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E ine »Mandelbaumiade« hat Dietmar Dath sein Buch »Deutschland macht dicht« im Untertitel genannt. Die sehr spezielle Genrebezeichnung bezieht sich auf einen »kleinen Stoffhasen«, Mandel- baum geheißen, der im ersten Abschnitt von einem übermüdeten Redakteur ei- ner in Frankfurt am Main erscheinenden Zeitung, bei Dath »Erhabene Zeitung« genannt, prophetisch angekündigt wird: »Die ganze Anlage der Stadt und über- haupt Deutschland, das stimmt alles nicht mehr. Und die Sache wird immer schlim- mer werden, bis der Stoffhase kommt. Der haut uns vielleicht raus. Könnte ja sein. Man weiß es nicht.« Um es vorwegzunehmen: Mandelbaum schafft es. Nicht ganz und nicht allein, Stadt und Land werden nicht völlig wie- derhergestellt, aber doch weitgehend. Der Hase ist, wie der Autor jüngst bei einer Buchvorstellung in der jW-Ladengalerie anmerkte, das Gegenteil von jenem, der laut einer deutschen umgangssprachlichen Wendung »von nichts weiß«. Mandelbaum weiß alles und stellt sich der Hauptfigur, der 15jährigen Rosalie Vollfenster, mit den Worten vor: »Hallo! Ich bin Mandelbaum, Überblicker des Durcheinanders!« Wel- ches gerade in Deutschland ausbricht. Das Land wird in sich selbst hineingestopft quer durch mehrdimensionale Räume und Zeiten, oft ziemlich blutig – eine Hexe verbeißt sich z. B. in den Nacken Hitlers, um ihn auszusaugen – und so irrational, wie Kapitalismus immer mehr wird. Ei- ne Mandelbaumiade, ließe sich in erster Annäherung sagen, ist ein phantastisches Abbild der real existierenden Bundesre- publik. Eine Regierung von Investment- bankern und gespenstischen Figuren im Kanzleramt ist Spuk, den ein Autor kaum überbieten kann. Surrealismus ist Realis- mus. Zuspätkommunist Dieser Welt entspricht die Surrealität des Weltgeistes Mandelbaum, der das Unheil erkenntnismäßig durchdringt. Beseitigen kann er es nur mit Hilfe von sehr sympa- thischen Personen, die vielleicht nicht je- de Einzelheit kennen, aber über das Ganze ein klares Urteil haben: Es muß verän- dert werden. Auch das ist ein schwacher Ausdruck für das, was Dath an Verwick- lungen, Auflösungen, Zeitverschiebungen und Zurückkommen ins Hier und Jetzt aufbietet. Was er geschehen läßt, kann in marxistisch-leninistischer Prosa auch so formuliert werden: Der Autor setzt sich mit der Rolle des subjektiven Fak- tors auseinander sowie mit dem Problem von Avantgarde, also mit Partei, Klasse und Massen. Die Mandelbaumiade ent- hält deutliche Spuren einer Lektüre von Lenins »Was tun?«. Kostprobe: Nachdem Mandelbaum sich vorgestellt hat und die Hexe Hitler ausschlürft, begegnen Hase und Rosalie einem, »den sie zunächst für Petrus oder den lieben Gott hielt. Er hob seinen Kno- tenstock und rief: ›Halt! Ich bin der älteste Kommunist Deutschlands!‹ – ›Sehr gut. Damit hatte ich gerechnet‹, freute sich Mandelbaum. – ›Was machst Du hier?‹ fragte Rosalie den Bärtigen. ›Ich komme, fürchte ich, zu spät‹, sagte der. ›Dann bist du also ein Zuspätkommunist‹, sagte Ro- salie. So wurden sie Freunde.« Da in Deutschland von Revolutionen nur geträumt werden kann, läßt Dath eine »Involution«, ein Umkrempeln stattfin- den – eine reaktionär-barbarische Ver- anstaltung, die der amtierende Kanzler von einem Redakteur der »Erhabenen Zeitung« eingeblasen bekam: Bei der Be- schreibung hiesiger Machtverhältnisse ist Dath präzise. Das Dichtmachen heißt auf der politischen Ebene: »Abschotten und Aufräumen, erst mal den eigenen Laden in Schuß bringen, und dann sortieren, wer später irgendwann wieder rein kann, den ganzen Handel und Wandel, einerseits Einwanderer, andererseits Export«. Es könnte das gemeinsame Programm von Permanente Revolution: Jürg Ulrich über den jungen Lew Davidowitsch Bronstein.Von Daniel Behruzi Seite 3 Ewige Eliten: Über Diktatur und Kor- ruption in Kenia am Beispiel des John Githongeo.VonHansgeorg Hermann Seite 5 Best of eines Kritikers: Helmut Sal- zinger analysiert die Lügenmodelle des Kulturbetriebs.Von Enno Stahl Seite 7 »Letzte Stories« lässig aus der Hüfte geschossen: Franz Doblers lakonische Prosaperlen.Von André Weikard Seite 9 junge W elt Die Tageszeitung literatur Beilage der Tageszeitung junge Welt Mittwoch, 16. Juni 2010, Nr. 136 Valeska Gert ist eine der einflußreichsten Künst- lerinnen der Moderne – was kaum jemand weiß. Damit sich das ändert, hat ihr Wolfgang Mül- ler ein Buch gewidmet (siehe Rezension Seite 12), und wir bebildern un- sere Beilage mit ihrem »Gesichtstanz«, den der Fotograf Mark Anstendig dokumentiert hat. MARtIN ScHMItZ VERLAG Alles drin Dietmar Dath spielt durch, was passiert, wenn die oben in Deutschland nicht mehr so regieren wollen wie bisher: Der Spuk wird übermächtig, ist aber bezwingbar. Von Arnold Schölzel Fortsetzung auf Seite zwei O

