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Weichen gestellt: Lokführer wollen Flächentarifvertrag bei allen deut- schen Eisenbahnen erstreiken. Inter- view mit Claus Weselsky Seite 4 Stand or deliver: Nach dem Bruch der »Sozialpartnerschaft« stehen Irlands Gewerkschaften vor einer Richtungsentscheidung Seite 8 Renitente Kantine: Ein kämpferi- scher Betriebsrat setzt sich durch auch gegen den Gewerkschafts- apparat Seite 10 Hollandaise verboten: Politische Ökonomie und Kulinarik des Spar- gels unter Berücksichtigung von deutschem Riesling Seite 12 junge W elt Die Tageszeitung erster mai Beilage der Tageszeitung junge Welt Freitag/Sonnabend/Sonntag, 30. April/1./2. Mai 2010, Nr. 100 Bescheidenheit am toten Punkt Frontalangriffe des Kapitals sind hierzulande bislang ausgeblieben, soziale Unruhen auch. Unser Verdienst, meinen Deutschlands Gewerkschaftsführer. Sie haben völlig recht. Von Jörn Boewe A uf Betriebsräte ist Verlaß«, schwärmte DGB-Vorstandsmit- glied Dietmar Hexel kürzlich bei einem Parlamentarischen Abend in Berlin. »Erst recht in der Krise« zeige sich, »welche großartigen Leistun- gen« sie »tagtäglich« erbringen. » Als ge- wählte Belegschaftsvertreter kämpfen sie nicht nur für ihre Kolleginnen und Kolle- gen und deren Arbeitsplätze. Sie überneh- men auch für das Unternehmen als Ganzes Verantwortung. Mancher Betrieb überlebt nur, weil er einen engagierten Betriebsrat hat, der kreative Lösungen entwickelt und unterstützt, um die Krise durchzustehen.« Nicht »nur« die Kollegen, sondern für »das Ganze« Verantwortung zu überneh- men, ist keine Haltung, die auf Hexels vorbildliche Betriebsräte beschränkt ist. Im großen Maßstab ist es die Linie, auf die sich die DGB-Gewerkschaften nach dem ersten Schock der 2008 ausgebrochenen Finanz- und Wirtschaftskrise festgelegt haben: Da verzichtet die IG Metall in einer Tarifrun- de gleich ganz darauf, Forderungen auf- zustellen, denn »das, was unsere Mitglie- der bewegt«, erzählt Gewerkschaftschef Berthold Huber der Wochenzeitung Die Zeit, »sind nun mal sichere Arbeitsplätze«. Die Leiharbeiter sind in dieser Rechnung schon abgeschrieben. In dem »neuen ge- sellschaftlichen Bündnis«, das Huber in seinem jüngsten Buch »Kurswechsel für Deutschland« einfordert, sind sie offenbar nicht eingeschlossen. In der Tat ist der Generalangriff auf die arbeitende Klasse im Zuge der Krise in der Bundesrepublik Deutschland bis- lang ausgeblieben. Dies war einerseits möglich, weil die deutsche Volkswirt- schaft genug Ressourcen angehäuft hat, um sich solchen Luxus wie die Abwrack- prämie und die kürzlich noch einmal um ein Jahr verlängerte Kurzarbeitsregelung leisten zu können. Auf wen über kurz oder lang die Kosten umgelegt werden sollen, kann man an fünf Fingern abzäh- len. Andererseits kommt der deutsche Kapitalismus bislang nicht zuletzt des- halb relativ geschmeidig durch die Krise, weil ein paar einschneidende reaktionäre Sozialreformen bereits hinter uns liegen. Die Ausweitung des Niedriglohnsektors, die Deregulierung der Leiharbeit und die Demontage der gesetzlichen Arbeitslo- senversicherung haben die Widerstands- kraft der Lohnabhängigen nachhaltig geschwächt und das Kräfteverhältnis zugunsten des Kapitals verschoben. All das wurde nicht von Mitte-Rechts (»Schwarz-Gelb«), sondern Mitte-Links (»Rot-Grün«) durchgesetzt – de facto mit dem stillschweigenden Einverständnis der Gewerkschaften. Es ist genau diese Pionierarbeit, die es der herrschenden Klasse so erleichtert, ih- re Ziele scheibchenweise durchzusetzen. Schritt für Schritt wird die Kofinanzie- rung der Sozialversicherung durch die Un- ternehmer abgeschafft (von Parität kann längst keine Rede mehr sein), aber für den Fall, daß das FDP-Modell zur Einführung einer Kopfpauschale im Gesundheitswesen allzu unsozial ausfallen sollte, droht der DGB – mit einer Onlinepetition. Und wäh- rend die geschrumpften Kernbelegschaften in den Großbetrieben dank Kurzarbeit bis- lang zusammengehalten werden konnten, schreitet die Erosion des – längst nicht mehr normalen – »Normalarbeitsverhält- nisses« voran und hat sich durch die Krise noch erheblich beschleunigt. Ein »politischer Mehltau« liege über dem Land, klagte das langjährige IG-Me- tall-Vorstandsmitglied Horst Schmitthen- ner 2002, am Ende der ersten Legislatur- periode der Schröder/Fischer-Regierung. Eine Einschätzung, die auch heute noch oder wieder zutrifft. Das Dumme ist: Die Gewerkschaften tragen eine Mitverant- wortung für diese Situation. Zwar schreibt der DGB-Vorstand in seinem Aufruf zum 1. Mai: »Die Verursacher der Krise müssen für die Finanzierung der Krisenlasten ge- radestehen.« Doch um dieses Ziel durch- zusetzen, fällt ihm dann nicht mehr ein, als »ein grundlegendes Umdenken in der Gesellschaft« zu fordern. Schlaft weiter, möchte man rufen. Dabei wäre das, was wir zuallererst bräuchten, ein grundlegendes Umdenken im DGB und seinen Mitgliedsorganisatio- nen. Doch wird sich dieser schwerfällige Eisbrecher nur in Bewegung setzen, wenn man ihm Feuer unterm Kessel macht. Kriti- sche Initiativanträge auf Gewerkschaftsta- gen werden dazu nicht reichen. Nein: Der Schlüssel liegt in der gegenwärtigen Situa- tion darin, daß die klassenkämpferischen Teile der Arbeiterbewegung, so versprengt sie auch sein mögen, ihre Aktionsfähigkeit behaupten bzw. wiedergewinnen. Es gibt praktische Erfahrungen, die beweisen: Die Linie des verantwortungsvollen Krisenma- nagements kann herausgefordert werden. Das kann auch kein Huber oder Hexel wegdiskutieren. Mag sein, daß dies im Mo- ment nur punktuell möglich ist, in diesem oder jenem Betrieb, aber auch in einzelnen Branchen, wie z. B. dem Schienenverkehr. Doch nur aus dem Ergreifen solcher Chan- cen, seien sie noch so klein, kann eine Alternative zum Co-Management der Füh- rungen der Großgewerkschaften wachsen. Spargelstechen in Brandenburg: Früh am morgen geht es für die polnischen Wanderarbeiter raus aufs Feld. Untergebracht sind sie in einer ehemaligen Kaserne in Kloster Lehnin, südwestlich von Potsdam Zu den Bildern dieser Beilage: Schuften für 4,50 Euro Mindestlohn pro Stun- de – Sascha Montag hat polnische Saisonar- beiter mit der Kamera begleitet. Er zeigt ihren Arbeitsalltag und das Leben in den oftmals kargen Unterkünften. Dabei wäre das, was wir zuallererst bräuchten, ein grundlegendes Um- denken im DGB und seinen Mitgliedsorga- nisationen. Doch wird sich dieser schwerfällige Eisbrecher nur in Be- wegung setzen, wenn man ihm Feuer unterm Kessel macht. Kritische Initiativanträge auf Ge- werkschaftstagen wer- den dazu nicht reichen.

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junge Welt Freitag/Sonnabend/Sonntag, 30. April/1./2. Mai 2010, Nr. 100 1e r s t e r m a i

Weichen gestellt: Lokführer wollen Flächentarifvertrag bei allen deut­schen Eisenbahnen erstreiken. Inter­view mit Claus Weselsky Seite 4

Stand or deliver: Nach dem Bruch der »Sozialpartnerschaft« stehen Irlands Gewerkschaften vor einer Richtungsentscheidung Seite 8

Renitente Kantine: Ein kämpferi­scher Betriebsrat setzt sich durch – auch gegen den Gewerkschafts­apparat Seite 10

Hollandaise verboten: Politische Ökonomie und Kulinarik des Spar­gels unter Berücksichtigung von deutschem Riesling Seite 12 jungeWelt

Die Tageszeitung

e r s t e r m a i Beilage der Tageszeitung junge Welt Freitag/Sonnabend/Sonntag,30. April/1./2. Mai 2010, Nr. 100

Bescheidenheit am toten PunktFrontalangriffe des Kapitals sind hierzulande bislang ausgeblieben, soziale Unruhen auch. Unser Verdienst, meinen Deutschlands Gewerkschaftsführer. Sie haben völlig recht. Von Jörn Boewe

Auf Betriebsräte ist Verlaß«, schwärmte DGB-Vorstandsmit-glied Dietmar Hexel kürzlich bei einem Parlamentarischen

Abend in Berlin. »Erst recht in der Krise« zeige sich, »welche großartigen Leistun-gen« sie »tagtäglich« erbringen. » Als ge-wählte Belegschaftsvertreter kämpfen sie nicht nur für ihre Kolleginnen und Kolle-gen und deren Arbeitsplätze. Sie überneh-men auch für das Unternehmen als Ganzes Verantwortung. Mancher Betrieb überlebt nur, weil er einen engagierten Betriebsrat hat, der kreative Lösungen entwickelt und unterstützt, um die Krise durchzustehen.«

Nicht »nur« die Kollegen, sondern für »das Ganze« Verantwortung zu überneh-men, ist keine Haltung, die auf Hexels vorbildliche Betriebsräte beschränkt ist. Im großen Maßstab ist es die Linie, auf die sich die DGB-Gewerkschaften nach dem ersten Schock der 2008 ausgebrochenen Finanz- und Wirtschaftskrise festgelegt haben: Da verzichtet die IG Metall in einer Tarifrun-de gleich ganz darauf, Forderungen auf-zustellen, denn »das, was unsere Mitglie-der bewegt«, erzählt Gewerkschafts chef Berthold Huber der Wochenzeitung Die Zeit, »sind nun mal sichere Arbeitsplätze«. Die Leiharbeiter sind in dieser Rechnung schon abgeschrieben. In dem »neuen ge-

sellschaftlichen Bündnis«, das Huber in seinem jüngsten Buch »Kurswechsel für Deutschland« einfordert, sind sie offenbar nicht eingeschlossen.

In der Tat ist der Generalangriff auf die arbeitende Klasse im Zuge der Krise in der Bundesrepublik Deutschland bis-lang ausgeblieben. Dies war einerseits möglich, weil die deutsche Volkswirt-schaft genug Ressourcen angehäuft hat, um sich solchen Luxus wie die Abwrack-prämie und die kürzlich noch einmal um ein Jahr verlängerte Kurzarbeitsregelung leisten zu können. Auf wen über kurz oder lang die Kosten umgelegt werden sollen, kann man an fünf Fingern abzäh-len. Andererseits kommt der deutsche Kapitalismus bislang nicht zuletzt des-halb relativ geschmeidig durch die Krise, weil ein paar einschneidende reaktionäre Sozialreformen bereits hinter uns liegen. Die Ausweitung des Niedriglohnsektors, die Deregulierung der Leiharbeit und die Demontage der gesetzlichen Arbeitslo-senversicherung haben die Widerstands-kraft der Lohnabhängigen nachhaltig geschwächt und das Kräfteverhältnis zugunsten des Kapitals verschoben. All das wurde nicht von Mitte-Rechts (»Schwarz-Gelb«), sondern Mitte-Links (»Rot-Grün«) durchgesetzt – de facto mit

dem stillschweigenden Einverständnis der Gewerkschaften.

Es ist genau diese Pionierarbeit, die es der herrschenden Klasse so erleichtert, ih-re Ziele scheibchenweise durchzusetzen. Schritt für Schritt wird die Kofinanzie-rung der Sozialversicherung durch die Un-ternehmer abgeschafft (von Parität kann längst keine Rede mehr sein), aber für den Fall, daß das FDP-Modell zur Einführung einer Kopfpauschale im Gesundheitswesen allzu unsozial ausfallen sollte, droht der DGB – mit einer Onlinepetition. Und wäh-rend die geschrumpften Kernbelegschaften in den Großbetrieben dank Kurzarbeit bis-lang zusammengehalten werden konnten, schreitet die Erosion des – längst nicht mehr normalen – »Normalarbeitsverhält-nisses« voran und hat sich durch die Krise noch erheblich beschleunigt.

Ein »politischer Mehltau« liege über dem Land, klagte das langjährige IG-Me-tall-Vorstandsmitglied Horst Schmitthen-ner 2002, am Ende der ersten Legislatur-periode der Schröder/Fischer-Regierung. Eine Einschätzung, die auch heute noch oder wieder zutrifft. Das Dumme ist: Die Gewerkschaften tragen eine Mitverant-wortung für diese Situation. Zwar schreibt der DGB-Vorstand in seinem Aufruf zum 1. Mai: »Die Verursacher der Krise müssen

für die Finanzierung der Krisenlasten ge-radestehen.« Doch um dieses Ziel durch-zusetzen, fällt ihm dann nicht mehr ein, als »ein grundlegendes Umdenken in der Gesellschaft« zu fordern. Schlaft weiter, möchte man rufen.

