahren des Films superaktiv und knackig jung geblieben ist und sich in aktuellen Werken, Bildern, Auf-tritten, Artikeln von Leuten unserer Zeit wiederfinden läßt. Ergebnis: diese Moder-ne lebt, und sie hat sich nicht nur unter-einander, sondern auch mit Zuschauern und Lesern vernetzt. – Glaubt mir jemand nicht? Ich geb’ ja nur weiter, was der allen junge Welt-Lesern wohlbekannte Wolfgang Müller (Tödliche Doris) zur handgemach-ten Bilderproduktion sagt, mit der seine Gruppe es in die documenta 8 schaffte. »Die Farbe trugen wir wie Arbeiter auf, nicht wie Künstler. Besucher der Galerie Zwinger, Journalisten inklusive, bemalten die Leinwände mit uns zusammen«.

Erzeugen, was lebt. Das ist der Netz-werkgedanke, der in den achtziger Jahren aufkam. Der zündende Funken. Das Auf-blitzen, wie es die Architektur des Glas-pavillons am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin bewerkstelligen sollte. Mir schiebt sich jetzt die einschlägige Installation aus dem »Metropolis«-Film von 1925/26 da-vor. Schön zu sehen, wie’s funkt und die Maschine Mensch wird. Rezeption ist mo-bil. Wie verschiebt sich die Wahrnehmung von Bild und Kunst in den Jahrzehnten? Darum geht es Alena William. Der Glaspa-villon war für sie der zündende Funken.

Neben Wolfgang Müller hat sie fünf andere aktuelle Künstler für ihre Licht-apparatur interviewt: Jan Hammer, Jutta Koether, Matthias Müller, Andreas Wutz. Doch bevor ich weitere Blitzerkenntnisse referiere, sollte ich was zur Autorin sa-gen und dazu, daß das Buch auf englisch geschrieben ist. Die Antwort ist einfach. Alena Williams, 32, ist in Denver, USA, geboren und schreibt grade ihre Doktor-arbeit für die New Yorker Columbia-Uni-versität. Sie schreibt in Berlin, wo sie lebt und arbeitet. Gegenwärtig als Mitglied der Forschungsgruppe Mediale Historiogra-phien an der Bauhaus-Universität Weimar. Vor zwei Jahren war sie Stipendiatin der Akademie Schloß Solitude in Stuttgart. Was erklärt, daß ihr Buch dort verlegt wird. Ich behaupte an dieser Stelle, daß ihr Werk mehr als ein Buch ist, nämlich, so stelle ich mir vor, eine begehbare Installation, in der sich die für das Aufblitzen erforderliche Spannung aufbauen kann.

Infolgedessen ist das Werk offen, das heißt ungebunden. Zehn großformatige Ausstellungsstücke erfreuen den Betrach-ter, darunter sorgfältig gedruckte Bilder

der Filmkunstavantgarde der zwanziger Jahre (Man Ray, Hans Richter), vernetzt mit denen unserer Interviewten. Und nun noch mal die beliebte Frage: Was soll das eigentlich bringen, der Kontakt mit den alten Dingen, demnächst hundert Jahre alt? Tja, Wolfgang Müller fragen! Aber jetzt im Ernst: Es könnte doch sein, daß der zündende Funken was zum Vorschein bringt, auf das wir alle warten. Auwei, ich bin jetzt beim guten, alten Ernst Bloch gelandet. Sein Prinzip Hoffnung ist so was von passé. Moment mal. Das mit dem

Glaspavillon erhoffte Aufblitzen, dem An-liegen eines realen Forschungsinstituts, ist ja wohl eine schon kollektive aktuelle Er-wartung – mangels anderweitiger Zielvor-gaben, Utopien oder wie auch immer.

Diskursiv hat sich Williams der »Be-wegung im Bild: Deutsche Ästhetik und moderne Kultur 1915–1930« gewidmet (Buchkapitel 2). Auch hat sie eigens die zentralen Aufsätze von Kracauer ins Eng-lische übersetzt (Kapitel 7). Anschaulich aber wird ihr Vorhaben im Fragen-Antwor-ten-Spiel der Interviews. Jan Hammer ver-

netzt vergangene ästhetische Experimente mit gegenwärtigen, spürt Subtexte auf und »verbindet in der Wahrnehmung Künstler, Betrachter und das bewegte Bild selbst«.

Wie das geht, kriegen wir noch genauer zu hören bzw. zu lesen. So im Kapitel Jutta Koether, die ja die exakte Gegenbewegung zur Autorin Alena Williams machte. Ko-ether ist Kölnerin, war Redakteurin und Mitherausgeberin von Spex und lebt jetzt als ästhetische Identitätsvielheit in New York, als Malerin, Performancekünstle-rin, Musikerin, Schriftstellerin, Kritikerin, Theoretikerin und Lehrbeauftragte über-all, vormals in der jetzigen Universität der Künste in Berlin. Sie ist bereits in sich vernetzt. Und sie verfolgt das Ziel, unüb-liche Intimität zwischen Betrachter und Künstler herzustellen, eine persönliche Vernetzung in Gestalt eines »experimen-tellen Expressionismus«. Was sie fordert, ist, sich einzulassen. Sich auf einen Raum einzustimmen. Deshalb muß der Raum stimmen. Sagt sie. »Der Raum beeinflußt die Präsentation eines Werkes enorm«. Pscht! »Die Bilder wollen was sagen«. Wir sind wieder bei der Architektur, dem nötigen Glaspavillon, dem Zuhören- und Zusehenkönnen. Bis es funkt. Und dann? »Mach ich aus Cézannes Frau ein Remake, mein Remake«. Das ist »leibhaftige Male-rei« (Koether).

Hab’ ich jetzt den einen oder anderen Leser überzeugt? Wir sind beim Remake dabei, aus etwas Gemachtem sein eigenes Ding zu machen. Das ist eine Aneignung, die das Alte (es braucht ja nicht gleich Cézanne zu sein) am Leben erhält, bitte schön, und mich noch dazu. Wer Filme sieht, und das ist ja das Thema des Willi-ams-Buches, findet das sowieso in Ord-nung. Das Remake.

Die Aneignung von Hollywood-Bil-dern zeichnet Matthias Müller (»Home Stories«) aus, derzeit Medienprofessor in Köln. Im Interview sagt er exemplarisch und von mir, so gut es geht, ins Deutsche übersetzt: »Mich interessieren Bilder, die semantisch derart aufgeladen sind, daß sie über das hinausgehen, was sie ursprüng-lich sagen wollten, found footage einge-schlossen. Die besetzten Bilder, die ich gebrauche, versuche ich am Leben zu las-sen, jedoch unter anderen Bedingungen: meinen Bedingungen. Um sich selbst im Fremden zu erkennen. (...) Um die Trenn-linien zwischen Fakt und Fiktion aufzuhe-ben, zwischen Ich und Nicht-ich«.

Ist das eine Botschaft? Es ist eine. Und sie ist für mich das glänzende Fazit eines Buches, das aus seinen installierten und in-szenierten Teilen eine aufregend funktio-nierende Wahrnehmungsanlage geworden ist, in der es herrlich zischt und funkt und zündet ... au, eine Botschaft, und damit es nicht bei der Hudelei bleibt, ein Tip für die Bedienung. Besser, man hört raus, ob ein Ding einem was sagt. Dann aber zugreifen und sich bereichern, ästhetisch und leib-haftig. Das geht in Ordnung.

Maschine wird MenschDurch alle Dimensionen: Alena Williams läßt es herrlich zischen, funken und zünden. Von Dietrich Kuhlbrodt

Alena Williams: Light Is a Kind of Rhythm. Merz&Solitude, Reihe Projektiv, Akademie Schloß Solitude, Stutt-gart 2010, 44 Seiten, 19 Euro

LUKAS MESCHIKAnleitung zum Festgeb., 240 Seiten, € 19.50[D]ISBN 978-3-902373-53-3

°luftschachthttp://www.luftschacht.com

Um zwischenmenschliche Erschütte-rungen, die scheinbare Unmöglichkeit der Zweisamkeit, um die Unverbind-lichkeit im Wirrwarr der Möglichkeiten und das dennoch überschwängliche Bekenntnis zum Fest Leben, darum geht es in diesen Geschichten.

Israel Shahaks Buch ist inzwischen zum Muss-Buch geworden, für jeden der sich mit der ethi-schen und moralischen Situation in Israel beschäf-tigt. Er führt die heutige Grausamkeit nicht zuletztauf die Quellen des Judentums zurück.

ca. 240 Seiten, Paperback.Format 14 x 21 cm.ISBN 978-3-9813189-1-314,95 EUR (incl. 7% USt. + Versand)

Alice Rothchild wuchs in einer Familie, die vomTrauma des Holocaust gekennzeichnet und des-halb Israel verpflichtet war. Das Buch beschreibtihre Erfahrungen, die sie in der nüchternen israeli-schen Realität gesammelt hat, die Komplexität derisraelisch-jüdischen Lebensweise und die Härteund Grausamkeit in der die Palästinenser leben.

ca. 300 Seiten, Paperback. Format 14 x 21 cm.ISBN 978-3-9813189-2-019,95 EUR (incl. 7% USt. + Versand)

Uri Avnery schrieb dieses Buch vor vierzig Jahrenund wir waren alle erstaunt festzustellen, dass esauch heute noch Wort für Wort gültig ist. Avneryhat ein zusätzliches Kapitel für die neue deutscheAusgabe geschrieben, in dem er die Ereignisse re-kapituliert und einen Blick in die Zukunft wagt.

ca. 300 Seiten, Paperback. Format 14 x 21 cm.ISBN 978-3-9813189-0-619,95 EUR (incl. 7% USt. + Versand)

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Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 junge Welt 1 0 l i t e r a t u r

Die zwanghafte Lüge, die Mytho-manie, ist das erste Mittel des Schriftstellers. In der Medizin

gilt sie als Zeichen für kognitive und psychoaffektive Unreife, als narzistische Persönlichkeitsstörung; den Betroffenen fällt es schwer, Reales von Imaginärem zu unterscheiden. Der Roman jedoch freut sich an der Fabuliersucht seiner Meister, das Adelsgeschlecht derer von Münchhausen hält die Hand über ihn. Wie aber steht es um die Autobiographie? Wieviel Lüge verträgt sie? Genauer: Wie viel Lüge verträgt die Autobiographie als Roman? Denn genau dies macht Chri-stopher Isherwood mit seiner erstmals 1938 erschienenen Biographie »Löwen und Schatten«. Wie Edward Upward mit seiner autobiographischen Trilogie »The Spiral Ascent«, wie Albert Camus mit »Der erste Mensch« schreibt Isherwood einen Roman der realen Begebenheiten – a novel of fact. Sein Stoff: Etwas Schule, etwas Studium, etwas Bohème – und viel Britishness. Eine englische Jugend in den Zwanziger Jahren.

Alles, was der Kontinentale sich ganz und gar englisch denkt, hat denn auch seinen Auftritt: Tweed-Jackets und Pfei-fen, Bridge, Golf und Rudern, qualmende Kamine, Debattierclubs, Collegegespen-ster, und auch Trimesterfeiern mit But-terschlachten – die Welt der diplomierten Inselexzentriker en gros. Und so sehr auch die »patentiert-parfümierten Mundwas-ser« freuen mögen, das »blutsaugerisch blasierte Ungeheuer Cambridge« amüsiert – es lockt nicht. Auch dann nicht, wenn über die »Ritterlichkeit in der englischen Literatur« extemporiert wird, während man wohlgefällig Mitschüler züchtigt – »Ich glaube nicht, daß ich ihm sehr

wehgetan habe«. Was die Aufzucht von Autorität durch institutionalisierte Gewalt und Demütigung, diese ganze paramilitäri-sche Hackordnung der Colleges, wirklich bedeutet, in welche Abgründe sie führen kann, privat und gesellschaftlich, das sollte uns erst viel später beigebracht werden – besonders scharf in Lindsay Andersons Film »If«. Kein Wort davon bei Isherwood, kein Ahnen, kein Argwöhnen, das Massa-ker von Colum bine ist noch fern.

Aber das Dichten, und die Dichter! Zu-allererst Mortmere, das ist Englishness at its best. Zwei hochfahrende Cambridge-Jünglinge, Isherwood und Allan Chal-mers, phantasieren sich eine »Andere Stadt«. Mortmere, das ist ein aus Dürers Melencolia I entwachsenes Pandämoni-um schrulliger Figuren, als Gegenwelt erbaut zum Ennui des Studierens, eine literarische Kreuzung aus Tim Burton und Terry Gilliam und gleichzeitig so etwas wie die Geburt des Schriftstellers aus dem Geiste des höheren Unfugs. In Mortmere bevölkern skurrile Wesen skurrile Räume: paralytische Säuglinge, engelzüchtende Pfarrer, auf Einbruch dressierte Schlangen, in Nekrophilen-bordellen und Rattenhospizen, allesamt surrealistisch verzerrt und ineinander verwoben, spleenig, bukolisch, obszön, und vor allem: »rattenhaft« – das höch-ste Lob. Le mot juste ist die Lösung

aller Probleme. Hitler putscht gerade in München.

Allan Chalmers, das ist Edward Upward. Und so, wie sich hinter Chalmers, mit dem Isherwood eine Art geheimbündlerische »Gesellschaft für gegenseitige Bewunde-rung« bildet, Edward Upward verbirgt, der poetisch-revolutionäre Dichter von »Reise an die Grenze«, so heißt Hugh Weston, die-ser frühreif-altkluge ungewaschene Typ mit der »überlegenen Unanständigkeit«, eigent-lich W. H. Auden, Englands späterer poeta doctus von allen Gnaden. Neben der Freak-Menagerie Mortmere sind es vor allem die wie beiläufig hingeworfenen Porträtminia-turen der literarischen Weggefährten Isher-woods, der sogenannten Auden-Genera-tion, die begeistern. Stephen Spender, alias Stephen Savage, war ein Freundesgenie, »von tobender Fröhlichkeit – es war wie die Umarmung eines enormen Bären«.

Und natürlich ist »Löwen und Schat-ten« auch eine éducation sentimentale, zuvorderst die eines Schriftstellers. Von der Chimäre Mortmere im Stich gelas-sen – die pubertär-manirierten Concetti tragen nicht mehr –, gilt es, erwachsen zu werden als Künstler. Der zeitweilig über-geworfene »schwarze Byronsche Exilan-tenmantel« wird abgelegt, der neurotische, gingetränkte Jüngling, der sich in drama-tisch-düsterer Dichterpose gefällt und den »Roman als Taschenspielerei« begreift,

lernt Adjektive zu zügeln und die Fallstrik-ke des Romanciers zu umgehen. 24 Jahre alt ist Isherwood, da erscheint sein erster Roman – »und die Straßen waren voll flat-ternder Fahnen«.

Und die Lüge? Wie steht es um das Lügengespinst, das Mythomane in dieser Autobiographie, in diesem »Roman«? Wenn wir E. M. Forster folgen, der auf die Frage, was einen Roman ausmache, so herrlich unkompliziert antwortet: »Yes – oh dear yes – the novel tells a story«, dann müssen wir Isherwood enttäuschen: Nein, eine Geschichte erzählt er nicht, so oft er auch fiktive Namen verteilt und sich selbst in der dritten Person als Roman-figur gestaltet. Wenn aber einen Roman schreiben heißt, lügen zu können, um die Wahrheit zu sagen, dann soll Isherwoods Autobiographie, in der wohl, wie in jeder Selbstbetrachtung, Realität und Imagina-tion gehörig vermengt werden, einzig um das Geheimnis des Lebens geschickt zu verhüllen, getrost als Roman gelesen wer-den – selbst wenn der Charme des Banalen einen dafür etwas zu oft in den Bann zieht.

Ach ja, noch eins: der Sex. Schließlich geht es um eine recht testosterone Zeit, das Mannesalter zwischen 17 und 24. Es gibt ihn nicht. Spröde und altjüngferlich lebt er in London und Cambridge dahin, zu dick noch sind die »Eisschichten puri-tanischer Erziehung«. Seine Freunde: »Du stirbst noch als ängstlicher verrunzelter Peter Pan«. Am 14. März 1929 jedoch, das Datum markiert das Ende von »Löwen und Schatten«, reist Isherwood mit dem Nachmittagszug nach Berlin; er will ein unartiger Junge werden. Und es wird ihm gelingen – »in dieser erstaunlich lasterhaf-ten und doch im Grunde so respektablen Stadt«

Als Übersetzer von US-Under-ground-Literatur, vor allem von William S. Burroughs und Charles Bukowski, hat

sich Carl Weissner einen legendären Ruf erschrieben. Dabei wird gelegentlich vergessen, daß er in den 60ern als Avant-gardeautor begonnen, mit Jörg Fauser, Jürgen Ploog und Walter Hartmann zu-sammen das innovative, die westdeutsche Popliteratur maßgeblich beeinflussende Literaturmagazin Gasolin 23 herausge-geben und sogar mit Burroughs Cut-up-Kollaborationen veröffentlicht hat.