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Eine »Mandelbaumiade« hat Dietmar Dath sein Buch »Deutschland macht dicht« im Untertitel genannt. Die sehr

spezielle Genrebezeichnung bezieht sich auf einen »kleinen Stoffhasen«, Mandel-baum geheißen, der im ersten Abschnitt von einem übermüdeten Redakteur ei-ner in Frankfurt am Main erscheinenden Zeitung, bei Dath »Erhabene Zeitung« genannt, prophetisch angekündigt wird: »Die ganze Anlage der Stadt und über-haupt Deutschland, das stimmt alles nicht mehr. Und die Sache wird immer schlim-mer werden, bis der Stoffhase kommt. Der haut uns vielleicht raus. Könnte ja sein. Man weiß es nicht.«

Um es vorwegzunehmen: Mandelbaum schafft es. Nicht ganz und nicht allein, Stadt und Land werden nicht völlig wie-derhergestellt, aber doch weitgehend. Der Hase ist, wie der Autor jüngst bei einer Buchvorstellung in der jW-Ladengalerie anmerkte, das Gegenteil von jenem, der laut einer deutschen umgangssprachlichen Wendung »von nichts weiß«. Mandelbaum weiß alles und stellt sich der Hauptfigur, der 15jährigen Rosalie Vollfenster, mit den Worten vor: »Hallo! Ich bin Mandelbaum, Überblicker des Durcheinanders!« Wel-ches gerade in Deutschland ausbricht. Das Land wird in sich selbst hineingestopft quer durch mehrdimensionale Räume und Zeiten, oft ziemlich blutig – eine Hexe verbeißt sich z. B. in den Nacken Hitlers, um ihn auszusaugen – und so irrational, wie Kapitalismus immer mehr wird. Ei-ne Mandelbaumiade, ließe sich in erster Annäherung sagen, ist ein phantastisches Abbild der real existierenden Bundesre-publik. Eine Regierung von Investment-bankern und gespenstischen Figuren im Kanzleramt ist Spuk, den ein Autor kaum überbieten kann. Surrealismus ist Realis-mus.

ZuspätkommunistDieser Welt entspricht die Surrealität des Weltgeistes Mandelbaum, der das Unheil erkenntnismäßig durchdringt. Beseitigen kann er es nur mit Hilfe von sehr sympa-thischen Personen, die vielleicht nicht je-de Einzelheit kennen, aber über das Ganze ein klares Urteil haben: Es muß verän-dert werden. Auch das ist ein schwacher Ausdruck für das, was Dath an Verwick-lungen, Auflösungen, Zeitverschiebungen und Zurückkommen ins Hier und Jetzt aufbietet. Was er geschehen läßt, kann in marxistisch-leninistischer Prosa auch so formuliert werden: Der Autor setzt sich mit der Rolle des subjektiven Fak-tors auseinander sowie mit dem Problem von Avantgarde, also mit Partei, Klasse und Massen. Die Mandelbaumiade ent-hält deutliche Spuren einer Lektüre von Lenins »Was tun?«.

Kostprobe: Nachdem Mandelbaum sich vorgestellt hat und die Hexe Hitler ausschlürft, begegnen Hase und Rosalie einem, »den sie zunächst für Petrus oder den lieben Gott hielt. Er hob seinen Kno-tenstock und rief: ›Halt! Ich bin der älteste Kommunist Deutschlands!‹ – ›Sehr gut. Damit hatte ich gerechnet‹, freute sich Mandelbaum. – ›Was machst Du hier?‹ fragte Rosalie den Bärtigen. ›Ich komme, fürchte ich, zu spät‹, sagte der. ›Dann bist du also ein Zuspätkommunist‹, sagte Ro-salie. So wurden sie Freunde.«