Dabei wäre das, was wir zuallererst bräuchten, ein grundlegendes Umdenken im DGB und seinen Mitgliedsorganisatio-nen. Doch wird sich dieser schwerfällige Eisbrecher nur in Bewegung setzen, wenn man ihm Feuer unterm Kessel macht. Kriti-sche Initiativanträge auf Gewerkschaftsta-gen werden dazu nicht reichen. Nein: Der Schlüssel liegt in der gegenwärtigen Situa-tion darin, daß die klassenkämpferischen Teile der Arbeiterbewegung, so versprengt sie auch sein mögen, ihre Aktionsfähigkeit behaupten bzw. wiedergewinnen. Es gibt praktische Erfahrungen, die beweisen: Die Linie des verantwortungsvollen Krisenma-nagements kann herausgefordert werden. Das kann auch kein Huber oder Hexel wegdiskutieren. Mag sein, daß dies im Mo-ment nur punktuell möglich ist, in diesem oder jenem Betrieb, aber auch in einzelnen Branchen, wie z. B. dem Schienenverkehr. Doch nur aus dem Ergreifen solcher Chan-cen, seien sie noch so klein, kann eine Alternative zum Co-Management der Füh-rungen der Großgewerkschaften wachsen.

Spargelstechen in Brandenburg: Früh am morgen geht es für die polnischen Wanderarbeiter raus aufs Feld. Untergebracht sind sie in einer ehemaligen Kaserne in Kloster Lehnin, südwestlich von Potsdam

Zu den Bildern dieser Beilage: Schuften für 4,50 Euro Mindestlohn pro Stun­de – Sascha Montag hat polnische Saisonar­beiter mit der Kamera begleitet. Er zeigt ihren Arbeitsalltag und das Leben in den oftmals kargen Unterkünften.

Dabei wäre das, was wir zuallererst bräuchten, ein grundlegendes Um­denken im DGB und seinen Mitgliedsorga­nisationen. Doch wird sich dieser schwerfällige Eisbrecher nur in Be­wegung setzen, wenn man ihm Feuer unterm Kessel macht. Kritische Initiativanträge auf Ge­werkschaftstagen wer­den dazu nicht reichen.

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Freitag/Sonnabend/Sonntag, 30. April/1./2. Mai 2010, Nr. 100 junge Welt 2 e r s t e r m a i

Der Chef vom Leiharbeitsriesen Adecco will ihn, die Bundes-ministerin für Arbeit will ihn auch, und sogar Lebensmittel-

riese Lidl gab im Februar bekannt, sich »unbedingt« für einen Mindestlohn auf Branchenebene einzusetzen.

Noch vor Jahren mehrheitlich als Ar-beitsplatzkiller verschrien, erfreuen sich die sektoralen Lohnuntergrenzen bei CDU und Unternehmerverbänden immer größerer Be-liebtheit. Tatsächlich ist die jüngste Dyna-mik beeindruckend. Die Zahl der Branchen

mit vorgeschriebenen Mindestlöhnen hat sich seit 2005 mehr als verdoppelt. Erst im März ist Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) dem Anliegen von Unterneh-mern und Gewerkschaften in der Pflege und der Gebäudereinigung nachgekommen und hat die ausgehandelten tariflichen Minde-stentgelte für allgemeinverbindlich erklärt. Damit verfügen seit April fast 2,4 Millionen Menschen in Deutschland über einen gesetz-lichen Armutsschutz. Dieser schwankt zwi-schen 10,80 im Bauhauptgewerbe West und 6,83 Euro für Gebäude reiniger im Osten.

Zwar will die Regierung von einem all-gemeinem Mindestlohn, wie ihn DGB, SPD und Linkspartei fordern, nichts wis-sen, wie Frau von der Leyen kürzlich im Spiegel klarstellte: Wenn aber »Arbeitgeber und Gewerkschaften sich einig sind, daß sie in ihrer Branche einen Mindestlohn benöti-gen, sollte die Politik sie unterstützen«, so die Ministerin weiter.

Potentielle Interessenten stehen bereits in den Startlöchern. Sowohl die Verbände im Einzelhandel als auch der Zeitarbeit si-gnalisieren in letzten Stellungnahmen deut-liches Interesse an einer »verbindlichen Lohnuntergrenze«. Im Wach- und Sicher-heitsgewerbe haben sich ver.di und Unter-nehmer erst Mitte April auf einen Mindest-lohn für die mehr als 177 000 Beschäftigten geeinigt. Stimmt das Arbeitsministerium dem dieser Tage gestelltem Antrag auf All-gemeinverbindlichkeit zu, darf kein Wach-schutz seine Angestellten mit weniger als 7,50 Euro bezahlen.

Beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) ist man von der Entwicklung »po-sitiv überrascht«. Wie es mit der laufenden Kampagne für einem allgemeinverbindli-chen Mindestlohn von 7,50 weitergeht, will man allerdings erst im Mai beim Gewerk-schaftstag entschieden.

Skeptischer ist Thorsten Schulten vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung (WSI): »Auch wenn noch weitere Branchen hinzukommen sollten,

bleiben immer noch große Bereiche des Niedriglohnsektors übrig«, so Schulten im jW-Gespräch. Und in diesen mangele es schlicht an Interesse. Anders als in vie-len europäischen Ländern gilt das Prinzip der Tarifautonomie. Allein die Tarifpartei-en sind demnach zur Regelung der Löhne berechtigt. Ein Branchenmindestlohn kann nach geltender Rechtslage entweder auf Grundlage des Tarifvertragsgesetzes von 1949 oder des seiner Zeit von Arbeitsmini-ster Walter Riester geänderten Arbeitneh-merentsendegesetzes (AEntG) eingeführt werden. Im ersten Fall ist die Allgemeinver-bindlichkeitserklärung durch das Arbeits-ministerium an das Okay der Dachverbände DGB und Bundesvereinigung der Deut-scher Industrieverbände gebunden. Anläufe in diese Richtung wurden von der BDA regelmäßig per Veto verhindert. Die aktu-elle Dynamik läuft maßgeblich über das AEnstG. Demnach obliegt es allein dem Arbeitsministerium, einem Antrag aus den Branchen auf Allgemeinverbindlichkeit nachzukommen. Die Vetomacht der BDA wurde gestrichen. Nach einer weiteren Än-derung durch den damaligen Arbeitsmini-ster Olaf Scholz im April 2009 wurde es zudem für weitere Branchen geöffnet.

Trotz dieser erfreulichen Verbesserun-gen, so Schulten, gehe ohne die Bereit-schaft der Arbeitgeberverbände nichts. Und »Interesse an Regulierung« bestehe nur da, wo es sich betriebswirtschaftlich lohne. So hätten sich in einigen Billiglohnsektoren in den vergangenen Jahren klare Branchen-führer herausgebildet. »Im Einzelhandel wollen sich Riesen wie Lidl gegen neue Konkurrenten absichern.« Aber auch in der Pflege hätten große Träger wie die Caritas oder die Diakonie immer mehr Probleme, sich gegen neue Anbieter zu behaupten. Vor allem aber habe die Entideologisierung mit einem Datum zu tun: Am 1. Mai 2011 tritt die EU-Freizügigkeitsrichtlinie in Kraft. Ab dann können nicht nur Beschäftigte aus

Polen, der Slowakei oder den baltischen Staaten ihre Arbeitskraft problemlos in Deutschland zur Verfügung stellen, auch dürfen Unternehmer von dort ihre Dien-ste hierzulande anbieten. Während etwa im Sicherheits- oder das Zeitarbeitsgewerbe Mindestlöhne als Schutz vor osteuropä-ischer Billigkonkurrenz willkomme sind, müssen andere Niedriglohnbranchen wie das Friseurhandwerk oder das Hotel- und Gaststättengewerbe keine neue Verschär-fung des Wettbewerbs erwarten – ihr Inter-esse an Mindestlöhnen ist daher begrenzt.

Insofern dient die aktuelle Dynamik eher dem Arbeitgeber- als dem Arbeitnehmer-schutz.

Ziel für die Gewerkschaften müsse ein allgemeiner, gesetzlich garantierter Min-destlohn bleiben, der unabhängig vom Gut-dünken der Unternehmer existiert, fordert Schulten.

Doch auch dieser kann nur die schlimm-sten Auswüchse im expandierenden Min-destlohnsektors verhindern, dient also lediglich der Armutsbekämpfung. Nötige Umverteilung kann nur über das gewerk-schaftlichen Kerngeschäft der Tarifpolitik erreicht werden.

Für die Gewerkschaft Bauen Agrar und Umwelt (IG BAU) ist noch nicht einmal die Armutssicherung gegeben. Denn die Möglichkeiten für Unternehmen, geltendes Recht zu umgehen, fänden sich angesichts völlig unzureichender Kontrollen staatli-cherseits leicht, beschwert sich Jörg Her-pich von der IG BAU gegenüber jW. Im Baugewerbe sei es üblich, die aufgeschrie-benen Stundenzahlen zu manipulieren, im Reinigungsgewerbe schraube man einfach die gereinigte Fläche nach oben. Die Ein-haltung von Mindestlöhnen überwacht in Deutschland die Finanzkontrolle Schwarz-arbeit (FKS) beim deutschen Zoll. Doch trotz der Verdoppelung der Branchen mit Grundsicherung sei deren Ausstattung mit Kontrolleuren nahezu gleich geblieben.

Wer schützt hier wen?Branchenmindestlöhne dienen vor allem den Unternehmen als Absicherung vor Billigkonkurrenz. Kein Ersatz für allgemeine gesetzliche Untergrenze. Von Johannes Schulten

Einstündige Fahrt: Ein Bus bringt die Spargelstecher nach Mötzow zum Bifang – die altdeutsche Bezeich­nung (von befangen: umfangen, einschließen) für ein eingefriedetes Feld

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Noch vor Jahren mehr­heitlich als Arbeitsplatz­killer verschrien, erfreu­en sich die sektoralen Lohnuntergrenzen bei CDU und Unternehmer­verbänden immer grö­ßerer Beliebtheit. Tat­sächlich ist die jüngste Dynamik beeindruckend.

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junge Welt Freitag/Sonnabend/Sonntag, 30. April/1./2. Mai 2010, Nr. 100 3e r s t e r m a i

Es gibt in Deutschland kein Gesetz, das die Zulässigkeit von Arbeits-kämpfen regelt. Das Recht, die Arbeit zur Durchsetzung ihrer In-

teressen niederzulegen, leiten die Beschäf-tigten und ihre Organisationen lediglich aus der im Grundgesetz festgeschriebenen Ko-alitionsfreiheit ab. Das gibt den Gerichten weite Entscheidungsspielräume. Bekannte-stes und zugleich umstrittenstes Beispiel ist das seit den Urteilen zum sogenannten Zei-tungsstreik im Jahr 1952 behauptete »Ver-bot« des politischen Streiks. Auch aktuelle Urteile zeigen die Unberechenbarkeit der »dritten Gewalt«. So sprach das Bielefelder Arbeitsgericht den Beschäftigten kirchli-cher Einrichtungen kürzlich das Recht ab, in den Ausstand zu treten (jW berichtete). Andere Entscheidungen der jüngeren Ver-gangenheit begünstigen hingegen eher die Gewerkschaften. Daraus eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Be-schäftigten abzuleiten, wie dies einige bür-gerliche Kommentatoren tun, ist jedoch von der Realität weit entfernt.

Einen »Freifahrtschein in Sachen Arbeits-kampf« nannte beispielsweise die Frankfur-ter Allgemeine Zeitung eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom September vergangenen Jahres, sogenannte Flashmobs zu erlauben. Hintergrund war eine für Gewerkschaften außergewöhn-liche Aktion im Zuge der monatelangen Auseinandersetzung um einen neuen Ein-zelhandelstarifvertrag: Am 8. Dezember 2007 betraten etwa 40 Menschen kurz hin-tereinander die Rewe-Filiale am Berliner Ostbahnhof, füllten Einkaufswagen, um sie kurz darauf stehenzulassen, oder »blok-kierten« die Kassen mit Kleinsteinkäufen. Aufgerufen zu diesem »Flashmob« hatte ver.di. Die Gewerkschaft wurde daraufhin vom Handelsverband Berlin-Brandenburg verklagt.