Nach einigen englischen Publikatio-nen erscheint jetzt seine erste selbstän-dige deutschsprachige Veröffentlichung. »Manhattan Muffdiver« ist eine Art E-Mail-Tagebuch. Der Ich-Erzähler – oder ist es der Autor selbst? – reist im Sommer 2007 für zwei Monate nach New York, um einen Roman zu schreiben über einen Pa-riser Krimischriftsteller mit Gedächtnis-verlust, der langsam den Verstand verliert. Dieses Projekt kommt nicht recht voran und wird überlagert von einem weiteren Text über eine »Bande von Nekrophilen« im Untergrund von Manhattan. Nebenbei streift der Erzähler auch noch durch New York, das in diesen Tagen tatsächlich den Eindruck einer »Nekropolis« erweckt. Vielleicht ist es auch nur die selektive Wahrnehmung des Berichterstatters, aber Tod und Verderben liegen über dieser Stadt wie ein weißes Tuch.

Mit seiner Freundin Lin steht er »am Nordzaun von Ground Zero, rechts von der Besucherterrasse mit Fotoausstellung, wo sie das geplante Mahnmal im Modell vor-stellen und um Spenden werben ... jeden-falls, da schaut man durch den Zaun auf Berge von frisch herangekarrter Erde ...« Er fragt sich, was die Erde zu bedeuten hat,

und da gewährt ihm Lin Einblick in »die abgeklärte chinesische Sicht der Dinge«: »Bis das hier alles zubetoniert wird, ver-schafft man den Angehörigen der zu hun-dert Prozent Verschwundenen, aber auch sonstigen Traumatisierten die Illusion, daß sie hier ihren eigenen Friedhof haben; und ein Friedhof muß auch riechen wie ein Friedhof, sonst wird er nicht geglaubt. Da-her der Humus.«

Das Buch ist voll von solchen sinistren Annotationen und Beobachtungen zu den notorisch absonderlichen Weltläuften. Und man kann Weissner nicht vorwerfen,

er sei ausschließlich an der US-Passions-geschichte interessiert – oder versuche sie als Exkulpation für die außenpolitischen Verbrechen der US-Regierung zu instru-mentalisieren. Mit Vorliebe zitiert er Bu-sh-Fresser wie Gore Vidal (»Verglichen mit dem Abschaum, den wir heute im Weißen Haus haben, fängt sogar Richard Nixon an, gut auszusehen«) oder Sean Penn (»Die Kriminellen, die diesen Krieg im Irak angefangen haben – Bush, Che-ney, Rice, Wolfowitz, Colin Powell – ge-hören alle ins Zuchthaus«). Und er stellt die Szenen aus dem realen Horrorfilm, bei dem die USA direkt oder indirekt Regie geführt haben, immer wieder dem großen 9/11-Nekrolog entgegen. So be-richtet er noch vor seinem Besuch des New Yorker Massengrabs von einer Infor-mationsveranstaltung über die desolaten Verhältnisse im Irak.

»Wir erfahren, daß es in Bagdad maxi-mal vier Stunden Strom pro Tag gibt, und da sich im Kühlschrank nichts hält, muß man zweimal am Tag auf den Markt, der

sich daher besonders gut eignet, um die Bevölkerung mit Autobomben zu terro-risieren. Nach der Bombe neulich, 130 Tote, zahllose Verletzte, bot sich folgen-des Bild. Es erscheinen die Angehörigen derer, die einkaufen gegangen sind, und bilden einen Kreis um Ground Zero. Sie rufen die Handynummern der Vermißten an. Wenn man großes Glück hat, ist die untere Hälfte des Toten noch intakt und leicht zu orten, denn in seiner Hosenta-sche klingelt das Telefon. Dann muß man anstehen vor dem Bereich, wo die abge-rissenen Köpfe in Reihen gestaffelt auf Identifizierung warten. Mit den restlichen Körperteilen wird es dann sehr schwierig. Das CNN-Team, das beim Einmarsch in Bagdad ganz vorne dabei war, hatte einen Kanarienvogel mitgenommen, der vor Giftgas warnen sollte (nämlich dadurch, daß er tot umfällt). Sie nannten ihn Stirb langsam, Teil 2.«

An einer Stelle spricht der Erzähler, den man wohl guten Gewissens mit Weis-sner identifizieren kann, von dem »Drang, in allem die Fiktion zu sehen«. Verständ-licherweise, muß man wohl sagen, an-gesichts solcher Realitäten. In der Nach-folge Burroughs’ und nicht zuletzt J. G. Ballard schreibt er auch noch bzw. gerade dann mit, wenn sich die rationalen Kate-gorien auflösen, die Wirklichkeits ebenen ineinanderschieben, wenn das Hallu-zinatorische in eine Welt einbricht, die selbst schon Züge eines Alptraums trägt. Und so transformieren sich kaustische Stadtreportage, kulturkritisches Journal und poetologischer Rechenschaftsbericht am Ende mehr und mehr zu einem verstö-renden Fiebertraum. Weissner versucht, die Dissoziationserscheinungen des Er-zählers, formal durchaus folgerichtig, mit Cut-up-Montagen abzubilden. Wer

davon überfordert ist, der kann »Man-hattan Muffdiver« zumindest über wei-te Strecken schlicht als überaus komi-sches Sudelbuch lesen, das immer wieder hübsch polemische Ausfälle gegen den politisch-kulturellen Mainstream enthält. Man hat seinen Spaß daran, obwohl man natürlich mit gemeint ist. Etwa wenn er seinen Romanhelden über das »deutsche Feuilleton, angeblich das beste der Welt«, lästern läßt. »Die Zeitgeistbeschwätzer, die schwammigen Mannschaftskapitäne des Deutungsdenksports: Zeitverschwen-der ... Um 1800 haben sie in Mainz bei Hinrichtungen noch das Blut der frisch Geköpften gesoffen, für einen Gulden pro Becher. Das sagt alles. (Tut es natürlich nicht, aber man muß auch mal zum Punkt kommen.) Die Bachmann, wegen Pythia-Gehabe gescholten, um auch das noch zu sagen, hatte 13 Dioptrien. ›Nach zwei Me-tern begann für sie die Undurchdringlich-keit der Welt‹, rhapsodiert eine Freundin von früher. Es würde reichen, wenn man sagt, sie hat schlecht gesehen.«

Offenbar rät ihm einer seiner befreun-deten Mail-Empfänger, aus diesen Kom-mentaren ein Buch zu machen. Weissner: »Als Buch? Nein. Sehe ich nicht. Solche Meldungen sind den Eingeborenen da-heim eher unangenehm. Erstens wegen des radikalkabarettistischen Ansatzes, der die meisten stimmungsmäßig überfordert. Zweitens, weil mein Produkt stilistisch um Klassen besser ist als die Erzeugnisse der Konkurrenz, und das gilt automatisch als affig.« An fehlendem Selbstvertrauen scheint es also nicht gelegen zu haben, daß man in all den Jahrzehnten hierzu-lande kaum mehr etwas von ihm lesen konnte. Zumindest einige Eingeborene daheim dürfen sich freuen, daß es nun anders ist.

Riecht nach FriedhofCarl Weissner berichtet in »Manhattan Muffdiver« aus der Nekropolis New York. Von Frank Schäfer

Carl Weissner: Manhat-tan Muffdiver. Meldun-gen aus New York. Mile-na, Wien 2010, 162 Seiten, 17,90 Euro

Endlich unartigChristopher Isherwood durchbricht die »Eisschichten puritanischer Erziehung« und flunkert sich eine Autobiographie zurecht. Von Ingo Flothen

Christopher Isherwood: Löwen und Schatten – Eine englische Jugend in den Zwanziger Jahren. Aus dem Englischen und mit einer Einleitung von Joachim Kalka. Beren-berg Verlag, Berlin 2010, 320 Seiten, 25 Euro

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junge Welt Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 1 1l i t e r a t u r

Eine frühe Gemeinschaftsarbeit von William S. Burroughs und Jack Kerouac, bislang unbe-kannt und jetzt erstveröffent-

licht, das klingt wie eine mittlere Sensa-tion – und das ist es eigentlich auch.

Hinter der späten Publikation dieses Prä-Beat-Romans verbirgt sich jedoch keine mysteriöse Manuskriptgeschichte à la »findiger Forscher entdeckt Text auf Dachboden«, sie hat vielmehr handfe-ste personenschutzrechtliche Ursachen. Denn Burroughs und Kerouac verarbei-teten in »Und die Nilpferde kochten in ihren Becken« einen realen Mordfall, der sich in ihrem Bekanntenkreis zugetragen hat. Der junge Lucien Carr hatte im Au-gust 1944 den älteren Homosexuellen Da-vid Kammerer erdolcht und seine Leiche in den Hudson River geworfen. Daraufhin offenbarte er sich zunächst William S. Burroughs, dann Jack Kerouac, bevor er sich der Polizei stellte und zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, von denen er aller-dings nur zwei absitzen mußte.

Eine ganze Reihe von Autoren verar-beiteten diesen damals hochbrisanten Stoff, Burroughs und Kerouac, die diese Geschichte aus unmittelbarer Nähe erlebt hatten, versuchten einen »Hard-boiled«-Krimi daraus zu machen, was ihnen zum Glück nicht gelang. Statt dessen ist eine hochinteressante, literarische Sitten- und Milieustudie entstanden, abgefaßt in ei-nem neutral-existentialistischen Stil, der verhinderte, daß sich seinerzeit ein Verle-ger dafür interessierte. Heute aber bürgt gerade diese unterkühlt-zurückgenomme-

ne Darstellung dafür, daß »Nilpferde« als ein literarisches und sozialgeschichtliches Dokument ersten Ranges erscheint.

Natürlich wäre es den beiden Autoren, Ende der fünfziger Jahre zu Weltruhm ge-langt, später ein leichtes gewesen, den Ro-man herauszubringen – jedoch Burroughs und Kerouac, und nach ihrem Tod die Nachlaßverwalter, verzichteten darauf,

jenen Lucien Carr, der inzwischen mit geändertem Vornamen als Nachrichten-mann Lou Carr berühmt geworden war, zu desavouieren.

Erst nach Carrs Tod, nach dem Ableben sämtlicher Beteiligter an den damaligen Ereignissen, übernahm es Burroughs’ langjähriger Lebensgefährte und Nach-laßverwalter James W. Grauerholz, den Text für die Veröffentlichung vorzuberei-ten. Über die Umstände und Hintergrün-de berichtet er in einem ausführlichen Nachwort, das der deutschen Ausgabe dankenswerterweise beigefügt ist.

Der Text selbst ist alles andere als ein schwaches Frühwerk der beiden großen Beatautoren, beide wählten sich Autony-me, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird: Für Burroughs’ ist es der obercoole Will Dennison, ein Barkeeper mit Un-tergrundkontakten, für Kerouac spricht der Seemann Mike Ryko. Auffällig ist schon, daß die Burroughs-Teile härter, zynischer, unerwarteter, kurz: besser und auch sprachlich präziser sind, was nicht verwundert, wenn man das Werk beider Autoren im historisch-kritischen Rück-blick unvoreingenommen betrachtet.

Die Handlung ist minimal, sie dreht sich um die weitgehend sinn- und funkti-onsentleerten Tagesabläufe der Protago-nisten, Ryko und sein Kumpel Phillip besuchen mal jenen Freund, mal diese Freundin, um die Vorräte wegzufuttern oder in Bars und Restaurants abzuhängen und sich auf Kosten anderer zu betrinken. Unter anderem liegen sie Dennison auf der Tasche, der aufgrund seines Barjobs immer über etwas Geld verfügt. Sie reden über Literatur, über Rimbaud, den Sur-realismus, ohne wirklich selber etwas zu tun. Die jungen Bewohner dieser Vierzi-ger-Jahre-Boheme-Welt erscheinen kaum mehr als lose miteinander verbunden, niemand pflegt engere Kontakte, weder emotional noch intellektuell, sie treiben von hier nach da, wohin ist eigentlich gleichgültig. Ramsey Allen, der für das spätere Opfer David Kammerer steht, ist hoffnungslos in den heterosexuellen Phil-lip verliebt, der ihn an der langen Leine

hält, sich seiner aber gerne bedient, um Geld, Getränke oder Essen abzustauben.

Der Schauplatz dieser Nichthandlung ist das New York der Kriegszeit, Matro-sen auf Landurlaub fallen betrunken in Kneipen ein, auch Phillip und Mike Ryko wollen anheuern und an die Front gehen. Allerdings planen sie, in Frankreich an-gekommen, sich heimlich von Bord zu schleichen und in Paris eine romantisch imaginierte Poetenexistenz zu führen. Indes, die beiden Möchtegernmatrosen schaffen es einfach nicht fortzukommen. Schließlich ereignet sich die Katastrophe: Ramsay Allen, der den beiden folgt wie eine Klette, ebenfalls anmustern möchte, um nicht von Phillip getrennt zu wer-

den, wird von diesem mit einem Beil erschlagen und von einem Hochhausdach geworfen – eine literarische Verwandlung des tatsächlichen Tathergangs. Wie Carr und Kerouac in Wirklichkeit aber streifen Phillip und Ryko nach dem Mord einen ganzen Tag durch die Stadt, als sei gar nichts geschehen. Hier erweist sich der existentialistische Unterton des Romans am stärksten, beide sind sich und der Welt fremd, und was geschieht, ist im Grunde egal, weil sowieso alles egal ist. Übersetzt hat das Buch Michael Kellner, und das hat er gut gemacht, denn es liest sich wie aus einem Guß, in einer Sprache, einfach und schnörkellos, wie man sie nur von Beats kennt.

An der langen LeineGott sei Dank kein »Hard-boiled«-Krimi: William S. Burroughs und Jack Kerouacs gemeinschaftliche Aufarbeitung eines wahren Falls. Von Enno Stahl

William S. Burroughs/Jack Kerouac: Und die Nilpferde kochten in ihren Becken. Aus dem Amerikanischen von Michael Kellner. Nagel & Kimche, Zürich 2010, 189 Seiten, 17,90 Euro

Gerd FuchsHEIMWEGEIm Rückblick auf seinLeben kristallisiert GerdFuchs einzelne Geschichtenheraus, die eine Autobio-grafie aus Momentaufnah-men ergeben. Ein poeti-scher Rückblick auf dasWerden eines Schriftstellersund seine Zeit.Gebunden, € 19,90

Eyal WeizmanSPERRZONENIsraels Architektur der Besatzung

Am Beispiel derisraelischen»Raumordnung«in den besetztenGebieten wirdeine Architekturder Abgrenzungund Kontrolleaufgezeigt, dieweltweit zumEinsatz kommt: seies zur Aussperrungverarmter Bevöl-kerungsteile ausden Metropolenoder an den hoch-gerüsteten Gren-zen zwischenNord und Süd.»Sperrzonen zeigt die heutigen Kriegszonen mit ihremCocktail aus Gewalt, Medien, Politik und Extremismusals eine neue postmoderne Umwelt.« Financial TimesBroschiert, 384 Seiten, illustriert, € 24,90

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Howard ZinnSCHWEIGEN HEISST LÜGENAutobiografie

Howard Zinn, eineder wichtigstenPersönlichkeiten derUS-amerikanischenLinken, berichtetvon einem langenLebensweg derZivilcourage undUnbeugsamkeit:wie es war, arm inNew York City auf-zuwachsen, und wiedie Beobachtungvon Ungerechtig-keiten und dieRepression durchdie Polizei zu seinerRadikalisierungbeitrugen. Mit

dieser Autobiografie ist ein bewegendes Porträt einerEpoche entstanden. »Eine Geschichte und ein Geschichts-schreiber, die uns Hoffnung geben.« Alice WalkerBroschiert, 288 Seiten, € 22,00

Pino CacucciBESSER AUF DAS HERZZIELENPino Cacucci erzählt vomkurzen aber tatenreichenLeben des Anarchisten,Metallarbeiters, Chauffeursdes Krimiautors ArthurConan Doyle und erstenautomobilen BankräubersJules Bonnot.Gebunden, € 19,90

Marc ThörnerAFGHANISTAN CODEEine Reportage über Krieg, Fundamentalismusund DekmokratieZwei Jahre langhat der Autor inAfghanistanrecherchiert. DerIslamismus, soseine provokanteThese, bedrohtden »Westen«nicht, sondern istim Gegenteil einwichtiges Element,um westlicheHegemonie zusichern. »Werden neuenKolonialkriegam Hindukuschentschlüsselnwill, kommt am›Afghanistan-Code‹ nicht vorbei.« junge Welt»So beängstigend klar und so präzise hat man solcheFragen zu Afghanistan selten gelesen.« DeutschlandfunkNautilus Flugschrift. Broschiert, 160 Seiten, € 16,00

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Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 junge Welt 1 2 l i t e r a t u r

HUMOR/SATIERE

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junge Welt Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 1 3l i t e r a t u r

Vom Wahrsagen läßt sich’s wohl leben in der Welt, aber nicht vom Wahrheit sagen«, notierte Georg Christoph

Lichtenberg in seinen »Sudelbüchern«. Der Satz hat sein Verfallsdatum noch nicht erreicht, und wie es aussieht, galt er schon immer. Lichtenbergs Kollege Gerhard Henschel jedenfalls weist in sei-nem großen Essay »Menetekel – 3 000 Jahre Untergang des Abendlandes« überzeugend nach, daß professionelle Schwarzseherei, öffentliches Händerin-gen, fader Zivilisationspessimismus und gratismoralisches Früher-war-alles-bes-ser-Gebrabbel überhaupt keine neuen, aber traditionell höchst einträgliche Be-schäftigungen sind.