Da in Deutschland von Revolutionen

nur geträumt werden kann, läßt Dath eine »Involution«, ein Umkrempeln stattfin-den – eine reaktionär-barbarische Ver-anstaltung, die der amtierende Kanzler von einem Redakteur der »Erhabenen Zeitung« eingeblasen bekam: Bei der Be-schreibung hiesiger Machtverhältnisse ist Dath präzise. Das Dichtmachen heißt auf der politischen Ebene: »Abschotten und Aufräumen, erst mal den eigenen Laden in Schuß bringen, und dann sortieren, wer später irgendwann wieder rein kann, den ganzen Handel und Wandel, einerseits Einwanderer, andererseits Export«. Es könnte das gemeinsame Programm von

Permanente Revolution: Jürg Ulrich über den jungen Lew Davidowitsch Bronstein. Von Daniel Behruzi Seite 3

Ewige Eliten: Über Diktatur und Kor­ruption in Kenia am Beispiel des John Githongeo. VonHansgeorg Hermann Seite 5

Best of eines Kritikers: Helmut Sal­zinger analysiert die Lügenmodelle des Kulturbetriebs. Von Enno Stahl Seite 7

»Letzte Stories« lässig aus der Hüfte geschossen: Franz Doblers lakonische Prosaperlen. Von André Weikard Seite 9 jungeWelt

Die Tageszeitung

l i t e r a t u r Beilage der Tageszeitung junge Welt Mittwoch,16. Juni 2010, Nr. 136

Valeska Gert ist eine der einflußreichsten Künst­lerinnen der Moderne – was kaum jemand weiß. Damit sich das ändert, hat ihr Wolfgang Mül­ler ein Buch gewidmet (siehe Rezension Seite 12), und wir bebildern un­sere Beilage mit ihrem »Gesichtstanz«, den der Fotograf Mark Anstendig dokumentiert hat.

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Alles drinDietmar Dath spielt durch, was passiert, wenn die oben in Deutschland nicht mehr so regieren wollen wie bisher: Der Spuk wird übermächtig, ist aber bezwingbar. Von Arnold Schölzel

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Mittwoch, 16. Juni 2010, Nr. 136 junge Welt 2 l i t e r a t u r

Westerwelle-FDP und Roland-Koch-cDU werden.

Die Geschichte läuft aber aus dem Ru-der. Es stellt sich heraus, daß »das Geld« – die Supermacht im Hintergrund – es für eine Anmaßung hält, daß publizistisches und politisches Personal ein derart großes Rad drehen will. Es übernimmt die chose und macht richtig ernst: Alles, was nicht geldmäßig funktioniert, wird zu- und weg-gestopft. Damit ist die finale Experiment-anordnung hergestellt: Der Kampf mit der Übermacht kann beginnen.

tanzende VerhältnisseDer »älteste Kommunist«, der noch von der Pariser commune 1871, von den russischen Revolutionen 1905 und 1917 weiß, rekrutiert im Deutschland der Ge-genwart »eine traurige truppe«, wie er feststellt: »Arbeiter waren das hier kei-ne. Vor ihm saßen trist beisammen eine taube Nuß, ein armer teufel und ein Aus-gestoßener.« Ihnen sagt er, »was wir zu tun haben.« Und beginnt mit der Auffor-derung zu überlegen, »welche Leute auf der Welt unsereinem am meisten Ärger machen.« Die Antworten fallen vielfäl-tig aus und werden so zusammengefaßt: »Ein bißchen Klassenbewußtsein ist bes-ser als gar keins.« Und der Kommunist

erklärt die Welt. Die Herrschaften, die alles dichtgemacht haben, sind zugleich diejenigen, die den Globus als Ganzes haben wollen, »aber das soll dann aus lauter Segmenten bestehen, deren Zu-gänge und Anschlüsse sie ganz allein regeln.« Ab dieser Interpretation der Welt wird sie verändert. Das »bißchen Klassenbewußtsein« und die eigenen Erfahrungen machen die traurige trup-pe zu Ex-tauber-Nuß, Ex-armem-teufel und Ex-Ausgestoßenem. Es sind blutig ernste Probleme, die Dath mit größter Heiterkeit und literarischer Leichtigkeit vorführt.

Die Verhältnisse tanzen also in der Mandelbaumiade, jedenfalls wird schon mal aufgespielt. Und bevor jene zur Ruhe kommen, nach dem Auftreten von stets übleren Gewaltmaschinen, tapfer sich Wehrenden und dem Kunstwerk »Ohne titel«, das alles in sich aufnimmt und ähnlich souverän wie Mandelbaum selbst das Ganze begreift, kommt es schließ-lich noch zum Showdown mit dem Geld, das leibhaftig auftritt wie der Steinerne Gast. Jesus persönlich tritt in cowboy-kluft auf und herrscht das Monster an: »›Ich habe dich schon mal aus einem tempel geprügelt. Erinnerst du dich?‹ drohte der Heiland. ›Ach das‹, lachte das Ungeheuer, ›das war vor zweitausend Jahren! Du ahnst nicht, wieviel stärker ich geworden bin!‹ – ›Mag sein. Aber

ich‹, sagte der cowboy Jesus kühl, ›kann inzwischen Kung-Fu!‹ Mehr mußte nicht geredet werden.« Erfolgreicher Wider-stand schließt in der Mandelbaumiade auch den Erlöser ein: Als Kämpfer.