Nach einer zweijährigen juristischen Auseinandersetzung stellte das BAG schließlich fest: »Gewerkschaftliche Maß-nahmen, die zur Durchsetzung tariflicher Ziele auf eine Störung betrieblicher Abläu-fe gerichtet sind, unterfallen der durch Arti-kel 9 Absatz 3 Grundgesetz gewährleisteten Betätigungsfreiheit der Gewerkschaften.« (1 AZR 972/08) Letztere könnten ihre Mit-tel im Arbeitskampf frei wählen, dürften dabei jedoch nicht gegen Strafgesetze oder das Gebot der Verhältnismäßigkeit versto-ßen. Zulässig ist ein »Flashmob« demnach als begrenztes, einen Streik unterstützendes

und begleitendes Instrument. Die kritischen Pressereaktionen auf das

Urteil kann IG-Metall-Justitiar Thomas Klebe vor diesem Hintergrund nicht nach-vollziehen. Die »Kampfparität«, also das (ohnehin nur vermeintliche) Kräftegleich-gewicht zwischen Kapital und Arbeit, werde dadurch keineswegs beeinträchtigt. »Es ist genau anders herum: Es gibt ei-ne erhebliche Verschiebung zu Lasten der Gewerkschaften«, so Klebe in einem Hin-tergrundgespräch. Durch die »Globalisie-rung« könnten die Konzerne Produktion verlagern und Belegschaften gegenein-ander ausspielen. Auch die zunehmende

Prekarisierung in Form von Befristungen und Leiharbeit schwäche die Durchset-zungskraft der Gewerkschaften. Zudem sei die Tariflandschaft von den Unternehmern teilweise gezielt zerstört worden – so bei-spielsweise im Kfz-Gewerbe, wo sich die Innungsverbände schlicht weigerten, erneut Tarifverträge abzuschließen.

Ähnliches gilt für den Einzelhandel, wo ver.di über Monate hinweg nicht in der La-ge war, einen neuen Tarifvertrag zu erzwin-gen. Der Rückgriff auf unkonventionelle Formen ist also vor allem eine Folge der gewerkschaftlichen Schwäche. Auch die in weiten Teilen immer noch durchsetzungsfä-

hige IG Metall könnte in Zukunft »verstärkt zu phantasievollen und öffentlichkeits-wirksamen Aktionen wie den Flashmobs greifen«, meinte Klebe. Dies sei vor allem in vergleichsweise schwach organisierten Bereichen sinnvoll. In der Leiharbeitsbran-che und im Kfz-Gewerbe versucht die IG Metall bereits, mit »schwarzen Listen«, auf denen nichttarifgebundene Unternehmen gebrandmarkt werden, diese unter Druck zu setzen.

Die Gewerkschaften sehen auch weitere Gerichtsurteile, wie die zum Solidaritäts-streik und zum Sozialtarifvertrag, nicht als grundlegende Veränderung zu ihren Gun-sten. Zwar revidierte das Bundesarbeits-gericht 2007 seine Entscheidung von 1985 und erlaubte grundsätzlich, daß Beschäftig-te aus Solidarität mit anderen Belegschaf-ten in den Ausstand treten. Dies setze aber eine »Verbundenheit mit dem Hauptstreik voraus«, erklärte Klebe. So könnten bei-spielsweise Verlagsangestellte für die Druk-ker, die im Auftrag ihres Hauses arbeiten, in einen Solidaritätsstreik treten. Aber eben nicht für Kollegen, mit denen sie formal nichts zu tun haben.

Während Solidaritätsstreiks in der Pra-xis bislang – auch wegen der zögerlichen Politik der Gewerkschaftsspitzen – bislang kaum eine Rolle spielen, ist der Kampf um Sozialtarifverträge mittlerweile gang und gäbe. In der Vergangenheit wurden im Falle von Betriebsschließungen oder Entlassun-gen zumeist nur Sozialplanverhandlungen zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung geführt. In letzter Zeit haben die Beschäf-tigten diese Auseinandersetzungen, mit denen die sozialen Folgen des Jobverlu-stes abgefedert werden sollen, jedoch im-mer öfter auf tariflicher Ebene geführt. So zum Beispiel bei AEG in Nürnberg und im Bosch-Siemens-Hausgerätewerk Berlin. Der Vorteil: Für einen Sozialtarifvertrag können die Beschäftigten streiken, für ei-nen Sozialplan nicht. Diese von den Un-ternehmern lauthals beklagte Entwicklung hält Klebe indes für »keine substantielle Veränderung«. Schließlich erlaube das Be-triebsverfassungsgesetz schon seit 1972, So-zialpläne tariflich zu vereinbaren.

Alles, was recht istWofür und wie die Arbeit niedergelegt werden darf, bestimmen in Deutschland Gerichte. Das Grundrecht auf Streik ist gesetzlich nicht geregelt. Von Daniel Behruzi

Aktuelle Urteile zeigen die Unberechenbarkeit der »dritten Gewalt«. So sprach das Bielefelder Arbeitsgericht den Be­schäftigten kirchlicher Einrichtungen kürzlich das Recht ab, in den Aus­stand zu treten. Andere Entscheidungen begün­stigen hingegen eher die Gewerkschaften. Daraus eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Beschäf­tigten abzuleiten, wie dies einige bürgerliche Kommentatoren tun, ist jedoch von der Realität weit entfernt.

Knochenarbeit. Auf bis zu 4 000 schätzt das Landwirtschaftsministerium die Zahl der saisonalen Spargelstecher in Brandenburg

Für die Partei DIE LINKE ist es Zeit, sich einer Geschichte zu stellen, die von Abgrenzungen und Grabenkämpfen geprägt war – nicht zuletzt um die Freiheit zu gewinnen, die jede Zukunft benötigt, die mehr sein soll als die ewig gleiche Wiederholung einer alles andere als glorreichen Vergangenheit.

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Klaus Kinner (Hrsg.) Die Linke – erbe und Tradition

Teil 2: Wurzeln des Linkssozialismus

Über Jahrzehnte redeten Gewerkschaftler und Sozialdemokraten einerseits sowie Kommunisten, Trotzkisten, Linkssozialisten und

Linkssozialdemokraten andererseits – auch untereinander oft heftig in Fehde – häufig mehr übereinander als miteinander. Die

Autoren beider Bände stellen sich der Last dieser Vergangenheit.

320 Seiten, Hardcover, 24,90 Euro, ISBN 978-3-320-02213-6

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Geschichte des Kommunismus

und Linkssozialismus

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Der NeueGenerationenvertrag

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Sozialstaatliche Erneuerung in der Krise

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Freitag/Sonnabend/Sonntag, 30. April/1./2. Mai 2010, Nr. 100 junge Welt 4 e r s t e r m a i

Die Arbeiterbewegung hat den 1. Mai in teilweise blu-tigen Auseinandersetzun-gen als ihren Kampf- und

jetzt auch Feiertag in vielen Ländern der Welt durchgesetzt. Welchen Bezug haben Sie als Vorsitzender der ältesten Gewerkschaft Deutschlands zu die-sem Datum?

Es ist und bleibt der Tag der Arbeiterklasse. Allerdings nimmt nach meiner Beobach-tung in dieser Gesellschaft das Interesse zur Teilnahme an entsprechenden Veranstaltun-gen permanent ab.

Der DGB und seine Einzelgewerk-schaften begehen diesen Tag nach wie vor mit Kundgebungen und Demon-strationen. Warum sieht man denn die GDL am 1. Mai nicht auf der Straße?

Das hat keine Tradition in unserer Gewerk-schaft. Sie dürfen nicht vergessen, daß die 1867 gegründete GDL eine Gewerkschaft ist, die ausschließlich aus Beamten bestand, die ein besonderes Treueverhältnis zu ihrem Arbeitgeber haben und nicht tarifmächtig und streikberechtigt waren. Das war bis 1990 so.

Das hat sich mittlerweile ja geändert, da die ehemalige Behörde Bundes-bahn in eine privatwirtschaftlich agierende Aktiengesellschaft umge-wandelt wurde. Begreift sich die GDL in dieser neuen Situation unbeschadet der Differenzen mit dem DGB und vor allen Dingen mit dessen Bahngewerk-schaft Transnet auch als Bestandteil der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung?

Ich sehe die GDL als starke, aufstrebende

Gewerkschaft, die sehr wohl ihre Aufgabe verstanden hat, nämlich die Interessen der Mitglieder in den Vordergrund zu stellen. Das heißt, für deren materielles Auskom-men zu sorgen und vernünftige Arbeitsbe-dingungen durchzusetzen. Und das kann man natürlich durch Solidarität in einem Gesamtkomplex am besten erreichen. Wenn ich die GDL aber einordnen sollte unter der Überschrift Klassenkampf: ja oder nein, dann würde ich sagen nein. Denn wir sind weitgehend – bisher zumindest – nicht all-gemeinpolitisch orientiert, sondern in erster Linie gewerkschaftspolitisch ausgerichtet.

In übergeordneten sozialpolitischen Fragen verhält sich die GDL sehr still. Damit meine ich politische Entschei-dungen, die auch ihre Mitglieder un-mittelbar betreffen, wie Rente erst mit 67, Kopfpauschale im Gesundheitswe-sen oder auch Hartz IV. Warum hört man dazu so wenig von der GDL?

Wenn Sie die Rente mit 67 ansprechen, dann sehe ich das nicht als Vorgang, den man aus unserer Sicht auf der ganz großen politi-schen Bühne mit riesigem Tamtam beglei-ten sollte. Ich sehe da eher Lösungsansätze

auf tarifpolitischer und beamtenrechtlicher Ebene. In Unternehmen wie der Deutschen Bahn ist da auch viel auf dem »kleinen Dienstweg« zu erreichen. Die GDL ist schließlich auch keine Großgewerkschaft wie beispielsweise ver.di. Aber sie hat mit der »dbb Tarifunion« einen Dachverband, der sich zu solchen Themen auch klar po-sitioniert. Daran arbeiten wir natürlich mit. Ich halte nicht viel davon, wenn alle Or-ganisationen das dann noch mal für sich wiederholen unter dem Motto: Es muß sich jeder zu allem positioniert haben.

Von interessierter Seite wird Ihrer Ge-werkschaft oft eine angebliche Nähe zur CDU vorgeworfen. Dabei wird auf Ihre Mitgliedschaft in dieser Partei und die Ihres Vorgängers Manfred Schell verwiesen. Sehen Sie die Inter-essen abhängig Beschäftigter, egal ob Lokführer oder nicht, bei der CDU gut aufgehoben?

Ich sehe die Interessen von Arbeitern und Angestellten, die sich gewerkschaftlich organisieren, bei keiner Partei gut aufge-hoben. Ich sehe sie, was die von uns ver-tretenen Berufsgruppen betrifft, gut auf-gehoben bei der GDL. Und ich sage ganz klar: Die Parteizugehörigkeit des Vorsit-zenden und seiner Stellvertreter mag bei manch einem in der Kommentierung eine Riesenrolle spielen. Bei uns im täglichen Geschäft spielt sie eine absolut untergeord-nete Rolle. Das ist auch gar nicht anders denkbar. Wenn wir unsere gewerkschafts- und tarifpolitischen Interessen im Sinne un-serer Mitglieder durchsetzen wollen, dann müssen wir uns ohnehin mit allen Parteien auseinandersetzen, um Gemeinsamkeiten auszuloten und punktuelle Vereinbarungen zu treffen. Ich halte nichts davon, wenn sich eine Gewerkschaft zu stark an eine be-stimmte Partei anlehnt, wie man das ja bei einigen DGB-Gewerkschaften und ihrem Verhältnis zur SPD gesehen hat.

Für uns geht es in unserem Verhältnis zu Parteien und zu den Bundestagsfraktionen um Sachthemen. Wir sind zum Beispiel mit allen Fraktionen im Gespräch, was die politischen Rahmenbedingungen für einen Flächentarifvertrag für das Fahrpersonal betrifft. Die Nähe zu einer bestimmten Par-tei wäre doch in so einem Prozeß absolut kontraproduktiv und schädlich, was sich ja auch schon des öfteren in der Vergangenen-heit gezeigt hat. Jemand, der an verantwort-licher Stelle in einer Gewerkschaft tätig ist, sollte jedenfalls daran gemessen werden, wie er sich für die Interessen der Mitglieder einsetzt und nicht daran, was er für ein Par-teibuch hat.

Zurück zur GDL. Sie wollen noch im laufenden Jahr einen Flächentarifver-trag für das gesamte Fahrpersonal im Schienenverkehr auf dem Niveau der Deutschen Bahn AG durchsetzen. Da-mit soll dem Wettbewerb über Lohn-dumping ein Ende gemacht werden. Bislang haben Sie mit dieser Forde-rung bei den Unternehmerverbänden und den meisten Konkurrenten der DB auf Granit gebissen.

Das ist richtig. Leider muß ich zum jetzigen Zeitpunkt feststellen, daß die Arbeitgeber bei den nichtbundeseigenen (abgekürzt NE – jW ) Eisenbahnen immer noch davon träu-men, unsere Forderungen einfach aussitzen zu können. Auch mehrfache und teilweise massive Warnstreiks haben daran bislang nichts geändert. Es scheint eine strategische Grundausrichtung zu geben, die darauf hinausläuft, die Belegschaften gerade bei kleineren Unternehmen am ausgestreckten

Arm verhungern zu lassen. Das ist in der Tat eine schwierige Situation. Wenn Sie bei so einer NE-Bahn streiken, fährt ja rundherum alles weiter, und das Unternehmen bietet halt Schienenersatzverkehr mit Bussen an. Natürlich ist das für die Kollegen frustrie-rend. Und deswegen spekulieren die Ar-beitgeberverbände der NE-Bahnen darauf, daß die GDL keinen unbefristeten Streik durchziehen kann. Sie können sich darauf verlassen: Wir werden reagieren.

Deshalb hat die GDL jetzt auch ange-kündigt, ihre Forderung notfalls mit massiven Streiks bei der Deutschen Bahn AG zu untermauern. Doch die ist bei dieser Angelegenheit gar nicht Ihr eigentlicher Tarifgegner.

