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Iljitsch winkte ab. Russische Klassik und französische Chansons:Was Le- nin an der schönen Literatur gefiel. Von Nadeschda Krupskaja Seite 2 Revolutionäre Realpolitik. Lenins Le- benswerk ist angewandte Marxsche Dialektik in einem Übergangszeital- ter.Von Georg Lukács Seite 4 Der von Lenin theoretisch begrün- detete Antiimperialismus behindert heute die linke Regierungsfähigkeit. Von Werner Pirker Seite 8 Keine Kriege? Lenin, die »zivili- satorischen« Missionen des Westens und die »Herrenvolk democracy«. Von Domenico Losurdo Seite 10 junge W elt Die Tageszeitung lenin Beilage der Tageszeitung junge Welt Mittwoch, 21. März 2010, Nr. 92 Kein Denkmal. Ein Denkmal Den Konterrevolutionären von 1989/90 war besonders wichtig, die Erinnerung an Lenin zu beseitigen. Nun ist sie ziemlich wach. Von Arnold Schölzel I m dänischen Exil schrieb Bertolt Brecht in den 30er Jahren des ver- gangenen Jahrhunderts das Gedicht »Die unbesiegliche Inschrift«, dem er zunächst den Titel »Propaganda« geben wollte. Es beruht auf einer Begebenheit, die er den 1930 auf deutsch erschiene- nen Erinnerungen des italienischen Revo- lutionärs Giovanni Germanetto entnahm, und beginnt mit den Zeilen: »Zur Zeit des Weltkriegs/In einer Zelle des italienischen Gefängnisses San Carlo/Voll von verhaf- teten Soldaten, Betrunkenen und Dieben/ Kratzte ein sozialistischer Soldat mit Ko- pierstift in die Wand: Hoch Lenin!/Ganz oben, in der halbdunklen Zelle, kaum sichtbar, aber/Mit ungeheuren Buchsta- ben geschrieben./Als die Wärter es sahen, schickten sie einen Maler mit einem Eimer Kalk/Und mit einem langstieligen Pinsel übertünchte er die drohende Inschrift./Da er aber mit seinem Kalk nur die Schrift- züge nachfuhr/Stand oben in der Zelle nun in Kalk: Hoch Lenin!« Die Prozedur wird mit einem Maurer wiederholt, der die Inschrift auskratzt, so daß nun »Hoch Le- nin!« tief eingeritzt dort steht. Das Gedicht endet: »Jetzt entfernt die Mauer! sagte der Soldat.« Das Ende der DDR feierten Rechtsstaat und Bürgerrechtler ab 1989 (ähnlich dem Vorgehen der Taliban in Afghanistan) u. a. mit der Vernichtung von Bibliotheken und Büchern, Galerien und Gemälden, der Be- seitigung von Polikliniken und Akademi- en, der Säuberung von Hochschulen und Medien. Umsichtig tauschte man soziali- stische, kommunistische und antifaschisti- sche Straßennamen aus. Die Clara-Zetkin- Straße in Berlin heißt wieder nach einer Hohenzollernprinzessin. In vielen Orten vergriffen sich die vom kommunistischen Joch »Befreiten« an Friedhöfen und Ge- denkstätten, die den bei der Niederringung des deutschen Faschismus gefallenen Sol- daten der RotenArmee gewidmet waren, bis sich Rußland bei der Bundesregierung nach Vertragstreue erkundigte. Besonders wichtig war offenbar die Beseitigung des Lenin-Denkmals auf dem nach dem russischen Revolutionär benannten Platz in Berlin. Dessen nahm sich der Senat selbst an. Man ließ das Stadtbezirksparlament Friedrichshain zu- nächst zufriedenstellend abstimmen, dann strich Stadtentwicklungssenator Volker Hassemer (CDU) das Lenin-Monument von der Denkmalliste, auf die es die DDR, und nicht der Stadtbezirk, gesetzt hatte. Herr Hassemer ist übrigens ein juristisch gebildeter Bürger-Taliban, der heute z. B. neben Richard von Weizsäcker oder dem Frontstadtjournalisten Jürgen Engert dem Kuratorium der »Freunde der Antike auf der Museumsinsel Berlin« angehört. Wi- derstand der Anwohner vom Leninplatz hatte selbstverständlich keinen Erfolg – es handelte sich nur um Ostdeutsche. Am 8. November 1991, einen Tag nach dem Jahrestag der Oktoberrevolution, begann der Abriß, der sich wegen andauernder Protestaktionen bis Februar 1992 verzö- gerte. Den Ausradierern war der Vorgang so wichtig, daß sie die Demontage des Denkmalkopfes in die westdeutsche DDR- Blödelei »Good by Lenin« einfügten. Die 129 Teile des Denkmals wurden in einer Sandgrube versenkt. 2009 streute man Ge- rüchte, den Kopf zusammen mit Teilen anderer geschliffener Denkmale auf Dauer in der Zitadelle Spandau auszustellen. Die Westberliner Frontstadtpresse reagierte mit viel Schaum. Das Denkmal ist weg und doch da. Das hat Peter Hacks gewußt, wie in seinem Gedicht »Denkmal für ein Denk- mal« nachzulesen ist. Es beginnt mit den Zeilen: »Was für ein roter Fels im Heide- sand,/Wirre Blöcke, ungefügte Kloben?/ Wie gelangt Granit ins märkische Land?/ Welche Eiszeit hat ihn hergeschoben?« Es endet: »Terror kann der Leninbilder spotten,/Doch nicht Lenins Wort im Wald versenken./Terror kann die Denkmäler verschrotten,/Nicht das Denken.« Reaktionäre hinterlassen stets viele To- te und Dummheiten. Die Konterrevolutio- näre von 1989/90 begannen mit letzteren und lassen seither mehr und mehr Kriegs- tote folgen. Ihr Problem: Lenin hat auch diesen Ablauf schon notiert. Weil er zur Gegenwart eine Menge zu sagen hat, ist das beseitigte Denkmal immer noch eins. Es denkt im Lande. Von Hugo Chávez emp- fohlen: Lenins »Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung«. Eine Diskussion mit Ellen Brombacher,Willi Gerns und Erich Hahn, Moderation: Arnold Schölzel. Donnerstag, 22. April, 19 Uhr, jW-Ladengalerie,Tor- straße 6, 10119 Berlin Die Montagen dieser Beilage gestaltete die jW-Fotoredaktion PHOTOCASE.DE/ERAMAM (M)

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junge Welt Mittwoch, 21. April 2010, Nr. 92 1l e n i n

Iljitsch winkte ab. Russische Klassik und französische Chansons: Was Le­nin an der schönen Literatur gefiel. Von Nadeschda Krupskaja Seite 2

Revolutionäre Realpolitik. Lenins Le­benswerk ist angewandte Marxsche Dialektik in einem Übergangszeital­ter. Von Georg Lukács Seite 4

Der von Lenin theoretisch begrün­detete Antiimperialismus behindert heute die linke Regierungsfähigkeit. Von Werner Pirker Seite 8

Keine Kriege? Lenin, die »zivili­satorischen« Missionen des Westens und die »Herrenvolk democracy«. Von Domenico Losurdo Seite 10 jungeWelt

Die Tageszeitung

l e n i n Beilage der Tageszeitung junge Welt Mittwoch,21. März 2010, Nr. 92

Kein Denkmal. Ein DenkmalDen Konterrevolutionären von 1989/90 war besonders wichtig, die Erinnerung an Lenin zu beseitigen. Nun ist sie ziemlich wach. Von Arnold Schölzel

Im dänischen Exil schrieb Bertolt Brecht in den 30er Jahren des ver-gangenen Jahrhunderts das Gedicht »Die unbesiegliche Inschrift«, dem

er zunächst den Titel »Propaganda« geben wollte. Es beruht auf einer Begebenheit, die er den 1930 auf deutsch erschiene-nen Erinnerungen des italienischen Revo-lutionärs Giovanni Germanetto entnahm, und beginnt mit den Zeilen: »Zur Zeit des Weltkriegs/In einer Zelle des italienischen Gefängnisses San Carlo/Voll von verhaf-teten Soldaten, Betrunkenen und Dieben/Kratzte ein sozialistischer Soldat mit Ko-pierstift in die Wand: Hoch Lenin!/Ganz oben, in der halbdunklen Zelle, kaum sichtbar, aber/Mit ungeheuren Buchsta-ben geschrieben./Als die Wärter es sahen, schickten sie einen Maler mit einem Eimer Kalk/Und mit einem langstieligen Pinsel übertünchte er die drohende Inschrift./Da er aber mit seinem Kalk nur die Schrift-züge nachfuhr/Stand oben in der Zelle nun in Kalk: Hoch Lenin!« Die Prozedur wird mit einem Maurer wiederholt, der die Inschrift auskratzt, so daß nun »Hoch Le-

nin!« tief eingeritzt dort steht. Das Gedicht endet: »Jetzt entfernt die Mauer! sagte der Soldat.«

Das Ende der DDR feierten Rechtsstaat und Bürgerrechtler ab 1989 (ähnlich dem Vorgehen der Taliban in Afghanistan) u. a. mit der Vernichtung von Bibliotheken und Büchern, Galerien und Gemälden, der Be-seitigung von Polikliniken und Akademi-en, der Säuberung von Hochschulen und Medien. Umsichtig tauschte man soziali-stische, kommunistische und antifaschisti-sche Straßennamen aus. Die Clara-Zetkin-Straße in Berlin heißt wieder nach einer Hohenzollernprinzessin. In vielen Orten vergriffen sich die vom kommunistischen Joch »Befreiten« an Friedhöfen und Ge-denkstätten, die den bei der Niederringung des deutschen Faschismus gefallenen Sol-daten der RotenArmee gewidmet waren, bis sich Rußland bei der Bundesregierung nach Vertragstreue erkundigte.

Besonders wichtig war offenbar die Beseitigung des Lenin-Denkmals auf dem nach dem russischen Revolutionär benannten Platz in Berlin. Dessen nahm

sich der Senat selbst an. Man ließ das Stadtbezirksparlament Friedrichshain zu-nächst zufriedenstellend abstimmen, dann strich Stadtentwicklungssenator Volker Hassemer (CDU) das Lenin-Monument von der Denkmalliste, auf die es die DDR, und nicht der Stadtbezirk, gesetzt hatte. Herr Hassemer ist übrigens ein juristisch gebildeter Bürger-Taliban, der heute z. B. neben Richard von Weizsäcker oder dem Frontstadtjournalisten Jürgen Engert dem Kuratorium der »Freunde der Antike auf der Museumsinsel Berlin« angehört. Wi-derstand der Anwohner vom Leninplatz hatte selbstverständlich keinen Erfolg – es handelte sich nur um Ostdeutsche. Am 8. November 1991, einen Tag nach dem Jahrestag der Oktoberrevolution, begann der Abriß, der sich wegen andauernder Protestaktionen bis Februar 1992 verzö-gerte. Den Ausradierern war der Vorgang so wichtig, daß sie die Demontage des Denkmalkopfes in die westdeutsche DDR-Blödelei »Good by Lenin« einfügten. Die 129 Teile des Denkmals wurden in einer Sandgrube versenkt. 2009 streute man Ge-

rüchte, den Kopf zusammen mit Teilen anderer geschliffener Denkmale auf Dauer in der Zitadelle Spandau auszustellen. Die Westberliner Frontstadtpresse reagierte mit viel Schaum. Das Denkmal ist weg und doch da.

Das hat Peter Hacks gewußt, wie in seinem Gedicht »Denkmal für ein Denk-mal« nachzulesen ist. Es beginnt mit den Zeilen: »Was für ein roter Fels im Heide-sand,/Wirre Blöcke, ungefügte Kloben?/Wie gelangt Granit ins märkische Land?/Welche Eiszeit hat ihn hergeschoben?« Es endet: »Terror kann der Leninbilder spotten,/Doch nicht Lenins Wort im Wald versenken./Terror kann die Denkmäler verschrotten,/Nicht das Denken.«

Reaktionäre hinterlassen stets viele To-te und Dummheiten. Die Konterrevolutio-näre von 1989/90 begannen mit letzteren und lassen seither mehr und mehr Kriegs-tote folgen. Ihr Problem: Lenin hat auch diesen Ablauf schon notiert. Weil er zur Gegenwart eine Menge zu sagen hat, ist das beseitigte Denkmal immer noch eins. Es denkt im Lande.

Von Hugo Chávez emp­fohlen: Lenins »Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung«. Eine Diskussion mit Ellen Brombacher, Willi Gerns und Erich Hahn, Moderation: Arnold Schölzel. Donnerstag, 22. April, 19 Uhr, jW­Ladengalerie, Tor­straße 6, 10119 Berlin

Die Montagen dieser Beilage gestaltete die jW­Fotoredaktion

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Mittwoch, 21. April 2010, Nr. 92 junge Welt 2 l e n i n

Der Genosse, der mich zuerst mit Wladimir Iljitsch bekannt machte, sagte mir, Iljitsch sei ein gelehrter Mann, lese aus-

schließlich wissenschaftliche Bücher, habe in seinem Leben keinen einzigen Roman und niemals Gedichte gelesen. Ich war baß erstaunt. Ich selbst hatte in meiner Jugend alle Klassiker immer wie-der gelesen, ich kannte fast den ganzen Lermontow und anderes auswendig, und Schriftsteller wie Tschernyschewski, Leo Tolstoi und Uspenski sind als etwas Be-deutsames in mein Leben eingegangen. Es erschien mir seltsam, daß es einen Menschen geben sollte, den das alles überhaupt nicht interessierte.

Dann lernte ich Iljitsch bei der Arbeit näher kennen und erfuhr, wie er die Men-schen beurteilte. (…) Das Leben aber ge-staltete sich damals so, daß wir niemals Zeit fanden, über dieses Thema zu spre-chen. Erst später, in Sibirien, erfuhr ich, daß Iljitsch die Klassiker nicht weniger als ich selbst gelesen hatte, daß er zum Bei-spiel Turgenjew mehrmals gelesen hatte. Ich nahm nach Sibirien Bücher von Pusch-kin, Lermontow und Nekrassow mit. Wla-dimir Iljitsch legte sie mit den Schriften Hegels neben sein Bett, und an den Aben-den las er sie immer wieder. Am mei-sten liebte er Puschkin. Er schätzte jedoch nicht nur die künstlerische Form. So liebte er beispielsweise Tschernyschewskis Ro-man »Was tun?« trotz seiner mangelhaften künstlerischen, naiven Form. Ich war er-staunt, wie aufmerksam er diesen Roman

las und welche Feinheiten er in ihm ent-deckte. Übrigens verehrte er den ganzen Menschen Tschernyschewski, und sein si-birisches Album enthielt zwei Bilder die-ses Schriftstellers, auf dem einen war von Lenins Hand das Geburtsjahr (1828) und das Todesjahr (1889) vermerkt. In Iljitschs Album gab es ferner Bilder von Émile Zo-la und von den russischen Schriftstellern Herzen und Pissarew. Pissarew wurde von Wladimir Iljitsch seinerzeit viel gelesen und sehr geschätzt. Es fällt mir ein, daß wir in Sibirien auch Goethes »Faust« in deutscher Sprache und einen schmalen Band Gedichte von Heine hatten. (…)

VorstadttheaterSpäter, während der zweiten Emigration, in Paris, las Iljitsch gern Victor Hugos Ge-dichte »Châtiments« (Vergeltung) über die Revolution von 1848, die Hugo seinerzeit in der Verbannung geschrieben hatte und die heimlich nach Frankreich gebracht wurden. Diese Gedichte enthalten eine Menge naiven Schwulst, aber dennoch spürt man darin den Atem der Revolution. Sehr gern besuchte Iljitsch verschiedene Cafés und Vorstadttheater, um revolutio-nären Chansonniers zuzuhören, die in den Arbeitervierteln zu allem möglichen san-gen: von angetrunkenen Bauern, die einen durchreisenden Agitator in die Deputier-tenkammer wählen, von Kindererziehung, von Arbeitslosigkeit und dergleichen mehr. Besonderes Gefallen fand Iljitsch an Montégus. Als Sohn eines Kommunar-

den war Montégus der Liebling der Pari-ser Arbeitervororte. Seine improvisierten Lieder – stets in die lebhaften Farben des tagtäglichen Lebens gekleidet – vertra-ten zwar keine bestimmte Ideologie, doch sprach aus ihnen viel aufrichtige Begeiste-rung. Häufig sang Iljitsch den Refrain des Liedes an das 17. Regiment, das sich ge-weigert hatte, auf Streikende zu schießen: »Salut, salut à vous, soldats du 17ème« (Seid gegrüßt, seid gegrüßt, Soldaten des 17.). Auf einer russischen Abendveranstal-tung kam Iljitsch einmal mit Montégus ins Gespräch; es war seltsam, wie diese bei-den grundverschiedenen Männer – Mon-tégus ging später, als der Krieg ausbrach, ins Lager der Chauvinisten über – von der Weltrevolution träumten. (…) Für ein paar Stunden kam zu uns eine französische Scheuerfrau. Einmal hörte Lenin, wie sie ein Lied summte. Es war ein elsässisches Lied. Iljitsch bat die Scheuerfrau, es ihm vorzusingen und ihm die Worte vorzuspre-chen, und dann sang er es häufig selber. Es endete mit den Worten: »Vous avez pris l’Alsace et la Lorraine,/Mais malgré vous nous resterons francais;/Vous avez pu ger-maniser nos plaines,/Mais notre cœur – vous ne l’aurez jamais!« (Ihr habt euch Elsaß und Lothringen genommen, aber euch zum Trotz bleiben wir Franzosen; ihr konntet unsere Felder germanisieren, aber unser Herz werdet ihr niemals besitzen!)