Es wird dann doch noch ein bißchen geredet, z. B.: Als sich alles wieder eini-germaßen eingerenkt hat und der Kom-munist eine Gewerkschaft prekär Be-schäftigter gegründet hat, wird er »von einem kauzigen linken Blättchen« be-fragt, warum er sich dazu entschlossen habe, auf seine alten tage noch in die aktive Politik zu gehen. Antwort: »Was soll ich sonst machen, im Keller sitzen und mich übers Fernsehen aufregen?«

So endet das Märchen nicht, der Schluß mit schönem Jungen und jun-gem Mädchen wird nicht verraten. Die Mandelbaumiade ist ein lustiges Buch, in dem man Arno Schmidt und Peter Hacks, Hegel und Lenin Arm in Arm irgendwo als Mitautoren im Hintergrund vermuten darf. In den »Flüchtlingsge-sprächen« ließ Brecht den Physiker Zif-fel erklären, Hegels »Wissenschaft der Logik« sei »eines der größten humoristi-schen Bücher der Weltliteratur«, denn: »Es behandelte die Lebensweise der Be-griffe, dieser schlüpfrigen, unstabilen, verantwortungslosen Existenzen; wie sie einander beschimpfen und mit dem Mes-ser bekämpfen und sich dann zusammen zum Abendbrot setzen, als sei nichts gewesen.« Die Mandelbaumiade ist ein Buch über sehr reale Gegensätze, also eines, in dem alles drin ist.

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O Fortsetzung von Seite eins

Dietmar Dath: Deutsch­land macht dicht. Eine Mandelbaumiade. Mit Bildern von Piwi. Suhr­kamp Verlag, Berlin 2010, 201 Seiten, 17,80 Euro. www.rosalievollfenster.de

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junge Welt Mittwoch, 16. Juni 2010, Nr. 136 3l i t e r a t u r

Der Hamburger VSA-Verlag hat sich in den vergangenen Jahren zu einem der bedeu-tendsten Herausgeber linker

und vor allem gewerkschaftlicher Lite-ratur entwickelt. Ideologisch gesehen beschränkt er sich dabei allerdings weit-gehend auf keynesianisch orientierte Autoren, marxistische Analysen haben Seltenheitswert. Eine Ausnahme ist die soeben erschienene, von Jürg Ulrich ver-faßte Biographie des jungen trotzki.

Geschrieben hat Ulrich, Jahrgang 1930, das Buch bereits Anfang der neunziger Jahre. Der mittlerweile emeritierte Pro-fessor für Neuropathologie am Univer-sitätsspital Basel wollte damit »jungen, politisch interessierten Menschen die Entwicklung sozialistischer Ideen und Bewegungen zeigen; sie also über ein Stück Geschichte informieren, das mei-ner eigenen Generation selbstverständ-lich war«. Entsprechend ist der text ge-schrieben: leicht verständlich und kom-pakt, ohne allerdings sehr in die tiefe zu gehen. Die von dem russischen Revolu-tionär Leo trotzki vertretenen Positionen und theorien werden lediglich in ihren Grundzügen dargestellt. Mit den großen trotzki-Biographien von Isaac Deutscher und Pierre Broué ist der dünne Band da-her nicht vergleichbar. Dennoch kann er in der tat einen Beitrag dazu leisten, einer neuen Generation linker Aktivisten das Denken trotzkis näher zu bringen.

Die Geschichte des 1879 als Lew Dawi-dowitsch Bronstein in einem ukrainischen Dorf nördlich von Odessa geborenen trotzkis – daß sich russische Revolutio-näre falsche Namen zulegten, war wegen der zaristischen Repression üblich – ist beeindruckend. Schon mit 26 Jahren wur-de er zum Vorsitzenden des Petersburger Arbeiterrats gewählt, der sich im Zuge der ersten Russischen Revolution von 1905 gebildet hatte. Zu dieser Zeit hatte trotzki bereits jahrelange politische Arbeit in der Illegalität sowie eine erste Verbannung nach Sibirien hinter sich und wichtige Beiträge zur marxistischen theorie ge-liefert. Letzteres betrifft insbesondere ein gemeinsam mit dem Publizisten Parvus im Münchner Exil entwickeltes Konzept, das später unter dem Begriff »Permanen-te Revolution« bekanntgeworden ist.