Ich gehe davon aus, daß die Arbeitgeber insgesamt kein Interesse an dem flächen-deckenden Tarifvertrag auf einheitlich ho-hem Niveau haben, und da zähle ich auch die Deutsche Bahn AG dazu. Im Gegenteil: Die gründen ja gerade im Regionalverkehr neue GmbHs, um den von uns durchgesetz-ten Tarifvertrags bei der DB auszuhebeln und das Vergütungsniveau zu senken.

Glauben Sie nicht, daß die DB doch ein gewisses Interesse daran haben könnte, die Schmutzkonkurrenz der Billiglohngesellschaften gerade bei Ausschreibungen im Regionalverkehr vom Hals zu haben?

Das ist bestimmt nicht komplett zu bestrei-ten, soweit es den Regionalverkehr betrifft. Auf der anderen Seite muß man aber davon ausgehen, daß es durchaus ein gemeinsa-mes Interesse aller Arbeitgeber der Branche ist, das erreichte Tarifniveau abzusenken. Wenn wir denen heute anbieten würden, wir machen einen Flächentarifvertrag bei, sagen wir mal, 90 Prozent des Niveaus bei der Bahn, dann würde ich wahrscheinlich gar nicht so schnell die Tinte in den Füller bringen, wie die bereits alle unterschrieben hätten. Deswegen sehe ich nicht, daß die Bereitschaft bei der DB, einen Flächenta-rifvertrag zu unterzeichnen, in diesem Som-mer riesengroß sein wird. Und dann werden wir eben flächendeckend streiken müssen.

Allerdings möchte ich noch auf etwas hinweisen. Viele bei der DB leben in der Annahme, daß sie sämtliche Ausschreibun-gen wieder gewinnen würden, wenn das Lohnniveau bei Unternehmen einheitlich wäre. Ich halte das für einen kreuzgefährli-chen Irrtum. Denn die DB verliert mitunter Verkehre aus ganz anderen Gründen, etwa weil sie hohe interne Zusatzkosten hat und weil sie letztendlich auch nicht so flexibel ist wie im Wettbewerb nötig.

Wie wollen Sie verhindern, daß ein möglicherweise durchgesetzter Flä-chentarifvertrag anschließend von einzelnen Firmen unterlaufen wird?

Das kann niemand auf dieser Welt gänzlich verhindern. Für uns gibt es da nur eine Lösung: Wir müssen Mitglieder gewinnen, unseren Organisationsgrad erhöhen und ei-ne Schlagkraft erreichen, die es uns ermög-licht, jedem Arbeitgeber, der versucht, mit Dumpinglöhnen zu operieren, die passende Antwort zu geben. Nur so können wir im harten Tarifgeschäft dauerhaft erfolgreich sein.

Bei einigen kleineren Unternehmen hat die GDL doch schon jetzt erkenn-bare Schwierigkeiten, ihre Basis zu Arbeitskämpfen zu motivieren. Mir ist immer noch nicht klar, wie sie bei-spielsweise bei der Niederbarnimer Eisenbahn die Durchsetzung eines Flächentarifes erzwingen will.

Das sehen Sie falsch: Wir haben in fast

» W i r we rd e n re ag i e re n «GDL läßt sich durch Blockadehaltung der Unternehmerverbände nicht beir-ren. Flächentarifvertrag für Fahrpersonal soll noch in diesem Jahr durchgesetzt werden – notfalls mit massiven Streiks. Ein Gespräch mit Claus Weselsky

Claus Weselsky ist gelernter Schienen­fahrzeugschlosser und Lokführer. Seit Mai 2008 steht er als Bundesvor­sitzender an der Spitze der Gewerkschaft Deut­scher Lokomotivführer (GDL).

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junge Welt Freitag/Sonnabend/Sonntag, 30. April/1./2. Mai 2010, Nr. 100 5e r s t e r m a i

allen Betrieben hochmotivierte Mitglieder, die sich nicht länger mit Dumping- oder Niedriglöhnen für ihre verantwortungsvolle und qualifizierte Arbeit im Schicht- und Wechseldienst abfertigen lassen wollen. Deshalb haben wir auch eine hohe Streik-bereitschaft. Bei ihrem Beispiel geht es um Schienenpersonennahverkehr, der in Aus-schreibungen vergeben wird. In diesem Be-reich gibt es aber auch noch einen weiteren Lösungsansatz, der Lohndumping verhin-dern kann und wird.

Und das wäre eine Allgemeinverbind-lichkeitserklärung des Tarifvertrags seitens der Bundesregierung?

Nein, das sehe ich als völlig utopisch an. Allgemeinverbindlichkeitserklärungen be-treffen ja nur Mindestlöhne. Ein Fahrper-sonaltarifvertrag, wie wir ihn anstreben, wäre auf diesem Weg nicht durchsetzbar. Diesen Weg kann die GDL nicht zusammen mit dem DGB gehen, das ist kaum vorstell-bar. Ich denke an die EU-Richtlinie 1370. Auf dieser Grundlage kann und muß die Politik entscheiden, daß bei Vergaben von Schienennahverkehrsleistungen die Einhal-tung des repräsentativen Tarifvertrags in den Ausschreibungen verankert wird. Da-mit würden die, die im Wettbewerb mit Dumpinglöhnen operieren wollen, vom Markt verschwinden. Ich räume allerdings ein, daß dies im Schienenfern- und -güter-verkehr momentan so nicht möglich wäre. Aber beim Nahverkehr durchaus.

Ein weiteres Problem, das auf Sie zukommt, ist, ist die Zunahme der grenzüberschreitenden Verkehre, denn die Liberalisierung des euro-päischen Schienenverkehrsmarktes

schreitet ja weiter voran. Auch der ge-plante einheitliche europäische Lok-führerschein spielt dabei eine Rolle. Wie wollen Sie auf dieser Ebene Lohn-dumping verhindern, wenn deutsche Tarifbestimmungen überhaupt nicht mehr anwendbar sind?

Das ist richtig, das ist ein sehr schwieriges Feld. Auf der europäischen Ebene sehe ich mehrere Handlungsnotwendigkeiten. Wir brauchen eine EU-Lenkzeitenverordnung für den Eisenbahnverkehr, vergleichbar der Lenkzeitenverordnung im Straßengü-terverkehr. Wir brauchen darüber hinaus als Schutzmechanismus einheitliche Qua-lifizierungs- und Ausbildungsrichtlinien in Deutschland, aber darüber hinaus auch auf europäischer Ebene, um einen gemeinsa-men hohen Standard und damit auch die Sicherheit zu garantieren. Wir haben den Wettbewerb, und dann muß es darum gehen, ihn zu normieren, das ist eine entscheidende Komponente. Es darf nicht sein, daß ich ei-nem tief in die Augen schaue und sage: »Du bist jetzt Lokführer.« Wer auf europäischen Schienen unterwegs ist, muß überprüfbar eine entsprechende Ausbildung absolviert haben. Das gibt es bislang noch nicht.

Aber damit ist die Frage des Lohn-dumpings noch nicht gelöst.

In der Tat. Das ist eine Aufgabe, die wir in enger strategischer Partnerschaft mit den anderen autonomen europäischen Lokfüh-rergewerkschaften, mit denen wir in der ALE, der Autonomen Lokomotivführerge-werkschaften Europas, zusammengeschlos-sen sind, angehen müssen. Wir sind dabei und haben bereits mit den ersten Unter-nehmen ein sogenanntes Memorandum of

Understanding vereinbart. Es gibt also die Übereinkunft, daß die Tarifverträge des je-weiligen Landes angewendet werden, in dem das Unternehmen tätig ist. Noch nicht gelöst ist damit das Problem der grenz-überschreitenden Verkehre, also wenn der polnische Lokführer im polnischen Depot losfährt und dann den Nahverkehr im Ber-liner Umland bedient. Wir machen uns je-denfalls dafür stark, daß für Unternehmen, die auf deutschem Gebiet tätig sind, die hiesigen tarifpolitischen Verhältnisse zum Tragen kommen. Das ist schwierig, und zwar deshalb, weil wir da eine Mehrstaat-lichkeit haben und verschiedene Normen. Und das hat es ja in anderen Gewerken schon oft genug gegeben, daß dann die Billigfirmen rüberschwappen und am Ende versuchen werden, das Lohnniveau negativ zu beeinflussen. Ich habe da noch keine Lösung. Aber wir beschäftigen uns damit. Ein Schritt könnte sein, daß wir mit unseren Partnergewerkschaften entsprechende Ver-einbarungen treffen. Wir könnten z. B. auch polnische Staatsbürger, die für polnische Unternehmen arbeiten, tarifpolitisch be-treuen, wenn sie auf dem deutschen Schie-nennetz eingesetzt werden. Doch das muß noch wachsen.

Eine persönliche Frage zum Schluß: Wie werden Sie den 1. Mai verbrin-gen?

Ich werde auf jeden Fall bei der einen oder anderen Demonstration vorbeischauen und sicherlich den restlichen freien Tag nutzen, um mich geistig und körperlich ein bißchen fit zu halten. Und ich hoffe natürlich, das Wetter ist schön. Interview: Rainer Balcerowiak

Einkauf am Abend nach der Arbeit

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Freitag/Sonnabend/Sonntag, 30. April/1./2. Mai 2010, Nr. 100 junge Welt 6 e r s t e r m a i

In Manchester sollte derzeit eigentlich an der Metropolitan University ge-streikt werden. Die Universitätsleitung will 127 Stellen abbauen, der Beginn

eines umfassenden Kahlschlagprogramms. Die Universität hat ein sieben Millionen Pfund schweres Defizit, und der Staat kürzt derzeit, noch vor den Parlamentswahlen, sechs Millionen Pfund vom Lehretat der Uni. Ähnliches geschieht an vielen britischen Unis. Grund genug für die Beschäftigten, mit großer Mehrheit für Streiks zu stimmen. Die Arbeit niederlegen dürfen sie dennoch nicht. Die Universitätsleitung drohte, vor Gericht zu ziehen, um die Gewerkschaft wegen an-geblicher Unregelmäßigkeiten zur Wieder-holung der Urabstimmung zu zwingen.

Großbritannien hat mit die restriktivsten Gewerkschaftsgesetze in Europa. Sowohl Labour- als auch Tory-Regierungen haben dafür gesorgt. Am einschneidendsten wirk-te die konservative Premierministerin Mar-garet »Maggy« Thatcher (1979-90). Nach

den von ihr eingeführten Gesetzen sind Ge-werkschaften u. a. gezwungen, Urabstim-mungen im geheimen Briefwahlverfahren abzuhalten. Betriebliche Abstimmungen sind nicht erlaubt. Das Prozedere ist stark reglementiert, Gewerkschaften dürfen die Stimmen nicht selbst auszählen.

Dem Unternehmen muß im Vorfeld ge-nau mitgeteilt werden, welche Teile eines Betriebes von einer Streikabstimmung betroffen sind. Das Management erhält so Planungssicherheit und genügend Zeit, sich gegen einen Arbeitskampf zu rüsten. Außerdem können Unternehmen gegen ein Abstimmungsergebnis vor Gericht ziehen und dieses anzweifeln. Genau dies geschah in den vergangenen Monaten immer öfter.

Die Manchester Metropolitan University ist nur das jüngste Beispiel. Den Anfang einer ganzen Reihe von Kriminalisierungen geplanter Streiks machte Mitte Dezember 2009 British Airways. BA-Flugbegleiter wollten über die Weihnachtszeit für zwölf Tage streiken. 80 Prozent aller gewerk-schaftlich organisierten Flugbegleiter be-teiligten sich an der Urabstimmung, davon stimmten 92 Prozent für den Arbeitskampf.

Die British-Airways-Manager zogen vor Gericht, begleitet von einer massiven antige-werkschaftlichen Medienkampagne. Am 18. Dezember 2009 konnte die britische bürger-liche Presse jubeln. High-Court-Richterin Laura Cox hatte den Streik verboten. Un-regelmäßigkeiten wurden ins Feld geführt, angeblich habe die Gewerkschaft UNITE Urabstimmungspapiere an Menschen ver-schickt, die schon lange nicht mehr bei BA angestellt seien. Diese Unregelmäßigkeiten würden den Ausstand illegal machen, so die Richterin. Außerdem: »Ein Streik dieser Art, über zwölf Tage während der Weih-nachtszeit, würde großen Schaden für BA und die Öffentlichkeit bedeuten«, begründe-te Cox die Entscheidung.

Es blieb nicht beim Einzelfall. Über die Osterfeiertage 2010 hätte der erste landes-weite Streik von Gleis-, Stellwerks- und Zugreparaturarbeitern stattfinden sollen. Auch hier zogen die Arbeitgeber vor Ge-richt und bekamen wieder Recht. Das Ur-teil bezog sich direkt auf das Urteil gegen British Airways. Wieder wurde zweigleisig argumentiert. Es wurden angebliche Unre-gelmäßigkeiten im Abstimmungsverfahren kritisiert und außerdem die »Verhältnismä-ßigkeit« der geplanten Kampfmaßnahmen angezweifelt.