So alt wie das Abendland ist das Ge-rede über seinen Untergang – mit dem wahlweise jammernd, anklagend, im pa-thetischen Visionärston oder militant ge-droht wird. Das Erstaunlichste daran ist, daß der kalte Weltuntergangskaffee wie-der und wieder aufgetischt wird; es müßte sogar Apokalyptikern selbst irgendwann einmal auffallen, daß ihre Litaneien we-der singulär noch originell sind, sondern konfektionierte Massenware. Aber den Weltuntergangsfanatikern wird das Re-petieren ranziger Haßausbrüche auf alles, das außerhalb ihrer Kontrollwahnvorstel-lungen lebt und sich vollzieht, offenbar niemals langweilig. Was ja einiges über die Dürftigkeit und Zwanghaftigkeit der eukalyptischen Reiter aussagt.

Schon der Apostel Paulus sah das »En-de aller Dinge« ganz nah vor sich und behelligte den Teil der Menschheit, des-sen er habhaft werden konnte, mit uner-wünschten Regelwerken zur Einschrän-kung der Lebensfreude. Der Hauptan-klagepunkt, und daran hat sich bis heute nichts geändert, lautet: Fleischeslust. Die Menschheit, das hauen ihr säuerli-che Religionslehrer immerzu um die Oh-ren, sei wollüstig, sittenlos, verderbt und überhaupt ganz, ganz schlimm. Ja und?, könnte man sagen und sich wieder den irdischen Freuden zuwenden, doch die

Moralapostel ersetzen Überzeugungs-kraft durch Lautstärke, Penetranz und hohes Nervtötungspotential.

Die Quälgeister der halluzinierten Gesittung geben keine Ruhe, sie lassen nicht davon ab, Klügeren und Verträgli-

cheren Vorschriften zu machen, und die Deutschen können es offenbar ganz be-sonders gut. Martin Luther, der die Welt ins Elend des Protestantismus stürzte, als diese sich gerade vom Katholizismus befreite, forderte zum Abschlachten von Bauern auf, die es im Leben weniger hart und mühsam haben wollten. Seine Nachfahren waren und sind nicht weni-ger martialisch und gewalttätig; es ist auffällig, daß der Wunsch, anderen die Lebenslust zu beschneiden, mit großer Gewaltbereitschaft einhergeht. Gerhard Henschels Buch zeigt detailliert, daß Na-tionalismus, Rassenhaß und Antisemitis-mus die Kehrseiten der Lustfeindlichkeit sind. Je mehr einer den Sittenverfall bei anderen anprangert, desto mehr muß man sich vor ihm hüten.

Ausführlich, zitatgesättigt und souve-rän führt Henschel die Weltuntergangs-stimmung als Neurose lustunfähiger, freudenfeindlicher Nußknacker vor. Tho-mas Manns Gargel über das »psychisch Widerdeutsche« an der »menschlichen Zivilisation« wird dezidiert ausgebreitet; ein anderer Herrenmensch, Richard von Weizsäcker, wird als das Bild-Werbemo-del gezeigt, das er ist. Es muß wohl die »Ethik der Pflicht« sein, die der Wehr-machtsoffizier von Weizsäcker so gern beschwört. Was Henschel beispielsweise aus den Schriften Ernst Moritz Arndts, Oswald Spenglers, Rudolf Bahros und Reinhard Jirgls zutage fördert, ist ge-spenstisch, wird aber von Henschel so ge-konnt extrahiert und so klug und trocken kommentiert, daß seine Reise durch den Sittlichkeitswahn bei aller Schrecknis des ausgebreiteten Materials eben auch ein großes Vergnügen ist – das Vergnü-gen an einem klaren Kopf, der dem ver-schraubten, nöligen, heuchlerischen und haßerfüllten Schwurbel die heiße Luft abläßt.

Die Apokalyptiker rhabarbern, das ha-ben sie immer getan, sie können nichts anderes. Und was macht die Welt? Das einzig Richtige: Sie dreht sich weg. Sie dreht sich um. Sie dreht sich weiter.

Die eukalyptischen ReiterMit »Menetekel – 3 000 Jahre Untergang des Abendlandes« hat Gerhard Henschel eine Geschichte der Endzeitprophetie geschrieben: äußerst lehrreich und sehr lustig. Von Wiglaf Droste

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Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 junge Welt 1 4 l i t e r a t u r

Frauenland«, so der Titel des preisgekrönten Romans von Rachida Lamrabet, nennen die marokkanischen Männer

den europäischen Westen in der Annah-me, dort hätten die Frauen das Sagen. Demzufolge ist es für die meisten zwar ein willkommenes Abenteuer, sich mit erlebnishungrigen europäischen Touristinnen auf einen intensiven Urlaubsflirt einzulassen, jedoch werden die Männer als Loser be-zeichnet, die nach West europa aus-wandern. Besonders jenen wird Schwäche vorgeworfen, deren Mo-tivation die Liebe zu einer Frau ist. So wie bei Younes, einem jungen, romantisch veranlagten Literatur-wissenschaftler.

Er lernt die seit ihrer Kindheit in Bel gien lebende, junge Marokkane-rin Mariam während ihres alljähr-lichen Urlaubs mit ihrer Familie in Marokko kennen und lieben. Aus einer Laune heraus versprechen sie sich gegenseitig die Heirat. Wieder in Belgien vergißt Mariam Younes. Sie bricht mit ihrer Familie, hat ei-nen belgischen Freund, lehnt rigo-ros das Kopftuch ab und nennt sich fortan Mara. Sie ist beruflich erfolg-reich in der Politik und engagiert sich für die Rechte der Migranten, vor allem für die der Frauen. You-nes hingegen kann sie nicht vergessen, empfindet die Beziehung nicht als eine flüchtige Sommerliebe, schreibt ihr über die Jahre hinweg Hunderte von Briefen, die unbeantwortet bleiben, und bemerkt nicht, daß Faiza, ein Mädchen aus seinem Dorf, ihn für sich zu gewinnen sucht.

Was auf den ersten Blick wie ein belang-loser Beitrag zur Herzschmerz-Literatur und Folklore anmutet, entpuppt sich als eine bewegende Geschichte einer jungen Frau zwischen Selbst- und Fremdbestim-mung, zwischen Okzident und Orient,

zwischen Heimat und Heimatlosigkeit, zwischen Tradition und Moderne.

Nach Beendigung seines Studiums und fünf Jahren vergeblichen Wartens folgt Younes den Worten seines Vorbilds, de-nen des Dichters Khalil Gibran: »Wenn dich die Liebe ruft, / so folge ihr, / auch wenn ihre Wege schwer und steil sind.«

Er schreibt einen letzten Brief, den er per-sönlich zu überbringen gedenkt. Er will verstehen, warum Mariam seine Brie-fe unbeantwortet läßt. Bei der illegalen Überfahrt nach Europa wird sein Boot von einer Welle erfaßt, und er ertrinkt. Von einem Überlebenden wird Mariam der Brief übergeben.

Mariam ist irritiert. Ihr Bruder, ein Kleinkrimineller, das andere schwarze Schaf der Familie, überredet sie, nach Spanien und Marokko zu fahren, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Wi-

derstrebend und am Sinn zweifelnd tritt sie die Reise an, eine Reise, die zu einer Selbstprüfung wird.

Unterwegs wird sie mit Erinnerungen konfrontiert, die sich in Marokko verstär-ken. Sie spürt und haßt die Diskriminie-rung als Frau, wenn sie ohne ihren Bruder in moderner Kleidung durch die Straßen

läuft. Aber auch schöne Erlebnisse aus ihrer Kindheit dringen in ihr Be-wußtsein: »Sie gab sich Marokko tatenlos hin. Ein Gefühl, das sie in diesem Land schon immer gehabt hatte.« Sie stellt sich die Frage, ob sie jemals eine richtige Belgierin sein wird, beginnt zu zweifeln. An-dererseits weiß sie, daß sie nicht mehr zurück, nicht mit den für Frau-en geltenden strengen Regeln ih-rer ehemaligen Heimat leben kann: »Ich habe es wirklich satt, immer wieder an meine Herkunft erinnert zu werden, ich hasse es, wenn man mich auf eine Ethnie, Religion oder Hautfarbe reduziert! Ich bin mehr als nur das!«

Sie spürt, daß sie ihre eigene Ge-schichte zu überdenken, die Frage nach dem eigenen Weg und den ver-loren geglaubten Wurzeln zu stellen und einen Lebensentwurf zu gestal-ten hat, der Altes mit Neuem ver-bindet, aber nicht unter dem Motto »alles oder nichts«.

»Frauenland« ist ein Roman, der die Identitätssuche einer Frau ergreifend und fesselnd beschreibt und das Leben in Eu-ropa und dem Maghreb aus verschiede-nen Blickwinkeln schildert. Dafür wur-de Rachida Lamrabet zu Recht mit dem Preis des besten flämischen Debüts 2008 ausgezeichnet.

Rachida Lamrabet: Frauenland. Über-setzt von Heike Baryga. Luchterhand Verlag, München 2009, 256 Seiten, 9 Euro

Mehr als dasZwischen Heimat und Heimatlosigkeit: Rachida Lamrabet erzählt von dem oft schmerzhaften Versuch, Tradition und Moderne zu versöhnen. Von Christiana Puschak

Es gibt keinen Bereich in der menschlichen Gesellschaft, der nicht einer merkantilen Verwer-

tung unterworfen werden könnte. Da hat sich der Kapitalismus als krisenresisten-ter erwiesen als man das vor nicht allzu langer Zeit noch geahnt hatte. Nach dem Kollaps des realsozialistischen Systems entwickelte er regelrechte Höhenflü-ge. Eine Kraft, die diesen systemischen Tsunami in die Schranken weisen könn-te, ist momentan nicht in Sicht. An ei-ne Beseitigung ist vorerst gar nicht zu denken, eher würde es wohl zu einer Implosion mit ungeahnten Folgen kom-men. Also gilt es zu überwintern und das Beste aus seinem Leben zu machen. Das beherzigt auch Sebastian Horvath, ein linker Jungakademiker in Wien und mit allen Wassern des Marxismus und der kritischen Analytik gewaschen. Er befindet sich in einer Krise. Mit der Promotion geht es nicht voran, obwohl er mit links Dissertationen für andere verfaßt. Derweilen geht seine Freundin Anna an der Universität einer Karriere als Philosophiedozentin entgegen. Sie veröffentlicht kluge Essays und behan-delt mit ihren Studenten Adorno, Agam-ben und Foucault. Während des ersten gemeinsamen Urlaubs der Verliebten praktiziert Sebastian seine Streicheltech-nik an Anna, die ihm ein außerordentli-ches Talent attestiert. »Du könntest reich werden Sebastian, sehr reich.« Die Idee ist in der Welt, und Anna phantasiert

weiter von einem Streichelinstitut. Ein bahnbrechendes Geschäftskonzept, das besonders angesichts eines die Gesell-schaft atomisierenden und die Menschen in Einsamkeit stürzenden Neoliberalis-mus erfolgversprechend scheint. Das vormals abgesicherte Bürgertum wird von der Auflösung fester Arbeitsverhält-nisse wie von einer Naturgewalt erfaßt und in die ökonomische Unsicherheit gerissen. Keine Zeit mehr, denn Zeit ist Geld, kein unnötiges und zeitrauben-des Engagement mehr, ohne zu wissen, ob sich das auch auszahlen könnte. Die bedürftige Klientel wird von Sebstian als desillusionierte Mittelschicht und als »Lumpenbourgeoisie« definiert.

Clemens Berger heißt der 1979 in Österreich geborene Autor, der sich dieses Szenario für seinen glänzend geschriebe-nen Roman erdachte. Man könnte ihn frei nach Flaubert als eine desaströse Éducation sentimentale bezeichnen. Der Protagonist durchläuft einen Prozeß der Ver- und Entwirrung der Gefühle, der ihn mit den gesellschaftlichen Bedingungen der Gegenwart kompatibel macht. Berger liefert ein wunderbares Beispiel für die

Verwertungswut, die aus jedem Spleen ein Business macht.

Es geht in Bergers Roman um die Ent-wirrung von Gefühlen angesichts einer inflationären Lebenshilfepraxis in einer Gesellschaft, die alle Beziehungen öko-nomisiert. Die Trennung zwischen Pri-vatsphäre und Arbeit, zwischen den Ge-schlechtern, alles gerät ins Wanken, und Sebastian bzw. Severin weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht und wem sein Herz gehört. Sein Privatleben geht vor die Hunde.

Clemens Berger gelingen hinreißende Passagen über die Gesellschaft und de-ren Zeitgeist, wobei kaum ein aktuelles Thema ausgelassen wird: Cyber-Sex und -liebe, der Krieg in Afghanistan und im Irak, die Belanglosigkeit der Medien. Ein Medienvertreter kommt auf die Idee, die ausgelutschten Kochshows durch Strei-chelshows zu ersetzen. Alles ist so wahr wie die Wirklichkeit in den RTL-Home-stories.

Clemens Berger: Das Streichelinstitut. Wallstein Verlag, Göttingen 2010, 356 Seiten, 9,90 Euro

Lukrative ZärtlichkeitClemens Berger über die Verwirrung der Gefühle in einer Gesellschaft, in der sich alles ökonomisch verwerten läßt. Von Matthias Reichelt

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junge Welt Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 1 5l i t e r a t u r

Niemand will allein sein. Erst recht nicht im Alter. Jeder hat seine eigenen Strategien gegen die Einsamkeit. Na-

turgemäß verstehen Kinder die Einsam-keitsvermeidungsstrategien ihrer Eltern nicht. Weil Eltern nicht bedürftig oder fehlerbehaftet sein sollen. Und erst recht nicht souveräner als man selbst.

Björn Kern, Jahrgang 1978, stammt aus Südbaden und wohnt derzeit teils dort und teils in Berlin. In seinem vierten Ro-man stellt der preisgekrönte Autor seine beiden Heimatorte nebeneinander, wo-durch zwangsläufig eine feindliche Ge-genüberstellung wird: »Die Straße führte in starkem Gefälle zum See hinab, der so sauber und glatt in den Obstwiesen lag, daß ich mich umgehend schmutzig fühl-te.« Nichts, was das idyllische Fleckchen am Bodensee, an dem der Vater seines Protagonisten residiert, auszeichnet, fin-det sich in Berlin. Und genau deshalb ist die Hauptfigur wahrscheinlich – wie eine ganze Menge anderer inländischer Migranten aus dem Süden – in die Haupt-stadt geflohen. Weg von guter Luft und Brombeersträuchern, hin zum stinkenden Puls der Zeit.

Einmal im Jahr kommt er allerdings für ein paar Tage nach Hause. Einen die-ser Heimatbesuche schildert Björn Kern in »Das erotische Talent meines Vaters«. Die Landschaft ist stimmungsbildende Nebendarstellerin, Freunde und Vergan-genheit des Protagonisten tauchen nicht auf. In der Hauptsache geht es um seinen Vater. Und mit dem hat er drei Probleme.

Erstens: Der Vater ist besser als er. Hatte als Alt-68er zeitlebens große Ideale und schaffte es, aus diesen Kapital zu schlagen und zwar nicht zu knapp. Das kommt dem Lebemann derzeit zugute, kann er dadurch sein Rentnerdasein in einem großen Haus mit Terrasse zum See hin zubringen. Der Sohn ist bloß Kran-

kenpfleger, der sich weigert, Medizin zu studieren. Außerdem wird der Vater mit Mitte sechzig von Jahr zu Jahr attraktiver. Muskulöser Oberkörper, schwarze Lok-kenpracht, sonnengebräunte Haut. Ent-sprechend ist seine Wirkung auf Frauen: Mindestens zwei rennen ihm hartnäckig hinterher. Sohnemann hingegen hat nicht mehr als die schmerzhafte Erinnerung an seine Exfreundin aufzuweisen. Die angenommene Überlegenheit des Vaters schürt nicht nur Unsicherheit im Sohn,

sondern läßt ihn sich auch ungeliebt füh-len. Der Vater holt ihn nicht vom Bahnhof ab, was dem Autor immerhin den ersten Satz wert ist.

Zweitens ist der Vater schlechter als der Sohn. Ein gemeiner Mensch, der glaubt, mit Geld sein Umfeld kaufen zu können – und damit leider gar nicht so falsch liegt. Der gerade die ihn bewundernden Frauen mies behandelt, mal zu sich einlädt und dann wieder hinauswirft, der mit einer Vergangenheit prahlt, die er nicht hat.

Der Sohn hingegen will allen Menschen Gutes.