Dies war im Jahre 1909, in der Zeit der Reaktion; die Partei war zerschlagen, doch ihr revolutionärer Geist war nicht gebrochen. Und dieses Lied paßte aus-

gezeichnet zur Stimmung Iljitschs. Man braucht nur zu hören, wie siegesbewußt aus seinem Munde die Worte des Lie-des ertönten: Mais notre cœur – vous ne l’aurez jamais! (…)

Puschkin oder MajakowskiSpäter dann, während des Krieges, be-geisterte sich Wladimir Iljitsch für Bar-busses Buch »Le Feu« (Das Feuer), dem er gewaltige Bedeutung zumaß. Dieses Buch stand in vollem Einklang mit sei-ner damaligen Stimmung. Ins Theater kamen wir selten. Wenn wir einmal hin-gingen, so fiel die Nichtigkeit des Stücks oder die fehlende künstlerische Wahr-heit Wladimir Iljitsch jedesmal schwer auf die Nerven. In der Regel gingen wir, wenn wir das Theater besuchten, schon nach dem ersten Akt wieder weg. Die Genossen lachten uns aus: Umsonst habt ihr Geld ausgegeben. (…)

Und wie war es schließlich in Ruß-land? Die neue Kunst erschien Iljitsch fremd und unverständlich. (…) Eines Abends wollte sich Iljitsch ansehen, wie die Jugend in der Kommune lebt. Wir beschlossen, in den Höheren staatlichen künstlerisch-technischen Werkstätten Warja Armand zu besuchen. Es war, wenn ich nicht irre, im Jahre 1921 an dem Tage, an dem (der anarchistische Theoretiker) Kropotkin beigesetzt wur-de. Es war ein Hungerjahr, aber die Jugend war voller Begeisterung. Die jungen Leute schliefen in der Kommune fast auf bloßen Brettern, Brot hatten sie keins, aber »dafür haben wir Grütze«, erklärte mit strahlendem Gesicht das diensthabende Kommunemitglied der erwähnten Werkstätten. Man kochte für Iljitsch aus dieser Grütze einen vortreff-lichen Brei, allerdings ohne Salz. Iljitsch blickte die jungen Leute an, er sah in die strahlenden Gesichter der ihn umrin-genden jungen Künstler und Künstlerin-nen; und ihre Freude spiegelte sich auch auf seinem Gesicht. Sie zeigten ihm ihre naiven Zeichnungen, erklärten sie ihm und überschütteten ihn mit Fragen. Er aber lachte, wich Antworten aus und beantwortete Fragen mit Gegenfragen: »Was lest ihr? Lest ihr Puschkin?« »O nein«, platzte einer von ihnen heraus, »der war doch ein Bourgeois. Wir lesen Majakowski.« Iljitsch lächelte. »Meiner Ansicht nach ist Puschkin besser.« Da-nach wurde Iljitsch ein bißchen milder gegen Majakowski gestimmt. Bei sei-nem Namen erinnerte er sich der jungen Künstler aus den Kommunewerkstätten (…). Später lobte Iljitsch einmal Ma-jakowski für seine Verse, in denen er den sowjetischen Bürokratismus ver-spottete. Von den zeitgenössischen Sa-chen gefiel Iljitsch, erinnere ich mich, ein Roman Ehrenburgs, der den Krieg schilderte: »Das ist, weißt du, Ilja der

Iljitsch winkte abRussische Klassik und französische Arbeiterchansons: Was Lenin an der schönen Literatur gefiel. Von Nadeschda Krupskaja

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Nadeschda Konstan­tinowna Krupskaja (1869–1939) war die Ehe­frau und Kampfgefährtin Lenins. 1926 notierte sie den hier abgedruck­ten Text, der 1927 zum erstenmal in der Zeit­schrift Narodny Utschitel (Der Volkslehrer) Nr. 1 erschien.Den Text entnahmen wir dem Band: Nadeschda Krupskaja: Das ist Lenin. Berlin 1966

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22. April 1870: Wladimir Iljitsch Uljanow wird in Simbirsk (seit 1924 Uljanowsk) geboren. Sein Vater ist der Volksschulinspektor Ilja Nikola-jewitsch Uljanow (1831–1886), seine Mutter Maria Alexandrowna geborene Blank (1835–1916). Wladimir Iljitsch war das vierte von insgesamt acht Kin-dern der Familie.

20. Mai 1887: Uljanows Bruder Alex-ander (geb. 1866) wird wegen Beteili-gung an einem Attentat auf Zar Alexan-der II. in St. Petersburg hingerichtet.

22. Juni 1887: Wladimir Uljanow erhält das Reifezeugnis mit einer Gold-medaille.

16./17. Dezember 1887: Lenin beteiligt sich an Studentenprotesten in Kasan, wo er Jura studiert, und wird von der Universität relegiert.

Ab Herbst 1888: Der 18jährige nimmt an einem marxistischen Zirkel in Kasan teil, liest das »Kapital« von Karl Marx und »Was tun?« von Nikolai Tscherny-schewski

26. Januar 1892: Lenin erhält das Universitätsdiplom ersten Grades (etwa dem deutschen Doktortitel entspre-chend), nachdem er als Externer die Jura-Examina in St. Petersburg als be-ster Kandidat abgelegt hat.

Frühjahr 1893: Lenin schreibt seine erste erhaltengebliebene Arbeit (zuerst veröffentlicht 1923): »Neue wirtschaft-liche Vorgänge im bäuerlichen Leben«. Er wendet sich gegen die These der sogenannten Volkstümler, in Rußland gebe es keine Entwicklung des Kapita-lismus.

7. Mai 1895: Lenin fährt ins Ausland, um mit der Gruppe »Befreiung der Ar-beit« Verbindung aufzunehmen. Er hält sich bis September in Österreich, der Schweiz und Deutschland auf. Ab Juli arbeitet er in der Berliner Königlichen Bibliothek und liest unter anderem »Die Heilige Familie« von Karl Marx und Friedrich Engels aus dem Jahr 1844.

20. Dezember 1895: Die Leitung des »Kampfbundes zur Befreiung der Ar-beiterklasse«, den Lenin im Herbst mit begründet hatte, wird in St. Petersburg verhaftet.

10. Februar 1897: Lenin wird für drei Jahre nach Sibirien verbannt und unter Polizeiaufsicht gestellt. Er arbeitet in der Verbannung an seinem Werk »Die Entwicklung des Kapitalismus in Ruß-land«.

22. Juli 1898: Lenin heiratet im sibiri-schen Dorf Schuschenskoje Nadeschda Krupskaja (1869–1939).

11. Februar 1900: Lenin, Krupskaja und deren Mutter reisen aus dem Ver-bannungsort ab. Lenin fährt illegal nach Moskau und St. Petersburg, um die Schaffung einer revolutionären Partei voranzutreiben. Als erster Schritt soll eine gesamtrussische Zeitung geschaf-fen werden.

29. Juli 1900: Lenin verläßt Rußland und geht in die erste Emigration. Er bereitet in Deutschland die Herausgabe einer Zeitung und einer Zeitschrift vor.

24. Dezember 1900: Die erste Num-mer der Zeitung Iskra (Der Funke) – gedruckt in Leipzig – erscheint.

23. März 1901: Im sozialdemokrati-schen Dietz-Verlag Stuttgart erscheint die erste Ausgabe der theoretischen Zeitschrift Sarja. Im Mai trifft Lenin zum ersten Mal Rosa Luxemburg, um über ihre Mitarbeit an der Zeitschrift zu beraten.

21. oder 22. Dezember 1901: Nr. 2/3 der Sarja erscheint. Ein Aufsatz ist mit dem Pseudonym Lenin gezeichnet. Insgesamt verwendet er während seines Lebens etwa 150 Decknamen.

März 1902. Bei Dietz erscheint die Broschüre »Was tun? Brennende Fra-gen unserer Bewegung«. Autor: N. Lenin.

30. Juli bis 23. August 1903: In Brüs-sel und später in London findet der II. Parteitag der Sozialdemokratischen Ar-beiterpartei Rußlands (SDAPR) statt, an dem Lenin teilnimmt. Die Partei spaltet sich in Menschewiki (Minder-heitler) und Bolschewiki (Mehrheitler), deren Anführer Lenin ist.

8. Januar 1905: »Blutsonntag« in St. Petersburg. Die erste Russische Revolu-tion beginnt.

25. April bis 10. Mai 1905: In London tagt der III. Parteitag der SDAPR. Le-nin wird zu dessen Vorsitzendem ge-wählt. Er verteidigt seine These von der »revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft«.

Mitte November 1905: Lenin reist von Genf über Stockholm nach Rußland.

22. Mai 1906: Lenin spricht auf einer Volksversammlung in St. Petersburg erstmals öffentlich in Rußland

16. bis 24. August 1907: In Stuttgart nimmt Lenin an den Sitzungen des Internationalen Sozialistischen Büros und am Internationalen Sozialistenkon-greß teil.

Ende Dezember 1907: Lenin rettet sich über das Eis der Ostsee zu Fuß vor der russischen Geheimpolizei nach Schwe-den. Die zweite Emigration beginnt.

Zwischen 12. und 17. Mai 1909: Im Moskauer Verlag »Sweno« (Ketten-glied) erscheint Lenins Buch »Ma-terialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reak-tionäre Philosophie«.

18. Januar 1912: Die Prager Konferenz der Bolschewiki beginnt. Sie besiegelt deren organisatorische Eigenständig-keit.

5. Mai 1912: In St. Petersburg erscheint die erste Nummer der legalen bol-schewistischen Tageszeitung Prawda (Die Wahrheit) mit einer Auflage von 60 000 Exemplaren. Bis Juli 1914 veröffentlicht Lenin 280 Artikel in der Zeitung.

1. August 1914: Lenin erfährt in Poro-nin bei Zakopane von der Kriegserklä-rung Deutschlands an Rußland.

5. August 1914: Sinowjew bringt Le-nin das SPD-Organ Vorwärts mit der Meldung über das einstimmige Votum der SPD-Fraktion im Reichstag für die Kriegskredite. Lenin erklärt: »Das ist nicht möglich, das ist wahrscheinlich eine gefälschte Nummer des Vor-wärts.«

Alle Datumsangaben folgen dem Gregoriani­schen Kalender.

Durch einen Erlaß des Zaren Peter I. vom 15. Dezember 1699 wur­de in Rußland der von Julius Caesar im Jahr 45 vor unserer Zeit­rechnung eingeführte und nach ihm benannte Julianische Kalender gültig. Bis dahin galt die byzantinische Jah­reszählung, die von der angenommenen Er­schaffung der Welt 5508 vor Christus ausging. Der Jahreswechsel war zuletzt am 1. September. Nach dem Ukas Peters des Großen folgte auf den 31. Dezember des Jahres 7208 der 1. Januar 1700. Der Julianische Ka­lender ist in den meisten orthodoxen Kirchen bis heute gültig und wird in Rußland Kalender »alten Stils« genannt.

Der 1582 von Papst Gregor XII. an Stelle des Julianischen Kalenders eingeführte und nach ihm Gregorianischer genannte Kalender hat­te zehn Tage ausfallen lassen. Die Differenz zwi­schen beiden Kalendern stieg wegen unterschied­licher Schaltjahresre­gelungen in den vollen Jahrhunderten – sie sind im Gregorianischen Ka­lender keine Schaltjahre, wenn sie nicht durch 400 teilbar sind – bis auf 13 Tage an. Für die hier angegebenen Daten bis 1900 gilt also ein Unter­schied von 12 Tagen. Die Sowjetregierung führte in Rußland den Gre­gorianischen Kalender (»neuen Stils«) ein und ließ auf den 31. Januar 1918 den 14. Februar fol­gen.

Zerzauste (Ehrenburgs Spitzname)«, er-zählte er triumphierend. »Das ist ihm gut gelungen.«

VorgelesenMehrmals besuchen wir das Künstlerthea-ter. (…) Man spielte Gorkis »Nachtasyl«. Iljitsch liebte Alexej Maximowitsch Gorki als Menschen, dem er sich auf dem Lon-doner Parteitag (1907) nahe gefühlt hatte, er liebte ihn als Künstler und war der Mei-nung, daß Gorki als Künstler vieles schon nach einem halben Wort begreife. Mit Gorki sprach er besonders offen. Deshalb versteht es sich von selbst, daß Iljitsch an die Aufführung eines Theaterstücks von Gorki besonders hohe Anforderungen stellte. Das übermäßig Theatralische der Aufführung verdroß Iljitsch. Nach dem »Nachtasyl« ging er lange nicht wieder ins Theater. Ein andermal haben wir uns noch Tschechows »Onkel Wanja« angesehen. Das Stück gefiel ihm. Unser letzter Thea-terbesuch fiel in das Jahr 1922, wo wir Dik-kens’ »Heimchen am Herd« sahen. Gleich nach dem ersten Akt fühlte sich Iljitsch gelangweilt. Dickens’ kleinbürgerliche Sentimentalität ging ihm auf die Nerven, und als das Gespräch des alten Spielzeug-machers mit seiner blinden Tochter be-gann, hielt es Iljitsch nicht mehr aus, und er ging mitten in der Aufführung weg.

In Iljitschs letzten Lebensmonaten las ich ihm auf seinen Wunsch schöngeistige Bü-cher vor, gewöhnlich abends. Ich las Scht-schedrin, las »Meine Universitäten« von Gorki. Außerdem hörte er gern Gedichte, besonders von Demjan Bedny, dessen pa-thetische Gedichte ihm jedoch besser ge-fielen als die satirischen. (…) Zwei Tage vor seinem Tode las ich ihm abends Jack Londons Erzählung »Liebe zum Leben« vor, die heute noch in seinem Zimmer auf dem Tisch liegt. Das ist eine sehr starke Erzählung. Durch eine verschneite Einöde, die kein menschlicher Fuß je betreten hat, schlägt sich mühselig ein verhungernder kranker Mann zur Anlegestelle eines gro-ßen Flusses durch. Seine Kräfte nehmen ab, und als er nicht mehr gehen kann, kriecht er, und neben ihm kriecht ein gleichfalls Hungers sterbender Wolf. Es kommt zum

Kampf zwischen beiden, der Mensch siegt; halbtot, ja wahnsinnig erreicht er sein Ziel. Iljitsch gefiel diese Erzählung ganz außer-ordentlich. Am nächsten Tage bat er, Lon-dons Erzählungen weiterzulesen. Aber bei Jack London wechseln starke Sachen mit außerordentlich schwachen. Die nächste Erzählung, an die wir gerieten, war von ganz anderer Art – sie war von bürgerlicher Moral durchtränkt: Ein Kapitän versprach dem Besitzer eines mit Getreide beladenen Schiffes, er werde die Fracht vorteilhaft verkaufen; er opfert sein Leben, nur um sein Wort zu halten. Iljitsch fing an zu lachen und winkte ab.