Alex Gordon von der Transportarbeiter-gewerkschaft RMT schrieb am 13. April im Guardian: »Diese Erweiterung britischer Rechtsprechung um den Begriff der ›Ver-hältnismäßigkeit‹ ist bemerkenswert. Der Begriff ist direkt aus der jüngsten europä-ischen Rechtsprechung importiert und er-laubt es Richtern, die Auswirkungen eines Arbeitskampfes abzuwägen und ihr Urteil entsprechend zu begründen. Die Arbeitge-ber haben in ihrer Klage explizit auf die zu erwartende Effektivität des Streiks hinge-wiesen. Dieses Urteil wird für alle Beschäf-tigten im öffentlichen Dienst weitreichende Folgen haben, insbesondere wenn sie sich gegen die für die Zeit nach den Wahlen an-gekündigten massiven Sparpläne zur Wehr setzen wollen. Dieses Urteil ist ein trojani-sches Pferd, um Streiks auf breiter Ebene zu verbieten.«

Dabei sind die von den Gerichten be-anstandeten Unregelmäßigkeiten gering. Es handelt sich jeweils um wenige Menschen, die entweder in den Ruhestand getreten sind oder ihren Beruf gewechselt haben. Praktisch ist es nahezu unmöglich, eine komplett aktu-elle Datenbank zu haben. Würden bei briti-schen Parlamentswahlen ähnliche Maßstäbe angewandt, jeder Urnengang müßte wieder-holt werden. Britische Wählerverzeichnisse sind notorisch fehlerhaft und veraltet, was durchaus des öfteren zu Anfechtungen, aber fast nie zu Wiederholungen führt.

Britische Gewerkschaften stehen juri-stisch mit dem Rücken zur Wand. Leider haben sie sich politisch selbst in diese unan-genehme Lage hineinmanövriert. Während die Mehrheit der Gewerkschaftsführer zur Wahl von Labour aufruft, hält die Labour-Regierung an den Antigewerkschaftsgeset-zen fest. Die Vergangenheit hat aber auch gezeigt, daß Aktivisten in den Betrieben durchaus bereit sind, die Gesetze zu bre-chen. Dies haben erfolgreiche illegale Arbeitskämpfe bei Royal Mail und in der Bauindustrie sowie Fabrikbesetzungen wie zum Beispiel beim Windturbinenhersteller Vestas im vergangenen Jahr gezeigt. Noch aber sind solche Streiks die Ausnahme.

Thatcher reloadedIn Großbritannien häufen sich Urteile gegen Arbeitskämpfe. Obwohl Labour an Antistreikgesetzen festhält, rücken die Gewerkschaften nicht von der Partei ab. Von Christian Bunke, Manchester

Alltagsleben. In den dürftigen Unter­künften heißt es sich einzurichten, so gut es geht

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Britische Gewerkschaf­ten stehen juristisch mit dem Rücken zur Wand. Leider haben sie sich politisch selbst in diese unangenehme Lage hin­einmanövriert.

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junge Welt Mittwoch, 21. April 2010, Nr. 92 7e r s t e r m a i

Glaubt man der herrschenden Meinung, ist die Krise sowohl an den Finanzmärkten als auch in der realen Produktion schon

vorbei. Steigende Aktienkurse und ein ver-haltener Aufschwung der Produktion sind der scheinbare Beweis für die herrschen-den Eliten, daß eigentlich alles so weiter gehen könne wie vor dem Jahre 2008. In Wahrheit schwingt sich die Krise zu im-mer neuen Höhen auf. Verschiedene Staa-ten wie Griechenland, Spanien und Por-tugal, aber auch Kalifornien, stehen kurz vor dem Staatsbankrott. Die Verluste auf dem US-Immobilienmarkt sind unüberseh-bar, eine neue Finanzblase deutet sich an. Kein Grund also für uns, auf das Geschwätz der Regierung hereinzufallen. Allerdings haben wir im Jahre 2008 die Möglichkei-ten der Bundesregierung zur Abfederung der sich dynamisch entwickelnden Krise unterschätzt. Mit der Abwrackprämie und der Kurzarbeit ist es der Regierung gelun-

gen, die Bevölkerung ruhigzuhalten. Die Sparmaßnahmen wurden bisher nicht in Angriff genommen, die Regierung wartet die Wahl in Nordrhein-Westfalen ab, um dann den ganz großen Coup zu landen. Die ideologische Vorarbeit für die zukünftige Sparpolitik hat Westerwelle, der Maulheld

des Großkapitals, schon geleistet. Mit einer beispiellosen Hetze werden Hartz-IV-Be-zieher und die unteren Schichten der Ge-sellschaft verunglimpft. Westerwelle will die, die noch in Lohn und Brot sind, gegen die, die gar nichts mehr haben, aufwiegeln.

Grund genug für uns, mit neuem Schwung die Protestbewegung gegen die Folgen der Krise neu aufzubauen. Es fing ja auch eigentlich ganz gut an – am 28. März 2009: 55000 in Berlin und Frankfurt/Main auf der Straße. Aber dann machte sich Resi-gnation breit. Es folgte keine breite Mobili-sierung. Dabei ist die Zeit günstig wie nie, denn das Argument, es sei kein Geld da, führt sich selbst ad absurdum – bei 500 Mil-liarden Euro Unterstützung für die Banken.

Deswegen ruft ein breites Bündnis lin-ker Gruppen, sozialer Initiativen und ge-werkschaftlicher Gliederungen auf, am 12. Juni zu demonstrieren. Die Forderungen sind altbekannt und haben nichtsdestotrotz an Aktualität nicht verloren: die Erhöhung

des ALG-II-Regelsatzes auf 500 Euro plus Miete, zehn Euro Mindestlohn netto die Stunde und eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich.

Die Bundesregierung will die gesetzliche Krankenversicherung zerschlagen und den dicken Kuchen den privaten zuschanzen. Deswegen müssen wir heute, morgen und übermorgen den Kampf gegen die Kopf-pauschale an die Öffentlichkeit bringen. Die fehlenden Steuereinnahmen schlagen sich in einem immer schärferen Sparkurs der Städte und Gemeinden nieder. Die Hälfte der Kommunen in der Bundesrepublik steht am Rande der Pleite. Gegen weitere Kür-zungen und Privatisierungen von Jugend- und Kultureinrichtungen, Schwimmbädern und Nahverkehrsangeboten muß Stellung bezogen werden. Wir wollen auch, daß die privatisierten Wasser- und Energiebetriebe wieder in öffentliche Hände übergehen.

Am 12. Juni auf die Straße zu gehen bedeutet zudem, sich mit den Schülern und Studierenden zu solidarisieren, die im Juni einen neuen Bildungsstreik in Angriff neh-men werden.

Es ist an der Zeit, zusammen zu kämp-fen – Gewerkschaften, politische und so-ziale Gruppen und linke Parteien. Nur so können wir aus der Defensive herauskom-men und mit neuem Schwung öffentlich Alternativen zur Politik des Sozialabbaus vortragen. Deshalb: 12. Juni, 11 Uhr, Berlin, Alexanderplatz!

Die Krise heißt KapitalismusRaus aus dem Schlamassel. Gemeinsam gegen Arbeitslosigkeit, Kopfpauschale und Bildungsabbau: Am 12. Juni auf die Straße gehen. Von Michael Prütz

Michael Prütz gehört zu den Initiatoren des Bündnisses »Wir zahlen nicht für eure Krise!«

kapitalismuskrise.org

Nach der Schufterei: Ein Arbeiter gönnt sich ein Bier. Das klassische Werkzeug des Spargelstechers hat er aus der Hand gelegt

Peter Decker/Konrad Hecker

Das ProletariatPolitisch emanzipiert – sozial diszipliniert –

global ausgenutzt – nationalistisch verdorbenDie große Karriere der lohnarbeitenden Klasse

kommt an ihr gerechtes Ende

Aufstieg und Niedergang der lohnabhängigen Klasse: Vom rebellischen Vierten Stand über eine Gewerkschafts-bewegung und einige Arbeiterparteien zur politischen Emanzipation, zur modernen Organisation nützlicher Armut, zur selbstbewussten Anpassung an den Reform-bedarf von Nation und Kapital

© GegenStandpunkt Verlag 2002; 288 Seiten, Din A5,Fadensiegelung ISBN-13: 978-3-929211-05-4ISBN-10: 3-929211-05-X; € 20.–

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Freitag/Sonnabend/Sonntag, 30. April/1./2. Mai 2010, Nr. 100 junge Welt 8 e r s t e r m a i

Als sich der Taoiseach (der iri-sche Ministerpräsident Brian Cowen) am Freitag, dem 4. De-zember 2009, um 16 Uhr auf

den Stufen des Regierungsgebäudes an die Presse wandte, hat er nicht nur diesen Ver-handlungen den Boden entzogen, sondern auch das sozialpartnerschaftliche Modell beendet, das wir die letzten 22 Jahre hatten«, behauptete der Generalsekretär des Irischen Gewerkschaftsbundes ICTU, David Begg, wenige Tage später mit viel Pathos. Auch für den Vorsitzenden der mit 200 000 Mit-gliedern größten Einzelgewerkschaft Ser-vices, Industrial, Professional and Techni-cal Union (SIPTU), Jack O’Connor, war die Sozialpartnerschaft mit diesem Tag »tot und begraben«. Grund für die harten Worte war die Weigerung der Dubliner »Jamaika-Ko-alition« aus Konservativen, Liberalen und Grünen, die geplanten Haushaltskürzungen auf 1,3 Milliarden Euro zu begrenzen und dazu u.a. eine Reichensteuer in Höhe von 750 Millionen zu erheben.

BefreiungsschlagHintergrund ist der schwere Schlag, den die Inselrepublik durch die Wirtschafts- und Finanzkrise verkraften muß. Verbindlich-keiten und Außenstände von elf Banken und Sparkassen, die entweder durch Ver-staatlichung oder durch Garantien von der Regierung gestützt werden, summieren sich auf 533 Milliarden Euro. Giftpapiere im Nennwert von 81 Milliarden Euro wur-den bislang in der staatlichen »Bad Bank« NAMA zusammengefaßt. Infolge der Ban-kenrettung und sinkender Steuereinnahmen ist das Haushaltsdefizit auf elf Prozent ge-stiegen. Das Bruttoinlandsprodukt, bereits 2008 um drei Prozent geschrumpft, verrin-gerte sich im vergangenen Jahr um weitere 7,5 Prozent.

Zur »Rettung des Systems« sehen sich die abhängig Beschäftigten mit einem wah-ren Frontalangriff konfrontiert. Nach den öf-fentlichen Kürzungen des letzten Jahres von gut einer Milliarde Euro stehen nun weitere massive Lohnsenkungen von durchschnitt-lich acht Prozent, der Abbau von 20 000 Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst, eine weitgehende Flexibilisierung der Arbeits-zeit und die Anhebung des Rentenalters von 65 auf 68 Jahre auf der Tagesordnung. Letzterer »Vorschlag« der Zentralbank soll das 1,5-Milliarden-Loch in der Rentenkasse

stopfen.Angesichts dieses Horrorprogramms

nahm ICTU-Chef Begg Mitte Januar in einem internen Strategiepapier kein Blatt vor den Mund und entwickelte erstaunli-chen Offensivgeist: Der »Kollaps der So-zialpartnerschaft« mache das Leben für die Gewerkschaftsbewegung zwar härter, wirke aber auch »befreiend« und erlaube es, ihre eigene Politik »ohne Einschränkungen« zu vertreten und entsprechende Aktionen zu starten. Zwar habe die Krise das Kräftever-hältnis zugunsten des Kapitals verschoben. Zudem sei der Einfluß der Gewerkschaften auf die Medien und die Meinungsbildung

selbst der eigenen Mitglieder gering, ihre Ressourcen seien völlig unzureichend und die Organisation sei teilweise »chaotisch«. Dennoch biete das Ende der Sozialpart-nerschaft eine Chance, die Verbindung zu Enttäuschten und Ausgetretenen wiederher-zustellen, da man nun keine Mitverantwor-tung für die Regierungspolitik mehr trage.

Wie die folgenden Monate zeigten, war die ICTU-Spitze zwar zu einer schonungs-losen und treffenden Bestandsaufnahme in der Lage, nicht jedoch zu den nötigen Konsequenzen. Der Großteil des Appara-tes wirkte angesichts der neuen Aufgabe und des unbekannten Terrains wie gelähmt. Paradoxerweise fanden die größten Mo-bilisierungen vor dem Zerwürfnis mit der Dubliner Exekutive statt. Am landeswei-ten Aktionstag vom 6. November 2009 beteiligten sich nach Polizeiangaben rund 70 000 Menschen.