Drittens haben sich die Eltern vor zwei Jahren getrennt, sind mehr in die Tren-nung hineingerutscht, als daß sie sie ge-plant hätten. Jetzt will die Mutter den Va-ter wieder zurück und er sie ja eigentlich auch. Den Sohn benutzen sie als Mittels-mann, Boten und Spion.

Jeder Exilbadenser in Berlin wird sich wiederfinden in der sinnlichen und de-tailgetreuen Art, in der Björn Kern diese beiden Varianten Deutschlands gegenein-anderstellt. Das idyllische, schöne, gute Leben im Süden, wo die Sonne einem lacht und der Wohlstand, und das einem so unecht und künstlich erscheint, das auf sanfte Weise soviel ausschließt, was nicht in sein enges Normenkorsett hineinpaßt.

Nebenbei erzählt der Autor ganz lei-se und deshalb so anrührend von einer späten Liebe. Iris und Jakob, Mutter und Vater, treffen sich kein einziges Mal in dem Buch, bloß durch die Erinnerungen des Sohnes und ihr eindrückliches auf ihn Einreden spürt der Leser, was zwischen ihnen war und was sie sich zurückwün-schen. In knappen Sätzen liegen lange Ehejahre. Wenn Kern etwa schildert, wie der Vater Designermöbel ins gemeinsame Heim schleppte, welches die Mutter be-harrlich versuchte, in den verlotterten Zu-stand eines besetzten Hauses zu versetzen und dann lakonisch vermutet: »Vielleicht waren es diese widerstrebenden Kräfte, die ständig neue Risse in die Wände der Villa trieben.« Und in die Seele des Soh-nes, vielleicht.

Aber eigentlich ist »Das erotische Ta-lent meines Vaters »eine Geschichte über Vater und Sohn und bei dieser Gelegen-heit auch über das endlich Erwachsenwer-den auf der einen Seite, das Älterwerden auf der anderen. Über Abnabelung und trotzdem beieinander bleiben. Über Lie-ben und Loslassen.

Vater MorganaBjörn Kern schreibt von der Liebe, der Elternschaft und dem herrlichen Leben auf dem Lande. Von Cornelia Jönsson

Björn Kern: Das eroti-sche Talent meines Va-ters, C.H. Beck, München 2010, 189 Seiten, 18,95 Euro

Verraten Sie uns bitte drei Tips aus Ihrer Trickkiste, auf die alle Lovertypen ansprechen«, wird

die »Sexkolumnistin« Paula Lambert an-läßlich des geplanten Erscheinens ihres Buch »Keine Panik, ich will nur Sex« (Heyne Verlag, Mai 2010) gefragt. Ant-wort: »Das ist einfach. Sich ausziehen. Sich ausziehen. Und: Sich ausziehen.«

In einer von Hanna Lemkes Stories entgegnet die Protagonistin auf die Be-merkung eines Fotografen, er wolle sie »besser sehen«: »Ich kann mich auszie-hen, wenn es das ist.« Während die mei-sten Leser dieser Rezension inzwischen schon den Computer angeworfen und Paula Lambert gegoogelt haben dürften, machten Passagen wie die oben zitierte von Hanna Lemke auf meine Freunde, de-nen ich aus »Gesichertes« vorlas, keinen Eindruck – im Gegenteil: Ein Buch von einer 1981 geborenen, schönen Frau, das unter anderem auch zahlreiche Männer-porträts enthält, verstörte meine keines-wegs illiteraten Freunde um die vierzig dermaßen, daß einer sogar eine empörte Mail an Kunstmann schreiben wollte.

Ist das jetzt Neid? Oder hat Hanna Lemke einen Treffer gelandet? Hat sie der fatalen Hegemann-Kombination Jun-gautorinliteraturkritik einen mitgegeben? Geht es hier um Männer und Frauen und nicht um das Bedienen eines voyeuri-stischen Männerblicks auf Mädchensex? Könnte sein.

Könnte aber auch sein, daß meine

Freunde vom Ton dieser Erzählungen ge-nervt waren, dieses wiederholte »es war« etwa, »es war, als würde ich langsam durch die Tage sickern«, »Immer war es Mathes, der auf mich zukam«, »In diesen Momenten war es«; oder dieses Carver-sche »sagte er«, »sagte ich«; das gewollt Coole eben, das hier durchaus auch sehr kalt rüberkommt und damit im Endeffekt auch: das Jugendliche.

Denn daß man mit zwanzig anders drauf ist als mit vierzig (falls man über-haupt irgendwie drauf ist) – das dämmert uns 1990ern gerade: Daß wir tatsächlich weicher geworden sind, einverstandener, undirekter und umständlicher; daß wir jetzt langsam Züge an uns bemerken, an die wir uns erinnern, sie als Kinder bei unseren Vätern wahrgenommen zu haben. Mit der gleichen Berechtigung können wir natürlich sagen: Verdammt lang hat es gedauert, bis wir keine totalen Arsch-löcher mehr sind – das haben wir uns ja oft genug im Morgengrauen nachrufen lassen; und es hat uns nichts ausgemacht. Aber das sind wir eben jetzt nicht mehr, hätten aber gerne und denken ganz na-iv, daß natürlich nun alle so sind. Aber

nein: Was Hanna Lemke ins Neonlicht stellt, das ist der Zustand des Jungseins. »Gesichertes« – ein konservativer, ein Ab-schiedstitel – ist ein wahres Buch.

Dies ist der Moment, in dem man unbe-dingt sagen muß, daß Lemke mitnichten das »Porträt einer Generation« geschrie-ben hat. Wer sowas behauptet, ist wie das letzte Aufgebot der Verteidiger der Atom-kraft: dumm oder gekauft.

Es geht um ein ganz bestimmtes Mate-rial: Parties, Berlin, der Blick fürs Bizarre klassischer Zwangsneurosen, Wiederse-hen mit Freunden von vor drei Jahren (und das meint hier eben: vom Abitur), die man nun eher nicht mehr... solche, simplen Sachen; und das trifft auf die manchmal zickige, manchmal verzwei-felte, aber immer glaubhafte Unzufrie-denheit der Erzählerin – oder positiver und jugendlicher ausgedrückt: auf ihre Zuversicht, daß noch mehr kommt und anderes, auch wenn es dann doch bloß die zu gründende Kleinfamilie ist.

Ist das große Literatur? Wahrscheinlich nicht: Denn große Literatur beschäftigt sich mit großen Gegenständen (wobei es darüber auch andere Meinungen gibt, aber

die sind falsch). Aber es ist auf jeden Fall Literatur und keine zwischen Buchdeckel gepreßte Kolumnensammlung über das Neo-Jetzt. Es steckt eine Menge Arbeit in diesen Geschichten, nicht weil sie prä-tentiös anstrengend wären; sondern weil man etwas nüchtern Gutes bekommt. Das macht nicht unbedingt Spaß. Es bettet einen auch nicht sanft. Aber es gibt einem das sehr wichtige Gefühl, seine Zeit nicht verschwendet zu haben.

Es war, als würdeHanna Lemkes »Gesichertes« ist Literatur, und soviel steht fest. Von Ambros Waibel

Hanna Lemke: Gesicher-tes. Stories. Verlag Antje Kunstmann, München 2010, 192 Seiten, 17,90 Euro

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Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 junge Welt 1 6 l i t e r a t u r

Kriminalromane sind merk-würdige Gebilde. Einerseits wird gerade zu Recht seit der Renaissance des klas-

sischen US-amerikanischen Noirs der späten sechziger Jahre verlangt, daß sich ein Autor im Genre auskennt, an-dererseits führt reines handwerkliches Können keineswegs zwangsläufig zum Erfolg. Oft werden die Texte lediglich mit individuellen (Frau, schwul, Serien-mörder etc.) oder regionalen Besonder-heiten angereichert und viele Menschen interessieren sich nicht die Bohne für skandinavisches Brauchtum oder ande-re verregnete Gegenden.

Krimilektüre funktioniert über Identi-fikation. Scheitert diese, dann hilft auch jahrelange Recherche in den düsteren Gegenden dieser Welt nicht weiter. Die Autobiographie des Helden ist in sol-chen Fällen, mit Nabokov gesprochen, nicht interessanter als seine Autopsie.

Adrian McKinty darf sich insofern entlastet fühlen, als es nicht unbedingt

seine Schuld ist, daß mich sein Debüt- und gleichzeitig der Eröffnungsroman der hochgelobten »Dead«-Trilogie um den Superduper-Mann Michael Forsy-the kalt läßt. Ellenlange Rückblenden in eine nordirische Kindheit und Jugend werfen mich schneller aus dem Lese-fluß als Forsythes Gangstertruppe in Harlem/New York bei ihren nächtlichen Sausen den Maltwhiskey runterspült.

Die Großbaustellen dieses Buchs sind aber andere – und die Sprache gehört überraschenderweise, wie doch sonst so oft in dieser Sparte, nicht dazu: denn in Kirsten Riesselmanns Übersetzung liest sich »Der sichere Tod« (»Dead I Well May Be«) bestimmt nicht schlechter als im Original.

Nein, ich muß es ganz hart sagen: Es ist die Arroganz des möglicherweise zu Besserem fähigen Autors, die diesen Ro-man mit seinen mehr als 450 Seiten zu einem langweiligen und zeitraubenden Schinken macht. Dies ist nicht meine Meinung, sondern die des 1968 in Bel-

fast geborenen und heute in Melbour-ne lebenden Mc-Kinty selbst. In einem Interview äußert er sich auf die Frage, was ihn zu seinem Buch inspiriert hätte, wie folgt: »Ich habe sechs Jahre in Har-lem gelebt und sehr viel Material über die Figuren, mit denen ich gearbeitet und gelebt habe, angesammelt, und ich brauchte ein Ventil dafür.«

Genau so liest sich das Buch: Wie der Bericht über einen Harlem-Aufenthalt, der vermittels einer enorm schlichten Konstruktion ins irgendwie Thrillermä-ßige gerettet werden sollte. Der Plot geht nämlich so: Ein junger Nordire bekommt zu Hause Ärger mit dem Amt und wird Mitglied einer landsmänni-schen Gang in New York. Er vögelt die Freundin seines Bosses. Der rächt sich. Der junge Nordire überlebt die Rache und schlägt nun seinerseits zurück. Das war’s – und Details, wie etwa die ei-ner ebenso hanebüchenen wie angele-senen Flucht durch den mexikanischen Dschungel mit abgeschnittenen Zehen,

bieten dem Leser keine Entlastung. Als hätte es Ross Thomas, Elmore Leonard, James Ellroy und Charles Willeford – um die großen Namen des Genres in ihrer Bandbreite von cool bis expres-sionistisch einmal zu nennen – nie ge-geben. Keiner dieser Autoren hätte sich mit einem so dünnen Plot auch nur für fünfzig Seiten zufrieden gegeben.

Hat Suhrkamp hier also einen Fehl-griff getan? Nicht unbedingt. Denn eine Trilogie kann nur auf drei Beinen ste-hen, und einen neuen Autor zu etablie-ren, ist immer verdienstvoll. Allgemein gehaltene Werbesprüche wie »McKinty – the toughest, the best« (Frank Mc-Court) lassen ja doch hoffen. Und auf Seite 76 – um nicht im Unfrieden zu schließen – erzählt Darkey, der Boß der Bande, zu der Michael Forsythe gehört, tatsächlich den lustigsten Witz über Ka-tholiken, den ich kenne – sie selbst reizen im Moment ja mal wieder eher weniger zum Lachen.

Nächtliche SausenDer Auftakt zu Adrian McKintys Krimi-Trilogie verspricht viel und läßt auf noch mehr hoffen. Von Ambros Waibel

Adrian McKinty: Der sichere Tod. Aus dem Amerikanischen von Kir-sten Riesselmann. Suhr-kamp Verlag, Berlin 2010, 464 Seiten, 9,95 Euro

Dóra Gudmundsdóttir ist eigent-lich mit ihrem Leben als allein-erziehende Anwältin ganz zu-

frieden: Ihr deutscher Lebensgefährte Matthias Reich wohnt mittlerweile wie sie in Reykjavik, und die Anwaltskanzlei kommt trotz der Finanzkrise, die ihre Heimat Island besonders hart trifft, ei-nigermaßen über die Runden. Nur die immergleichen Scheidungsfälle, die ihr Kollege Bragi an Land zieht, gehen ihr manchmal doch etwas auf die Nerven. Zu genau erinnert sie sich an das eigene Tauziehen mit ihrem Exmann vor we-nigen Jahren. Umso mehr freut es sie, dank Matthias mal wegzukommen aus dem Büroalltag mit streitlustigen Kli-enten und der nicht weniger störrischen Sekretärin Bella.

Ihre neue Mission führt sie im Auftrag der Kaupthing-Bank, bei der Matthias als Sicherheitschef arbeitet, zu Nach-

forschungen ins eisige Grönland. Hier sondiert die isländische Bergbaufirma Bergtaekni schon seit längerem ein ab-gelegenes Gebiet auf seine potenziellen Bodenschätze. Jetzt allerdings droht das »Aus« für das Projekt, denn nach dem mysteriösen Verschwinden zweier Mit-arbeiter weigern sich die anderen Mit-glieder des Teams, die Arbeiten fortzu-setzen. Eine heikle Situation, denn wenn Bergtaekni den Werkvertrag mit einem britischen Bergbaukonzern nicht einhält, muß die Bank mit einer Euro-Bürgschaft einspringen. So macht sich Dóra gemein-sam mit Matthias, Bella und einigen Leu-ten von Bergtaekni auf den Weg, um vor Ort zu prüfen, inwieweit die Firma für die Verzögerung haftbar gemacht werden kann – und um das Team von einer baldi-gen Rückkehr zu überzeugen.

Keine allzu schwere Aufgabe scheint das zunächst, doch ein seltsames Gewalt-

video unbekannter Herkunft verheißt nichts Gutes über das Schicksal der bei-den Männer. Außerdem muß Dóra fest-stellen, daß vor Monaten bereits eine Frau aus dem Camp verschwunden ist. Auch die Lage vor Ort erweist sich als wenig hilfreich: Die Bewohner des nahen Inuit-Dorfs sind feindselig und stumm, wäh-rend ein Unbekannter die Infrastruktur des Camps sabotiert und immer mehr De-tails über extreme Spannungen innerhalb des Teams bekannt werden. Schließlich tauchen noch geheimnisvolle Kultgegen-stände aus dem Eis auf und alte Mythen von rachsüchigen Geistern scheinen über-sinnliches Unheil anzukündigen – doch Dóra gelingt es mit wachem Verstand und einer Portion Glück, die wahren Hinter-gründe des Geschehens aufzudecken…

Auch im vierten Fall ihrer Protagoni-stin Dóra Gudmundsdóttir beweist die isländische Autorin und Ingenieurin Yrsa

Sigurdardóttir großes kriminalistisches Erzähltalent. Mit leichter Hand mischt sie mystische Elemente mit aktuellen Bezügen zu Finanzkrise und Klimaer-wärmung, ohne daß dies aufgesetzt oder konstruiert erscheint. Dabei gelingt es ihr, auf mehr als 350 Seiten eine spannungs-geladene Atmosphäre aufzubauen – und aufrechtzuerhalten – die den Leser mühe-los in ihren Bann zieht. Erfischend wenig klischeehaft ist auch die unprätentiöse Protagonistin Dóra, die sich stets mit ei-nigen Alltagsproblemen herumschlagen muß, die den meisten Lesern nur allzu vertraut sein dürften.

Einziger Wermutstropfen bei der Lek-türe dieses wunderbaren Krimis: Nach dem extrem langen und harten Winter in diesem Jahr könnte sich die Begeiste-rung vieler Leser, erneut in Schnee und Eis abzutauchen, doch etwas in Grenzen halten.

Opfer der FinanzkriseMysteriöse Todesfälle in Grönland: ein neuer Krimi von Yrsa Sigurdardóttir bringt eisige Spannung. Von Mona Grosche

Yrsa Sigurdardóttir: Die eisblaue Spur. Aus dem Isländischen von Tina Flecken. Fischer TB, Frankfurt/M. 2009, 352 Seiten, 8,95 Euro

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Stephan Krüger Allgemeine Theorie der KapitalakkumulationKonjunkturzyklus und langfristige EntwicklungstendenzenKritik der Politischen Ökonomie und Kapitalismusanalyse, Bd. 11024 Seiten; Hardcover; € 58.00ISBN 978-3-89965-376-2 Stephan Krüger liefert eine theo-retisch-empirische Analyse des Gegenwartskapitalismus auf Basis des Marxschen »Kapital«.

Stefan Heinz Moskaus Söldner?Der »Einheitsverband der Metallarbeiter Berlins«: Entwicklung und Scheitern einer kommunis tischen Gewerkschaft572 Seiten; Hardcover; mit Fotos; € 34.80ISBN 978-3-89965-406-6Eine Untersuchung, die die Debatte über das Verhältnis von KPD und Gewerkschaften ein großes Stück voranbringt.