Es war mir nicht vergönnt, ihm noch mehr vorzulesen.

Das CompagniegeschäftMarx & Engels

»Der Hamburger Zeithistoriker und PublizistKörner folgt in seiner originellen Doppelbio-graphie in sieben übersichtlichen Kapitelnder Chronologie der Ereignisse von 1844 bis1895. Er zeigt auf teils anrührende Weise,wie eng die Einheit von Freundschaft, theo-retischem Denken und politischen Kämpfenwar, in der die grundverschiedenen Charak-tere Marx und Engels ihr gemeinsames Werkgeschaffen haben ... Sie macht den Hinter-grund einer noch immer nicht ganz aus-geleuchteten Theorie äußerst lebendig.«

Detlef Grumbach im Deutschlandfunk

Klaus Körner»Wir zweibetreiben einCompagnie-geschäft«Karl Marx undFriedrich EngelsEine außer-gewöhnlicheFreundschaft176 Seiten,E 15,–

KONKRET LITERATUR VERLAGHoheluftchaussee 74, 20253 Hamburg

Tel. 040/475234, Fax 040/478415www.konkret-literatur-verlag.de

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Lenin. Das Leben Des russischen revoLutionärs in Daten

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Mittwoch, 21. April 2010, Nr. 92 junge Welt 4 l e n i n

Der historische Materialismus ist die Theorie der proletarischen Revolution. Er ist es, weil sein Wesen die gedankliche Zusam-

menfassung jenes gesellschaftlichen Seins ist, das das Proletariat produziert, das das ganze Sein des Proletariats bestimmt; er ist es, weil in ihm das um Befreiung ringende Proletariat sein klares Selbstbewußtsein findet. Die Größe eines proletarischen Denkers, eines Vertreters des historischen Materialismus mißt sich deshalb an der Tiefe und Weite, die sein Blick in diesen Problemen erfaßt. Daran, mit welcher In-tensität er imstande ist, hinter den Erschei-nungen der bürgerlichen Gesellschaft jene Tendenzen zur proletarischen Revolution richtig zu erblicken, die in ihnen und durch sie sich zum wirksamen Sein und zu hel-lem Bewußtsein heraufarbeiten.

An diesem Maßstab gemessen ist Lenin der größte Denker, den die revolutionäre Arbeiterbewegung seit Marx hervorge-bracht hat. Wohl sagen die Opportunisten, die die Tatsache seiner Bedeutung nicht mehr aus der Welt schwatzen oder schwei-gen können: Lenin wäre ein großer russi-scher Politiker gewesen. Zum Führer des Weltproletariats fehle ihm die Einsicht in den Unterschied zwischen Rußland und den Ländern des entwickelteren Kapita-lismus; er habe – dies seine Grenze im geschichtlichen Maßstabe – die Fragen und Lösungen der russischen Wirklichkeit unkritisch ins Allgemeine ausgedehnt und auf die ganze Welt angewendet.

Haupttendenz der EpocheSie vergessen – was heute freilich mit Recht vergessen ist –, daß derselbe Vorwurf sei-nerzeit auch gegen Marx erhoben wurde. Man sagte: Marx hätte seine Beobachtun-gen über das englische Wirtschaftsleben, über die englische Fabrik unkritisch als allgemeine Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung überhaupt ausgesprochen; die Beobachtungen mochten an sich ganz richtig sein, zu allgemeinen Gesetzen ver-zerrt mußten sie aber ebendeshalb falsch werden. Heute ist es bereits überflüssig, diesen Irrtum ausführlich zu widerlegen. Auseinanderzusetzen, daß Marx keines-wegs einzelne, zeitlich und örtlich be-schränkte Erfahrungen »verallgemeinert« hat. Er hat vielmehr – nach der Arbeitswei-se der echten historischen und politischen Genies – im Mikrokosmos der englischen Fabrik, in ihren gesellschaftlichen Vor-aussetzungen, Bedingungen und Folgen, in den geschichtlichen Tendenzen, die zu ihrem Entstehen führen, und in jenen, die ihre Existenz problematisch machen, eben den Makrokosmos des Gesamtkapitalis-mus theoretisch wie historisch erblickt.

Denn dies unterscheidet das Genie vom bloßen Routinier in Wissenschaft oder Politik. Dieser kann bloß die un-mittelbar gegebenen, voneinander abge-trennten Momente des gesellschaftlichen Geschehens verstehen und unterscheiden. Und wenn er sich zu allgemeinen Schlüs-sen erheben will, so macht er in der Tat nichts anderes: als gewisse Seiten einer zeitlich und örtlich beschränkten Erschei-nung – in wirklich abstrakter Weise – als »allgemeine Gesetze« aufzufassen und als solche anzuwenden. Dagegen sieht das Genie, dem das wahre Wesen, die wirkliche, die lebendig wirksame Haupt-tendenz einer Epoche klargeworden ist, hinter sämtlichen Geschehnissen seiner Zeit eben diese Tendenz wirken und be-handelt auch dann die entscheidenden Grundfragen der ganzen Epoche, wenn es

sogar selbst meint, nur über Tagesfragen zu sprechen.

Heute wissen wir, daß hierin die Grö-ße von Marx lag. Er hat aus der Struktur der englischen Fabrik alle entscheidenden Tendenzen des modernen Kapitalismus herausgelesen und gedeutet. Er hat stets das Ganze der kapitalistischen Entwick-lung vor Augen gehabt: Darum vermochte er in einer jeden ihrer Erscheinungen zu-gleich ihre Gesamtheit, in ihrem Aufbau zugleich ihre Bewegung zu erblicken.

Heute wissen es aber erst wenige, daß Lenin für unsere Epoche dasselbe geleistet hat, was Marx für die Gesamtentwicklung des Kapitalismus. Er hat in den Entwick-lungsproblemen des modernen Rußland – von den Entstehungsfragen des Kapitalis-mus in einem halbfeudalen Absolutismus bis zu den Problemen der Verwirklichung des Sozialismus in einem zurückgebliebe-nen Bauernland – stets die Probleme der ganzen Epoche gesehen: den Eintritt in die letzte Phase des Kapitalismus und die Möglichkeiten, den hier unvermeidlich ge-wordenen Entscheidungskampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat zugunsten des Proletariats, zur Rettung der Menschheit zu wenden.

GrundgedankeLenin hat niemals – ebensowenig wie Marx – örtlich oder zeitlich beschränkte, lokal-russische Erfahrungen verallgemei-nert. Er hat aber, mit dem Blick des Genies, bereits am Ort und im Zeitpunkt seiner ersten Wirksamkeit das Grundproblem un-serer Zeit: die herannahende Revolution, erkannt. Und er hat dann alle Erscheinun-gen, sowohl die russischen wie die inter-nationalen, aus dieser Perspektive, aus der Perspektive der Aktualität der Revolution, verstanden und verständlich gemacht.

Die Aktualität der Revolution: Dies ist der Grundgedanke Lenins und zugleich der Punkt, der ihn entscheidend mit Marx verbindet. Denn der historische Materialis-mus, als begrifflicher Ausdruck des prole-tarischen Befreiungskampfes, konnte auch theoretisch nur in einem geschichtlichen Augenblick erfaßt und formuliert werden, als seine praktische Aktualität bereits auf die Tagesordnung der Geschichte gestellt war. In einem Augenblick, wo im Elend des Proletariats nach Marx’ Worten nicht mehr bloß das Elend selbst, sondern jene revolutionäre Seite, »welche die alte Ge-sellschaft über den Haufen werfen wird«, sichtbar geworden ist. Freilich war auch damals der unerschrockene Blick des Ge-nies notwendig, um die Aktualität der pro-letarischen Revolution erblicken zu kön-nen. Denn für die Durchschnittsmenschen wird die proletarische Revolution erst sichtbar, wenn die Arbeitermassen bereits kämpfend auf den Barrikaden stehen. Und falls diese Durchschnittsmenschen auch noch eine vulgärmarxistische Bildung ge-nossen haben – sogar dann nicht. Denn in den Augen des Vulgärmarxisten sind die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft so unerschütterlich fest, daß er selbst in den Momenten ihrer sichtbarsten Erschüt-terung nur die Wiederkehr ihres »norma-len« Zustandes herbeiwünscht, in ihren Krisen vorübergehende Episoden erblickt und einen Kampf selbst in solchen Zei-ten als das unvernünftige Sich-Auflehnen Leichtfertiger gegen den dennoch unbe-siegbaren Kapitalismus betrachtet. Die Barrikadenkämpfer erscheinen ihm also als Verirrte, die niedergeworfene Revolu-tion als »Fehler« und die Aufbauer des Sozialismus in einer Revolution, die – in

den Augen des Opportunisten unmöglich anders als vorübergehend – siegreich war, sogar als Verbrecher.

Marx ebenbürtigDer historische Materialismus hat also – bereits als Theorie – die weltgeschichtliche Aktualität der proletarischen Revolution zur Voraussetzung. In diesem Sinne, als objektive Grundlage der ganzen Epoche und zugleich als Gesichtspunkt ihres Ver-stehens, bildet sie den Kernpunkt der Marx-schen Lehre. Jedoch trotz dieser Beschrän-kung, die in der scharfen Ablehnung aller unbegründeten Illusionen, in dem strengen Verurteilen aller putschistischen Versuche zum Ausdruck kam, klammert sich die op-portunistische Auslegung alsbald an die so-genannten Irrtümer von Marx’ Voraussich-ten im einzelnen, um auf diesem Umwege aus dem Gesamtaufbau des Marxismus die Revolution überhaupt und gründlich auszu-merzen. Und die »orthodoxen« Verteidiger von Marx kommen hier seinen »Kritikern« auf halbem Weg entgegen. Kautsky erklärt Bernstein gegenüber, daß man die Entschei-dung über die Diktatur des Proletariats ru-hig der Zukunft (einer sehr fernen Zukunft) überlassen könne. (…)

Die Entwicklung des Kapitalismus hat die proletarische Revolution zur Tagesfrage gemacht. Das Herannahen dieser Revolu-tion hat Lenin nicht als einziger gesehen. Er unterscheidet sich jedoch nicht nur an Mut, Hingebung und Opferfähigkeit von jenen, die im Augenblick, wo die von ihnen selbst theoretisch als aktuell verkündete proletarische Revolution praktisch-aktu-ell geworden ist, feige ausgekniffen sind, sondern zugleich an theoretischer Klarheit von den besten, ahnungsvollsten und hin-gebendsten Revolutionären unter seinen Zeitgenossen. Denn selbst diese haben die Aktualität der proletarischen Revolu-tion nur in der Weise erkannt, wie sie im Zeitalter von Marx für diesen erkennbar gewesen ist: als Grundproblem der ganzen Epoche. Sie waren aber unfähig, diese ih-re – aus weltgeschichtlicher, aber nur aus weltgeschichtlicher Perspektive – richtige Erkenntnis zur sicheren Richtschnur sämt-licher Tagesfragen, der politischen wie der ökonomischen, der theoretischen wie der taktischen, der agitatorischen wie der orga-nisatorischen Fragen, zu machen. Diesen Schritt zur Konkretisierung des nunmehr ganz praktisch gewordenen Marxismus hat Lenin als einziger vollzogen. Darum ist er – im weltgeschichtlichen Sinne – der einzige Marx ebenbürtige Theoretiker, den der proletarische Befreiungskampf bis jetzt hervorgebracht hat. (…)

OpportunismusDas Proletariat ergreift die Staatsmacht und richtet seine revolutionäre Diktatur auf: das bedeutet, daß die Verwirklichung des Sozialismus zur Tagesfrage geworden ist. Ein Problem, auf das das Proletariat ideologisch am allerwenigsten vorbereitet war. Denn die »Realpolitik« der Sozialde-mokratie, die alle Tagesfragen immer bloß als Tagesfragen, ohne Zusammenhang mit dem Weg der Gesamtentwicklung, ohne Beziehung zu den letzten Problemen des Klassenkampfes, also ohne jemals real und konkret über den Horizont der bürgerli-chen Gesellschaft hinauszuweisen, behan-delt hat, gab gerade dadurch dem Sozialis-mus in den Augen der Arbeiter wieder den Charakter einer Utopie. Die Trennung des Endzieles von der Bewegung verfälscht nicht nur die richtige Perspektive zu den

Fragen des Alltags, der Bewegung, son-dern verwandelt zugleich das Endziel in eine Utopie. Dieser Rückfall in den Uto-pismus äußert sich in sehr verschiedenen Formen. Vor allem darin, daß der Sozialis-mus in den Augen der Utopisten nicht als ein Werden, sondern als ein Sein erscheint. Das heißt, man untersucht die Probleme des Sozialismus – soweit sie überhaupt aufgeworfen werden – nur daraufhin, wel-che ökonomischen, kulturellen usw. Fragen und welche für sie günstigsten technischen usw. Lösungen möglich sind, wenn der Sozialismus bereits ins Stadium der prak-tischen Verwirklichung eingetreten ist. Es wird aber weder die Frage, wie eine solche Situation sozial möglich, wie sie erreicht wird, aufgeworfen, noch die, wie eine sol-che Situation sozial konkret beschaffen ist, welche Klassenverhältnisse, welche Wirtschaftsformen das Proletariat in dem geschichtlichen Augenblick vorfindet, in dem es an die Aufgabe der Verwirklichung des Sozialismus herantritt. (…) Der op-portunistische Eklektizismus, die Entfer-nung der Dialektik aus der Methode des sozialistischen Denkens, hebt also den So-zialismus selbst aus dem geschichtlichen Prozeß des Klassenkampfes heraus. Die vom Gift dieses Denkens Angesteckten müssen deshalb sowohl die Voraussetzun-gen der Verwirklichung des Sozialismus wie die Probleme seiner Verwirklichung in einer verstellten Perspektive sehen. Diese Falschheit der Grundeinstellung geht so tief, daß sie nicht nur vom Denken der Opportunisten, für die ja der Sozialismus immer ein fernes Endziel bleibt, Besitz ergreift, sondern auch die ehrlichen Revo-lutionäre zu verkehrten Vorstellungen ver-leitet. Diese – ein großer Teil der Linken der II. Internationale – haben wohl den re-volutionären Prozeß selbst, den Kampf um die Macht als Prozeß, im Zusammenhang mit den praktischen Fragen des Alltags erblickt, sie waren aber außerstande, die Lage des Proletariats nach der Machter-greifung und die konkreten Probleme, die aus dieser Lage folgen, ebenfalls in diesen Zusammenhang einzufügen. Sie sind hier ebenfalls zu Utopisten geworden. (…)

Revolutionärer UtopismusDie »Realpolitik« Lenins erweist sich hier-mit – wenn man auf ihren Zusammenhang und ihre Grundlegung zurückgeht – als der bisher erreichte Höhepunkt der materiali-stischen Dialektik. Auf der einen Seite eine streng marxistische, schlichte und nüchter-ne, aber ins Allerkonkreteste gehende Ana-lyse der gegebenen Lage, der Wirtschafts-struktur und der Klassenverhältnisse. Auf der anderen Seite eine durch keinerlei theoretische Voreingenommenheit, durch keinen utopistischen Wunsch verstellte Klarsicht allen neuen Tendenzen gegen-über, die sich aus dieser Lage ergeben. Die-se scheinbar einfache und tatsächlich aus dem Wesen der materialistischen Dialektik – die ja eine Theorie der Geschichte ist – stammende Forderung ist aber keineswegs leicht zu erfüllen. Die Denkgewohnheiten des Kapitalismus haben allen Menschen, vor allem den wissenschaftlich Orientier-ten, die Neigung anerzogen, das Neue stets völlig aus dem Alten, das Heutige rest-los aus dem Gestrigen erklären zu wollen. (Der Utopismus der Revolutionäre ist ein Versuch, sich am eigenen Zopf aus dem Graben zu ziehen, sich mit einem Sprung in eine völlig neue Welt zu versetzen, statt das dialektische Entstehen des Neuen aus dem Alten mit Hilfe der Dialektik zu be-greifen.) »Deshalb werden«, sagt Lenin,

Der ungarische Phi­losoph Georg Lukács (1885–1971) schrieb nach dem Tod Lenins die Arbeit »Lenin. Studie über den Zusammen­hang seiner Gedanken« (Wien und Berlin 1924). Der vollständige Text im Internet: http://www.marxistsfr.org/deutsch/archiv/lukacs/1924/lenin/index.htm