KapitulationTrotz abgebrochener Kontakte und Unnach-giebigkeit der Gegenseite geschah bis Ende Februar so gut wie gar nichts. Erst dann sprach sich SIPTU-Chef O’Connor für eine »Eskalation« der weitgehend eingeschla-fenen Proteste aus, gab den Regierenden aber, genau wie andere ranghohe Funk-tionäre, eine Frist von sechs Wochen für entsprechende Entscheidungen. Zugleich bat die neue Generalsekretärin der Lehrer-gewerkschaft INTO, Sheila Nunan, die Re-gierung geradezu flehentlich: »Geben Sie uns Sicherheit zurück. Sagen Sie uns, daß die Haushaltspolitik keine Auswirkungen auf unsere Gehälter und unsere Pensionen haben wird.« Die Aktionen beschränkten sich, wie die Irish Times am 16. Februar feststellte, auf eine »Kampagne auf rela-tiv niedrigem Level«, die im wesentlichen aus Überstundenverweigerungen, Bum-melstreiks, der jeweils halbtägigen Nicht-annahme von Telefongesprächen bestand. Noch am spürbarsten waren die Schlie-

ßungen der Paßbehörden, die zu 40 000 unbearbeiteten Anträgen führten. Getragen wurden sie bezeichnenderweise nicht von den großen Verbänden, sondern vor allem von Mitgliedern der nur 13 000 Mitglieder starken Civil Public and Services Union CPSU, die aus schlecht bezahlten öffent-lich Bediensteten der unteren Lohngruppen besteht. Auf Lehrerstreiks wurde aus Angst vor einer schlechten Presse verzichtet, und ein endlich für April geplanter Streik im Gesundheitswesen fiel dem am 31. März nach kurzen Verhandlungen geschlossenen »Croke Park Deal« zum Opfer.

Diese Übereinkunft zwischen Regierung und Gewerkschaften des öffentlichen Dien-stes sieht weitere Lohnkürzungen zwischen fünf und 15 Prozent vor, außerdem eine Ausweitung des Normalarbeitstages auf die Zeit von acht bis 20 Uhr auch an Wochenen-den, um keine Überstunden- oder Samstags- und Sonntagszuschläge zahlen zu müssen. Insgesamt werden dadurch vier Milliar-den Euro gespart. Zwecks »Erhöhung der Produk tivität« ist mit der Vernichtung von 18 000 Arbeitsplätzen zu rechnen, 6 000 davon im Gesundheitswesen. Für die frag-würdige Zusage, daß es in den kommenden vier Jahren keine weiteren Gehaltskürzun-gen geben und jährlich eine »Überprüfung« vorgenommen werde, verpflichten sich die Gewerkschaften bis 2014 zum Tariffrieden.

Gerechtfertigt wird diese totale Kapitu-lation von ICTU-Generalsekretär David Begg mit der Aussage, ein flächendecken-der Streik des öffentlichen Sektors liege »nicht im nationalen Interesse«. Er wäre »traumatisch für unser Land und schwierig für jeden daran Beteiligten«, denn es sei nicht von vornherein klar, ob wirklich etwas Zählbares dabei herausspringe. Glaubt man der linker Leidenschaften unverdächtigen Sunday Business Post, war das Potential dafür zumindest vorhanden: »Die Unions haben eine wütende Mitgliedschaft, die im letzten Jahr zwei einschneidende Lohnkür-zungen hinnehmen mußte. Viele von ihnen wären zu einem umfassenden Streik be-reit«, diagnostizierte das Wirtschaftsblatt am 14. März. SIPTU-Boß Jack O’Connor beschwor die Basis mit Blick auf die noch ausstehende Urabstimmung, ihren Ärger über die Regierungspolitik in der Banken-krise von der Entscheidung über den Tari-fabschluß zu trennen. Als ob beides nicht aufs engste zusammenhinge.

WiderstandDoch nicht alle Vorstände sind bereit, die weiße Fahne zu hissen. Neben der CPSU und den unabhängigen Psychiatriebeschäf-tigten der PNA sowie zwei Lehrergewerk-schaften scheint auch die Irish Municipal Public and Civil Trade Union (IMPACT) als zweitgrößte Organisation im öffentli-chen Dienst dagegen zu votieren. Der Aus-gang der für Mai vorgesehenen Urabstim-mungen, deren Ergebnis für die letztliche Entscheidung des Public Services Commit-tee des ICTU bindend ist, bleibt daher span-nend und zum gegenwärtigen Zeitpunkt unkalkulierbar.

Die möglichen Folgen hingegen sind klar: Bei einer Annahme würde die irische Arbeiterbewegung eine Niederlage und einen Rückschlag historischen Ausmaßes erleiden, ihre Interessenvertreter würden zu Befehlsempfängern degradiert. Bei einer Ablehnung ist der Abgang vieler führender Gewerkschaftsbürokraten ebenso unaus-weichlich wie eine Phase entschlossener und einschneidender Kämpfe. In beiden Fällen ist die 1987 installierte Sozialpart-nerschaft Geschichte.

Unbekanntes TerrainIn Irland hat die Kürzungspolitik im Zuge der Krise zu einem Bruch der Sozialpartnerschaft geführt. Von Raoul Rigault

Auf dem Feld werden Mensch und Werkzeug stark beansprucht: Am Abend bringen die Arbeiter ihre Stechmesser zum Schleifen

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Zur »Rettung des Sy­stems« sehen sich die abhängig Beschäftigten mit einem wahren Fron­talangriff konfrontiert. Nach den öffentlichen Kürzungen des letzten Jahres von gut einer Milliarde Euro stehen nun weitere massive Lohnsenkungen von durchschnittlich acht Prozent, der Abbau von 20 000 Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst, eine weitgehende Flexibili­sierung der Arbeitszeit und die Anhebung des Rentenalters von 65 auf 68 Jahre auf der Tages­ordnung.

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junge Welt Freitag/Sonnabend/Sonntag, 30. April/1./2. Mai 2010, Nr. 100 9e r s t e r m a i

Die Fronten sind verhärtet. Nach nur einer Stunde bra-chen Südafrikas Gewerk-schaftsbund COSATU und

die Regierungspartei ANC ein Spitzen-treffen Mitte April ab. Die ANC-Dele-gation sei den Gewerkschaftern zu klein und nicht hochrangig genug gewesen, spekulierten südafrikanische Zeitungen in der Folge. Beide Seiten widersprachen dem jedoch. Man hätte einfach mehr Zeit gebraucht und die Gespräche daher verschoben. Wirklich versöhnlich klan-gen die Verlautbarungen aber auch nach der neunstündigen Marathonaussprache vier Tage später nicht. COSATU werde nicht an den Rand gedrängt, sondern eingebunden, wies ANC-Generalsekre-tär Gwede Mantashe lediglich frühere Anschuldigungen seines COSATU-Ge-genparts Zwelinzima Vavi zurück, der ANC betrachte seinen Bündnispartner nur als Stimmvieh in Wahlkampfzeiten. Zu Einigungen in Sachfragen führte das Treffen nicht.

Unter Südafrikas Linken wird schon länger geklagt, daß die enge Bindung an den ANC die Gewerkschaften schwäche. Inzwischen haben deren Führer das of-fensichtlich auch selbst erkannt. Denn so deutlich wie zuletzt hatte COSATU, wie auch die Kommunistische Partei Süd-afrikas (SACP) seit dem Kampf gegen die Apartheid fest in einer Dreier-Allianz mit dem ANC verbündet, die Regierungs-partei noch nie angegriffen. Der Konflikt selbst jedoch schwelt schon seit knapp 15 Jahren. Damals hatte der ANC unter Nel-son Mandela sein neoliberales GEAR-Programm für Wachstum, Entwicklung und Umverteilung aufgesetzt. Die Wirt-schaft wuchs tatsächlich, die Dividenden der großen Unternehmen entwickelten sich prächtig, doch umverteilt wurde wie immer: von unten nach oben. Als Thabo Mbeki, der sich schon unter Mandela als Kronprinz in Stellung gebracht hatte und an GEAR wesentlich beteiligt war, 1999 Präsident wurde, ging der wirtschafts-freundliche Kurs in voller Härte weiter. Die Gewerkschaften fühlten sich genau wie die SACP an den Rand gedrängt und setzten auf den Populisten Jacob Zuma als Gegenpart zum Technokraten Mbeki.

Zuma, der Kandidat der Linken, setzte sich auch tatsächlich durch, wurde zu-nächst ANC-Vorsitzender und regiert seit Mai 2009 das Land. Zumindest sollte er das tun.

Zuma sei »unentschlossen« und »wolle es allen Recht machen«, kritisierte CO-SATU-Präsident Siduma Dlamini Ende Februar und leitete damit den offenen Disput ein. Die Linke hatte sich mehr von Zuma erhofft und sieht nun ihre Felle davon schwimmen. »Wir sind versucht zu glauben, daß uns eine Fälschung verkauft wurde. Das Regierungsprogramm, das wir unterstützt haben, wurde verworfen, und jetzt reden sie über Privatisierungen und solche Geschichten«, legte die Spre-cherin der in COSATU organisierten Ge-werkschaft für den Öffentlichen Dienst, NEHAWU, nach. Stein des Anstoßes war das Jahresbudget der Regierung, das, so die Gewerkschaften, nach die Armen be-nachteiligt. Doch der Konflikt geht weit über die Budgetzahlen hinaus. COSATU fühlt sich vom ANC nicht ernst genom-men und sieht seine politischen Forde-rungen nicht ausreichend eingebracht – geschweige denn umgesetzt. Der mit-gliederstarke Gewerkschaftsbund wirft dem ANC wirtschaftsfreundliche Allein-gänge vor und reagiert mit zunehmender Kritik. So hinterfragte COSATU gerade per Pressemitteilung die Konditionen für die Bereitstellung eines Weltbank-Kredits über umgerechnet 2,8 Milliarden Euro für den halbstaatlichen Strommonopolisten Eskom. Der Kredit ist generell umstritten, weil der ANC über seine Beteiligungsge-sellschaft an einer Firma beteiligt ist, die von Eskom mit einem milliardenschweren Auftrag beim Bau von neuen Kohlekraft-werken bedacht wurde. COSATU kriti-sierte im gleichen Atemzug außerdem die günstigen Sondertarife für Großbetriebe, die teilweise hundertmal niedriger sind als die Raten für Privathaushalte.

Wegen Ungleichbehandlungen bro-delt es sowieso an der Gewerkschafts-basis. Wiederholte Medienberichte über den luxuriösen Lebensstil einiger ANC-Oberer bringen die verarmten Massen in den Townships und die Steuerzahler in der Mittelschicht gleichermaßen zum Kochen. Der Mail&Guardian hatte be-

reits im vergangenen Jahr aufgedeckt, daß 27 Minister und Vizeminister in Zumas Regierungsmannschaft in insgesamt 184 Unternehmen eingebunden sind. 2000 Regierungsangestellte haben dem Report zufolge darüber hinaus direkt oder indi-rekt Geschäfte mit staatlichen Institutio-nen gemacht. COSATU fordert daher, Le-bensstil und Einkünfte von Politikern mit einem Prüfverfahren zu kontrollieren.

Der ANC sieht sich an den Pranger ge-stellt und schießt scharf zurück. »Wie eine Oppositionspartei« benehme sich der Ge-werkschaftsbund, wütete Mantashe bei dem Treffen mit den Gewerkschaftern vor gut zwei Wochen. »Die Ungeduld der Gewerkschaftsföderation hat das Po-tential, die Allianz auf lange Sicht zu zerstören«, drohte er sogar offen mit dem Bruch zwischen den Partnern. Doch nicht nur mit starken Worten scheint die Regie-rungspartei zu kämpfen. Gerade als Vavi die Nehmermentalität im ANC kritisierte, brachte der Mail&Guardian einen Skan-dalartikel, demzufolge die Ehefrau des Gewerkschaftsbosses auf der Gehaltsli-ste eines Finanzdienstleisters stehe, mit dem Auftrag dessen Produkte unter Ge-werkschaftsmitgliedern an den Mann zu bringen. Es liegt zumindest nahe, daß die Zeitung einen entscheidenden Tip be-kommen hat. Vavi selbst sieht darin kei-nen Interessenkonflikt.

COSATU legte unterdessen mit einem 97seitigen Dokument nach, das sich mit der Verquickung von Regierungspositio-nen und Privatunternehmen befaßt. »Es ist beängstigend zu sehen, wie schnell die Wahl in eine Position als Chance für die Anhäufung von Reichtum wahrgenommen wird«, heißt es in dem Papier. Es sei zudem erschreckend, wie Mittel, die zum Wohl des Volkes gedacht seien, in die Taschen Einzelner umgeleitet würden. Das klingt tatsächlich nach Oppositionsrhetorik, was den Anschuldigungen allerdings eher mehr Gewicht gibt. COSATU, das wird deutlich, will sich offenbar an die Macht zurückkämpfen. Der landesweite Streik der kommunalen Angestellten kann daher bereits als Machtdemonstration im Rah-men dieser Agenda gesehen werden.

Der Gewerkschaftsbund schreckt bei seinen Forderungen auch nicht vor der

größtmöglichen Drohkulisse zurück: Ei-nem Generalstreik zur Fußball-WM im Juni. Den hatte COSATU zumindest in den Raum gestellt für den Fall, daß die Re-gierung ihre Entscheidung, dem Stromver-sorger Eskom eine Preissteigerung für Pri-vathaushalte um jeweils 25 Prozent in den nächsten drei Jahren zu genehmigen, nicht revidiert. Der Unterstützung der SACP dürfte sich COSATU dabei sicher sein, die Partei nannte die Kostenexplosion »einen katastrophalen Betrug der Armen unseres Landes«. Trotzdem ist es unwahrschein-lich, daß die Gewerkschaften ihre Drohung tatsächlich umsetzen. Zu stark ist die Liebe der eigenen Mitglieder zum Fußball, zu groß der Stolz der Südafrikaner, eine WM im eigenen Land erleben zu können. »Wir zielen nicht auf die WM ab«, beschwich-tigte COSATU-Sprecher Patrick Craven daher auch gleich.