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junge Welt Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 1 7l i t e r a t u r

Zu Hause ist, wo sie dir die Tür auf-machen«, schrieb der amerikani-sche Poet und Pulitzer-Preisträ-ger Robert Frost vor so ziemlich

genau hundert Jahren in einem schlimmen Anfall von Optimismus. Es ist nicht an-zunehmen, daß die italienischen Arbeiter Ferdinando Sacco und Bartolomeo Vanzetti Frosts Worte irgendwo gelesen oder gehört hätten, bevor sie im August 1927 in Charles-town/Massachu setts auf dem elektrischen Stuhl starben. Vielleicht wußten sie aber, was bis heute auf der Bronzetafel steht, die 1886 in den Sockel der Freiheitstatue von New York eingelassen wurde: »Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Ge-triebenen, Hoch halt’ ich mein Licht am gold’nen Tore!« Und vielleicht ahnten sie am schrecklichen Ende ihres Lebens, daß Anarchisten und andere Idealisten »Hei-mat« und Anerkennung, wenn überhaupt, nicht in der Gesellschaft, sondern nur in der Literatur finden.

Journalisten sind heutzutage angehal-ten, über dergleichen politische oder an-dere Ereignisse »objektiv« zu berichten. Ungeduldigen jungen Menschen, die sich dieses Métier ausgesucht haben, wird das in fast jeder Redaktionsstube eingebleut. Weil aber die meisten Politiker von Berufs wegen lügen, daß sich die Balken biegen – vor allem, wenn ihre eigene Partei in der Regierung sitzt – ist die geforderte »Objek-tivität« nichts als eine Worthülse. Für den Leser ist sie meist nicht mehr wert als die gängige Meinung, daß laute Fürze nicht stinken. Wahrheit findet ihren Ausdruck in der Literatur, sonst nirgendwo.

Der Pariser Autor Patrick Pécherot be-wegt sich seit einigen Jahrzehnten auf bei-den Feldern, er ist nicht nur Journalist, er ist vor allem Literat. Objektivität hat er weder sich selbst noch sonst jemandem abver-langt, gelobt sei der Herr, allenfalls Wahr-haftigkeit. Er hat es daher nicht besonders schwer gehabt, Sacco und Vanzetti in sei-nem schönen Roman »Les brouillards de la Butte« eine Heimat zu geben. Seine Leser in Frankreich sind ihm dafür dankbar, daß er, statt Heuchelei mit Rechtschaffenheit zu verwechseln, aus seiner warmen Sympha-tie für die Anarchistenszene der zwanziger Jahre keinen Hehl macht. Und die Lektoren des Großverlegers Gallimard dürfen zufrie-den sein, weil sich das verkauft.

Zum Buch. Man schreibt das Jahr 1926. Die Pariser Linke demonstriert für die in Charlestown auf den Tod wartenden Ver-urteilten, die Druckereien am Fuß des Montmartre haben Hochbetrieb, die Szene braucht Flugblätter, Solidaritätsadressen, Anklagen. Hier ist der junge Nestor zu Hau-se, ein kleiner Ganove, ein Allerweltsdich-ter, auch er ein Anarchist – ebenso wie seine Kumpane, der Jahrmarktringer Leboef , der zwielichtige Ausbaldowerer Cottet und der Schränker Raymond. Die drei stehlen ei-nen Tresor, in dem sie kein Geld, sondern

eine stinkende Leiche finden – und ein Geheimnis, dem Nestor in aller Unschuld und Neugier auf die Spur kommen möchte. Doch die »Nebel am Montmartre«, so der deutsche Titel des Romans, sind dicht, und erst ganz am Ende ahnt auch der Leser, daß sich der Held an der Aufklärung des Rätsels wohl verheben wird. Die Drahtzieher hinter den Morden, über die der angehende De-tektiv fast so oft stolpert wie Touristen über die berüchtigten Pariser Hundehaufen, sind ganz oben in der Gesellschaft angesiedelt.

Es sind, soviel darf verraten werden, Leute aus der Großindustrie, der Großbourgeoi-sie, sie haben Namen, die dem des Nach-kriegsministerpräsidenten Maurice Couve de Murville ähneln.

Das sei reiner Zufall, versichert Pécherot glaubhaft, an den habe er nun wirklich nicht gedacht. Doch wie Zufälle so spielen, Cou-ve de Murville, der geschmeidige Mann zwischen den Lagern, diente sowohl dem Marschall Philippe Pétain in Vichy als auch dem General Charles de Gaulle in Paris

und ähnelt daher seinem Namensvetter im Roman wie ein Bruder dem anderen.

Pécherot ist nicht nur ein prima Schrei-ber, er hat zur Freude des objektiven Lesers auch jenes Feuer, ohne das ein Schriftsteller nicht mehr als ein läppischer Geschich-tenerzähler bleibt. Die »Nebel am Mont-martre« sind der erste Band einer Trilogie des Genres »Série noire«, die dem großen Policier-Autor Léo Malet gewidmet ist. Pécherot hat mit den drei Bänden – bald werden »Belleville, Barcelona« und »Der Boulevard der Irren« folgen – ein Projekt aufgenommen, das Malet selbst nicht mehr verwirklichen konnte: Der Meister wollte seinem berühmten Detektiv Nestor Burma, den Millionen Liebhaber nur als erwachse-nen, melancholischen, bisweilen am Leben verzweifelnden Zyniker kannten, eigentlich eine literarische Jugend geben, ein Leben vor dem Leben als Detektiv. Pécherot hat das an seiner Stelle getan. Man darf be-haupten, daß das Werk gelungen ist – wenn dem Leser auch schwant, wie schwer es für die Übersetzerin Katja Meintel gewesen sein mag, die in der Pariser Gassenhauer-Sprache »Argot« geführten Dialoge ins Deutsche zu übertragen.

Bedanken für die gute Lektüre darf sich die deutsche Burma-Gemeinde beim Ver-lag Nautilus in Hamburg, der es nicht ver-säumt hat, die beiden Autoren Pécherot und Malet zu vereinen, in düsterem, ästhetisch schwarz-weiß gebundenem Karton, ganz wie es sich gehört für subjektive Schreiber. Von Malet sind zu haben: »Das Leben ist zum Kotzen«, »Angst im Bauch« sowie »Die Sonne scheint nicht für uns«.

Wer Paris kennenlernen möchte, wie es in den zwanziger Jahren aussah, dem liefert Pécherot in seinen Geschichten die Ergeb-nisse langer Spaziergänge und abenteuerli-cher Imagination. Mit dem Autor am Ufer des Kanals »St. Martin« angekommen, wird er womöglich an Jacques Tardi denken, der diesen »mystic river« der Pariser Literatur so gezeichnet hat, wie ihn Pécherot in sei-nen Romanen sieht.

Tardi hat Nestor Burma zu einem der Helden seiner Bilderwelt gemacht, für Pécherot ist er der Held seines Lebens mit Malet. Wie wäre es, wenn Nautilus die bei-den zusammenbrächte?

Ein anarchistischer AllerweltsdichterFutter für die Fans von Nestor Burma: Patrick Pécherot erzählt aus dem Leben des angehenden Detektivs. Von Hansgeorg Hermann

Patrick Pécherot: Nebel am Montmartre. Aus dem Französischen von Katja Meintel. Edition Nautilus, Hamburg 2010, 192 Seiten, 14,90 Euro

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Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 junge Welt 1 8 l i t e r a t u r

In den Feuilletons wird sie schon als »Katastrophendichterin« gehan-delt. Jetzt hat sie es wieder getan. Die Österreicherin Kathrin Röggla,

eine der wohl gesellschafts-kritischsten Autorinnen im Literaturbetrieb, hat ein Buch über die großen Krisen im 21. Jahrhundert geschrie-ben. Denn wir haben Angst. Angst vor Epidemien, Pande-mien, Überschwemmungen, Erdbeben, Klimawandel, Entführungen, Schurkenstaa-ten, Feinstaub, BSE, Acryl-amid, ADS, UV-Strahlen, Terroristen, Haßpredigern, Killerspielen, Parallelge-sellschaften, der Achse des Bösen, Amok, Arbeitsplatz-verlust, Snipern und dem Börsencrash. Die eigenen Kinder werden zu tickenden Zeitbomben. In ein paar Jah-ren wird es die Niederlande nicht mehr geben. Die Welt steht kurz vor dem atomaren Krieg: »es würden ja jeden tag mehr, die sich das leben nähmen, dazu seien es nicht nur einfache selbstmorde, es seien jeweils spektakulä-re selbstmorde. also er habe sich über die martialischen todesarten gewundert, von denen man da lesen müsse. da mache es keiner mit tabletten, irgendeinem gift, sie alle sprängen von brücken oder vor züge, sie erschössen sich oder hängten sich auf. nein, das seien keine weich-

eirigen frauenselbstmorde, so still und heimlich im kämmerlein (…)«

In sieben Erzählungen schildert die 1971 geborene Autorin Röggla die Alpträume

des modernen Menschen, angefangen von der Klimakatastrophe über die Finanzkrise bis hin zur Entführung. Das Besondere dar-an: Röggla versucht nicht, der Katastrophe ein neues Gesicht zu verleihen, sie zeigt uns

das, was wir ohnehin jeden Tag sehen – die Beobachtenden, das sind wir selbst und die Me dien. Gibt es eine Sprache der Angst? Eine Dramaturgie der Katastrophe? In »die

alarmbereiten« werden die Me-chanismen kollektiver Panik skizziert und inszeniert. Man ist nie mittendrin, nimmt durch den Filter der Beobachtenden am Geschehen teil. Trotzdem kennen wir diese Szenarien al-le. Ein Stichwort genügt, und die Assoziationsketten begin-nen. Wir sind alarmiert: »viel-leicht wolle ich es auch nicht verstehen: wir hätten es nicht nur mit gewaltigen aufmerk-samkeitsdefiziten zu tun – die kinder hörten im unterricht nicht mehr zu –, wir hätten auch mit einem massiven auftreten psychosomatischer störungen zu kämpfen. ob mir klar sei, dass mit diesen konzentrations-schwierigkeiten anfälligkeiten für heuschnupfen einhergin-gen? und was sei mit den le-bensmittelallergien, die rapide zugenommen hätten in den letz-ten monaten? plötzlich würden kinder zu husten beginnen, die vorher nie gehustet hätten.

Formal wirken die Erzäh-lungen wie Theaterstücke oder Hörspiele. Das ist kein Zufall.

Denn »die alarmbereiten« existiert bereits als Theatertext und Hörspiel. Es wurde im August 2009 zum SWR-Hörspiel des Monats gewählt. Auch durch die konse-quente Kleinschreibung verbindet Röggla

in ihrem eigenwilligen Stil das Erzählte zu einem Strom, der nur so dahin fließt. Die Angst ist unser ständiger Begleiter, durchströmt unsere Adern – und gelangt schließlich zum Herzen.

Die Katastrophe ist keinesfalls Bühne für Superhelden und Weltenretter. Die Protagonisten sind verstört. Es geht ums Ganze. Und das ohne jedes gängige Kli-schee oder platte Politphrasen, was bei diesem Stoff nichts Selbstverständliches ist. Im Gegenteil: Rögglas Zugriff auf das Thema ist spannend, subtil und außerge-wöhnlich. Was nehmen wir als Katastro-phe wahr, und wie nehmen wir es wahr? Wie alarmbereit sind wir wirklich? Welche Spuren hinterläßt der Alarmismus? Wie gelangt er in unser Leben? »der ständige alarm habe zur folge, dass mir niemand mehr zuhören wolle. ob ich das wisse, dass ich die dosis herunterschrauben müs-se von zeit zu zeit, die alarmdosis, damit sie noch wirkung zeige? denn die reakti-onsbereitschaft sinke, ja, sei mittlerweile gen null gesunken. meine alarmblicke, die nach alarmbereitschaft fandeten, würden allesamt ins leere laufen, es habe sich sozu-sagen ausalarmiert.«

In »die alarmbereiten« spürt man die Angst als säße sie im eigenen Nacken. Der Alptraum vom Weltuntergang, den jeder schon einmal geträumt hat und der jeden Tag in den Abendnachrichten ein Stück näher an die eigene Haustür heranrückt, ist längst Realität geworden. Begleitet vom Deutschlandfunk. Und was tun wir nun? Rögglas Buch wirft Fragen auf. Wie klingt sie, die Sprache der Angst? Die Au-torin gibt darauf keine Antwort. Aber sie liefert eine beunruhigende Hörprobe.

Sprache der AngstKathrin Röggla inszeniert gekonnt den Alarmismus des 21. Jahrhunderts. Von Anna Dumange

Kathrin Röggla: die alarmbereiten. Mit Illu-strationen von Oliver Grajewski. S. Fischer Ver-lag, Frankfurt am Main 2010, 188 Seiten, 18,95 Euro

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diesem Roman. Wie er und Förster um die Liebe, die zur Musik und die zum richtigen Leben, streiten, das

war so noch nirgendwo zu lesen. Wunderschön.«

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junge Welt Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 1 9l i t e r a t u r

Auf dem Titel von Julian Bar-nes’ »Nichts, was man fürchten müßte« ist ein Kaiserpinguin abgebildet. Also eines der Tie-

re, das uns die Tierfilmer immer wieder vorführen, weil die tapsigen Vögel uns die heile Familie vorgaukeln. Einmal gepaart, bleiben sie ihr Leben lang treu, die Eltern teilen sich die Brutpflege zu gleichen Tei-len und weil es um sie herum so richtig kalt ist, wird auch mal gekuschelt. Was uns die Tierfilmer nicht so gerne erzählen: Die Pin-guine haben Angst vor dem Tod. Die Fut-tersuche, die Mama und Papa abwechselnd übernehmen, ist gefährlich, weil im Wasser nicht nur leckere Fische schwimmen, son-dern auch böse Jäger, nämlich Robben. Al-so tippeln die verängstigten Tiere am Rand der Eisscholle umher. Keiner will der erste sein, der sich ins Wasser stürzt. Das klappt so lange, bis das Gedränge zu groß wird und die Nachrückenden die unglücklichen ersten ins kalte Naß schubsen.

Eben diese Todesangst ist es, der Bar-nes in seinem Essay beikommen will. Er tut das nicht allein, sondern bemüht T.S. Elliot, William Blake, Friedrich Nietzsche und Albert Camus – auf einer einzigen Doppelseite. Wenn er mit dem Bruder und Philosophen Jonathan darüber spricht, ob der die verstorbene Mutter noch mal sehen wolle, bekommt er zur Antwort: »Um Got-teswillen, nein. In dieser Hinsicht halte ich es mit Plato.« Auf Nachfrage, was Plato denn gesagt habe, erklärt Jonathan: »Daß ihm nichts daran liegt, sich Leichen anzuse-hen.« Aha. Manchmal haben die aufgerufe-nen Zeugen mehr zum Thema beizutragen. Jules Renard, der für den Titel »Nichts, was man fürchten müßte« verantwortlich ist, erklärt etwa: »Es gibt kein Wort, das so wahr, präzise und bedeutungsvoll ist wie das Wort ›nichts‹.« Mit diesem Nichts, mit der Nicht-Existenz gibt es kein Versöhnen. Barnes ist keiner, der trösten will und kann. Haben Sie mehr Angst vor dem Tod oder

vor dem Sterben? Barnes rät dazu, beides zu fürchten. Er geht die Argumente durch, die einem die Todesangst nehmen sollen, findet keines überzeugend und resigniert mit der Einsicht, daß Weiterleben das Beste wäre.

»Ich glaube nicht an Gott, aber ich ver-misse ihn«, ist der erste Satz seines Essays und es ist die Summe seiner Überlegungen. Er gibt dem Biologen Richard Dawkins Recht, Gott sei ein imaginärer Freund, ei-ner, den man erfinden müsse, wenn es ihn schon nicht gibt. Das meiste von Barnes’ ungeordneten Spekulationen arbeitet sich dann auch an »Was wäre dir lieber«-Fragen ab. Der Leser erfährt, Barnes würde lieber Musik hören, als Lesen, wenn er im Ster-ben liegt, seine Mutter hingegen wollte lieber taub als blind sein und begründete das schlüssig: »Wenn ich blind bin, wie soll ich da meine Nägel pflegen?«

Wer gut dreihundert Seiten geistreiches Geplänkel mit der eigenen Todesangst nicht als Martyrium empfindet, kann erfah-ren, daß die Zitrone in China als Symbol für den Tod steht und ein Tisch, an dem über den Tod geredet wird, Zitronentisch genannt wird. Im Dickicht von Anekdoten und Aphorismen blüht immer wieder Asso-ziatives, Geschichten ohne Pointe, die Bar-nes eben auch noch in den Sinn gekommen sind. Und ja, da funkelt manches, da gibt es Gedankensplitter für den eigenen Zita-tenschatz, Souvenirs für die Pinnwand. Da könnte man zum Beispiel ein Zettelchen mit einem Maugham-Zitat aufhängen, auf dem steht: »Die größte Tragödie des Le-bens besteht nicht darin, daß Menschen sterben, sondern, daß sie aufhören zu lie-ben.« Jedesmal, wenn man das liest, wird man mitdenken, was man bei Barnes außer-dem über Maugham gelernt hat: nämlich, daß er im Alter hinter dem Sofa auf den Teppich geschissen hat, während Ravel sei-ne eigene Musik nicht mehr erkannte und sich dem Applaus, der ihm galt, anschloß.