Revolutionäre RealpolitikDas Lebenswerk Lenins ist die konsequente Anwendung der Marxschen Dialektik auf die ununterbrochen wechselnden Erscheinungen eines ungeheuren Übergangszeitalters. Von Georg Lukács

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junge Welt Mittwoch, 21. April 2010, Nr. 92 5l e n i n»viele und sehr viele durch den Staatska-pitalismus verwirrt. Um nicht verwirrt zu werden, muß man stets an das Grundlegen-de denken, daß der Staatskapitalismus in der Form, wie wir ihn gegenwärtig haben, in keiner Theorie, in keiner Literatur analy-siert worden ist, aus dem einfachen Grun-de, weil alle Begriffe, die mit diesem Worte verknüpft sind, sich auf die bürgerliche Macht in der kapitalistischen Gesellschaft beziehen. Und wir haben einen Staat, der das kapitalistische Geleise verlassen hat und noch nicht auf das neue Geleise gera-ten ist.« (…)

Die materielle Grundlage des Sozialis-mus als den Kapitalismus ablösende hö-here Wirtschaftsform kann nur die Um-organisierung, die Höherentwicklung der Industrie sein, ihre Anpassung an die Bedürfnisse der arbeitenden Klassen, ih-re Umgestaltung im Sinne eines immer sinnvoller werdenden Lebens (Aufhören des Gegensatzes von Stadt und Land, von geistiger und physischer Arbeit usw.). Der Zustand dieser materiellen Grund-lage des Sozialismus bedingt mithin die Möglichkeiten und Wege seiner konkreten Verwirklichung. Und hier hat Lenin – be-reits im Jahre 1917, vor dem Ergreifen der Staatsmacht – die ökonomische Lage und die aus ihr entspringenden Aufgaben für das Proletariat klar bestimmt. »Die Dia-lektik der Geschichte ist eben diejenige, daß der Krieg, indem er die Umwand-lung des monopolistischen Kapitalismus in den staatsmonopolistischen ungeheu-er beschleunigt hat, gerade dadurch die Menschheit dem Sozialismus ungeheuer näher gebracht hat. Der imperialistische Krieg ist der Vorabend der sozialistischen Revolution. Und das nicht nur deshalb, weil der Krieg mit seinem Entsetzen den proletarischen Aufstand gebiert – kein Aufstand kann den Sozialismus schaffen, wenn er ökonomisch nicht gereift ist –, sondern deshalb, weil der staatsmonopo-listische Kapitalismus eine vollkommene materielle Vorbereitung des Sozialismus ist, die Eingangspforte zu ihm, weil er in der historischen Leiter jene Stufe bedeu-tet, zwischen welcher und der folgenden Stufe, die man Sozialismus nennt, es keine zwischenliegenden Stufen gibt.« Folglich ist »der Sozialismus nichts anderes als ein staatskapitalistisches Monopol, eingestellt zum Nutzen des ganzen Volkes und inso-fern kein kapitalistisches Monopol mehr«. Und anfangs 1918: »… der Staatskapita-lismus würde bei der gegenwärtigen Lage der Dinge in unserer Räterepublik einen Schritt vorwärts bedeuten. Würde bei uns, beispielsweise, nach einem halben Jahre, der Staatskapitalismus festen Fuß fassen, so würde das einen gewaltigen Erfolg und die sicherste Gewähr dafür bedeuten, daß bei uns der Sozialismus nach einem Jahre sich endgültig etablieren und unbesiegbar sein würde.«

Diese Stellen mußten besonders ausführ-lich wiedergegeben werden, um der weit

verbreiteten bürgerlichen und sozialdemo-kratischen Legende, als ob Lenin nach dem Scheitern des »doktrinär marxistischen« Versuches, den Kommunismus »auf ein-mal« einzuführen, aus »realpolitischer Klugheit« einen Kompromiß geschlossen hätte, von der ursprünglichen Linie sei-ner Politik abgewichen wäre. Gerade das Gegenteil ist die geschichtliche Wahrheit. Der sogenannte Kriegskommunismus, den Lenin eine »durch Bürgerkrieg und Zerstö-rung bedingte provisorische Maßnahme« nennt, die »keine den wirtschaftlichen Auf-gaben des Proletariats entsprechende Poli-tik war und keine sein konnte«, war die Ab-weichung von der Linie, auf der sich – nach seiner theoretischen Voraussicht – die Ent-wicklung zum Sozialismus abspielt. Frei-lich eine durch den inneren und äußeren Bürgerkrieg bedingte, also unvermeidliche, aber doch bloß provisorische Maßnahme.

Es wäre aber, nach Lenin, für das revolu-tionäre Proletariat verhängnisvoll gewesen, diesen Charakter des Kriegskommunismus zu verkennen, ihn gar – wie viele ehrliche Revolutionäre, die aber nicht auf der theo-retischen Höhe Lenins gestanden sind – als einen wirklichen Schritt in der Richtung auf den Sozialismus zu bewerten. (…)

Grundfragen der DialektikSo führt uns die Analyse der Politik Lenins stets zu den Grundfragen der dialektischen Methode zurück. Sein ganzes Lebenswerk ist die konsequente Anwendung der Marx-schen Dialektik auf die ununterbrochen wechselnden, stets Neues hervorbringen-den Erscheinungen eines ungeheuren Übergangszeitalters. Da aber die Dialektik keine fertige Theorie ist, die mechanisch auf die Erscheinungen des Lebens ange-

wendet werden könnte, sondern nur in die-ser Anwendung, durch diese Anwendung als Theorie existiert, ist die dialektische Methode aus der Praxis Lenins erweiterter, erfüllter und theoretisch entwickelter her-vorgegangen, als er sie aus der Erbschaft von Marx und Engels übernommen hat.

Es ist deshalb vollkommen berechtigt, vom Leninismus als einer neuen Phase in der Entwicklung der materialistischen Dialektik zu sprechen. Lenin hat nicht nur die Reinheit der Marxschen Lehre nach einer jahrzehntelangen Verflachung und Entstellung, die der Vulgärmarxismus zustande gebracht hat, wiederhergestellt, sondern die Methode selbst weiterentwik-kelt, konkreter und reifer gemacht. Wenn es aber nun zur Aufgabe der Kommuni-sten wird, auf dem Pfade des Leninismus weiter zu gehen, so kann dieses Weiterge-hen nur dann fruchtbar werden, wenn sie sich zu Lenin so zu verhalten versuchen, wie sich Lenin selbst zu Marx verhalten hat. Art und Inhalt dieses Verhaltens sind von der Entwicklung der Gesellschaft, von den Problemen und Aufgaben, die der Geschichtsprozeß dem Marxismus stellt, sein Gelingen von der Höhe des proleta-rischen Klassenbewußtseins in der füh-renden Partei des Proletariats bestimmt. Der Leninismus bedeutet, daß die Theorie des historischen Materialismus den Ta-geskämpfen des Proletariats noch näher gerückt ist, noch praktischer geworden ist, als sie es zu Marx’ Zeiten sein konnte. Die Tradition des Leninismus kann also nur darin bestehen, diese lebendige und lebenspendende, diese wachsende und das Wachstum fördernde Funktion des histo-rischen Materialismus unverfälscht und unerstarrt zu bewahren. Darum muß – wir wiederholen – Lenin von den Kommu-nisten so studiert werden, wie Marx von Lenin studiert wurde. Studiert, um die dia-lektische Methode handhaben zu lernen. Um zu erlernen: wie durch die konkrete Analyse der konkreten Lage im Allgemei-nen das Besondere und im Besonderen das Allgemeine; im neuen Moment einer Situation das, was es mit dem bisherigen Prozeß verbindet und in der Gesetzlich-keit des Geschichtsprozesses das immer wieder entstehende Neue; im Ganzen der Teil und im Teil das Ganze; in der Not-wendigkeit der Entwicklung das Moment des aktiven Handelns und in der Tat die Verknüpfung mit der Notwendigkeit des Geschichtsprozesses gefunden werden kann. Der Leninismus bedeutet eine bis-her unerreichte Stufe des konkreten, nicht schematischen, nicht mechanischen, rein auf Praxis gerichteten Denkens. Dies zu erhalten ist die Aufgabe der Leninisten. Aber in dem Geschichtsprozeß kann sich nur das sich lebendig Entwickelnde er-halten. Und ein solches Erhalten der Tra-dition des Leninismus bedeutet heute die vornehmste Aufgabe eines jeden, der die dialektische Methode als Waffe im Klas-senkampf des Proletariats ernst nimmt.

Worum geht es, wenn Marxisten Lenins gedenken? Warum steht seit Jahrzehnten im Zentrum linker Marxismus-Kritik Lenin, seine Analyse des Imperialismus?Weil konsequente marxistische Politik im Zeichen dieser Imperialismus-Analyse stattfindet. Diese reale Wirkungsgeschichte des Marxismus wird angegriffen, indem man Lenin, seine Theorie des Imperialismus, bekämpft, ihn auf jede nur mögliche Art durch Pseudo-Theorien »ersetzt«. Moderner, zeitgemäßer Marxist zu sein, ist ohne positiven Bezug auf Lenin nicht möglich. Darum reiht sich die Marx-Engels-Stiftung in die Schar jener ein, die sich am 22. April Lenins erin-nern, der an diesem Tag vor 140 Jahren geboren wurde.

M a r x - E n g e l s - S t i f t u n g , 4 2 1 0 7 W u p p e r t a l , G a t h e 5 5 , Te l . : 0 2 0 2 / 4 5 6 5 0 4 , E - M a i l :

m a r x - e n g e l s - s t i f t u n g @ t - o n l i n e . d e

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Wenn es aber nun zur Aufgabe der Kommuni­sten wird, auf dem Pfade des Leninismus weiter zu gehen, so kann dieses Weitergehen nur dann fruchtbar werden, wenn sie sich zu Lenin so zu verhalten versuchen, wie sich Lenin selbst zu Marx verhalten hat. Art und Inhalt dieses Verhaltens sind von der Entwicklung der Gesellschaft, von den Problemen und Aufga­ben, die der Geschichts­prozeß dem Marxismus stellt, sein Gelingen von der Höhe des proletari­schen Klassenbewußt­seins in der führenden Partei des Proletariats bestimmt. P

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Mittwoch, 21. April 2010, Nr. 92 junge Welt 6 l e n i n

Spaltung des Einheitlichen und Er-kenntnis seiner widerprechenden Bestandteile (…) ist das Wesen (eine der »Wesenheiten«, eine der

grundlegenden, wenn nicht die grundlegen-de Besonderheit oder Seite) der Dialek-tik. Geradeso stellt auch Hegel die Frage (Aristoteles ringt damit beständig in seiner »Metaphysik« und kämpft gegen Heraklit respektive die heraklitischen Ideen.

Die Richtigkeit dieser Seite des Inhalts der Dialektik muß an Hand der Geschichte der Wissenschaft geprüft werden. Dieser Seite der Dialektik wird gewöhnlich (…) nicht genügend Aufmerksamkeit gewid-met: Die Identität der Gegensätze wird als Summe von Beispielen genommen (»zum Beispiel das Gerstenkorn«; »zum Beispiel der Urkommunismus«. Auch bei Engels. Jedoch »aus Gründen der Gemeinverständ-lichkeit.«), nicht aber als Gesetz der Er-kenntnis (und Gesetz der objektiven Welt). (…)

Identität der Gegensätze (vielleicht rich-tiger: deren »Einheit«? Obwohl der Unter-schied der Termini Identität und Einheit hier nicht besonders wesentlich ist. In gewissem Sinne sind beide richtig) bedeutet Aner-kennung (Aufdeckung) widersprechender, einander ausschließender, gegensätzlicher Tendenzen in allen Erscheinungen und Vor-gängen der Natur (darunter auch des Gei-stes und der Gesellschaft). Bedingung der Erkenntnis aller Vorgänge in der Welt in ihrer »Selbstbewegung«, in ihrer spontanen Entwicklung, in ihrem lebendigen Leben ist die Erkenntnis derselben als Einheit von Gegensätzen. Entwicklung ist »Kampf« der Gegensätze. Die beiden grundlegenden (oder die beiden möglichen? Oder die bei-den in der Geschichte zu beobachtenden?) Konzeptionen der Entwicklung (Evolution) sind: Entwicklung als Abnahme und Zunah-me, als Wiederholung, und Entwicklung als Einheit der Gegensätze (Spaltung des Einheitlichen in einander ausschließende Gegensätze und das Wechselverhältnis zwi-schen ihnen).

Bei der ersten Konzeption der Bewegung bleibt die Selbstbewegung, ihre treibende Kraft, ihre Quelle, ihr Motiv im Dunkel (oder diese Quelle wird nach außen verlegt – Gott, Subjekt etc.). Bei der zweiten Kon-zeption richtet sich die Hauptaufmerksam-keit gerade auf die Erkenntnis der Quelle der »Selbst«bewegung.

Die erste Konzeption ist tot, farblos, trok-ken. Die zweite lebendig. Nur die zweite lie-fert den Schlüssel zu der »Selbstbewegung« alles Seienden; nur sie liefert den Schlüssel zu den »Sprüngen«, zum »Abbrechen der Allmählichkeit«, zum »Umschlagen in das Gegenteil«, zum Vergehen des Alten und Entstehen des Neuen.

Die Einheit (Kongruenz, Identität, Wir-kungsgleichheit) der Gegensätze ist be-dingt, zeitweilig, vergänglich, relativ. Der Kampf der einander ausschließenden Ge-gensätze ist absolut, wie die Entwicklung, die Bewegung absolut ist.

Nota bene (Zu beachten – d. Red.): Der Unterschied zwischen Subjektivismus (Skeptizismus und Sophistik etc.) und Dia-lektik besteht unter anderem darin, daß in der (objektiven) Dialektik auch der Unter-

schied zwischen Relativem und Absolutem relativ ist. Für die objektive Dialektik ist im Relativen Absolutes enthalten. Für den Subjektivismus und die Sophistik ist das Relative nur relativ und schließt das Abso-lute aus.

Marx analysiert im »Kapital« zunächst das einfachste, gewöhnlichste, grundle-gendste, massenhafteste, alltäglichste, mil-liardenfach zu beobachtende Verhältnis der bürgerlichen (Waren-)Gesellschaft: den Warenaustausch. Die Analyse deckt in dieser einfachsten Erscheinung (in dieser »Zelle« der bürgerlichen Gesellschaft) alle Widersprüche (respektive die Keime aller Widersprüche) der modernen Gesellschaft auf. Die weitere Darstellung zeigt uns die Entwicklung (sowohl das Wachstum als auch die Bewegung) dieser Widersprüche und dieser Gesellschaft in Summe ihrer einzelnen Teile, von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende.

Dieser Art muß auch die Methode der Darstellung (respektive Erforschung) der Dialektik überhaupt sein (denn die Dialek-tik der bürgerlichen Gesellschaft bei Marx ist nur ein spezieller Fall der Dialektik).

Beginnen mit dem Einfachsten, Gewöhn-lichsten, Massenhaftesten etc., mit einem beliebigen Satz: die Blätter des Baumes sind grün; Iwan ist ein Mensch; Shutschka ist ein Hund und dergleichen. Schon hierin ist (wie Hegel genial bemerkt hat) Dialek-tik: Einzelnes ist Allgemeines (…). Somit sind die Gegensätze (das Einzelne ist dem Allgemeinen entgegengesetzt) identisch: das Einzelne existiert nicht anders als in dem Zusammenhang, der zum Allgemei-nen führt. Das Allgemeine existiert nur im Einzelnen, durch das Einzelne. Jedes Ein-zelne ist (auf die eine oder andere Art) All-gemeines. Jedes Allgemeine ist (ein Teil-chen oder eine Seite oder das Wesen) des Einzelnen. Jedes Allgemeine umfaßt nur annähernd alle einzelnen Gegenstände. Je-des Einzelne geht unvollständig in das All-gemeine ein usw. usf. Jedes einzelne hängt durch Tausende von Übergängen mit einer anderen Art Einzelner (Dinge, Erscheinun-gen, Prozesse) zusammen usw. Schon hier haben wir Elemente, Keime des Begriffs der Notwendigkeit, des objektiven Zusam-menhangs in der Natur etc. Zufälliges und Notwendiges, Erscheinung und Wesen sind

schon hier vorhanden, denn wenn wir sa-gen: Iwan ist ein Mensch, Shutschka ist ein Hund, dies ist ein Baumblatt usw., so lassen wir eine Reihe von Merkmalen als zufällig beiseite, trennen wir das Wesentliche vom Erscheinenden und stellen das eine dem anderen entgegen.