Wenige theorien sind in der Geschichte der Arbeiterbewegung derart konsequent entstellt worden wie trotzkis Permanente Revolution. Die von ihm gewählte termi-nologie erklärt er selbst so: »Die perma-

nente Revolution in dem Sinne, den Marx diesem Begriff gegeben hat, bedeutet eine Revolution, die sich mit keiner Form von Klassenherrschaft abfindet, die bei der demokratischen Etappe nicht halt macht, zu sozialistischen Maßnahmen und zum Kriege gegen die Reaktion von außen übergeht, also eine Revolution, deren weitere Etappe in der vorausgegangenen verankert ist und die nur enden kann mit

der restlosen Liquidierung der Klassen-herrschaft überhaupt.«

trotzki wandte sich damit gegen die schematische Vorstellung der Revolution, wonach in allen Fällen erst die bürger-liche Demokratie erobert werden muß, bevor sich die Frage der sozialistischen Umgestaltung stelle. Ein solches Szena-rio sei im Rußland des Jahres 1905 (und später) aufgrund der Klassenverhältnisse unmöglich. Ulrich beschreibt: »In Ruß-land gab es nur ein schwaches Bürgertum, eine große, auf eine riesige Fläche ver-teilte Bauernschaft und ein zahlenmäßig

schwaches, aber in modernen Großbe-trieben konzentriertes Proletariat. Dieses konnte deshalb ein Klassenbewußtsein und damit verbundene Zukunftspläne ent-wickeln. Ihm war es bestimmt, die revolu-tionäre Führung zu übernehmen.« Anders als Lenin mit seiner Parole der »revo-lutionären demokratischen Diktatur der Bauern und Arbeiter« mutete trotzki der Bauernschaft demnach keine selbständi-

ge politische Rolle zu – obwohl diese in Rußland die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung stellte. Auch das russi-sche Bürgertum sei – anders als zuvor in der Französischen Revolution – aufgrund seiner Schwäche und Angst vor dem Pro-letariat nicht in der Lage, selbst die Auf-gaben der bürgerlich-demokratischen Re-volution (Landreform, bürgerliche Frei-heitsrechte, nationale Unabhängigkeit) zu erfüllen. trotzkis Schlußfolgerung: Das Proletariat müsse die Führung überneh-men und dabei von demokratischen zu sozialistischen Maßnahmen übergehen.

Eben dies geschah bei der Revolu tion von 1917: Das Proletariat begnügte sich nicht damit, demokratische Rechte zu er-kämpfen, sondern ging zur Inbesitznahme der Produktionsmittel und zur Planung der Wirtschaft über – übrigens in vielen Fällen von sich aus, durch die Sowjet-macht erst im Nachhinein durch entspre-chende Dekrete legitimiert. Ein weiteres Element der »Permanenz« – das zu dieser Zeit unter Marxisten noch völlig unstrittig war, bei den späteren Auseinandersetzun-gen mit Stalin aber eine gewichtige Rolle spielte – sah trotzki in der Notwendigkeit einer raschen internationalen Ausbreitung der Revolution.

Mit seinen »April-thesen« von 1917 hatte Lenin die Grundaussage der theo-rie der Permanenten Revolution, daß das in Arbeiterräten organisierte Proletariat selbst die Führung der Revolution über-nehmen müsse, in der Praxis nachvoll-zogen. In anderen Fragen war es um-gekehrt: So akzeptierte trotzki Lenins Konzept einer disziplinierten Kaderpartei erst, nachdem sich dieses im Zuge der Revolution von 1917 als überlegen heraus-gestellt hatte. Zuvor hatten er und seine Organisation, die »Interrayonisten«, jah-relang versucht, die Bolschewiki mit den reformistischen Menschewiki zu versöh-nen. Die offen konterrevolutionäre Rolle letzterer wurde spätestens mit der Fe-bruarrevolution von 1917 offensichtlich. Im Sommer desselben Jahres vereinigten sich Bolschewiki und »Interrayonisten«. trotzki selbst spielte eine herausragende Rolle in dem folgenden revolutionären Prozeß – unter anderem als Organisator der Roten Armee im Bürgerkrieg ab 1918.

trotzkis spätere Auseinandersetzung mit Stalin und seine Analyse der »büro-kratisch entarteten« Sowjetunion sowie die Gründung der »Vierten Internationa-le«, die sich nie zu einer Massenkraft entwickelte, streift Ulrich nur im Epilog. Nach der Lektüre des Bandes dürfte der geneigte Leser aber motiviert sein, sich auch mit diesen, historisch vielleicht noch bedeutenderen Leistungen trotzkis aus-einanderzusetzen.