Vielleicht ist es aber auch eine gute Idee, statt der ganzen Franzosen, die Barnes be-fragt hat, auf den Trost von jemandem zu hören, von dem man Trost am wenigsten erwartet hat. Da heißt es im Brecht-Gedicht

»Als ich im weißen Krankenzimmer der Charité«: »Schon seit geraumer Zeit hatte ich keine Todesfurcht mehr. Da ja nichts mir je fehlen kann, vorausgesetzt ich selbst fehle.«

Der imaginäre FreundWie die Kaiserpinguine fürchtet sich auch Julian Barnes vor dem Tod. Von André Weikard

Julian Barnes: Nichts, was man fürchten müß-te. Aus dem Englischen von Gertraude Krüger. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, 334 Seiten, 19,95 Euro

Es ist eine aberwitzige Geschichte, die die kanadisch-amerikanische Autorin Rivka Galchen in ihrem

in den USA gefeierten Debütroman erzählt: Leo Liebenstein, New Yorker Psychiater, ist eines Tages davon über-zeugt, daß seine Frau Rema durch ein nahezu perfektes Double ersetzt wor-den ist. Dieses sieht genau so aus wie »seine« Rema, es agiert auch so – doch er weiß es besser, es sind winzige Ab-weichungen im Verhalten, die er glaubt genau benennen zu können. Diese ver-schobene Realitätswahrnehmung ist der Dreh- und Angelpunkt einer obskuren Verschwörungstheorie, in der eine »Kö-nigliche Wetter-Akademie« und ein Me-teorologe namens Tzvi Gal-Chen zen-trale Rollen spielen – es ist ein Wahn, dem Liebenstein anheim fällt und der ihn zwanghaft nach Analogien zwischen den Methoden der Wetterkunde und der Deutung zwischenmenschlicher Bezie-hungen suchen läßt. Als Ich-Erzähler gibt er die Perspektive vor, der die Le-senden folgen und in ein Labyrinth von Neurosen, Eifersucht, Fremdheit und Sehnsucht treibt.

Rivka Galchen, Jahrgang 1976, erzählt auf originelle und komische Weise von einem alten Thema – von der Liebe, ih-ren Bedingungen und Gefährdungen. Der irreale Erzählrahmen erlaubt ihr, bekann-

te Empfindungen und Verhaltensweisen auf die Spitze zu treiben: Das Gefühl der Fremdheit der geliebten Menschen gegen-über; die Frage danach, wie genau man den anderen kennt, kennen kann; welche Rolle die Projektionen und welche die eigenen Ängste spielen, wenn die Liebe entsteht und wenn sie in die Krise gerät.

Daß es ausgerechnet die Wetterkunde ist, die Galchen als Schablone für die Irrungen und Unwägbarkeiten der moder-nen romantischen Liebe wählt, hat auch einen autobiografischen Hintergrund: Ihr Vater Tzvi Gal-Chen war Professor für Meteorologie. Eine Figur dieses Namens führt die Autorin ein, was dieser Ein-schub des Autobiografischen allerdings bezwecken soll, erschließt sich nicht so recht. Die »Royal Academy of Meteoro-logy« ist allerdings Fiktion. Ein Patient Liebensteins glaubt, er sei ein Geheim-agent in ihrem Dienste, der das Wetter beeinflussen könne. Liebenstein geht auf dieses Spiel zwecks therapeutischer Wir-kung ein – und verfällt der Eigendynamik dieses Einfalls. Wetterterroristen steckten hinter dem vertauschten Rema, davon ist er tatsächlich irgendwann überzeugt.

Im Stile eines frühen Woody Allen tau-melt Liebenstein durch seine Neurosen, und dabei fallen einige kluge und schöne Sätze über die »Sicht der Liebenden«, über die »Fremdlinge aus dem Inneren«,

das Mißtrauen den eigenen Gefühlen ge-genüber. Auch ist die Idee der Verknüp-fung von Meteorologie und moderner Liebesbeziehung durchaus tragfähig. Ein Zitat von Gilles Deleuze, das dem Roman vorangestellt ist, gibt die Richtung vor: »Es kann sein, daß Freundschaft sich von Beobachtungen und Gespräch nährt, aber die Liebe wird geboren und nährt sich von stummer Interpretation. Das geliebte Wesen (…) drückt eine mögliche, uns unbekannte Welt aus, (…) die entziffert werden muß.« Und wie der Wetterfor-scher versucht, mit diversen Hilfsmitteln, Parametern, erdachten Gleichungen und Grafiken das Wetter von heute zu »entzif-fern«, um das von morgen vorherzusehen, so versucht Liebenstein, seine Beziehung zu Rema zu interpretieren. Was er aber für die Meteorologie feststellen muß, gilt eben auch auf dem anderen Gebiet: »Wir können nicht sagen, wie es morgen sein wird, weil wir nicht exakt genug wissen, wie es jetzt gerade ist. Wie sollen wir eine Zukunft prognostizieren, wenn wir das Hier und Jetzt nicht richtig kennen? Ein Anfangswertproblem, verstehen Sie?«

Doch die eigentlich originelle Grund-idee wird überspannt, ihr Muster vorher-sehbar. Die Geschichte verzettelt sich in zu vielen Erzählsträngen, ohne daß das Metathema der Liebe dadurch noch ge-wänne. Der Witz verbraucht sich über die

gut dreihundert Seiten. Liebenstein ist letztlich ein liebenswürdiger, eifersüch-tiger Sozialphobiker, dem seine viel jün-gere Frau Rema »die ganze Welt« sein soll – und da knirschen dann mitunter die Klischees, auch wenn sie ganz modern und tragik-komisch daher kommen.

Anschlag der Wetterterroristen»Atmosphärische Störungen«: Rivka Galchens Romanheld hadert mit seinen »Fremdlingen im Innern«. Von Carola Ebeling

Rivka Galchen: Atmo-sphärische Störungen. Aus dem Englischen von Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010, 318 Seiten, 19,95 Euro

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Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 junge Welt 2 0 l i t e r a t u r

Weiß, die Lichtmischung al-ler Farben auf einer Wand, weiß, der Sturz in den Schnee auf der Nordsei-

te des Kailash, eine Frühlingswiese weiß gesprenkelt, das Weiß des menschlichen Auges …das Weiß der Albedo, der Erde Widerschein im All. Weiß die Sekunden in der Parabel …« Im Auftakt von Ulrike Draesners neuem Roman »Vorliebe« ver-fangen sich wie in einer Ouvertüre Ebenen und Symbole der Erzählung. Nicht nur eine, sondern viele Geschichten werden angesprochen. Auch anhand von Farben. Man denkt an Menschen mit synästheti-scher Begabung, Menschen, die durch ihre farbdefinierende Wahrnehmung die Welt anders strukturieren. Am Ende des Ro-mans geht die Imagination der Farben in die Halluzination eines Geschehens über. »Grasgrüne Strümpfe, oriongrüner Rock. Grün war Peters Lieblingsfarbe, auf Far-ben achtete sie nun …« Aber man denkt auch an Michelangelo Antonionis Film »Deserto Rosso«, in dem ganze Sequen-zen in eine Farbe getaucht sind und aus dem Ausschnitt der bekannten Welt ex-traterrestrisches Gebiet wird, allein durch die Farbe.

Extraterrestrisch ist ein Stichwort für Ulrike Draesners Roman, auch wenn der Begriff als solcher kaum fällt. Wir ler-nen Harriet Saramandipur, promovierte Astrophysikerin, genannt Jet oder Heu, Tochter eines Inders und einer deutschen Albinomutter, ohne Vater aufgewachsen, in einer Simulierungskapsel kennen. Sie bewirbt sich um Abstand zur Erde. Har-riet will als Astronautin auf eine For-schungstour. Kurz nach dem Test fürs All aber macht sich in ihrem Leben die Erdanziehung bemerkbar. Ihr Ehemann, der Ingenieur Ashley (der Name verweist auf die kindliche Sehnsucht der Scarlett O’Hara) Mowles, fährt eine Fahrradfah-rerin, Maria Olvaeus, lebensgefährlich an. Der Unfall bringt Harriet mit Marias Ehe-mann Peter zusammen. Peter Olveaus, evangelischer Pfarrer, war Harriets große Mädchenliebe. Sie hat ihn nie vergessen, obwohl er sich für Maria entschied. Der Unfall/Zufall ist dramaturgisch ein so al-ter Trick, daß er der Kolportage angehört. Aber vieles in diesem Roman kommt aus bekannten Gefilden, und dann wird unter Draesners Hand eben Extraterrestrisches daraus – fremdes Gebiet mit anderen Ge-setzen.

Peter, für Harriet ist er »Verräter, Über-rascher, Schmeichler, Monster, Rhetoriker, Held«, ein Pfarrer, der seinen Gott längst verloren hat, bedeutet also für Harriet Erd-anziehungskraft, nicht nur, aber auch das im doppelten Sinn. Denn auf der Erde zu sein, fällt Harriet schwer. Man erfährt wenig über ihre Kindheit, und doch hat man den Eindruck, daß sie ihr verwirrend, ungenügend gewesen ist. Die Mathematik, die Abstraktion ist der Ausgangspunkt von Harriets Flucht ins All, darunter schlum-mert die wunde Sehnsucht nach Verbin-dung zu allem, was menschlich, physisch, konkret ist. »Sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, so viel zu fühlen, normalerweise schaute man es doch nur an bei anderen, in Filmen und Zeitschriften, Agenturen und Blogs …« Harriet ist der Welt eigent-lich auch ohne Reise ins All schon längst verloren gegangen, ihr bodenständigstes Vergnügen ist die ebay-Ersteigerung von Vintage-Handtaschen.

Nun holt die aufgetaute Liebe zu Pe-ter sie auf den Boden zurück. Eine alte Geschichte beginnt neu. Aber auch wenn zum Startschuß das Ende von Dornrös-chen zitiert wird und damit die Behaup-tung im (Welt-)Raum steht, der hundert-jährige Schlaf nehme ein gutes Ende, so kann man sich doch nicht den Griff zu Hélène Cixous verkneifen. In »Die Un-endlichkeit des Begehrens« bemerkt die feministische Philosophin ironisch, daß die Frau sich in einer Liebeserzählung immer in derselben Position, am selben Ort befindet, nämlich im Bett. »Dorn-röschen wird aus diesem Bett durch den Mann herausgeholt … der gekommen ist, um sie ins Bett nebenan zu bringen … von Bett zu Bett, das ist also ihre Reise …« Es dauert eine Weile, bis Har-riet vom eigenen Ehebett in dem ihres Liebhabers landet. Aber nicht einmal in ihrer wieder entflammten Liebe trauen die Figuren dieser Welt. Man kann nicht anders, als ihnen recht zu geben. Dieser Roman ist von einer einzigartigen Atmo-sphäre der Unsicherheit bestimmt, des Mißtrauens und der zaghaften Bewegung, unerklärlich fast, und doch möchte man den Figuren ständig zurufen: Paßt auf, daß euch kein Leid geschieht. Genau das aber denken die Figuren schon selbst. Sie sind Vermeidungskünstler. Der Vollzug des Liebesaktes zwischen Harriet und Peter täuscht nicht über den Eindruck hinweg, es sei nichts geschehen.

Dieser geheimnisvollen flirrenden Luft, durch die die Figuren sich bewegen, stehen die sehr physisch angelegten Beschreibun-gen der Liebesstunden entgegen. Schon in dem 2002 erschienen Roman »Mitgift« hat Ulrike Draesner sich als Meisterin des-sen erwiesen, was in der literarischen Er-zählung so schwer zu bewältigen ist. Ob das Ende gut ist, muß der Leser für sich entscheiden. Sicher aber ist, daß es nicht von dieser Welt ist und Harriet erneut dem All entgegenstrebt. Ihr Trost besteht darin, daß sie als Astrophysikerin weiß, daß En-ergie niemals verloren geht.

Aber Ulrike Draesner wäre nicht die ambitionierte Schriftstellerin, die sie ist, wenn das »alles« wäre. Die Ge-schichte um Harriet, Peter, Ashley und Maria ist nur der Kern oder Ausgangs-punkt dessen, was die Autorin zu einem komplexen Gebilde verwebt. Wenn es also nicht »nur« um eine Liebesgeschte in »Vorliebe« geht, worum geht es dann noch? Man kann diesen Roman auch als einen Versuch über Distanz und Nähe lesen, ein Ausspielen des Physischen gegen das Geistige, der Vergangenheit gegen die Zukunft oder der gefühlten gegen die physikalische Zeit.

Der Roman lebt von den verschiedenen

Ebenen, den Verweisen auf andere Textar-ten – Mythen, Märchen, Strategeme, Fil-me, Seifenopern und TV–Serien – die ein Bewußtsein schaffen für die Kernerzäh-lung umgebende Metaerzählung aus Tra-banten, die wiederum zusammengesetzt

sind aus inkongruentem Material. Diese Vielstimmigkeit schafft ein Bewußtsein für den Verlust dessen, was man die emo-tionale Welt nennen könnte. Denn die My-then und Märchen, die zitiert werden, an-gefangen von »Dornröschen« über »Gone with the Wind« bis »Sex & the City«, sind das, was wir heute aus der Perspektive der sogenannten Hochkultur, zu der bekannt-lich die schöne Literatur zu zählen ist, als Kitsch bezeichnen. Kitsch aber birgt ein wenig schäbig, überzogen und unrein im Stil: das Gefühl.

Die Handlungsatmosphäre, die Draes-ner durch die Schichtung der Ebenen er-zeugt, ist durchdrungen von Unsicherheit. Orte und Szenerien sind schwer zu fassen, und wenn man sich einmal eingewöhnt hat, entgleiten sie dem Leser wieder wie im Traum. Einmal ist von »Erdenblödig-keit« die Rede. Damit ist die Schwerkraft gemeint, die unsere Körper an den Plane-ten fesselt. Harriet versucht dieser »Er-denblödigkeit« zu entkommen, und doch muß sie sich mit ihr in der Liebe zu Peter abfinden, denn ohne Erdenblödigkeit kein physischer Akt.

Aber nicht nur ihre Ambivalenz erschüt-tert den Leser. Auch die Figuren, die einig mit ihrer Bodenschwere sind, kommen nicht mit dem einfachen Glück davon. Ma-ria, die Ehefrau des Pfarrers Peter, die im-mer schon Harriets Konkurrentin war, hat andere Mittel, sich Abstand zu schaffen: Sie ist Quartalssäuferin. Am wenigsten greifbar in dem Quartett der Hauptperso-nen ist Harriets Ehemann Ashley, benannt nach der Sehnsuchtsfigur aus »Gone with the Wind. Überhaupt die Namen: Sie sind kompliziert, haben alle eine eigene Ge-schichte und mit ihrer Geschichte wie jede Geste des Romans eine Bedeutung. Der Leser stolpert darüber. Das Interessante ist, daß das Romangeschehen trotz dieser Vielschichtigkeit nicht überdeterminiert wirkt, vielmehr luftig, fast ephemer. Man muß den vielen Ebenen und Bezügen kei-ne Beachtung schenken, wenn man nicht will, aber selbst wenn man sie ignoriert, bestimmen sie doch die Vibration des Ge-schehens.

Wenn es in diesem von Erzählungen flirrenden Roman ein Fazit gibt, dann daß jeder letztlich allein bleibt, daß alle Ver-bindungen nur kontingent sind, daß zwar kein Stoff verloren geht, sich aber auch nicht mit einem anderen verbindet, obwohl die Physik besagt, »kein Stoff wollte allein sein …«

Von Bett zu BettUlrike Draesner erzeugt in »Vorliebe« eine einzigartige Atmosphäre der Unsicherheit. Von Barbara Bongartz

Ulrike Draesner: Vorlie-be. Luchterhand Verlag, München 2010, 256 Sei-ten, 19,95

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junge Welt Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 2 1l i t e r a t u r

Der Krakeeler« ist die etwas melancholische Geschich-te der kleinen Helene mit dem feinen Gehör und ih-

res Vaters, des ewig polternden Hau-styranns – wunderbar gezeichnet von dem Künstlerpaar Philip Waechter und Moni Port. Wenn auch nicht ganz klar ist, warum alle, vom Hals abwärts voll-kommen menschlich aussehenden Figu-ren, Katzenköpfe aufgesetzt bekommen haben. Das Ganze hat erheblichen Wie-dererkennungswert – etwa, wenn der Katervater, der »nicht normal reden«, sondern nur brüllen kann, das zu weiche Frühstücks ei oder wahlweise herumlie-gende nicht sofort auffindbare Schu-he moniert. Helene hat irgendwann die Nase voll und sucht sich ein neues Zu-hause. Doch zur Beruhigung der Klei-nen gibt es ein Wiedersehen zu einem

Anlaß, bei dem die Dezibel des Alten mal angebracht sind.