Auf diese Weise kann (und soll) man in jedem beliebigen Satz, wie in einer »Zel-le«, die Keime aller Elemente der Dialektik aufdecken und so zeigen, daß der gesam-ten menschlichen Erkenntnis überhaupt die Dialektik eigen ist. (…)

Die Dialektik als lebendige, vielseiti-ge (wobei die Anzahl der Seiten ewig zu-nimmt) Erkenntnis mit einer Unzahl von Schattierungen jedes Herangehens, jeder Annäherung an die Wirklichkeit (…) – das ist der Inhalt, unermeßlich reich im Ver-gleich zum »metaphysischen« Materialis-mus, dessen Hauptübel in der Unfähigkeit besteht, die Dialektik auf die »Bildertheo-rie« (bei Lenin deutsch – d. Red.), auf den Prozeß und die Entwicklung der Erkenntnis anzuwenden.

Der philosophische Idealismus ist nur Unsinn vom Standpunkt des groben, ein-fachen, metaphysischen Materialismus. Dagegen ist der philosophische Idealismus vom Standpunkt des dialektischen Materia-lismus eine einseitige, übertriebene, »über-schwengliche« (bei Lenin deutsch – d. Red.) (Dietzgen) Entwicklung (Aufbauschen, Aufblähen) eines der Züge, einer der Seiten, der Grenzen der Erkenntnis zu einem von der Materie, von der Natur losgelösten, ver-gotteten Absolutum. Idealismus ist Pfaffen-tum. Richtig. Doch ist der philosophische Idealismus (»richtiger« und »außerdem«) ein Weg zum Pfaffentum über eine der Schattierungen der unendlich komplizierten (dialektischen) menschlichen Erkenntnis.

Die menschliche Erkenntnis ist nicht (re-spektive beschreibt nicht) eine gerade Linie, sondern eine Kurve, die sich einer Reihe von Kreisen, einer Spirale unendlich nä-hert. Jedes Bruchstück, Teilchen, Stückchen dieser Kurve kann verwandelt (einseitig verwandelt) werden in eine selbständige, ganze, gerade Linie, die (wenn man vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht) dann in den Sumpf, zum Pfaffentum führt (wo sie durch das Klasseninteresse der herrschen-den Klassen verankert wird). Geradlinigkeit und Einseitigkeit, Erstarrung und Verknö-cherung, Subjektivismus und subjektive Blindheit, voilà die erkenntnistheoretischen Wurzeln des Idealismus. Und das Pfaffen-tum (=philosophischer Idealismus) besitzt natürlich erkenntnistheoretische Wurzeln, ist nicht ohne Boden, es ist zwar unstreitig eine taube Blüte, aber eine taube Blüte, die wächst am lebendigen Baum der lebendi-gen, fruchtbaren, wahren, machtvollen, all-gewaltigen, objektiven, absoluten menschli-chen Erkenntnis.

Kurz nach Entfesselung des Ersten Weltkrieges übersiedelte Lenin aus seinem Exil im öster­reichischen Teil Polens in die Schweiz. Von September 1914 bis Mai 1915 beschäftigte er sich in der Berner Biblio­thek mit den Werken von Ludwig Feuerbach, Georg Wilhelm Fried­rich Hegel, Aristoteles, Ferdinand Lassalle und anderen Philosophen. Er schrieb Exzerpte und Notizen in acht »Hefte zur Philosophie« und verfaßte auch den hier abgedruckten Ansatz zu einem eigenen systema­tischen philosophischen Entwurf unter dem Titel »Zur Frage der Dialek­tik«. Offenbar beabsich­tigte er, eine spezielle Arbeit über die Dialektik zu schreiben. Dazu kam es nicht. De facto findet sich aber sein Dialektik­konzept in seinem Buch »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« machte, das er 1916 abschloß.

Die meisten Manu­skripte aus den »Phi­losophischen Heften« wurden erstmals 1929 und 1930 veröffentlicht.

Die hier abgedruckte Fassung ist entnommen aus: W. I. Lenin: Werke Band 38. Philosophische Hefte. Dietz Verlag, Ber­lin 1968, Seite 338­344

Shutschka ist ein HundKurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges beschäftigte sich Lenin intensiv mit Philosophie und formulierte eine Skizze zur Frage der Dialektik

Wir haben nichts zu verschenken…… außer Lenin!*

*Lenin!, Reden und Aufsätze über Lenin 1924Dieser 1924 im Verlag Literatur und Politik in Wienerschienene Sammelbandwurde 1989 in der EditionMarxistische Blätter neu herausgegeben. Er enthältBeiträge von Bucharin, Miljutin, Preobrashenski,Radek, Sinowjew, Stalin,Tschitscherin, Trotzki u. a.

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Mir scheint, das Wichtigste, das in der Frage des Krie-ges gewöhnlich unbeach-tet bleibt, dem man nicht

genügend Aufmerksamkeit widmet, die Hauptursache dafür, daß so viele De-batten – und ich möchte sagen, leere, aussichtslose und nutzlose Debatten – geführt werden, das ist die Tatsache, daß man die Grundfrage vergißt, die Frage nämlich, welchen Klassencharakter der Krieg hat, weswegen dieser Krieg ausge-brochen ist, welche Klassen ihn führen, welche historischen und historisch-öko-nomischen Bedingungen ihn hervorgeru-fen haben. (…)

Bekannt ist der Ausspruch von Clause-witz, einem der berühmtesten Schriftstel-ler über die Philosophie des Krieges und die Geschichte des Krieges, der lautet: »Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln.« (…) Die-ser Schriftsteller, dessen Grundgedanken heute von jedem denkenden Menschen unbedingt geteilt werden, hat schon vor rund 80 Jahren das bei Philistern und bei Ignoranten gängige Vorurteil bekämpft, daß man den Krieg von der Politik der entsprechenden Regierungen, der ent-sprechenden Klassen loslösen könne, daß man den Krieg irgendwann als einen ein-fachen Überfall, der den Frieden stört, mit darauffolgender Wiederherstellung die-ses gestörten Friedens betrachten könne. Sich schlagen und vertragen! Das ist eine primitive, von Ignorantentum zeugende Auffassung, die schon vor Jahrzehnten widerlegt worden ist und durch jede halb-wegs sorgfältige Analyse einer beliebigen geschichtlichen Epoche von Kriegen wi-derlegt wird.

KolonialkriegeDer Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Wenn die franzö-sischen revolutionären Städter und die revolutionären Bauern Ende des 18. Jahr-hunderts, nachdem sie in ihrem Lande die Monarchie auf revolutionärem Wege gestürzt hatten, die demokratische Re-publik errichteten, (…), dann mußte die-se Politik der revolutionären Klasse das ganze übrige autokratische, zaristische, königliche, halbfeudale Europa bis in die Grundfesten erschüttern. Und die unver-meidliche Fortsetzung dieser Politik der revolutionären Klasse waren die Kriege, in denen sich gegen das revolutionäre Frankreich alle monarchistischen Natio-nen Europas stellte, die ihre berühmte Koalition bildeten und Frankreich mit einem konterrevolutionären Krieg über-zogen. (…) Dieses Beispiel verdient, wie mir scheint, besondere Beachtung, da es uns anschaulich eben das zeigt, was die Publizisten der bürgerlichen Zeitun-gen augenblicklich auf Schritt und Tritt vergessen, wobei sie auf die Vorurteile und die spießerische Unwissenheit der völlig unentwickelten Volksmassen spe-kulieren, die nicht begreifen, daß ein un-lösbarer ökonomischer und historischer Zusammenhang zwischen einem jeden Krieg und der ihm vorangegangenen Poli-tik eines jeden Landes, einer jeden Klasse besteht, die vor dem Krieg die Herrschaft innehatte und die Erreichung ihrer Ziele mit sogenannten »friedlichen« Mitteln sicherzustellen suchte. Mit sogenannten, denn die Gewaltakte, die beispielsweise nötig zu sein pflegen, um eine »friedli-che« Herrschaft über die Kolonien zu ermöglichen, können schwerlich als fried-lich bezeichnet werden.

In Europa herrschte Frieden, aber er wurde erhalten, weil die Herrschaft der europäischen Nationen über Hunderte Millionen Bewohner der Kolonien nur vermittels ständiger, ununterbrochener, niemals abreißender Kriege ausgeübt wurde, die wir Europäer nicht als Krie-ge betrachten, weil sie allzu häufig nicht Kriegen, sondern einem bestialischen Gemetzel, der bestialischen Ausrottung

wehrloser Völker ähnelten. Aber die Sa-che ist die, daß wir, um den gegenwärti-gen Krieg zu verstehen, in erster Linie die Politik der europäischen Mächte als Gan-zes betrachten müssen. Man darf keine Einzelbeispiele, keine Einzelfälle wählen, die stets leicht aus dem Zusammenhang der gesellschaftlichen Erscheinungen zu reißen sind und keinerlei Wert haben, weil man ebenso leicht ein entgegengesetztes Beispiel anführen kann. (…)

Politik der EroberungenDiese Politik aber zeigt uns überall das eine: die ununterbrochene ökonomische Rivalität der beiden größten Weltgigan-ten, der beiden größten kapitalistischen Wirtschaftsgruppen. Einerseits ist das England, ein Staat, in dessen Besitz der größte Teil des Erdballs ist, (…) Ander-seits hat sich gegen diese hauptsächlich englisch-französische Gruppe eine an-dere, noch beutegierigere, noch räube-rischere Gruppe in Bewegung gesetzt (…).

Und darum ist es verständlich, daß die Frage, wer von diesen beiden Räubern als erster das Messer gezogen hat, für uns keinerlei Bedeutung hat. Nehmen Sie die Geschichte der Marine- und Militärausga-

ben beider Gruppen im Verlauf von Jahr-zehnten, nehmen sie die Geschichte der kleinen Kriege, die sie vor dem großen führten – »kleinen« Kriege, weil in die-sen Kriegen wenig Europäer, dafür aber Hunderttausende aus jenen Völkern um-kamen, die sie versklavten, die von ihrem Standpunkt nicht einmal als Völker an-gesehen werden (irgendwelche Asiaten, Afrikaner – sind das etwa Völker?); mit diesen Völkern wurden Kriege folgen-der Art geführt: sie waren waffenlos, und man mordete sie mit Maschinengeweh-ren. Sind denn das Kriege? Das sind doch eigentlich gar keine Kriege, das kann man der Vergessenheit anheimfallen lassen. So also gehen sie an diesen kompletten Betrug der Volksmassen heran.

Dieser Krieg ist die Fortsetzung jener Politik der Eroberungen, der Ausrottung ganzer Völkerschaften, der unerhörten Bestialitäten, die die Deutschen und Eng-länder in Afrika, die Engländer und Rus-sen in Persien – ich weiß nicht, wer von ihnen wohl mehr – begangen haben, und derentwegen die deutschen Kapitalisten sie als Feinde betrachteten. Ah, ihr seid stark, weil ihr reich seid? Aber wir sind stärker als ihr, darum haben wir das glei-che »heilige« Recht zu rauben. Darauf eben läuft die wirkliche Geschichte des

englischen und des deutschen Finanz-kapitals während langer Jahrzehnte vor dem Krieg hinaus. (…) Das eben ist der Schlüssel zum Verständnis dafür, weswe-gen der Krieg geführt wird. Ebendarum ist die weitverbreitete Version, weswegen der Krieg entbrannt sei, Scharlatanerie und Betrug. Man vergißt die Geschichte des Finanzkapitals, die Geschichte des-sen, wie dieser Krieg um die Neuauftei-lung heranreifte, und stellt die Sache so dar: Friedlich lebten zwei Völker, dann griffen die einen an, und die anderen ver-teidigten sich. Vergessen ist die ganze Wissenschaft, vergessen sind die Banken, die Völker werden zu den Waffen gerufen, zu den Waffen gerufen wird der Bauer, der nicht weiß, was Politik ist. (…) In Per-sien, in Afrika wurden erbarmungsloss Kriege von den Liberalen geführt, von den Liberalen, die in Indien Menschen als politische Verbrecher auspeitschen ließen, weil sie es gewagt hatten, Forderungen zu stellen, für die auch bei uns in Rußland gekämpft wurde. Die französischen Ko-lonialtruppen unterjochten ebenfalls die Völker. Das eben ist die Vorgeschichte, das ist die wirkliche Geschichte des bei-spiellosen Raubes! Das eben ist die Poli-tik dieser Klassen, die der gegenwärtige Krieg fortsetzt. (…)

junge Welt Mittwoch, 21. April 2010, Nr. 92 7l e n i n

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Die Vorgeschichte Die kolonialen Feldzüge liberaler Regierungen zur Ausrottung ganzer Völker vor 1914 erklären das Wesen des Weltkrieges. Von Wladimir Iljitsch Lenin

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Der hier dokumentierte Text ist einer Lektion entnommen, die Lenin am 27. Mai 1917 (14. Mai alten Stils) in Petrograd hielt. Der Wortlaut wurde nach dem Steno­gramm unter dem Titel »Krieg und Revolution« erstmals am 21. April 1929 in der Prawda ver­öffentlicht. Hier zitiert nach: W. I. Lenin Werke Band 24, Dietz Verlag, Berlin 1974, Seiten 395–422

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Mittwoch, 21. April 2010, Nr. 92 junge Welt 8 l e n i n

Zu den Kernelementen fort-schrittlichen Bewußtseins ge-hört – das sollte man zumindest annehmen – der Antiimperialis-

mus. Tatsächlich aber ist eine auf Macht-teilhabe orientierte Linke längst dabei, ihn loszuwerden. In der Partei Die Linke (PDL) macht die vorherrschende Strö-mung aus Machtpragmatikern und Enthu-siasten des bunten Lebens aus ihrer Aver-sion gegenüber dem Antimperialismus schon lange kein Geheimnis mehr.

Das diesbezügliche Machtwort sprach Gregor Gysi vor zwei Jahren auf einer Veranstaltung anläßlich des 60. Jahres-tages der Gründung des Staates Israel. »Zusammenfassend«, so der »Solidarität mit Israel« fordernde Festredner, »würde ich also behaupten wollen, daß der einstige Antiimperialismus in linken Diskursen, falls er es je konnte, nicht mehr sinnvoll

plaziert werden kann«. Als Begründung führte Gysi an, daß seiner »politökono-mischen Ursprungskomponente« schon mit dem Eintritt des Kapitalismus in die fordistische Phase, die zu einem Bedeu-tungsverlust der Kolonien als Absatzmarkt geführt habe, die »sachliche Substanz« entzogen worden sei. Mit dem Zusam-menbruch des Staatssozialismus sei dem Antiimperialismus dann auch noch die »machttheoretische Komponente« verlo-rengegangen.

Unterwerfung unters DiktatVon welcher Imperialismustheorie sich der Fraktionsvorsitzende der Linken in seinem Geburtstagsständchen für den zio-nistischen Staat leiten ließ, sollte er sich je ernsthaft damit beschäftigt haben, läßt sich nicht feststellen. Von der Leninschen, in der »das ökonomische Monopol« als »der Kern der ganzen Sache« herausgearbeitet wurde, sicher nicht. Mit den Kolonien als Absatzmarkt ist das vom Imperialismus konstituierte ökonomische und politische Machtverhältnis ja nur sehr unzureichend beschrieben. Zudem ist die unmittelbare Kolonialherrschaft längst von der neoko-lonialen »indirekten Herrschaft« abgelöst worden. Noch absurder mutet das Argu-ment an, daß mit dem Ende des Staats-sozialismus der seiner machtpolitischen Komponente entledigte Antiimperialis-mus bedeutungslos geworden sei. Als wä-ren Imperialismus und Antiimperialismus Entäußerungen des Ost-West-Konfliktes gewesen und nicht umgekehrt. Natürlich war der Antiimperialismus für den Real-sozialismus auch Legitimationsideologie. Als solche ist er überflüssig geworden, aber nicht als Gegenbewegung zum Im-perialismus, der ohne seinen historischen Widersacher keineswegs gegenstandslos geworden ist, sondern zu seiner eigentli-chen Bestimmung zurückgekehrt ist.