Revolution in PermanenzÜber das Denken und Handeln des jungen Leo trotzki. Von Daniel Behruzi

Jürg Ulrich: Trotzki als junger Revolutionär. VSA Verlag, Hamburg 2010, 159 Seiten, 16,80 Euro

Gerd FuchsHEIMWEGEIm Rückblick auf seinLeben kristallisiert GerdFuchs einzelne Geschichtenheraus, die eine Autobio-grafie aus Momentaufnah-men ergeben. Ein poeti-scher Rückblick auf dasWerden eines Schriftstellersund seine Zeit.Gebunden, € 19,90

Patrick PécherotNEBEL AM MONTMARTREKriminalromanParis 1926. Derjunge erfolglosePoet aus dersüdfranzösischenProvinz »Pipette«schlägt sich mitkleinen Jobsdurch. Als ergemeinsam miteinem Trupp vonGelegenheits-gaunern einengeheimnisvollenToten entdeckt,beginnt er zurecherchieren undkommt einemWirtschafts- undErpressungsskan-dal auf die Spur. Zusammen mit seinem Freund Lebœuf,einem massigen Lumpensammler und Jahrmarktringer,versucht er in Paris für Gerechtigkeit zu sorgen.Broschiert, 192 Seiten, € 14,90

In jeder guten Buchhandlung | Mehr zum Programm: www.edition-nautilus.de Edition Nautilus

Robert BrackBLUTSONNTAGRoman

Am sogenannten»Altonaer Blutsonn-tag«, dem 17. Juli1932, kam es beieinem großenAufmarsch der SAdurch das traditio-nell rote Arbeiter-viertel zu Auseinan-dersetzungen mitder widerständigenBevölkerung. DiePolizei stellt dieOrdnung wiederher – sie erschießt18 Einwohner. KlaraSchindler, Reporterinund kämpferischeKommunistin, deckt

mithilfe eines verkrachten Kabarettisten, eines Straßen-mädchens und eines ehrenhaften Gauners die Vertu-schungen der Polizei auf und entschließt sich zur Rache.Broschiert, 256 Seiten, € 13,90

Pino CacucciBESSER AUF DAS HERZZIELENPino Cacucci erzählt vomkurzen aber tatenreichenLeben des Anarchisten,Metallarbeiters, Chauffeursdes Krimiautors ArthurConan Doyle und erstenautomobilen BankräubersJules Bonnot.Gebunden, € 19,90

Léo MaletSCHWARZE TRILOGIE

Alle drei Bändeder legendärenKrimi-Trilogie:komplett imSchuber: DasLeben ist zumKotzen, DieSonne scheintnicht für unsund Angst imBauch. Wie ineinem »film noir«hat Malet Parisund seinenGanoven, Rebellenund Liebenden einDenkmal gesetzt.»Léo Malet heißtder Mann, der in den 40er Jahren mitseiner ›Schwarzen Trilogie‹ die Ehre Europas, was dieSchattenseiten der menschlichen Fantasie betrifft,wiederhergestellt hat.« Bayerischer RundfunkSonderausgabe. Broschiert, 427 Seiten, € 19,90

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Mittwoch, 16. Juni 2010, Nr. 136 junge Welt 4 l i t e r a t u r

Nicht abstrakt, sondern sehr konkret schreibt der vielge-reiste Mediziner Klaus En-gert über die existentiell be-

drohlichste Krise, der die Menschheit heute ausgesetzt ist, nämlich die ökolo-gische Krise. Engert, der Afrika, Latein-amerika und Asien bereist hat, schreibt assoziativ, vergleicht gekonnt das Leben im saturierten Weste n mit dem in den Elendsquartieren der südlichen Halbku-gel. Dabei kommt er nicht mit dem er-hobenen moralischen Zeigefinger daher, sondern beschäftigt sich mit der Krise aus marxistischer Sicht.

Sein Interesse reicht dabei weit über das Problem des Klimawandels hinaus, und er findet noch viele weitere Argu-mente für den Ökosozialismus: etwa die permanente Beschleunigung des Alltags, die rasante Vermüllung des Planeten, ja die völlige Irrationalität der kapitalisti-schen Globalisierung. Aber er grenzt sich auch deutlich von dem politischen Sy-stem ab, das bis 1990 den sogenannten Ostblock dominierte. Er beschreibt, mit welcher Rücksichtslosigkeit gegenüber Menschen und Natur der Realsozialis-mus versuchte, mit der Produktivitäts-entwicklung im Westen Schritt zu halten.

Dabei hätten die Regierungen damals schon ihren Marx und Engels nicht rich-tig gelesen, meint Engert. Denn dann hät-ten sie wissen müssen, daß der Raubbau an der Natur einen hohen Preis fordern würde, wie Engels bereits in seiner »Dia-lektik der Natur« antizipierte. Mit diesem Werk, so Engert, sei bereits die Grund-lage für den »ökologischen Imperativ« gelegt worden.