Den großen italienischen Künstler Leo Lionni (1910 bis 1999) würdigt der Verlag Beltz & Gelberg anläßlich seines 100. Ge-burtstages mit der Neuauflage eines sei-ner schönsten Kinderbücher. Lionni emi-grierte 1939 in die USA und arbeitete dort als Grafikdesigner unter anderem für die Magazine Time und Life. 1962 ließ sich der studierte Wirtschaftswissenschaftler als freischaffender Künstler in Italien nieder. Insgesamt rund 30 Bilderbücher hat er veröffentlicht, sein flächiger, col-lageartiger Stil ist unverkennbar. Und die Geschichten, die er erzählt, sind voller Poesie und ähneln klassischen Fabeln – so auch »Das größte Haus der Welt«: Eine kleine Schnecke träumt davon, eben dies zu besitzen, und es wird in den schillernd-sten Farben und atemberaubenden For-men präsentiert. Am Ende ist sie dennoch froh, ein ganz normales und damit leicht transportables Häuschen zu tragen.

Mit mal hübschen, mal eher wenig überraschenden Küchensprüchen wartet Regina Schwarz in »Flotte Lotte – Kalter Hund« auf. Bei den im Untertitel als »ge-schmackvolle Gedichte« bezeichneten Reimen handelt es sich mehrheitlich um Vierzeiler über Lebensmittel und Koch-utensilien. Originell bebildert hat das Ganze Egbert Herfurth, Jahrgang 1944 und in der DDR ein renommierter Illu-strator. Die kleine Edition buntehunde hat sich offenbar aufs Kinderfreundlich-Kulinarische spezialisiert, denn hier sind bereits andere elegant gemachte Büchlein rund ums Essen erschienen.

Ein ausgesucht virtuos geschriebenes Buch vor allem für Jungen ist Milena Baisch mit »Anton taucht ab« gelungen. Es handelt von der Schwierigkeit des im Chatroom mit allen Wassern gewasche-nen Helden, sich auf die reale Welt ein-zulassen, in der so häufig Niederlagen zu kassieren sind. Daß er sich offen als »Ver-sager« fühlt, wagt Anton nur einem vom Großvater geangelten, aber für ein Abend-essen zu kleinen Barsch anzuvertrauen, den er »Piranha« tauft. Im Umgang mit Gleichaltrigen weiß er sich mit Coolness zu panzern. Milena Baisch schreibt »ne-benbei« auch über Eltern, die durchaus liebevoll sind, den Sohn nicht ernst neh-men, ihn mehr oder weniger unbewußt kleinmachen und ihm Selbstvertrauen nehmen, statt es zu stärken. Dennoch oder gerade deswegen ist Anton jemand, der sich am Ende zu helfen weiß.

Zu helfen wissen sich auch die Haupt-figuren in Will Gattis Jugendroman »Die-be!«. Das Ausrufezeichen ist zu viel (der Originaltitel lautet schlicht »Two Good Thieves«), ebenso die reißerische Ver-lagsreklame – »spannender Pageturner«, »moderne und knallharte Version von Oli-ver Twist«. Gerade ersteres ist das Buch des Briten und Weltenbummlers Gatti über weite Strecken nicht, was auch daran liegt, daß man vor allem anfangs über angestrengt-ambitionierte Bilder stolpert wie etwa »nicht genug Platz, um auch nur eine Katze umzudrehen« oder wenn jemand spricht, »die Stimme so weit ge-senkt, daß sie praktisch über den Fußbo-den kriecht«. Aber es entwickelt sich – zu einem wahrhaft düsteren Panorama eines Slums irgendwo am Rande einer lateinamerikanischen Großstadt: uner-trägliche Enge, brütende Hitze, Gestank, Mafia- und Polizeiterror und das Miß-trauen gegen jeden, das hier schon Zwölf-jährige verinnerlicht haben. Zwei Kinder dieses Alters stehen im Mittelpunkt: das Mädchen Baz, klug, verschlossen, jeden durchschauend, Gefahr zehn Meilen ge-

gen den Wind witternd, eine unübertrof-fene Sprinterin. Ein Genie in Sachen Ge-schicklichkeit und Geschwindigkeit auch Demi, mit dem gemeinsam sie auf Beu-tezug geht. Doch der Junge ist deutlich naiver, hat noch nicht alle Illusion und da-mit Hoffnung auf eine Zukunft im Barrio verloren. Möchte der Frau, die die beiden ausgesetzten Kinder einst aufgelesen und zu Dieben ausgebildet hat, weiter vertrau-en – obwohl die Einsatzmutter unter dem Druck der allgegenwärtigen Schatten-männer, die Schutzgelder eintreiben, zu jedem Menschenhandel bereit ist und die »Einkünfte« der Kinder unerbittlich und willkürlich verwaltet. Baz ist diejenige,

die gegen alle Überlebensregeln in dieser hitzeflirrenden und doch eiskalten Welt erst den Jungen Raoul und dann Demi zu retten versucht. Die Analogien zu Dik-kens sind tatsächlich unübersehbar. Und wenn der Verweis auf den Klassiker zum Thema Straßenkinder die Zahl der ver-kauften Exemplare auf Bestsellerniveau bringt, wäre das nur zu begrüßen. Ein bis zum Ende so schmerzhaft realistisches Buch hätte derart viel Aufmerksamkeit zumindest verdient. Aber die Wahrschein-lichkeit, daß es gegen Stephenie Meyers’ Vampiridyllen oder gar gegen die entspre-chenden Verfilmungen und Computer-spiele anstinken kann, dürfte gering sein.

Mit Coolness gepanzertKinder- und Jugendbücher der Saison: Poetisches für Kleine, harter Stoff für die Jugend. Von Jana Frielinghaus

Philip Waechter/Moni Port: Der Krakeeler. Beltz & Gelberg, Wein-heim 2010, 32 Seiten, 12,95 Euro;Leo Lionni: Das größte Haus der Welt. Beltz & Gelberg, Weinheim 2010, 32 Seiten, 12,95 Euro

Regina Schwarz/Eg-bert Herfurth: Flotte Lotte – Kalter Hund. In der Küche geht es rund. edition buntehunde, Re-gensburg 2010, 70 Seiten, 14,80 Euro

Milena Baisch: Anton taucht ab. Beltz & Gel-berg, Weinheim 2010, 112 Seiten, 9,95 Euro

Will Gatti: Diebe! Aus dem Englischen von Kar-sten Singelmann, Beltz & Gelberg, Weinheim 2010, 416 Seiten, 16,95 Euro

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Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 junge Welt 2 2 l i t e r a t u r

Vor der Schrift war das Kochen, künstlerisch Bekömmliches von einem Autor auf beiden Nahrungsgebieten gleichzeitig

ist selten. Die Wahrheit liegt auf dem Tel-ler oder im Gedruckten. Für dieses Buch darf statt des »oder« ein »und« stehen. So gesehen gilt es, eine Rarität zu vermelden: Vincent Klinks »Sitting Küchenbull. Ge-pfefferte Erinnerungen eins Kochs«.

Der Patron der »Wielandshöhe« in Stuttgart erzählt darin von Stationen sei-ner Kochwerdung und läßt keinen Zwei-fel: Die hat zwar einen datierbaren An-fang im Jahr 1949 mit seiner Geburt zu Schwäbisch Gmünd, abgeschlossen ist sie noch lange nicht. Das einfach-nicht-Auf-hörenwollen, Neues aufzunehmen, scheint Klinks Geheimnis Nummer eins. Das Buch handelt vom Verzehren, das vom In-Sich-Reinfressen himmelweit unterschieden ist, weswegen jene Vokabel einen württem-bergisch-philosophischen Hintergrund von Weltgeltung hat. Klinks Landsmann, der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel, soll bei Feiern mit Schülern und Freunden das Gastmahl stets mit einer Geste hin zu reichlich Speisen und Getränken und dem Satz eröffnet haben: »Es muß alles verzehrt werden«. Hegels Gäste nahmen das nicht nur als freundliche Aufforderung, hinzu-langen, sondern vermuteten, daß es sich um eine philosophische Zusammenfassung seines Satzes von der Substanz, die auch als Subjekt zu fassen sei, handele, also um den Hegelschen Begriff von Wahrheit, der Geschichte einschließt.

Die Wahrheit liegt im Verzehren. Um Beides geht es in diesem Buch, dem der Autor die Ode Wiglaf Drostes »Sitting Kü-chenbull« vorangestellt hat. Sie beginnt: »I’m gonna sing: hey Zwiebelring,/auch du, my little chicken wing,/swing her zu mir, zu Mutter./ I wanna shout out Sauerkraut,/yeah, shout it loud and shout it proud:/Ich spare nicht mit Butter.« Klink erzählt in lockerer Chronologie seine Lehr- und Wan-derjahre und startet in einer schwäbischen Bauernküche, in der Klink junior im Alter von sieben Jahren Klink senior, Tierarzt und Anhänger guten Essens und Trinkens, so erlebt: »Papa war der Mittelpunkt des Geschehens. Sein beträchtlicher Ranzen stand vor wie ein Bergrücken, er hätte darauf bequem das Glas Most abstellen können, das die Bäuerin ihm reichte. ›Net irgendein Moscht‹, erklärte sie. Papa hielt das ehemalige Senfglas gegen das Licht. Es war randvoll, kleine Bläschen stiegen auf. ›Bieramoscht (Birnenmost – A. S.), der isch no ganz frisch ond bizzelt no!‹ Sie schrie fast, aber das war ich gewohnt. Die Bau-ern schrieen andauernd. Es mochte davon kommen, daß sie zwar meist alles andere als reich waren, aber ein freies Leben ohne Nachbarn führten. Auf den Gehöften mußte man sich oft um Ecken herum unterhalten, gegen das Kuhgebrüll ankämpfen oder auf weiten Wiesen und Feldern die Verbindung zueinander aufrechterhalten.«

Vor dem Erzählen liegt das Beobach-tenkönnen. Wer es beherrscht, hat die erste Hürde der Kochkunst überwunden. Wer so schreiben kann wie Klink, ist ein großer Erzähler. Entscheidend sind Wachheit und mit dem Anfang anfangen, also Sehen, Hö-ren, Schmecken und Riechen. Das mindert

Vorurteile und erweitert den Horizont, vor-ausgesetzt, man weiß, was man will. Der junge Klink wußte das, wenn es ums Essen ging: »So gut wie möglich.« Unter dem Ti-tel »Vom Segen der Vertriebenen« folgt so die zweite Etappe des kulinarisch-philoso-phischen Bildungsromans: Im Klinkschen Elternhaus wohnten in den 50er Jahren »sogenannte Flüchtlinge, die aus Schlesien vertrieben worden waren«: »Neue Gerüche zogen durch die Flure. Papa sagte immer: ›Wären die nicht gekommen, wir schwäbi-schen Inzüchtler wären vollends verblödet.‹ Er mochte die Flüchtlinge, denn sie hatten gute Rezepte im Gepäck, waren pfiffig, und vor allem brachten sie uns den Knoblauch, der im Schwäbischen bis dahin verpönt ge-wesen war.«

Über die ausgreifende Schilderung ei-ner Hausschlachtung mit Wurstherstellung und reichlich Schnaps, dem Skizzieren der bedenklichen sozialen Folgen des Vordrin-gens der Konservennahrung, einem Pan-oramagemälde zum Thema Weihnachts-gans (»Der Nachschlag ist des Deutschen schönstes Gericht.«) und dicker werdende deutsche Männerbäuche geht es so von der sinnlichen Gewißheit, um wieder Hegel ins Feld zu führen, zum Verstand. Der Leser lernt, daß Schmecken gelernt sein will: »Auf das Bewußtsein kommt es an. Kurz-um, ohne Hirn kein Schmack.«

Ersteres wird Klink ab 1960 in einem katholischen Internat trainiert, letzterer ist in dem »kulinarischen Jammertal« am Ver-schwinden. Erwähnt sei aus aktuellen Grün-den, daß Klink das Geschrei um die angeb-lichen Pädophilenhöllen so an sich abtrop-fen läßt wie andere Moden: »Oft bin ich gefragt worden, ob die Patres nicht allesamt schwul waren, denn tatsächlich handelte es sich ausnahmslos um schöne Männer. Aber ich habe nie irgendwas in dieser Richtung gemerkt. Halt, doch. Wenn wir am Sonntag Ausgang hatten, mußten wir wohlgeordnet in Zweierreihen durch den Ort wackeln, damit kein Zögling abhanden kam. Pater Karg als Aufsicht geriet dabei ab und zu aus der Spur, weil er den Mädchen nachschaute. Genau wie wir, deren Beine sich dann oft mit denjenigen des Vordermanns verknäul-ten, sodaß wir übereinander purzelten.« So wäre auch das geklärt.

Über Lehre, Ausflüge nach Mailand und Bundeswehrzeit, landet diese Phänomeno-logie des Geistes folgerichtig beim »Badi-schen Küchengott«, dem Rastatter Meister-koch Rudolf Katzenberger, einem Philoso-phen, der über ein »geschlossenes System des Genusses« verfügt. Den letzten Schliff gibt es in München, dann Meisterprüfung und eigenes Restaurant. Ein Abschluß ist schließlich das absolute Wissen, hier in Kurzform: »1. Das Gericht soll nach dem schmecken, was es ist. 2. Aroma behalten die Produkte nur, wenn sie nicht kaputtgekocht, totgebraten oder zu lange auf dem Grill mal-trätiert werden. 3. Saucen sollen nicht mehr Sargnägel sein. 4. Nichts Aufgewärmtes und keine Tiefkühlware. Diese Regeln machen bis heute die gute Küche aus.«

So kann »Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten« aussehen, das einzige Ver-fahren, das einen nach Hegel und Marx zum Begreifen und weiterbringt. Das letzte Kapitel lautet daher: »Mehr als Essen und Trinken«. Auf viele neue Texte!

Schmecken lernenDer Koch und großartige Erzähler Vincent Klink hat Erinnerungen an seine Lehrjahre aufgeschrieben. Herausgekommen ist eine Phänomenologie des kulinarischen Bewußtseins. Von Arnold Schölzel

MURDER Songs From The Dark Side Of The SoulJimmie Rodgers/Ethel Waters/Billy Boy Arnold/Blind Boy Fuller/ Champian Jack Dupree/Lonnie Johnson/The Delmore Brothers/ Billie Holiday u. v. a.Blues, Hillbilly, Jugband-Music, Calypso, R&B and Tin Pan Alley versammeln sich hier und erzählen von der Nachtseite des Lebens, von brutalen hinterhältigen Verbrechen, von wahnsinnigen Mördern und unschuldigen Opfern.

Compiled by Christoph Wagner US-0399

HEAD OVER HIGH HEELSStrong & Female 1927–1959Ginger Rogers/Boswell Sisters/Doris Day/Tetty Hutton/Mamie van Doren/Jean Harlow/Mitzi Gaynor/Julie London/Peggy Lee/Josephine Baker/ Sophie Tucker/Marilyn Monroe/Marlene Dietrich u. v. a.Mit den Screwball-Komödien in den frühen Dreißigern waren plötzlich starke, schöne und erfolgreiche Frauen die Stars im Kino. Eine Genera tion von Sängerinnen und Schauspielerinnen, die Glamour und Emanzipation verbanden und ihren Kopf stolz über ihren High Heels trugen.

Compiled by Renate Heilmeier US-0401

EMBRYO 40Eine 40jährige Reise in ein Abenteuer ohne geo grafische und musikalische Grenzen – wir gratulieren. Mehr als vierhundert Musiker waren schon Teil von Embryo, all das hat Spuren hinterlassen und ist hier zu hören.„Embryo ist nicht so sehr ein Musikstil, als eine Haltung. Es geht um die ernsthafte Auseinandersetzung mit traditioneller Musik. Dahinter verbirgt sich ein soziales Anliegen: die Welt durch Musik zusammen zu bringen.“ C K McCarty, Franz Ferdinand (bei Embryo von 1999–2002)Compiled by Christoph Wagner

US-0404, ab 16.April in den Läden

BEYOND ISTANBUL 2Urban Sounds Of TurkeyFairuz Derin Bulut & Ceza/BirKiÜc/Orientation/Sema/Zafer Erdas/ Asik Veysel/Mira/Norrda/ Camur/Osman Ismen Project/Kirika/ Sultana u. v. a.DJ Ipeks Entdeckungsreise führt unmittelbar in ein Land der krassen gesellschaftlichen Umbrüche, weit jenseits der Klischees bekannter Pop-Exporte. Von Soul über HipHop und TripHop, Balkan-Klängen und Tanz-Musik der Roma, bis hin zu Chansons und elektronischem Sound.

Compiled by Ipek Ipekcioglu US-0398

I SMELL A RAT Early Black Rock’n Roll 1949–1959Howlin’ Wolf/Big Mama Thornton/Guitar Slim Well/Sister Rosetta Tharpe/Big Maybelle/Chuck Berry/ John Lee Hooker/Bo Diddley/ Andre Williams u. v. a.„I Smell A Rat“ sucht genauso wie sein Vorgänger „Roll Your Moneymaker“ nach den rohen Ursprüngen des Genres, konzentriert sich auf die eher düstere, Blues-besoffene und moralisch anrüchige Seite des schwarzen Rock’n Roll.