Der Zusammenbruch des Staatssozialis-mus gestaltete sich als ein Akt der direkten und freiwilligen Unterwerfung unter das imperialistische Diktat. Die Gorbatschow-Perestroika erweckte zwar für einen kurzen historischen Augenblick den Eindruck, als wäre der Sozialismus nicht nur imstande, sich zu erneuern, sondern auch als Frie-densmacht – Stichwort: Neues Denken – eine ideologische Offensive zu starten.Es zeigte sich freilich, daß sich das staats-sozialistische System auf seinen eigenen Grundlagen nicht mehr reformieren ließ. Das etatistische Reproduktionsmodell hat-te sich erschöpft. Noch schwerer wog die

Zersetzung des subjektiven Faktors. Die Arbeiterklasse als nominell herrschende Klasse konnte sich aus der Gefangenschaft des Sozialpaternalismus nicht lösen. Auch vermochte sie aus sich heraus kein Modell einer Gegenpartei zur Partei- und Staats-bürokratie zu entwickeln. Die bürokrati-schen, nicht selten mit der Schattenwirt-schaft verflochtenen Eliten rüsteten – trotz vorherrschender antibürokratischer Rheto-rik – zum kapitalistischen Eigentumsum-sturz.

StaatsantiimperialismusÄhnlich wie der revolutionären Umgestal-tung im Inneren der Sowjetgesellschaft erging es dem Neuen Denken als außen-politischer Doktrin. Anfangs war es als ein der imperialistischen Konfrontationspoli-tik entgegengesetzter Diskurs interpretiert

worden, der, wie Michail Gorbatschow damals ausführte, wenn auch allgemein-menschlichen Inhalts nicht von ungefähr in der Heimat der Oktoberrevolution entstan-den sei. Doch die allgemein-menschlichen Werte vollzogen sehr schnell einen Bedeu-tungswandel zu den westlichen. Und so kam es, daß das friedfertigere unter den Sy-stemen, um des lieben Friedens willen, aus dem Systemwettbewerb ausschied, wobei sich seine Führungskräfte auch noch des Verdienstes rühmten, die größte totalitä-re Bedrohung aller Zeiten abgewendet zu haben. Alexander Jakowlew, der eine bei-spiellose Karriere vom Ideologiesekretär der KPdSU zum Chefideologen des rus-sischen Antikommunismus hinter sich ge-bracht hatte, sollte später die marxistische Lehre vom Klassenkampf als ursächlichen Rassismus denunzieren. Die geschichtsre-visionistische These vom internationalen Bürgerkrieg, in dem marxistisch inspirier-te Bewegungen die natürliche Ordnung der Welt angreifen würden und zu dessen Bekämpfung auch der Hitler-Faschismus seinen Beitrag geleistet habe, hatte ihren Kronzeugen gefunden.

Und so erschien der aus der Systemkon-frontation siegreich hervorgegangene Im-perialismus als die lang ersehnte Friedens-ordnung. Das umso mehr, als der besiegte Gegner sich auch noch mit den Siegern identifizierte. Die »neue Weltordnung«, welche das duale System ablöste und die »One capitalist world« konstituierte, war als Begriff von Michail Gorbatschow ein-geführt worden. Noch Anfang Dezember 1991 schrieb er, »daß niemand das Recht hat zu vergessen, zu welch wichtigem Stützpfeiler unser Staat auf dem Weg der Welt hin zu einer neuen Weltordnung ge-worden ist.« Ende Dezember wehte die sowjetische Fahne über dem Kreml schon nicht mehr. Die neue Weltordnung kam auch ohne ihren wichtigen Stützpfeiler aus.

Die besondere Ironie der Geschichte aber ergab sich daraus, daß das antikom-munistische Rußland, das der UdSSR den Todesstoß versetzt hatte, die Niederlage der Sowjetunion auf sich zu nehmen hat-te. Denn für den imperialistischen Westen galt, daß nur ein schwaches Rußland ein gutes Rußland sei.

»An alle, an alle!«Die Oktoberrevolution, die am Beginn der sowjetischen Entwicklung stand, war vor allem auch eine antiimperialistische Revo-lution. Hervorgegangen aus der Februarre-

volution als einer Volkserhebung gegen die vom imperialistischen Krieg zugespitzten und unerträglich gewordenen Verhältnisse eines halbfeudalen Kapitalismus löste der Oktober sein Versprechen nach dem Aus-tritt Rußland aus dem Weltkrieg umgehend ein. Im Appell der Sowjetmacht »An alle, an alle« wurde ein völlig neues außen-politisches Prinzip – eine Außenpolitik der Völker gegen die imperialistischen Regierungen – verkündet. »Frieden oh-ne Annexionen«, lautete die Losung. Ein Ende der volksfeindlichen Geheimdiplo-matie wurde gefordert. Den Völkern des russischen Imperiums wurde die nationale Selbstbestimmung, das Recht auf Lostren-nung inbegriffen, zugebilligt. Das freilich auch für das Recht auf Zusammenschluß gelten sollte. Wladimir Iljitsch Lenin hat das Selbstbestimmungsrecht nie abstrakt gefaßt, sondern stets in einem antiimpe-

rialistischen Begründungszusammenhang. Heute gilt mehr denn je, daß der Charakter einer nationalen Bewegung an ihrem Ver-hältnis zum Imperialismus zu messen ist.

Die UdSSR ist im Zeichen der natio-nalen Selbstbestimmung entstanden und sie ist unter Berufung auf das Selbstbe-stimmungsrecht aufgelöst worden. In den baltischen und transkaukasischen Sowjet-republiken sind im Verlauf der Perestroika nationalistische Strömungen reaktiviert worden, die sich mehr oder weniger auf das in der sowjetischen Verfassung festge-schriebene Recht auf Lostrennung bezo-gen. Seine tödliche Dynamik erhielt dieser Prozeß aber erst, als in der Russischen Föderation das antikommunistische »De-mokratische Rußland« seine »antiimperi-ale« Agitation zu entfalten begann und die russische Staatlichkeit der sowjetischen gegenübergestellt wurde. Mit dem konter-revolutionären Umsturz vom August 1991 ist die Sowjetunion als Gesellschaftsord-nung zerstört worden. Als Union ende-te ihre Existenz auf einer Konferenz der Republikführer in Alma Ata, an der die Vertreter der baltischen Republiken und Georgiens schon nicht mehr teilnahmen. Die Auflösung erfolgte gerade noch im Konsens. Davor hatten die Russische Fö-deration, die Ukraine und Belorußland einen Slawischen Bund gegründet – un-ter völliger Mißachtung des Selbstbestim-mungsrechtes anderer Sowjetrepubliken, die plötzlich außerhalb des sowjetischen Zusammenhanges standen, ohne aus die-sem ausgetreten zu sein. Sie wurden viel-mehr (her)ausgetreten. Daß die »russische Wiedergeburt« nur auf dem Boden der Russischen SFSR erfolgte und nicht in den historischen Grenzen des russischen Impe-riums, brachte den »demokratischen« Au-gustsiegern ironischerweise den Vorwurf des »Neobolschewismus« ein.

Unkorrektes JugoslawienIm Westen galt es fortan als »politisch korrekt«, die nationale Frage besser nicht aufzuwerfen. Der Kommunismus schien, bis auf weiteres jedenfalls, erledigt. Seine Rolle als neues Feindbild nahm der Natio-nalismus ein. Die »Antinationalen« sind nicht die Ausnahmeerscheinung, als die sie sich dünken. Der imperialistische Inter-nationalismus wurde zur Leitidee, über die sich auch eine ehemals antagonistisch ge-sinnte Linke in den neoimperialistischen Konsens einbinden ließ. Überhaupt galt es in den Zeiten des vermeintlichen Über-gangs zur weltweiten Zivilgesellschaft als

Der AntiimperialistDer von Wladimir Iljitsch: Lenin theoretisch begründete Antiimperialismus behindert linke Regierungsfähigkeit. Von Werner Pirker

Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Men-schenwürde e.V., Europäisches Friedensforum (epf), Ostdeutsches Kuratorium von Verbänden e.V. undAnti-EISZEITKOMITEE

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7. Mai 2010, 16.00 Uhr,im Haus der Russischen Wissenschaft und Kultu-ren, Friedrichstr. 176, 10117 Berlin.

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Nikolay Chikhachev, Moskau, Kapitän 1. Ranges, Teilnehmer des Großen Vaterländischen Krieges;

Gabriel Guiche, Paris, Veteran der Resistance.

Die Professoren Drs. Sonja und Moritz Mebel werden mit dem Preis für Frieden und Menschen-rechte der GBM ausgezeichnet.

Ein festtägliches kulturelles Programm wird von russi-schen und deutschen Künstlern und Ensembles gestaltet.

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»retro«, das häßliche Wort »Imperialis-mus« überhaupt noch in den Mund zu nehmen. Zwar löste auch die »Globali-sierung« als Umschreibung für imperia-listische Expansion nicht ausschließlich positive Reaktionen aus – die Kritik an ihr führte sogar zu einer neuen Oppositions-strömung reformistischer Orientierung. ATTAC und die Sozialforen geben sich der Hoffnung hin, die finanzmarktgetrie-benen Globalisierung in eine von unten organisierte transformieren zu können. Auch eine andere Europäische Union sei möglich, heißt es von seiten der »transfor-matorischen Linken«. Jetzt schon hält man sich vorsichtshalber an die EU-Terrorliste, wenn Solidarität mit nationalen Befrei-ungsbewegungen gefordert ist.

Politisch korrekt, also keineswegs »re-trolinks«, verhielt sich die Mainstream-Linke auch im Jugoslawien-Konflikt. Nicht der antijugoslawischen Sezession unter deutscher Anleitung galt ihre Kritik, sondern der im Dissens zur neuen Welt-ordnung agierenden serbischen und jugo-slawischen Führung unter Slobodan Mi-losevic, in dem sie die Irkarnation der für überwunden geglaubten nationalen Frage sahen. Die westlichen Interventen wur-den zu Adressaten »linker« Forderungen nach Verteidigung der Menschenrechte, Verhinderung von Völkermord usw. Lenin hätte eine solche Linke als »sozialimperia-listisch« bezeichnet: Sozialisten in Worten und Imperialisten in der Tat.

Während die sezessionistische Aggres-sion gegen Jugoslawien, das nur im Kon-sens seiner Völker aufgelöst hätte werden dürfen, als Realisierung des Selbstbestim-mungsrechtes befürwortet wurde, fanden das Recht der Serben auf Austritt aus den ausgetretenen Republiken, das heißt auf Verbleib bei Jugoslawien keine Anerken-nung. Der Imperialismus als die Negation des Selbstbestimmungsrechtes erscheint als dessen mächtigste Durchsetzungsin-stanz. Wo aber nicht die ethnische Exklu-sivität – wie bei der Bildung des kroati-schen Nationalstaates oder der Schaffung eines albanischen Kosovo-Staates – den Inhalt der Selbstbestimmung ausmacht, sondern das Beharren auf Unabhängigkeit von den Hegemonialmächten und einen eigenständigen Entwicklungsweg, werden bestehende Nationalstaaten in in die Knie

gezwungen oder als gescheitert aus dem Verkehr gezogen und einem neuen Staats-bildungsprozeß (Nation building) unter-worfen.

Bei Lenin findet sich der Begriff des »ökonomistischen Imperialismus«, wo-runter er eine Strömung innerhalb der revolutionären Bewegung verstand, die praktisch auf eine Kapitulation vor der ökonomischen Logik des Imperialismus, welche die Durchsetzung demokratischer Forderungen nicht mehr zulasse, hinaus-lief – eine Auffassung, die sich vor allem auf das nationale Selbstbestimmungsrecht bezog. Zwar stellte dies keine linke Apo-logie des imperialistischen Systems dar, wie sie heute von Anhängern »humanitä-rer Interventionen« betrieben wird. Lenin kritisiert vielmehr einen ökonomistisch begründeten Fatalismus, der außer der so-zialistischen Revolution keine politischen Veränderungsmöglichkeiten mehr erken-nen will. Der große russische Revolutio-när trat hingegen für die volle Entfaltung der Demokratie ein, als der wichtigsten Voraussetzung für die sozialistische Revo-lution. Den Imperialismus betrachtete er als Negation jeder Demokratie, auch der bürgerlichen.

ÖkonomismusLenin selbst ging in seiner Imperialismus-Analyse von einer ökonomischen Definiti-on aus: Der Imperialismus als das mono-polistische Stadium des Kapitalismus. Die »Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol« stellte für ihn das Wesen des Imperialismus dar. Doch daraus ergab sich bei ihm keineswegs eine ökonomi-stische Sichtweise auf das Phänomen. Es ging um die diesem innewohnende Wech-selwirkung von Ökonomie und Politik. In »Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den imperialistischen Ökonomis-mus« schreibt er: Der politische Überbau über der neuen Ökonomik, über dem mo-nopolistischen Kapitalismus (Imperialis-mus ist monopolistischer Kapitalismus) ist die Wendung von der Demokratie zur po-litischen Reaktion. Der freien Konkurrenz entspricht die Demokratie. Dem Monopol entspricht die politische Reaktion.« Und: »In diesem Sinn ist unbestreitbar, daß der Imperialismus ›Negation‹ der Demokra-

tie überhaupt, der ganzen Demokratie ist, keineswegs aber nur einer demokratischen Forderung, nämlich der Selbstbestimmung der Nationen.« Imperialismus war für den Begründer des Sowjetstaates »Reaktion nach innen und Aggression nach außen«.

In der imperialistischen Phase des Ka-pitalismus findet der nationale Klassen-kampf seine internationale Entsprechung im antagonistischen Konflikt zwischen Unterdrücker- und unterdrückten Natio-nen. Den Nationalismus der unterdrückten Nationen betrachtete Lenin als tendenziell fortschrittlich, den der Unterdrücker-Na-tionen als ausschließlich reaktionär.

Die postmoderne Antinationale (da-mit ist nicht nur eine sich linksradikal gebärdende Sekte gemeint) hat den Na-tionalstaat zum Auslaufmodell erklärt – lediglich den Unterdrückerstaaten USA und Israel wird ein ewiges Existenzrecht eingeräumt. Doch auch die EU stellt kei-neswegs eine positive Aufhebung des Na-tionalstaates, sondern ein supranationales quasistaatliches Herrschaftsverhältnis der starken über die schwachen Nationen dar. Das »europäische Vereinigungsprojekt« entspricht der sich aus der kapitalistischen Konkurrenz ergebenden Tendenz zur Kon-zentration und Zentralisation.

Von einem absehbaren Ende des na-tionalen Egoismus kann ohnedies nicht die Rede sein. In Wirklichkeit erfährt die Tendenz zum Sozialdarwinismus in den internationalen Beziehungen eine extreme Zuspitzung. In einem EU-Papier zu den Aufgaben der europäischen Sicherheits-politik wird die Verteidigung der »globa-len hierarchischen Klassengesellschaft« gegen einen drohenden Hungeraufstand der Habenichtse als wichtigste Aufgabe genannt.

Die offene Zurschaustellung einer bru-talen Herrenmenschenmentalität gehört ebenso zur neoliberalen Hegemonie wie die Selbstdarstellung des Imperialismus als Bewahrer universeller Werte wie Demo-kratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschen-rechte. In der Nationalen Sicherheitsstra-tegie der Vereinigten Staaten von Amerika heißt es: »Die Vereinigten Staaten werden die Gunst der Stunde nutzen, um die Vor-züge der Freiheit in der ganzen Welt zu verbreiten. Wir werden uns aktiv dafür ein-setzen, die Hoffnung auf Demokratie, Ent-

wicklung, freie Märkte und freien Handel in jeden Winkel der Erde zu tragen.« Das liest sich zwar fast wie das erste Dekret der Sowjetmacht: An alle, an alle! Doch war dieser Friedensaufruf ein Appell an die Völker, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und keine Willensbekundung weißer Missionare: Die Verheißung von Demokratie für alle, formuliert als Welt-eroberungsprogramm.