Eines dürfte aber nach dem Konflikt klar sein. Als Stimmviehlieferanten sehen sich die Gewerkschaften nicht mehr.

Auf KonfrontationskursSüdafrikas Gewerkschaftsbund COSATU kämpft für Arbeiterrechte, gegen Selbstbereicherung in den Reihen der Regierungsallianz – und um realen Einfluß. Von Christian Selz, Port Elizabeth

Ein wenig Geselligkeit auf der Stube. Der von den Arbeitsagenturen festgelegte Mindestlohn beträgt 4,50 Euro pro Stunde. Davon müssen allerdings auch die Kosten für die Unterkunft bestritten werden

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»Wir sind versucht zu glauben, daß uns eine Fälschung verkauft wur­de. Das Regierungspro­gramm, das wir unter­stützt haben, wurde ver­worfen, und jetzt reden sie über Privatisierungen und solche Geschich­ten.« (Eine Sprecherin der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes)

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Freitag/Sonnabend/Sonntag, 30. April/1./2. Mai 2010, Nr. 100 junge Welt 1 0 e r s t e r m a i

Die Firma Eurest will ihrer Selbstdarstellung zufolge »der weltweit führende Food-Service-Anbieter in

der Betriebsgastronomie« sein, »be-kannt für Topleute, Topservice und Topergebnisse«. Wer oder was steht hinter dem Konzern?

Eurest ist ein weltweit agierender briti-scher Konzern mit Sitz in London und betreibt hierzulande bundesweit über 800 »outgesourcte« Kantinen in größeren Be-trieben. Die Firma wurde ursprünglich von Nestlé gegründet, dann an die französische »Wagon Lits«-Gruppe und die Accor-Ho-telkette und schließlich an das britische Catering-Unternehmen »Compass Group« veräußert. Eurest war nie ein Paradies für die Beschäftigten, aber früher ging es den Leuten hier besser. Seit dem Verkauf an die Compass Group wird nur noch Geld herausgezogen. Die führen sich wie die Heuschrecken auf.

Wie wirkt sich das auf den Arbeitsall-tag aus?

Das größte Problem ist die Leistungsver-dichtung bei einer extrem dünnen Personal-decke. Wir waren im Betrieb mal 15 Leute, davon bis auf eine Kollegin alle in Vollzeit. Derzeit sind wir nur noch zwölf. Davon ist eine Person dauerhaft krank, vier sind mitt-lerweile in Teilzeit. Wir produzieren aber die gleiche Menge Essen wie früher oder eher mehr.

Wie hält es Eurest mit Betriebsräten? Offensichtlich sind die meisten Nieder-lassungen betriebsratsfreie Zonen.

Offiziell steht Eurest Betriebsräten positiv gegenüber und behindert zumindest formal nicht ihre Gründung und Wahl, sondern läßt sie arbeiten. Schlimm wird es aber, sobald die Betriebsräte wirklich für die Beschäf-tigten aktiv werden und nicht nur alles ab-nicken.

Wie haben sie das erlebt?Zuerst wurde ich massiv persönlich ange-griffen. So fragte mich etwa der damalige Betriebsleiter beim Frühstück, was ich da-von hielte, wenn Hunde vergiftet werden. Er legte mir Zeitungsausschnitte über gequälte Hunde auf den Tisch. Als Hundehalter muß-te ich das als Drohung auffassen, meinen Tieren etwas anzutun. Das war eine Form von Mobbing.

Ich wurde ständig schikaniert. Tagelang hat sich der Betriebsleiter bei der Arbeit ne-ben mich gestellt und mir über die Schulter geschaut und vermeintliche Fehler notiert. Diese permanente Kontrolle sollte mich einschüchtern. Das ging eine Weile, dann wurde mir gekündigt.

Was haben Sie gegen die Kündigung unternommen?

Ich habe geklagt und gewonnen. Danach wurde ich weiter beschäftigt.

Hat sich das Betriebsklima verbessert?Wir bekamen eine neue Betriebsleiterin. Die alten Konflikte gab es nicht mehr.

Ist damit für Sie die Welt in Ordnung?Derzeit lassen die mich in Ruhe und gewäh-ren auf Antrag auch Höhergruppierungen von Beschäftigten, wie von mir als Betriebs-rat verlangt. Für Eurest-Verhältnisse ist das bei uns fast das »Paradies«, und wir haben derzeit keinen offenen Konflikt mehr.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Leiharbeit gemacht?

Bei Eurest gab es über Jahre viele Leiharbei-ter, nachdem man das Tournantenbüro, also die Abteilung für Springer, geschlossen hat-te. Aber weil der Geschäftsleitung auch die

Leiharbeiter zu teuer waren, hieß es: Seht zu, wie Ihr ohne sie klarkommt. Daher müs-sen die einzelnen Beschäftigten jetzt doppelt so viel schaffen. Es wird stillschweigend erwartet, daß die Leute unbezahlt länger arbeiten.

Die meisten haben aber noch einen 400-Euro-Zweitjob. Wer unbezahlte Über-stunden plus Zweitjob hat, ist richtig kaputt und bringt keine volle Arbeitsleistung. In unserer Filiale arbeiten die Leute allerdings nicht unentgeltlich länger und haben da-durch mehr Energie für die Arbeit. So gese-hen ist das sogar besser für die Firma. Unser Betrieb steht übrigens im internen Vergleich wirtschaftlich sehr gut da.

Sie sind Ende 2008 aus der Gewerk-schaft NGG ausgetreten und haben sich den »Wobblies« – der in Deutsch-land erst seit 2006 aktiven Kleinge-werkschaft Industrial Workers of the World (IWW) – angeschlossen. Warum?

Ich war 20 Jahre NGG-Mitglied und komme aus einer Familie, in der immer alle Gewerk-schafter waren. 2008 hat man mich in die Tarifkommission für den Haustarifvertrag zwischen NGG und Eurest entsandt. Dort wurde mir klar, daß es hier nicht mit rechten Dingen zugehen kann. Die haben kampflos allem zugestimmt, was die Geschäftsleitung wollte.

» B et r i e b s rä t e d ü r fe n k e i n e G e h e i m rä t e s e i n «Auch Topfspüler können kämpfen: Wie die Kleingewerkschaft der »Wobblies« beim Kantinenkonzern Eurest die große NGG nervös macht. Ein Gespräch mit Harald Stubbe

Harald Stubbe, 54, wiedergewählter Be­triebsratsvorsitzender in der Filiale des Kan­tinenbetreibers Eurest bei der Commerzbank in Frankfurt/M. und Mitglied des Gesamt­betriebsrats bei Eurest Deutschland. 2008 trat er aus der Gewerkschaft Nahrung, Genuß, Gast­stätten (NGG) aus und schloß sich der deutsch­sprachigen Sektion der »Wobblies«, der Indu­strial Workers of the World (IWW), an

Zum selbstgemachten Bigos gibt es das Brot aus der Heimat: Wanderarbeiter beim Abendessen

O Ich,die/derUnterzeichnende,möchteMitgliedderLinkePresseVerlags-,Förde-rungs-undBeteiligungsgenossenschaftjungeWelteGwerdenundbeantragehiermitdieAufnahmeindieGenossenschaft.DieSatzungderGenossenschaftunddiesichdarausergebendenPflichtenerkenneichan.Ichverpflichtemich,dienachGenossen-schaftsgesetzundSatzunggeschuldetenEinzahlungenaufden/dieGenossenschafts-anteilezuleisten.

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___________Euro(maximal25000Euro),dasheißt,

___________Anteileà500,00Euro

OIcherhöheum____________Anteileà500Euro

ODieGenossenschaftsanteilewerdennachBestä-tigungmeinerMitgliedschaftaufdasKontoderGenossenschaft(43418597,BLZ10050000,BerlinerSparkasse)inOeinerRateOzweiRatenOinRatenzu______Euro(mind.25,00Euro)überwiesen.(Andere Zahlungsregelungen sind nach Absprache ebenfalls

möglich.)

OHiermiterteileicheineeinmaligeEinzugsermächti-

gunginHöhevon_____EurovonmeinemKonto

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junge Welt Freitag/Sonnabend/Sonntag, 30. April/1./2. Mai 2010, Nr. 100 1 1e r s t e r m a iWie sah das konkret aus?

Ursprünglich wurde gefordert, die Tarif-erhöhung sozialer zu gestalten und die Einkommen um einen Festbetrag von 55 Euro für jede Lohngruppe anzuheben. Die Geschäftsleitung hätte das akzeptiert. Die NGG nahm davon jedoch wieder Abstand, forderte 2,2 Prozent Einkommens erhöhung. Gleichzeitig war sie bereit, einer Öffungs-klausel für Betriebe mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zuzustimmen. Dazu kam die Erhöhung des Essensgeldes. Früher konnten die Beschäftigten im Betrieb um-sonst essen, jetzt zahlen sie dafür 1,80 Eu-ro pro Mahlzeit. Das ist für jemanden mit knapp über 1000 Euro netto im Monat viel Geld. Dadurch war die Lohnerhöhung prak-tisch wieder weg.

Haben Sie das in der Tarifkommission angesprochen?

Ich sagte, daß wir das nicht kampflos akzep-tieren sollten und habe Protestaktionen vor der Konzernzentrale angeregt. Das wurde damals, 2008, als »Schwachsinn« abgetan. Interessant ist, daß die NGG aber zwei Jahre später genau das macht und in Eschborn bei Frankfurt vor dem Konzernsitz eine Protest-kundgebung mit 150 Eurest-Beschäftigten durchgeführt hat. Das war vor wenigen Wo-chen.

Wie kam es dazu?Nachdem Eurest in der jüngsten Tarifrun-de lange gar nichts bezahlen wollte, mußte die NGG irgendwie zu Potte kommen und Druck machen. Jahrelang hat man mir ent-gegengehalten: Topfspüler gehen nicht auf die Straße. Nun hat sich aber gezeigt, daß die Leute durchaus bereit sind zu kämpfen.

Und Sie haben da als mitdemonstriert, obwohl sie nicht mehr in der NGG sind?

Als ich und andere Kollegen mit der IWW-Fahne vor Ort erschienen, kam der ehe-malige NGG-Regionalgeschäftsführer und Ruheständler Peter Artzen direkt auf uns zu uns sagte, wir dürften nicht mit Fahne und Flugblättern teilnehmen. Er drohte mit der Polizei und einem Platzverbot. Das hat aber nichts genutzt, denn er hat kein Haus-recht auf dem Eurest-Gelände. Wir haben das Verbot ignoriert, an der Kundgebung teilgenommen und Flugblätter verteilt. Die Polizei blieb passiv.

Und wie ging dieser Tarifkonflikt aus?Ursprünglich hatte die NGG eine Lohnerhö-hung von vier Prozent gefordert und gesagt: Alles darunter ist »für die Füße«. 2009 gab es bereits eine Nullrunde. Jetzt wurde ein Abschluß von zwei Prozent bei einer Lauf-zeit bis ins nächste Jahr gemacht. Auf drei Jahre verteilt, sind das vielleicht 0,7 Prozent pro Jahr. Die Leute sind extrem enttäuscht und wären bereit gewesen, mehr zu machen für einen besseren Abschluß. Die NGG steht jetzt unter Druck, eine Mitgliederversamm-lung zu machen, um zu hören, wie die Leute dazu stehen.

Wie wirkt sich die Enttäuschung aus?Bei der Wahlveranstaltung der Betriebsrä-te, die vor wenigen Tagen zur Wahl des Gesamtbetriebsrats einberufen wurde, war dieser Tarifabschluß ein zentrales Thema. Ich war schon früher Mitglied im Gesamtbe-triebsrat und wurde auf Betreiben des NGG-Apparats 2009 wegen meines Austritts aus der NGG mit knapper Mehrheit abgewählt. Jetzt wurde ich in dieses Gremium wieder hineingewählt.

Auch von NGG-Betriebsräten?Überwiegend von NGG-Mitgliedern.

Aber die NGG-Betriebsräte werden kaum zu einer Kleinstgewerkschaft wie der IWW übertreten.

Nein, aber das Verhältnis unter Kollegen ist deutlich entspannter als das Verhältnis der Funktionäre. Die sehen das als normal an. Ich mache aus meiner Auffassung keinen Hehl, daß Betriebsräte keine Geheimräte sein dürfen und Informationen an die Be-legschaft weitergeben sollen. Einige mögen das nicht, aber die Mehrheit geht locker damit um.

Sie können aber nicht alle NGG-Funktionäre und Sekretäre über einen

Kamm scheren. Manche Sekretäre tun sehr viel und setzen sich unermüdlich ein.

Die NGG konnte immer kämpfen und hat das in bestimmten Bereichen auch gezeigt. Solange sich die Arbeitgeber partout quer-stellen, ist sie auch bereit zu streiken. Aber wenn der Arbeitgeber das Spiel mitspielt und die Spielregeln einhält, greift man ihn nicht an. Solange er die Betriebsräte in Ruhe läßt und den Tarifvertrag akzeptiert, ist die NGG zufrieden.