Compiled by Jonathan Fischer US-0414

DJANGO’S SPIRIT A Tribute To Django ReinhardtDjango Reinhardt/Kormac/Tony Murena & Son Ensemble/ Dotschy Reinhardt/Hoo Doo Girls/Mama Rosin’s Fréres Souchet/Dead Brothers/G.Rag Y Los Hermanos Patchekos u. v. a.Eine Verbeugung vor diesem großen Musiker und eine Hommage zu seinem 100ten Geburtstag. Es gratulieren Musiker aus HipHop, Fusion, Garagen-Soul, Elektroswing, Jazzmanouche und Zydeco.

Compiled by Susie Reinhardt US-0405

LABRASSBANDA Tourtermine: 20.03. Buchholz 25.03. Deggendorf 15.04. Birmingham 16.04. Liverpool 17.04. London 20.04. Hannover 21.04. Bremen 22.04. Lüneburg 23.04. Hamburg 24.04. Kiel 28.04. Münster 29.04. Fulda 30.04. Mühlheim 01.05. Köln 02.05. Koblenz

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Saral Sarkar

Die Krisen des KapitalismusEine andere Studie der politischen Ökonomie

ISBN 978-3-940865-00-7 385 Seiten I 22 o

Entgegen allen „linken“ und marxistischen Theorien, die vor-hersagten, dass der Kapitalismus an seinen inneren Widersprü-chen zugrunde gehen würde, konnte er sich bis heute am Leben halten – aller-dings zu einem hohen Preis. Der Autor zeichnet sehr detailliert und dennoch gut verständlich die Krisengeschichte des Kapitalismus seit Beginn des vorigen Jahrhunderts bis heute nach und zeigt Alternativen auf.

Elisabeth Voß

Wegweiser Solidarische Ökonomie Anders Wirtschaften ist möglich!

ISBN 978-3-930830-50-3 93 Seiten I 9 o

Die vielfältigen theoretischen Konzepte, praktischen Betriebe und Projekte werden in diesem Buch vorgestellt: Kommunen, Projekte in den Bereichen So-ziales, Kultur, Bildung und Medien, Frauen-projekte, Tauschringe, Umsonstläden, Finan-zierungsstrukturen, Verbände... Ergänzt wird dieser Überblick durch Beispiele von Projekten aus anderen Ländern und internationalen soli-darischen Wirtschaftsbeziehungen.

Vincent Klink: Sitting Küchenbull. Gepfeffer-te Erinnerungen eines Kochs. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009, 222 Seiten, 19,90 Euro

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junge Welt Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 2 3l i t e r a t u r

Vegetarismus ist en vogue. Aus der schrulligen Marotte einiger müslimampfender Fleischver-ächter und Weltgeistanbeter ist

nicht nur in Deutschland längst ein Mas-senphänomen geworden. Zehn Prozent der hiesigen Bevölkerung bezeichnen sich mittlerweile als Vegetarier, wobei die Bandbreite recht groß ist. Die meisten von ihnen verzichten lediglich auf Fleisch, bei anderen stehen auch tierische Nahrungs-mittel wie Eier, Milchprodukte und Honig auf dem Index. Die ganz harte Fraktion, die sogenannten Veganer, verzichten auf alles, was unter Verwendung tierischer Produkte hergestellt wurde. Das betrifft dann auch Lederschuhe. Oder Weine, die mit Eiweiß oder Gelatine geklärt wurden.

Abgesehen von ideologischen Geister-fahrten gibt es mindestens zwei gute Grün-de, auf fleischlose oder wenigstens -arme Ernährung umzustellen. Der wachsende Konsum des tierischen Eiweißes in den meisten reichen Staaten oder auch vielen Schwellenländern ist eine der Hauptur-sachen für Nahrungsmittelknappheit und Hunger in vielen Teilen der Welt, da der Anbau von Futtermitteln einen Großteil der Agrarressourcen in Anspruch nimmt. Um ein Kilogramm Fleisch zu erzeugen, werden sieben bis 16 Kilogramm Getrei-de benötigt. Auf der dafür notwendigen Fläche ließen sich im selben Zeitraum 200 Kilogramm Tomaten oder 160 Kilogramm Kartoffeln ernten.

Auch ernährungsphysiologisch ist der Fleischwahn alles andere als vorteilhaft. Abgesehen von der miesen Qualität der meisten Produkte aus Massentierhaltung ist die übermäßige Aufnahme von gesät-tigten Fettsäuren und bestimmter anderer tierischer Stoffe für viele Zivilisations-krankheiten von Fettleibigkeit über Arte-rienverkalkung bis hin zu Darmkrebs mit-verantwortlich.

Wer auf Fleisch verzichtet, muß allerdings dafür Sorge tragen, daß die Versorgung mit Eiweiß, Fetten, bestimmten Vitaminen und Spurenelementen etc. gesichert bleibt. Vie-le Jahre wurde vegetarisch allzu simpel mit »ohne Fleisch« übersetzt. Entsprechende »Gerichte« in Restaurants bestanden dann schlicht aus den Beilagen. Und auch diverse Kochbücher kamen über ein paar »leckere Gemüsegerichte« nicht hinaus.

Ein Fall für den Teubner-Verlag, des-sen kulinarische Buchreihen dafür bekannt sind, branchentypisches Lifestylegesabbel ebenso zu meiden wie konzeptlose Anhäu-fungen von meist nur eingeschränkt nach-vollziehbaren Rezepten. Zwar war das The-ma vegetarisch kochen dem Verlag noch kein »Großes Buch« wert, wie zuletzt zu den Soßen, aber auch das vor einigen Wo-chen erschienene »Handbuch Vegetarisch«

bietet in kompakter Form alles Wichtige für einen Einstieg in die Welt des reflektier-ten, fleischlosen Essens.

Es beginnt mit einem umfassenden Ka-talog von über 230 für die vegetarische Küche besonders relevanten Produkten. In bebilderten Kurzbeschreibungen gibt es Hinweise auf Qualitätsmerkmale, La-gerung und Verwendungsmöglichkeit. Be-

sonders für Novizen wichtig ist die Vorstel-lung von nur scheinbar exotischen Basis-zutaten wie Algen oder dem pflanzlichen Geliermittel Agar-Agar. Dem Thema an-gemessen werden Hülsenfrüchte und Ge-treide in allen erdenklichen Varianten vom Korn bis zum Grieß besonders ausführlich besprochen. Schließlich handelt es sich um jene Eiweißlieferanten, die vegetari-sche Ernährung ohne Mangelerscheinun-gen überhaupt erst möglich machen. Auch auf Nüsse, Samen und Sprossen wird eingegangen. Und da das Essen ja nicht

nur gesund sein, sondern auch schmecken soll, wird Kräutern und Gewürzen ein gebührender Stellenwert eingeräumt. Ein kleiner Saisonkalender hilft anschließend dem qualitätsbewußten Konsumenten bei der Suche nach frischen Produkten. Denn wahre Vielfalt liegt im temporären Ver-zicht: Kein Mensch braucht im Winter und im Frühling Erdbeeren, dafür kann

man sich im April bereits auf Bärlauch und Freiland-Blattspinat freuen. Der Som-mer bietet dann unter anderem Tomaten, Buschbohnen und jede Menge Steinobst. Im September startet die Pilzsaison, wäh-rend die beiden letzten Monate des Jahres mit Genüssen wie Maronen, Rosenkohl und Petersilienwurzel aufwarten.

Nachdem man weiß, was es so alles gibt, geht es im zweiten Abschnitt des Bu-ches um die Verarbeitung. Dazu gehört die fachgerechte Vorbereitung von Arti-schocken ebenso wie ein knappes Dutzend

Grundrezepte für Eierspeisen. Im Mittel-punkt stehen aber die wirklichen Basics, wie die Herstellung einer vielfältig ver-wendbaren Gemüsebrühe, Garmethoden für verschiedene Getreideprodukte und Gemüse oder das Marinieren einer weite-ren vegetarischen Hauptzutat: des Tofus. Zu Unrecht steht der besonders in Asien weit verbreitete Sojaquark in dem Ruf, be-stenfalls als neutral schmeckender Nähr-stofflieferant zu taugen.

Der anschließende Rezeptteil umfaßt über 150 teils klassische, teils überraschen-de Vorschläge und ist in die Bereiche Salate und Vorspeisen, Gemüse und Kartoffeln, Teigwaren, Getreide und Reis sowie Cre-pes, Terrinen und Pasteten gegliedert. Wie bei Teubner-Büchern üblich, wird jeder Zubereitungsschritt anschaulich erklärt, teilweise auch aufwendig bebildert. Ein gediegenes vegetarisches Drei-Gänge-Me-nü könnte folgendermaßen aussehen: Wir starten mit einem Linsensalat mit Kürbis, welcher besonders durch sein Apfelessig-Knoblauch-Dressing besticht. Anschlie-ßend könnte man sich ein Pilzsüppchen mit Kräuter-Semmelknödeln gönnen. Als Hauptgerichte wären z. B. ein Süßkartoffel-Curry an Basmatireis sowie Wirsingrou-laden mit Kastanien-Grünkern-Füllung zu empfehlen. Wer nach einem solchen Menü immer noch meint, da habe das Fleisch »gefehlt«, dem ist in dieser Hinsicht wohl nicht mehr zu helfen.

Der Rezeptteil enthält keine Desserts, was nachzuvollziehen ist, da diese in der Regel nicht spezifisch für vegetarische Ernährung sind. Was aber wirklich fehlt, sind vegetari-sche Brotaufstriche, denn aus Zutaten wie Tofu, Oliven, Tomaten, Knoblauch, grünem Pfeffer usw. lassen sich wahre Köstlichkeiten für die kalte Küche zaubern. Außerdem hät-te man sich einige Ausführungen zu ernäh-rungsphysiologischen Fragen fleischloser Kost gewünscht. Doch das kann ein derartig kompaktes Handbuch nicht leisten. Und so ist zu hoffen, daß bei Teubner in nicht zu fer-ner Zeit ein »Großes Buch der vegetarischen Küche« erscheint, denn in dieser Edition wird auf ausführliche Hintergründe stets Wert gelegt. Für die alltägliche Küchenpra-xis und besonders für »Einsteiger« in den partiellen oder kompletten Fleischausstieg ist das »Handbuch Vegetarisch« dennoch uneingeschränkt zu empfehlen.

Mehr als Müsli Das »Handbuch Vegetarisch«: Kompaktes Nachschlagewerk für den Einstieg in die fleischlose Ernährung. Von Rainer Balcerowiak

»Handbuch Vegeta-risch«, Edition Teubner bei Gräfe & Unzer, Mün-chen 2010, 416 Seiten, 25 Euro

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G. Rosenkranz

Mythen der Atomkraft

Wie uns die Energielobby

hinters Licht führt

109 Seiten, 8,95 Euro

ISBN 978-3-86581-198-1

»Atomstrom erscheint nur

deshalb sauber, weil der

Schmutz und die Gefahren

für unsere Kinder und

zukünftige Generationen im

Boden vergraben werden.

Sigmar Gabriel, Bundesumweltminister a.D.

Alles Krise und kein Ende? In turbulenten Zeiten suchen die

Menschen nach Orientierung und sinnvollen Alterna tiven.

Die neue Reihe »quergedacht« macht mit diesen Ideen und

Konzepten bekannt. Renommierte Autorinnen und Autoren

präsentieren in kurz weiligen Essays zentrale und aktuelle

Themen aus Ökologie und Nach haltigkeit. Die kompakten

Bände geben unge wöhn liche Antworten auf drängende

Fragen und regen zum Mit- und Querdenken an.

Reihe quergedacht

r rrr n dd m n.

a.D.

K. A. Geißler

Lob der PauseWarum unproduktive Zeiten

ein Gewinn sind

109 Seiten, 8,95 Euro

ISBN 978-3-86581-200-1

»Du bist sehr eilig, meiner

Treu! Du suchst die

Tür und läufst vorbei! Johann Wolfgang von Goethe

Die guten Seiten der Zukunft

Erhältlich im Buchhandel oder bei

www.oekom.de, [email protected]

V. Bennholdt-Thomsen

Geld oder LebenWas uns wirklich reich macht

93 Seiten, 8,95 Euro

ISBN 978-3-86581-195-0

»Genug zu haben ist Glück,

mehr als genug zu haben

ist unheilvoll. Das gilt

von allen Dingen, aber

besonders vom Geld. Lao-Tse

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Donnerstag, 18. März 2010, Nr. 65 junge Welt 2 4 l i t e r a t u r

Die Künstlerin Fehmi Baum-bach, Jahrgang 1971, hat be-reits eine derart lange Ak-tivitätsliste von Ausstellun-

gen und anderen kulturellen Tätigkeiten vorzuweisen, daß eine relevante Zusam-menfassung ihres bisherigen Schaffens lange überfällig war. Die besten Arbei-ten der letzten zehn Jahre liegen nun in einem wunderbaren Bildband vor. Auf-gewachsen in der niedersächsischen Pro-

vinz, studierte Baumbach von 1992–97 freie Kunst an der HbK Braunschweig und siedelte danach als freie Künstle-rin ins brodelnde Berlin um. Als Mit-begründerin der Künstlergruppe »The Bewegungselite« beteiligte sie sich an Hausbesetzungen in der ganzen Welt, deren Ziel es war, in eben diesen ein-genommenen Gebäuden, Ausstellungen zu realisieren. Vielbeschäftigter DJ und Mitglied des Pop-Chors Berlin: Fehmi Baumbach war Anfang der Nullerjahre außerdem sicher das, was man als eine umtriebige Größe des Berliner Nacht-lebens bezeichnen könnte. Seit einigen

Jahren nun, mittlerweile aufs Dorf ge-zogen und Mutter einer kleinen Tochter geworden, stellt sie die Reihe »friendly capitalism lounge« auf die Beine und realisiert zahlreiche Gemeinschaftsaus-stellungen mit befreundeten Künstlern wie etwa Jim Avignon.

Der Tradition des frechen Abgrei-fens von öffentlichen Räumen ist sie bis heute treu geblieben. Keinesfalls läßt sich das energiegeladene Organisa-tionstalent vorschreiben, wo und wann es seine Kunst präsentieren möchte. Mit erfrischendem Elan werden immer wie-der neue Projekte unterschiedlicher Art in Angriff genommen, wobei ihr eine Arbeitsweise hilft, die diesem Tempo und Rhythmus entspricht: Zielgerichtet arbeitet Fehmi oft direkt auf die nächste Ausstellung hin. Angeregt durch das, was sie im Alltäglichen anfliegt, schnip-pelt sie sich in ihren Collagen zurecht, was man als reflektierte Momentauf-nahmen einer Neugierigen bezeichnen könnte.

Ihre zumeist kleinformatigen Arbei-ten erzählen von dem, was einem pas-siert, wenn man einfach nur da ist und lebt: Als Mensch, Frau und Mutter. Eine vorbeifliegende Idee, eine kurze Auf-hellung des Bewußtseins- der Gedan-kenblitz also – alles wird schnell auf-genommen, verarbeitet und möglichst zügig weitergegeben. Dabei arbeitet Fehmi Baumbach sowohl mit kurzen

Texten als auch mit allerlei Papierkram, den sie ansammelt, hortet, im richti-gen Moment zerlegt und neu arrangiert aufklebt. Es entstehen so Bildwelten, die auf den ersten Blick als für sich stehen und auch dekorativ als Grafik funktionieren, kurz danach aber abwat-schen und dem Betrachter mitunter an die Gurgel gehen .

Katharsis in fröhlich, wenn man so will. Da Baumbach sich der Abbildun-gen in Kunstzeitschriften – also gewis-sermaßen dem Output anderer Künst-ler – bedient (gerne verwendet sie auch Geschichtschroniken der 70er Jahre) – sind ihre Arbeiten bisweilen auch als Coverversionen und Sampling zu verstehen. Amüsant, oftmals aber auch von Selbtzweifeln und einem Zaudern

geprägt, das berührt, weil es seltsam vertraut wirkt. Ihre Bilder sind wie Ta-gebucheintragungen einer Freundin, die wir ausdrücklich lesen dürfen.

Katharsis in fröhlichFehmi Baumbachs wunderbare Welt der aufgeklebten Gedankenblitze jetzt als Bildband im Ventil-Verlag. Von Rebecca Spilker

Fehmi Baumbach: My head is a bubble with in-teresting trouble. Ventil Verlag, Mainz 2010, 112 Seiten, 15 Euro. Sämtli-che Illustrationen dieser Beilage sind dem Band entnommen.

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Die Netzseite www.meinhard-creydt.de enthält:1) Antworten auf die Frage, wie eine nach-

kapitalistische Zukunft aussehen kann, soll und muss

2) Analyse und Kritik link(sliberal)er Ideale & Fetische

3) Analyse und Kritik zentraler Knotenpunkte der Sozialwissenschaft

4) Analyse zentraler Strukturen der gegen-wärtigen Gesellschaft

5) Analyse und Kritik zentraler Momente von Lebensweise und Kultur

6) Politische Perspektiven

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Besuchen Sie den Stand der Tageszeitung junge Welt und der Musikzeitschrift melodie & rhythmus

Leipziger Buchmesse 2010, vom 18.–21. MärzHalle 5 Stand E 302

Sie lügen wie gedruckt. Wir drucken, wie sie lügen.