Imperiale WeltordnungWas der Globalisierungsdiskurs eher ver-schleiert, kommt hier unverhüllt zum Aus-druck. Die Nationalstaaten und nicht ir-gendwelche übernationale Strukturen sind nach wie vor die entscheidenden Akteure. Und in dieser hierarchischen Weltordnung stehen die USA nach wie vor unange-fochten an der Spitze. Mit ihrem Projekt für ein neues amerikanisches Jahrhundert haben die Bush-Krieger ihren weltweiten Führungsanspruch auch offen zur Geltung gebracht. Doch waren die USA unter Clin-ton nicht weniger imperialistisch als unter der Herrschaft der Neocons und sind das auch unter der Präsidentschaft Obamas nicht. Es ist zu befürchten, daß nach der in der Bush-Ära eingetretenen Ernüchterung und der sich damit verbundenen Reakti-vierung antimperialistischen Bewußtseins erneut die Idee eines die Menschenrech-te erkämpfenden Imperialismus, der vom US-Präsidenten als westliches Gemein-schaftsprojekt moderiert wird, die Hirne vernebelt.

Noch hält in Deutschland die PDL ihre Position als Antikriegspartei. Daß der Frie-denskampf nach den Vorstellungen ihre regierungssozialistischen Elite außerhalb der Völkersolidarität geschehen soll, läßt indes vermuten, daß die Barriere, welche die Linkspartei von der Regierungstaug-lichkeit auf Bundesebene noch trennt, frü-her oder später geschliffen werden wird. Die Absage an den Antiimperialismus er-gibt nur Sinn, wenn die Expansion der westlichen Wertegemeinschaft entweder nicht mehr als Imperialismus wahrgenom-men oder dieser als die legitime Ordnungs-macht akzeptiert wird. Die linksparteiof-fizielle Verpflichtung zur Solidarität mit dem zionistischen Staat und das dabei vermittelte Bild der von einer aggressiven Antimoderne bedrohten westlichen Zivili-sation schafft das Einfallstor, durch das die bellizistischen Regimenter marschieren.

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Die postmoderne An­tinationale (damit ist nicht nur eine sich links­radikal gebärdende Sek­te gemeint) hat den Na­tionalstaat zum Auslauf­modell erklärt – lediglich den Unterdrückerstaa­ten USA und Israel wird ein ewiges Existenzrecht eingeräumt. Doch auch die EU stellt keineswegs eine positive Aufhebung des Nationalstaates, son­dern ein supranationales quasistaatliches Herr­schaftsverhältnis der starken über die schwa­chen Nationen dar.

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Im »Schwarzbuch des Kommunis-mus« und in der unermeßlichen Publizistik, die in die gleiche Rich-tung weist, sind es die Zahlen,

die gleich ins Auge springen. In einem obsessiven Crescendo aufgezählt, sum-miert und hervorgehoben, scheint es so, als wollten sie den Leser betäuben, ihn dahin führen, jede weitere Überlegung beiseite zu lassen und ihn zwingen, eine Wahrheit anzunehmen, die sich nach der furchtbaren Masse der aufgehäuften Lei-chen mißt.

Beim weniger naiven Leser stellt sich aufgrund des historischen Gedächtnisses oder der Frequentation der historischen Kultur ein anderes und unerwartetes Re-sultat ein: Wie sehr hat sich das Klima im Vergleich zu der unmittelbar auf den Zwei-ten Weltkrieg folgenden Periode geändert! Es waren die Jahre, in denen die Aufzäh-lung der Greueltaten zusammen mit den Vollstreckern der »Endlösung« auch den Kolonialismus ins Visier nahm. Hannah Arendt beschuldigte ihn in »The Origins of Totalitarianism – Elemente und Ursprün-ge totaler Herrschaft« (1951), bedenkenlos »die Eingeborenen ausgerottet« und z. B. die Bevölkerung von Kongo »von 20 bis 40 Millionen im Jahre 1890 auf acht Mil-lionen im Jahre 1911« reduziert zu haben. Auch Norberto Bobbio spricht in »Invito al colloquio – Eingeladen zum Gespräch« (1951) von »Ausrottung« in »vier Jahrhun-derten kolonialer Expansion«.

Die Verurteilung wurde nicht nur aus-schließlich mit Blick auf die Vergangen-heit ausgesprochen. Während sich nach und nach die Emanzipationsbewegung der Kolonialvölker entwickelte, erfaßte die Aufzählung immer direkter auch die Gegenwart: Nachdem Frantz Fanon in »Die Verdammten dieser Erde« (1961) »die 45 000 Toten von Sétif« (1945), »die 90 000 Toten in Madagaskar« (1947), »die 200 000 Opfer der Repression in Kenia« (1952) in Erinnerung gebracht hatte, gab er der algerischen antikolonialistischen Bewegung das Wort, die 1957 die fran-zösischen Machthaber beschuldigte, eine »an Genozid grenzende« Politik durchzu-führen und sogar »die entsetzlichste Aus-rottungskampagne der modernen Zeiten« durchsetzen zu wollen.

GenozidKann man in den Annalen der Geschichte eine explizite theoretische Begründung für den Genozid finden? Im Jahre 1883, im Todesjahr von Karl Marx, stellt der Soziologe Ludwig Gumplowicz, in Pole-mik gegen Marx, der ideologischen The-se vom »Klassenkampf« die Realität des »Rassenkampfs« in einem Buch dieses Titels entgegen: Unter bestimmten Be-dingungen werde es »naturnotwendig«, daß die Angehörigen einer anderen eth-nischen Gruppe »nicht als Menschen, sondern als ›Geschöpfe‹ erscheinen, die eben nur dazu gut sind, bei der ersten sich darbietenden Gelegenheit ausgerottet zu werden«. Das geschehe etwa in Südafri-ka, wo auch die »christlichen Boers« die »Buschmänner und Hottentotten (…) als ›Geschöpf‹« betrachten, »die man wie das Wild des Waldes ausrotten darf«. Auf der anderen Seite des Atlantiks merkt Theodore Roosevelt, von 1901 bis 1909 US-Präsident, an, daß man sich nicht von »falschen Gefühlsseligkeiten leiten« las-sen dürfe, wenn man »die schwierige Auf-gabe übernimmt, barbarische Territorien und niedrigere Rassen zu zivilisieren«. Der amerikanische Staatsmann ist völlig immun gegen derartige Empfindlichkei-ten, und er scheint sich vielmehr bei dem Schauspiel der Auslöschung der India-ner von der Erdoberfläche geradezu zu amüsieren: »Ich gehe nicht so weit zu glauben, daß die guten Indianer nur die toten sind, aber ich glaube, daß dies für neun von zehn gilt; im übrigen möchte ich auch nicht zu genau über den zehnten nachforschen.«

Tatsächlich wird der Genozid nicht nur theoretisiert. Zwischen 1904 und 1907 erheben sich in Afrika die Herero ge-gen das imperiale Deutschland. Die Re-pression ist erbarmungslos: »Innerhalb der deutschen Grenzen (der dem Zwei-ten Reich unterworfenen Kolonien – der Autor) wird jeder Herero, mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen. Ich nehme keine Frauen und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zu-rück oder lasse auf sie schießen. Das sind meine Worte an das Volk der Herero.« Vielsagend ist die Begründung für die-se souveräne Entscheidung. Der General von Trotha erklärt, daß »die Nation als solche vernichtet werden muß«, weil sie nicht einmal mehr als »Arbeitsmaterial« benutzt werden könne.

Es wäre töricht und abwegig, wollte man dies alles einem imaginären ewigen Deutschland in Rechnung stellen. Die Lo-gik, der der deutsche General folgt, ist ein paar Jahre vorher von John A. Hobson (dem linksliberalen Engländer, den Lenin aufmerksam gelesen hatte) verdeutlicht worden: Er hatte in seinem Buch »Im-perialismus« (1902) darauf hingewiesen, daß die koloniale Expansion mit der Aus-rottung der »niedrigeren Rassen« einher-gehe, »die von den überlegenen weißen Kolonisatoren nicht mit Gewinn ausge-beutet werden können«.

Mehr oder weniger ähnlich verfahren alle großen Kolonialmächte der Zeit. Auf den von den Vereinigten Staaten annek-tierten Philippinen wird die Guerilla nicht nur mit der systematischen Vernichtung

der Ernte und des Viehs bekämpft, son-dern die Bevölkerung wird auch massen-weise in Konzentrationslager eingesperrt, wo sie Krankheiten erliegt oder Hungers stirbt. Ein General (Jacob H. Smith) er-teilt ausdrücklich den Befehl, ein Dorf in eine »Öde« zu verwandeln, wobei unter anderem die Ermordung aller über zehn Jahre alten männlichen Einwohner vorge-sehen ist. Es handelt sich nicht um einen einfachen Wutausbruch: es gehe darum – erklärt der amerikanische Kriegsmini-ster – sich »die Methoden (zunutze zu machen), die wir erfolgreich im Westen bei unseren Kampagnen gegen die India-ner angewandt haben.«

VersklavungAuf den »Krieg gegen die Indianer«, auf den Kampf »gegen die Indianer Nord-amerikas« beruft sich Hitler bei seinen Tischgesprächen, um seinen Ausrottungs-krieg gegen die »Eingeborenen« Osteu-ropas zu rechtfertigen: auch in diesem Fall werde die weiße Rasse, »die stärkere Rasse den Sieg davon tragen« und zwar gerade mit den für den Kolonialkrieg typi-schen Methoden: »In der Geschichte der Macht erweiterung großer Völker« sind die »schärfsten Mittel (…) immer mit Er-folg angewandt worden«. Man könnte sa-gen, daß das Dritte Reich im Osten seinen Far West gesucht und in den »Untermen-schen« Osteuropas und der Sowjetunion die Indianer ermittelt habe, die es galt, ihres Bodens zu berauben, zu dezimieren und, im Namen des Vormarschs der Zivi-

lisation, immer weiter, bis hinter den Ural zurückzudrängen.

Statt in Osteuropa, sucht der italieni-sche Faschismus seine »Eingeborenen« vor allem in Äthiopien. Blättert man die Reden durch, in denen Mussolini sich dar-um bemüht, seine Aggression zu recht-fertigen und zu beschönigen, dann glaubt man Texte wiederzulesen, die einige Jahr-zehnte vorher geschrieben worden waren. Auf der Berliner Konferenz zur Auftei-lung Afrikas 1884/85 hatte Leopold II. von Belgien am Vorabend der Annexion des Kongo folgendes erklärt: »Der Zivi-lisation den einzigen Teil der Weltkugel öffnen, in den sie noch nicht gedrungen ist, die Finsternis durchstoßen, die ganze Bevölkerungen umhüllt, das ist, ich wage es zu sagen, ein Kreuzzug, der dieses Jahr-hunderts des Fortschritts würdig ist.« Und Mussolini im Dezember 1934: »Äthiopi-en ist das letzte Stück Afrikas, das noch keine europäischen Herren hat«. Man müsse ein für allemal den »Schrecken der Sklaverei« und einem »barbarischen und Negerhändler-Pseudostaat« ein Ende bereiten. Wie im Fall von Kongo erweist sich auch in Äthiopien der Zivilisierungs-kreuzzug in Wahrheit als ein Ausrottungs-krieg. Die faschistischen Truppen setzen massiv Senfgas und andere Giftgase ein, verüben Massaker unter der Zivilbevöl-kerung, errichten Konzentrationslager, beseitigen Intellektuelle und alle diejeni-gen, die dazu beitragen könnten, das Iden-titätsgefühl eines Volkes wachzuhalten. Für den italienischen Faschismus ist die Bevölkerung ein Reservoir sklavischer Arbeitskraft.

RassemythosDie dabei geforderte und praktizierte Apartheid führt uns zurück zu den letzten Jahrzehnten des 19. und zu den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten und in Südafrika. Die den Kolonialbevölkerungen gegenüber praktizierte Brutalität hinterläßt auch in der kapitalistischen Metropole ihre Spur. Durch Segregation und halb-sklavische Arbeitsverhältnisse werden die Schwar-zen in den US-Südstaaten mit »Bestien« gleichgesetzt, oft gelyncht und der Ge-walt der Schlägertrupps ausgesetzt. Ihre

Das sind doch keine KriegeLenin, die »zivilisatorischen« Missionen des Westens und die »Herrenvolk democracy«. Von Domenico Losurdo

Der Philosoph und Historiker Domenico Losurdo arbeitet an der Universität Urbino. Auf deutsch erschienen zuletzt von ihm: »Nietz­sche, der aristokratische Rebell. Intellektuelle Biographie und kritische Bilanz« (2009), »Die Deutschen: Der Sonder­weg eines unverbesser­lichen Volkes?« (2010), »Freiheit als Privileg: Ei­ne Gegengeschichte des Liberalismus« (erscheint Ende April)

Der hier abgedruckte Text ist eine redaktionell überarbeitete Fassung des Artikels »Lenin, die ›Herrenvolk supremacy‹ und das ›Schwarzbuch des Kommunismus‹, der 2003 im Heft 22 der von Hans Heinz Holz und Domenico Losurdo herausgegebenen Zeit­schrift Topos erschien. Wir danken dem Autor und der Topos­Redaktion für die freundliche Ge­nehmigung zum Nach­druck.

Die Übersetzung aus dem Italienischen besorgte Erdmute Briel­mayer.

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junge Welt Mittwoch, 21. April 2010, Nr. 92 1 1l e n i nRebellion gegen die »white supremacy« (weiße Vorherrschaft, Überlegenheit der Weißen) läßt sogar die Versuchung der »Endlösung (ultimate solution) der Ne-gerfrage« auftauchen, wie der Titel eines im Jahre 1913 in Boston erschienenen Bu-ches lautet. Sollten sie weiterhin »nutzlos oder unruhig« sein – ereifert sich ein anderer Theoretiker der »white suprema-cy« – werde sie das Schicksal ereilen, das schon die Indianer von der Erdoberfläche ausgelöscht hat.

Das Los, das jahrhundertelang den In-dianern und den Schwarzen zuteil wurde, stellt für den Faschismus und den Na-zismus erklärtermaßen ein Modell dar. Noch 1930 rühmt ein erstrangiger Ideo-loge des Nazismus wie Alfred Rosenberg in »Der Mythus des 20. Jahrhunderts« das Amerika der »white supremacy«, die-ses »herrliche Land der Zukunft«, dem das Verdienst zukomme, den glücklichen »Rassestaatsgedanken« zu formulieren, eine Idee, die jetzt »mit junger Kraft« mit der Ausweisung und Deportation der »Nigger und der Gelben« in die Praxis umgesetzt werden müsse.

Vom Ende des 19. Jahrhunderts an ten-diert der Rassenmythos dahin, alle dem reinen Stamm der Weißen Fernstehenden mehr oder weniger intensiv zu verfolgen. Es handelt sich um ein Phänomen allge-meinen Charakters, das aber besondere Evidenz in einem Land gewinnt, in dem die soziale und die Rassenfrage eng mit-einander verbunden sind; dies nicht nur wegen der Präsenz der Schwarzen und der Indianer, sondern auch wegen der wieder-holten Wellen von Einwanderern, deren Herkunft entweder auf die koloniale oder halbkoloniale Welt oder jedenfalls auf am Rande der Zivilisation angesiedelte Regionen verweist. Diese Einwanderer besetzen natürlich die unteren Segmen-te des Arbeitsmarkts; oft sind sie davon ausgeschlossen und schwanken zwischen Arbeitslosigkeit und Kriminalität hin und her. Sie sind die Gescheiterten, die von einer Generation zur anderen als solche fortbestehen und damit eine für die Ge-sellschaft schädliche »Rasse« bilden.

Halten wir fest: Symptomatisch ist schon die Terminologie, die zwischen dem Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts auftaucht. »Niedrigere Rassen«, Bestien-Völker und Arbeitsin-strument-Völker oder, wie man später sagen wird, Untermenschen; »Eugenik« für Landstreicher und Parasiten (die dann vom Nazismus ins Visier genommenen »asozialen Elemente«), »Konzentra-tionslager«, »Ausrottung«, »Vernich-tung«, »Holocaust«: Zweifellos ist das Laboratorium des Dritten Reichs und der Greuel des 20. Jahrhunderts schon lange

vor dem Ausbruch der Oktoberrevolution in voller Aktivität, und es verweist auf die kolo niale Tradition oder auf die Behand-lung der »Barbaren« in den Kolonien und selbst in den Metropolen seitens derer, die sich selbst für die exklusiven Vertreter der Zivilisation halten.