Und woher kommt diese Mentalität?Die NGG wird wie ein Wirtschaftsunter-nehmen geführt, das Wert darauf legt, nach einer Lohnerhöhung rasch auch die Mit-gliedsbeiträge anzuheben. Der Laden soll mit möglichst wenig Arbeitsaufwand mög-lichst viel Geld einnehmen. Bei Eurest mit über 800 kleineren Betrieben bundesweit und 100 Betriebsräten ist die Mitglieder-betreuung durch hauptamtliche Sekretäre viel aufwendiger und weniger rentabel als in einem Großbetrieb mit mehreren hundert Mitgliedern unter einem Dach. Daher will man den Ball in einem Laden wie Eurest flach halten.

Glauben Sie nicht, daß es möglich ist, eine Gewerkschaft wie die NGG wie-der auf eine andere, klassenkämpferi-

sche Linie zu bringen?Der frühere hessische Landesvorsitzende Jo Herbst hat in seiner Abschiedsrede sinn-gemäß gesagt: Es stimmt nicht, daß die Mitglieder nicht kämpfen wollen – ihr wollt nicht. Damit meinte er die versammelten Betriebsräte und Funktionäre, die sich im System eingerichtet haben. Der Apparat funktioniert, und auch das Wahlprozedere ist vollkommen undemokratisch. Mitglie-der haben da kaum etwas zu melden, die Satzung ist auf den Vorstand zugeschnitten. Die Hauptamtlichen verdienen gutes Geld und haben kein Interesse an irgendwelcher Unruhe. Vor jedem Streik wird eine be-triebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Ana-lyse angestellt. Auch bei der NGG gibt es befristete Beschäftigung und andere Arbeit-geberallüren.

Ich kenne viele engagierte Menschen in der NGG, aber die werden abgefertigt. Kämpferische Mitglieder dürfen die Fahne tragen, aber bei Entscheidungen im Appa-rat, auch bei Tarifabschlüssen, hat der Vor-stand immer das letzte Wort. Klassenkampf liegt nicht im Interesse dieser Leute, weil sie es sich letztendlich im Kapitalismus ganz passabel eingerichtet haben.

Aber die IWW ist eine Minigewerk-schaft ohne Tarifhoheit.

Ich bin aufgewachsen mit der Idee der Ein-heitsgewerkschaft und habe mir lange ge-sagt: DGB und NGG mußt du nach außen verteidigen, kritisieren darfst du nur nach innen. Den gleichen Blödsinn habe ich früher als DKP-Mitglied auch mit der DDR gemacht. Daran glaube ich nicht mehr. Ich hoffe, daß die IWW als internationale Ge-werkschaft irgendwann groß wird und Tarif-verträge abschließen kann.

Was macht die IWW anders als die NGG?

Für uns gilt der Grundsatz: Ein Angriff auf einen von uns ist ein Angriff auf alle. So ha-ben wir in den letzten Wochen bundesweit eine Kampagne für die Eurest-Kollegen beim Ford-Entwicklungswerk in Köln ge-macht. Dort wurde ein Betriebsrat gewählt und gleich danach schikaniert und gemobbt und monatelang von der Arbeit freigestellt. Wir haben mit Flugblattaktionen in Köln, Frankfurt, München, Hamburg, Saarlouis, London und New York Druck ausgeübt. Der Kölner Küchenleiter mit seinen Feld-

webelallüren wurde versetzt. Die Betriebs-leiterin ist noch da. Wir fordern, daß auch sie weg muß. Ford soll das Outsourcing rückgängig machen und die Kantine wieder selbst übernehmen. Die Kollegen in Köln sagen, daß alle Aktionen positiv aufgenom-men wurden. Damit hat sich gezeigt, daß auch eine sehr kleine Organisation einiges bewegen kann.

Was werden Sie am 1. Mai tun?Ich werde in der Frankfurter DGB-Demon-stration mitmarschieren und einen IWW-Infostand machen. Die Gewerkschaftsbe-wegung sollte neuen Organisationen ge-genüber aufgeschlossen sein und neugierig verfolgen, was passiert. Viele Linke in den DGB-Gewerkschaften müssen sich ein-gestehen, daß sich dort seit 20, 30 Jahren nichts geändert hat. Interview: Birgit Messner, Köln

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»Ich bin aufgewachsen mit der Idee der Ein­heitsgewerkschaft und habe mir lange gesagt: DGB und NGG mußt du nach außen verteidigen, kritisieren darfst du nur nach innen. (...) Daran glaube ich nicht mehr.«

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Freitag/Sonnabend/Sonntag, 30. April/1./2. Mai 2010, Nr. 100 junge Welt 1 2 e r s t e r m a i

Abgesehen von seiner histori-schen Bedeutung als Kampf-tag der Arbeiterklasse ist der 1. Mai eine hervorragende Ge-

legenheit, sich mit der Familie und/oder Freunden und Bekannten einen der schön-sten saisonalen Genüsse, den die hiesige Landwirtschaft zu bieten hat, zu gönnen: frischen Spargel, der ausschließlich zwi-schen Mitte April und Ende Juni angeboten wird.

Eines der deutschlandweit größten zu-sammenhängenden Anbaugebiete für die-ses Edelgemüse liegt in der westlich von Berlin gelegenen Gemeinde Beelitz, wo 70 Prozent des brandenburgischen Spar-gels produziert werden. Die gesamte An-baufläche ist in dem Bundesland rasant gewachsen. 1991 waren es knapp über 500 Hektar, mittlerweile sind es fast 3 000. Die Produktionsmenge ist natürlich witterungs-abhängig und kann in guten Jahren 15 000 Tonnen betragen, wovon knapp die Hälfte in Berlin und Brandenburg verzehrt wird. Die Preise schwanken auch innerhalb der Saison erheblich, sind aber durch die ge-stiegene Produktion und die Konkurrenz vor allem polnischer Importe selbst für den überregional bekannten und gerühmten Beelitzer Spargel tendenziell sinkend. Zu schaffen macht den märkischen Anbauern außerdem Produktpiraterie: Nicht überall wo Beelitz draufsteht, ist auch Beelitz drin, und mißtrauische Kunden sollten sich nicht scheuen, beim Kauf nach entsprechen-den Papieren zu fragen, rät das Landwirt-schaftsministerium.

Doch gerade am 1. Mai sollte man auch daran denken, daß dieser mittlerweile er-schwingliche Genuß nur durch den Einsatz osteuropäischer Billiglohnkräfte ermög-licht wird. Auf drei- bis viertausend schätzt das Landwirtschaftsministerium die Zahl der saisonalen Spargelstecher in Branden-burg. Genauere Angaben sind schwierig, da bei der Bewilligung von Arbeitsgeneh-

migungen für Saisonkräfte in der Land-wirtschaft nicht nach spezifischen Ein-satzgebieten unterschieden wird. Anbau-verbände und Arbeitsagenturen berichten übereinstimmend, daß geeignete deutsche Arbeitskräfte für die körperlich extrem an-strengende Tätigkeit kaum zu finden sind. Inländische Saisonarbeiter werden haupt-sächlich für Sortierarbeiten und Vertrieb eingesetzt. Der von den Arbeitsagenturen in Brandenburg festgelegte Mindestlohn beträgt 4,50 Euro pro Stunde und kann

durch Akkordzuschläge gesteigert werden. Davon müssen allerdings auch die Kosten für die Unterkunft auf den Höfen bestritten werden, die von den Unternehmen bereit-zustellen sind.

Bei ihrer »Spargel-Kampagne« im Früh-jahr 2008 hatte die zuständige Gewerk-schaft IG Bauen, Agrar, Umwelt (IG BAU) erhebliche Mißstände besonders bei den Arbeitszeiten der Erntehelfer festgestellt. Für eine ähnlich intensive Kontrollaktion fehlten der Gewerkschaft im laufenden Jahr leider die personellen Kapazitäten, erklärte der zuständige IG-BAU-Sekretär Michael Bohrmann auf jW-Nachfrage. Als wichtig-ste Aufgabe sieht es der Gewerkschafter, Mindestlöhne durchzusetzen, die deutlich über den jetzt gezahlten Vergütungen lie-gen. Vorstellen könne er sich auch eine Art Fairtrade-Siegel für Spargel, dessen Erzeuger bestimmte Sozial- und Tarifstan-dards einhalten. Zumal sich die Situation ab dem kommenden Jahr verschärfen wird, da dann für Arbeitskräfte aus den osteuro-päischen EU-Staaten die volle Freizügig-keit gilt. Das heißt, die Betriebe können die Erntehelfer direkt einstellen und müssen sie nicht mehr bei der Bundesagentur für Arbeit anmelden.

Den Spaß am Spargelgenuß sollte man sich durch das Wissen über die Ausbeutung in den Anbaubetrieben aber nicht vermie-sen lassen. Sonst dürfte man schließlich fast gar nichts mehr essen. Auch einige jW-Kollegen haben seit dem Saisonstart Mitte April bereits diverse Stangen heimischen Spargels genossen. Vorher nicht, denn von dem bereits seit Februar erhältlichen Zeug aus Griechenland sollte man die Finger las-sen; in der Regel ist es holzig und schmeckt bitter. Frischen Spargel erkennt man daran, daß die Schnittenden noch saftig sind.

Die Zubereitung ist denkbar einfach. Den Spargel schälen und entweder post-wendend verbrauchen oder – falls es noch einige Stunden dauert – in ein nasses Tuch einschlagen und in den Kühlschrank le-gen. Spargelschalen und -enden mit wenig Zucker und Salz auskochen, anschließend abgießen.

Den Spargel in dem Sud möglichst auf-recht (Köpfchen aus dem Wasser) köcheln lassen oder dämpfen, bis er gar, aber noch bißfest ist. Auf eine Gabel gelegt, muß er sich leicht biegen. Dazu gibt es Pellkar-toffeln und gebräunte Butter und sonst gar nichts! Keine Hollandaise, kein Schnitzel, kein Schinken. Spargel ist ein Edelgemüse mit zartem Eigengeschmack, es ist eine Schande, ihn mit Saucen zu erschlagen oder zur Beilage zu degradieren. Als Kar-toffelsorte empfehlen wir Linda, deren de-

zent nussig-buttriger Geschmack hervorra-gend mit Spargel harmoniert.

Zum Spargel sollte es natürlich Wein geben, und zwar einen guten trockenen jungen Weißwein mit merkbarer Säure. Mehr als einen »Schnelltest« ließ der Zeitrahmen für diese Beilage leider nicht zu. Dabei hätte es nichts Schöneres ge-geben, als tagelang Unmengen Spargel zu verspeisen und dazu diverse Weine zu probieren, um einen optimalen Begleiter zu ermitteln. Wir beschränkten uns auf ein kleines »Einladungsturnier«. Fünf be-währte Winzer baten wir, uns von ihren trockenen Basis-Rieslingen (Literabfül-lungen) Proben zu schicken. Was natürlich nicht heißt, daß nicht auch Weißburgunder, Silvaner, Elbling und sogar ausgesuchte Müller-Thurgau/Rivaner hervorragende Spargelbegleiter sein können. Vertreten waren die Mosel, Württemberg, die Hes-sische Bergstraße, der Mittelrhein und die Pfalz. Die Ab-Hof-Preise der Weine liegen zwischen 4,17 und 6,10 Euro, verkostet wurde blind.

Es ist schon erstaunlich, was gute Win-zer mittlerweile in früher der Restever-wertung dienenden Literabfüllungen zu bieten haben. Durch die Bank hatten wir spritzige, mineralische Weine mit Sor-ten- und Gebietstypizität und anständigen Mostgewichten im Glas. Höhere Ansprü-che an Filigranität werden in dieser Kate-gorie natürlich nicht befriedigt, alles hat seinen Preis. Zum Spargelkönig 2010 unter den Literweinen küren wir hiermit den Verrenberger Lindelberg Riesling trocken von der württembergischen Weinkellerei Hohenlohe (www.weinkellerei-hohenlohe.de, Tel. 0 79 46/9 11 00) Ein saftiger Gau-menschmeichler mit sauberer Traubenno-te, wie gemacht für Spargel und mit 4,17 Euro auch im Preis-Leistungs-Verhältnis unschlagbar. Wer es etwas knackiger, säu-rebetonter und mineralischer mag, dem sei – vielleicht nicht zum Spargel, aber für die Terrasse – der Liter-Riesling trocken vom Weingut Volk am Mittelrhein empfohlen (www.weingutvolk.de, Tel.: 0 26 28/82 90). Er ist für 4,70 Euro ab Hof erhältlich.

Trotzdem genießenSpargelstecher werden miserabel bezahlt. Dennoch sollte man sich dieses Edelgemüse – verbunden mit einem guten Wein – nicht entgehen lassen. Von Rainer Balcerowiak

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erster mai erscheint als Beilage der Tages­zeitung junge Welt im Verlag 8. Mai GmbH, Torstraße 6, 10119 Berlin. Redaktion: Jörn Boewe (V. i. S. d. P.), Anzeigen: Sil­ke Schubert, Gestaltung: Michael Sommer.

Zu Hause wartet die Familie – ein Arbeiter mit dem Foto seiner Tochter

Bei ihrer »Spargel­Kampagne« im Frühjahr 2008 hatte die zustän­dige Gewerkschaft IG Bauen, Agrar, Umwelt (IG BAU) erhebliche Mißstände besonders bei den Arbeitszeiten der Erntehelfer festgestellt. Für eine ähnlich intensi­ve Kontrollaktion fehlten der Gewerkschaft im laufenden Jahr leider die personellen Kapazitäten.