Natürlich hat es auch im Realsozia-lismus wichtige Autoren gegeben, die sich mit der Frage der Ökologie be-schäftigten: Zum Beispiel Wolfgang Ha-rich, der über den »Kommunismus ohne Wachstum« schrieb und damit den aber-witzigen Produktivitätswettlauf in Fra-ge stellte. Engert würdigt die kritischen Geister des Ostens wie des Westens. So etwa auch das Werk des französi-schen Sozialphilosophen André Gorz, der schon früh den Autowahn aufs Korn nahm und seine Vorstellungen von Ar-beiterselbstverwaltung mit den Fragen der politischen Ökologie verband.

Das alles andere als trocken geschrie-bene Buch schreckt weder vor Bezü-gen zur Philosophie Immanuel Kants, noch zu dem »Forscher und Erfinder« Da niel Düsentrieb zurück. Vielleicht würden sich bürgerliche Freunde der Philosophie ob dieser Aufzählung brüs-kiert fühlen. Aber Engert wandelt nicht nur auf den Pfaden eines vergeistigten »ökologischen Imperativs«, sondern versucht auch seine Übersetzung in

den Alltag auf originelle Weise. Er lie-fert kein fertiges Konzept ab, aber hier kommt immerhin die comicfigur Dani-el Düsentrieb ins Spiel. Anhand dieses charakters beschreibt Engert, welche Auswirkungen der Zwang zu einer im-mer höheren Umlaufgeschwindigkeit des Kapitals hat: Düsentrieb jedenfalls stößt immer wieder auf das Problem, daß er auf Bestellung oder durch Erpres-sung eines Milliardärs – Dagobert Duck – innerhalb kürzester Zeit Erfindungen

entwickeln muß. Die werden auf Ge-heiß des Milliardärs eiligst zur Anwen-dung gebracht, obwohl Düsentrieb noch warnt, man sollte vielleicht erst einmal testen. Beinahe jede Erfindung zeitigt Kollateralschäden, manchmal auch öko-logische Kleinkatastrophen und landet schließlich auf dem Müll. Ein Schelm, wer dabei an Atomkraft, Gentechno-

logie und Kapitalismus denkt. Engerts Gegenmittel ist Entschleunigung – des Alltags, des Konsums, der Produktivität, des Verkehrs und vor allem der Arbeit.

Die Lektüre erheitert stellenweise, verliert dabei aber nicht die angemes-

sene Ernsthaftigkeit. Und Engert macht keinen Hehl daraus, daß es höchste Ei-senbahn ist: Der Kapitalismus rast auf den Abgrund des ökologischen Desa-sters zu – und uns bleibt nichts anderes übrig, als die Notbremse zu ziehen. Ein äußerst lesenswertes Buch, nicht nur für geschulte Marxistinnen und Marxisten, sondern auch für alle politisch Interes-sierten, die sich eingehender mit dem Problem des Klimawandels und mögli-chen Alternativen beschäftigen wollen.

Höchste EisenbahnKlaus Engert zieht die theoretischen Konsequenzen aus dem »ökologischen Imperativ« – eine vergnügliche marxistische Analyse. Von Gerhard Klas

Klaus Engert: Ökosozia­lismus – das geht! Neuer ISP Verlag, Köln 2010, 142 Seiten, 12,80 Euro

www.rogner-bernhard.deRogner &Bernhard bei Zweitausendeins Tel. 069-4208000 www.zweitausendeins.de

»Zwischen 17 und 142 Tote« soll es bei dem deutschen Bombardement in den Morgenstunden des 4. September südlich von Kunduz gegeben haben. So der bis heute immer wieder zitierte Nato-Untersuchungsbericht. Doch wen ließ Deutsch-land da eigentlich umbringen? Wieviele Opfer waren es wirklich?

Über Monate haben der stern-Korres pondent Christoph Reuter und der Foto-graf Marcel Mettelsiefen recherchiert, wer in jener Nacht unter welchen Umstän-den starb. Sie haben Dokumente der Toten gesammelt und ihre Angehörigen porträtiert. Dieser Band gibt den Toten von Kunduz ein Gesicht.

»Kunduz, 4. September 2009 holt weit über die reine journalistische Dokumen-tation hinaus die aktuellen Vokabel- und Mandatsdebatten buchstäblich auf den Boden der Tatsachen zurück.« Süddeutsche Zeitung

128 Seiten, Klappenbroschur, 109 Abbildungen, " 19,90ISBN 978-3-8077-1063-1

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Am 3. Juli 2010 erscheint:

Eberhard Czichon/Heinz Marohnunter Mitwirkung von Ralph Dobrawa

THÄLMANNEIN REPORT

1184 Seiten, 2 Bände im Schuberzum Preis von 32,– € ISBN 978-3-939828-56-3

Subskriptionspreis bei verbindlicher Bestellung bis 30. Juni 2010: 26,– €

Verlag Wiljo HeinenFranz-Mehring-Platz 1 • 10243 BerlinTel.: 030 / 47 38 02 59 • [email protected]