Kolonien des WestensBevorzugte Zielscheibe von Lenins Kampf ist gerade die – von US-Histori-kern so bezeichnete – »Herrenvolk de-mocracy« der USA und Westeuropas, die sich auf die »Versklavung der Hunderte Millionen Werktätigen in Asien, in den Kolonien überhaupt und in den kleinen Ländern« durch »einige auserwählte Nationen« gründe (W. I. Lenin: Werke. Dietz Verlag, Berlin 1955ff – nachfolgend als LW zitiert –, Band 26, Seite 425). Der revolutionäre Führer hebt minutiös die makroskopischen Ausschlußklau-seln der liberalen Freiheit zum Nachteil der »farbigen Menschheit« und der »aus rückständigeren Ländern« kommenden Einwanderer hervor (LW Band 22, Seite 287). Wie in einem Spiegelbild wird der Westen, der sich der Rechtsstaatlichkeit rühmt, vor die Realität der Kolonien ge-stellt: »Die liberalsten und radikalsten (Politiker) des freien Britanniens (…) werden in ihrer Rolle als Machthaber In-diens zu wahren Dschingis-Chans.« (LW Band 15, Seite 178).

Das Italien des mehrfachen Minister-präsidenten zwischen 1892 und 1921 Gio-vanni Giolitti kann wohl stolz sein auf die Ausdehnung der politischen Rechte auf nahezu die gesamte erwachsene männ-liche Bevölkerung. Aber erneut kontert Lenin gegen die liberale Selbstgefällig-keit, indem er darauf hinweist, daß die Ausdehnung des Wahlrechts darauf ab-ziele, die soziale Basis der Zustimmung zur Expedition von 1911/12 in Libyen zu erweitern, dieses »typischen Koloni-alkriegs eines ›zivilisierten‹ Staates des 20. Jahrhunderts«: »eine zivilisierte, kon-stitutionelle Nation« bringe ihr »zivili-sierendes« Werk »mit dem Bajonett, mit der Kugel, mit dem Strick, mit Feuer, durch Vergewaltigung ihrer Frauen«, ja sogar mit einem »Gemetzel« voran; es ist »ein vervollkommnetes, zivilisiertes Mas-saker, ein Abschlachten der Araber mit den ›neuzeitlichsten‹ Waffen (…) ›Zur Strafe‹ wurden etwa 3 000 Araber getö-tet, ganze Familien ausgerottet, Frauen und Kinder hingemetzelt.« (LW Band 18, Seite 329f.).

Die Expeditionen der Großmächte in den Kolonien werden aber von den Lob-preisern des Liberalismus nicht als Kriege betrachtet. Es handelt sich um Konflikte,

in deren Verlauf »wenig Europäer, dafür aber Hunderttausende aus jenen Völkern umkamen, die sie versklavten«. »Sind denn das Kriege?«, fügt Lenin sogleich höhnisch hinzu, »das sind doch eigent-lich gar keine Kriege, das kann man der Vergessenheit anheimfallen lassen«. Den Opfern werden nicht einmal militärische Ehren erwiesen. Die Kolonialkriege wer-den nicht als solche betrachtet, weil es Barbaren sind, die sie erleiden, die »nicht einmal als Völker angesehen werden (ir-gendwelche Asiaten, Afrikaner, sind das etwa Völker?)« (LW Band 24, S. 404) und die letztlich sogar aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen werden.

SozialdarwinismusAuf dieser Grundlage kommt es zum Bruch mit der Sozialdemokratie. Es ist nicht die Dichotomie Reformen/Revolution, die ihn bestimmt. Dies ist eine manierierte Vorstellung, die nicht dadurch glaubhaf-ter wird, daß sie – mit entgegengesetztem Werturteil – oft von beiden Antagonisten geteilt wurde. In den Dezennien vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs begrüßt Eduard Bernstein die Expansion des kai-serlichen Deutschlands als einen Beitrag zur Sache des Fortschritts, der Zivilisati-on, des Welthandels: »Wenn vor einiger Zeit sozialistischerseits der Vorschlag ge-macht werden konnte, den Wilden und Barbaren in ihren Kämpfen gegen die vordringende kapitalistische Zivilisation Beistand zu leisten, so ist das ein Ausfluß von Romantizismus«, schreibt er 1900 in »Der Socialismus und die Colonialfrage« in den Sozialistischen Monatsheften. Mit dem Westen insgesamt erkennt Bernstein, wie auch Theodore Roosevelt, dem zari-stischen Rußland die Rolle einer »Schutz- und Vormacht« in Asien zu.

Der sozialdemokratische Führer dringt bis an die Schwelle des Sozialdarwinis-mus vor. Die »kräftigen Rassen« seien es, die die Sache des »Fortschritts« vertreten, und es sei unvermeidlich, daß sie mit ih-rer »Cultur (…) nach Ausbreitung, nach Expansion streben«, während »kultur-feindliche« und sogar »kulturunfähige« Völker einen sinnlosen und rückständigen Widerstand leisteten; wo »sie sich gegen die Cultur erheben«, müßten sie auch von der Arbeiterbewegung bekämpft werden. Kämpft Bernstein einerseits in Deutsch-land für demokratische Reformen, so fordert er andererseits die eiserne Faust gegen die Barbaren: das ist die schon analysierte Logik der »Herrenvolk demo-cracy«. Die Unterwerfung der Kolonial-völker dürfe weder von gefühlsseligen Bedenken noch von abstrakten juristi-schen Betrachtungen behindert werden:

die starken und zivilisierten Völker dürf-ten nicht zu »Sklaven formaler Rechts-titel« werden. Eine höhere substantielle Legalität von der Geschichtsphilosophie aus, die die koloniale Tradition schätzt, wird gerade von dem sozialdemokrati-schen Führer verfochten, der später über die Nichteinhaltung der Spielregeln in der Oktoberrevolution sein Entsetzen zum Ausdruck bringen wird.

Diese Revolution stellt eine radikale Wende gegenüber einer ideologischen und politischen Tradition dar, in der ko-loniale Arroganz und Rassenvorurteile unausweichlich und unbestritten erschei-nen. Unter diesen Bedingungen muß der Aufruf zum Kampf für die Emanzipation, der an die Sklaven in den Kolonien und an die in der kapitalistischen Metropole lebenden »Barbaren« gerichtet ist, unbe-dingt wie eine tödliche Bedrohung für die weiße Rasse, für den Westen und für die Zivilisation schlechthin klingen.

Von einer ausgedehnten europäischen und amerikanischen Publizistik wird der Bolschewismus als geschworener Feind nicht der Demokratie als solcher, son-dern der »Herrenvolk democracy« und vor allem der weißen Vorherrschaft auf planetarischer Ebene wahrgenommen, auf der sie beruht. Nicht nur der Deut-sche Oswald Spengler warnt in »Jahre der Entscheidung« (1933) vor der Gefahr, die das revolutionäre Rußland für die »weiße Menschheit« darstelle, ein Land, das sei-ne »›weiße‹ Maske« abgelegt habe und, eindeutig »asiatisch«, integraler Bestand-teil der »gesamten farbigen Bevölkerung der Erde« sei. Daß die Oktoberrevolution »rassischen, nicht politischen Ursprun-ges« sei, davon ist auch der Automobil-industriemagnat Henry Ford überzeugt. Er nimmt jedoch nicht die Asiaten im eigentlichen Sinn als ihre Protagonisten und Anstifter ins Visier, sondern in er-ster Linie die Juden, die ebenfalls, wegen ihrer orientalischen Herkunft, als dem Westen und der Zivilisation fernstehend zu betrachten seien. Der Mythos vom »jü-disch-bolschewistischen Komplott« hat besonders viele Anhänger in Deutschland und erreicht mit der Machtergreifung Hit-lers seinen blutigen Höhepunkt.

Als direkter oder mittelbarer Ausdruck der Barbarei der niedrigeren Rassen ab-gestempelt, hat die kommunistische Be-wegung nicht nur eine politische, sondern auch eine außergewöhnliche pädagogi-sche Rolle gespielt – nicht nur in den Ko-lonien, sondern auch in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Eine Historio-graphie, die alles das vernachlässigt, wird schließlich zum Instrument der ideolo-gischen Verklärung der »Herrenvolk de-mocracy«.

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Der revolutionäre Führer hebt minutiös die makroskopischen Ausschlußklauseln der liberalen Freiheit zum Nachteil der »farbigen Menschheit« und der »aus rückständigeren Ländern« kommenden Einwanderer hervor. Wie in einem Spiegel­bild wird der Westen, der sich der Rechtsstaatlich­keit rühmt, vor die Reali­tät der Kolonien gestellt: »Die liberalsten und ra­dikalsten (Politiker) des freien Britanniens (…) werden in ihrer Rolle als Machthaber Indiens zu wahren Dschingis­Chans.«

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Mittwoch, 21. April 2010, Nr. 92 junge Welt 1 2 l e n i n

8. August 1914: Lenin wird von der öster-reichischen Polizei verhaftet und bis zum 19. August in Nowy Targ festgehalten. Er kommt durch Vermittlung des Vorsit-zenden der österreichischen Sozialdemo-kratie, Victor Adler, frei und erhält eine Ausreisegenehmigung.

5. September 1914: Lenin, Krupskaja und deren Mutter kommen in der Schweiz an. In der Berner Bibliothek beschäftigt er sich in den folgenden Monaten mit Philo-sophie (siehe Seite 6).

17. Oktober 1914: Lenin schreibt an A. G. Schljapnikow in Stockholm, die Friedens-losung sei gegenwärtig falsch: »Die prole-tarische Losung muß lauten: Bürgerkrieg.«

Juli 1916: Lenin beendet die Arbeit an »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus«. Das Werk erscheint ab Mitte 1917 in Rußland.

12. März 1917: Februarrevolution in Ruß-land.

8. April 1917: Lenin und Krupskaja fah-ren mit 30 weiteren Emigranten und dem Schweizer Sozialdemokraten Fritz Platten in einem verschlossenen Eisenbahnwag-gon durch Deutschland und weiter nach Schweden.

16. April 1917: Lenin trifft um 23 Uhr in Petrograd ein und hält auf dem Bahn-

hofsvorplatz vor begeisterten Massen von einem Panzerwagen aus eine Rede. Er schließt mit den Worten: »Es lebe die so-zialistische Weltrevolution!«

23. Juli 1917: Lenin verläßt Petrograd, nachdem gegen ihn ein Haftbefehl erlas-sen wurde, und verbirgt sich bei der Bahn-station Rasliw außerhalb der Stadt und flieht später nach Finnland. Er verfaßt sein Werk »Staat und Revolu tion« .

20. Oktober 1917: Lenin kehrt nach Petro-grad zurück und lebt dort in der Illegalität.

31. Oktober 1917: Lenin schreibt in einem Brief an die Mitglieder des ZK, jede Ver-zögerung des Aufstandes bedeute den Tod.

7. November 1917: Der Aufstand der Bol-schewiki siegt.

8. November 1917: Der II. Sowjetkongreß wählt Lenin zum Regierungschef, zum »Vorsitzenden des Rates der Volkskommis-sare«. Lenins Resolutionen – das Dekret über den Frieden und das Dekret über den Boden – werden angenommen.23. Februar 1918: Lenin setzt im ZK die Annahme des Separatfriedens mit Deutschland durch.

10./11. März 1918: Die Sowjetregierung übersiedelt nach Moskau. Lenin, Krups-kaja und seine Schwester Maria beziehen eine Wohnung im Kreml.30. August 1918: Nach einer Rede im Moskauer Michelson-Werk verwundet

die Sozialrevolutionärin F. Kaplan Lenin schwer durch zwei Revolverschüsse.

2. März 1919: Lenin eröffnet den I. Kon-greß der Kommunistischen Internationale (KI).

18. März bis 23. März 1919: In Moskau tagt der VIII. Parteitag der Kommuni-stischen Partei Rußlands (Bolschewiki), der ein von Lenin entworfenes Parteipro-gramm beschließt.

19. Juli 1920 bis 7. August: Lenin nimmt am II. Kongreß der KI in Petrograd und in Moskau teil.

8. März 1921 bis 16. März 1921: x. Par-teitag der KPR (B). Lenin tritt für den Übergang vom »Kriegskommunismus« zur »Neuen Ökonomischen Politik« ein.

22. Juni 1921 bis 12. Juli 1921: Auf dem III. Weltkongreß der KI in Moskau wendet sich Lenin gegen »linke Dummheiten«, welche die Bewegung gefährden.

13. Juli 1921: Lenin tritt einen mehrwöchi-gen Urlaub an. Von nun an kehrt er in im-mer längeren Abständen zur Arbeit nach Moskau zurück.

2. August 1921: Lenin verfaßt einen »Ap-pell an das internationale Proletariat«, in Rußland herrsche in einigen Gegenden eine Hungersnot, »die der Katastrophe von 1891 offensichtlich nur wenig nachsteht (…) Hilfe tut not.«

26. Mai 1922: Lenin erleidet den ersten Schlaganfall.

13. November 1922: Auf dem IV. Welt-kongreß der KI hält Lenin in deutscher Sprache das Referat »Fünf Jahre russische Revolution und die Perspektiven der Welt-revolution«.

20. November 1922: Lenin spricht vor dem Moskauer Sowjet. Es ist seine letzte öffentliche Rede.

13. Dezember 1922: Lenin erleidet zwei Krankheitsanfälle (Gehirnthrombose), drei Tage später einen zweiten Schlaganfall. Ihm wird völlige Ruhe verordnet.

24. Dezember 1922: Lenin diktiert einen »Brief an den Parteitag«, der als »Testa-ment« bekannt wurde. Lenin geht vor allem auf die Parteiführung ein und warnt davor, daß die Beziehungen zwischen Sta-lin und Trotzki die größte Gefahr für eine Spaltung seien. Lenin will die durch eine Erhöhung der Mitgliederzahl des ZK von 27 auf 50 bis 100 verhindern.

9. März 1923: Lenin erleidet den dritten Schlaganfall, er ist teilweise gelähmt und kann nicht mehr sprechen.

21. Januar 1924: Lenin stirbt nach einem weiteren Anfall.

27. Januar 1924: Lenin wird im Mau-soleum auf dem Roten Platz in Moskau beigesetzt.

Lenin. Das Leben Des russischen revoLutionärs in Daten

O Fortsetzung von Seite drei

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lenin erscheint als Beilage der Tageszeitung junge Welt im Verlag 8. Mai GmbH, Torstraße 6, 10119 Berlin. Redaktion: Arnold Schölzel (V. i. S. d. P.), An­zeigen: Silke Schubert, Gestaltung: Michael Som­mer.

»Den Leninismus verteidigen heißt, das revolutionäre Erbe der DDR zu verteidigen und dieses Erbe nutzbar zu machen für die Kämpfe von morgen,

die die heutige Jugend auf Tod und Leben wird ausfechten müssen.«

Unsere Zuarbeit dazu findet sich u.a. in unseren Büchern:

- Auferstanden aus Ruinen. 50 Jahre DDR – für Sozialismus und Frieden. Protokollband der Veranstaltung im Nov 1999, ISBN: 3-00-005444-8, 10,- Euro

- Imperialismus und anti-imperialistische Kämpfe im 21. Jahrhundert. Protokollband der Veranstaltung im Okt. 2000, ISBN 3-00-007420-1, 10,- Euro

- Niederlagenanalyse. Die Ursachen für den Sieg der Konterrevolution in Europa, Juni 2007, ISBN 978-3-00-021905-4, 12,- Euro

- Und was war es nun wirklich? Festschrift für Kurt Gossweiler anlässlich seines 90. Geburtstages, Nov. 2007, ISBN 978-3-00-022827-8, 12.50 Euro

- Unter Feuer. Die Konterrevolution in der DDR. Zuarbeit für die Genossen der KKE aus Griechenland, Januar 2009, ISBN 978-3-00-026316-3, 12.- Euro

- Und der Zukunft zugewandt. Protokollband der gleichnamigen Veranstaltung im Oktober 2009, erschienen März 2010, ISBN 978-3-00-029873-8, 15.- Euro

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