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BiBliothek des Widerstands100 Bücher mit den wichtigsten Filmen des Widerstands seit 1967

Mediabook 2: »Angela Davis – Eine Legende lebt« Regie: Christel Priemer/Ingeborg Weber, BRD 1998, 79 Min., auf DVD

»Angela Davis – Portrait of a Revolutionary« Regie: Yolande DuLuart, USA 1969, OmU, 60 Min., auf DVD

jungeWeltDie TageszeitungHerausgegeben vom LAIKA-Verlag

in Kooperation mit junge Welt

www.laika-verlag.dewww.jungewelt.de

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Freundeskreis Heinz Keßler: Die Sache aufgeben, heißt...Tb., 222 S., 10,– € · ISBN 978-3-939828-37-2 · [ Festschrift für H. Keßler ]➡www.gutes-lesen.de

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junge Welt Mittwoch, 16. Juni 2010, Nr. 136 5l i t e r a t u r

Mit ungläubigem Staunen verfolgen Europas Bürger in diesen Monaten der System- und Finanzkri-

se, wie sehr ihre gesellschaftlichen Eli-ten zu Arroganz, Machtmißbrauch und Korruption neigen. Mit welch bisweilen krimineller Energie sich Politiker, Ban-ker und Industriekapitäne gegen not-wendige Reformen stemmen – und wie erfolgreich sie darin sind, auch klein-ste Korrekturen im finanzwirtschaftli-chen Regelwerk zu verhindern. theodor Adornos Weisheit, daß man »Elite in Gottes Namen sein, aber sich niemals als solche fühlen darf«, hat in der Welt dieser sogenannten »Oberschicht« nie Gehör gefunden.

Wem nun die Lektüre von tages- und Wochenzeitungen für seine ganz per-sönliche Gesellschaftsanalyse nicht hin-reichend erscheint, der sollte sich in Momenten der Ungewißheit zum Studi-um über ein nur 600 Seiten dickes Buch der englischen Journalistin Michela Wrong beugen, das den titel »Jetzt sind wir dran – Korruption in Kenia« trägt.

Wrongs Buch ist sehr gut geschrie-ben und von Anna Latz ausgezeichnet übersetzt. Es liest sich wie ein Krimi-nalroman (was es ja eigentlich auch ist) und es mag einfachen, intelligenten Menschen in London, Berlin, Rom und Athen helfen, ihre gegenwärtige Situa-tion zu begreifen: In ihrer gesellschafts-theoretischen Dimension unterscheidet sie sich nicht mehr grundlegend von der ihrer Mitmenschen in einigen Ländern des Nachbarkontinents.

Die Autorin berichtet über die Jahre nach dem erzwungenen Abgang des Prä-sidenten Daniel Arap Moi, sie erzählt, wie dessen Nachfolger Mwai Kibaki, auf dem die Hoffnungen des ostafri-kanischen Volkes ruhten, nur Monate nach dem Regierungswechsel in Nai-robi genau dort weitermachte, wo sein verbrecherischer Vorgänger die Macht abgegeben hatte. Ihr Kronzeuge ist der frühere Journalist und spätere Minister zur Bekämpfung der Korruption, John Githongo – während der ersten Welle der Euphorie nach Mois Sturz im Jah-re 2002 auch »Antikorrup tionszar« ge-nannt. Githongo bemerkt sehr schnell, daß sich die neue Regierung, ohne zu zögern derselben techniken bedient, um öffentliche Mittel in die eigenen

taschen oder die der Familie, Freunde und Geschäftspartner umzuleiten. Statt mitzumachen, sammelt er Beweise – oft unter Lebensgefahr – und deckt einen von vielen großen Skandalen auf. Er muß fliehen und vertraut sich in London der Journalistin Wrong an.

Ihr Werk könnte auch als Anschau-

ungsmaterial für die these des franzö-sisch-italienischen Soziologen Vilfredo Pareto vom unvermeidlichen »Kreislauf der Eliten« dienen. Es berichtet vom Schicksal der Afrikaner, die nicht nur mit »Eliten« geschlagen sind, sondern darüberhinaus noch mit »Ersatzeli-ten«, die schon bereitstehen und nach ihrer Machtübernahme nichts anderes tun als ihre Vorgänger. Siehe Griechen-land, siehe Italien – siehe USA und Deutschland? Wrongs Annahme, daß sich Wandel und Führungswechsel in

»demokratisch« deklarierten aber dikta-torisch geführten Staaten, in ihrem Bei-spiel ist das Kenia, nur dann vollziehen lassen, wenn ein »Insider« die Initiative ergreift – einer, der alle Verbindungen und Netzwerke kennt und sie zu nutzen weiß – ist interessant und wird durch die Geschichte des aus der schwarzafri-

kanischen »Oberschicht« stammenden Githongo bestätigt.

Ihr zweiter Protagonist David Munya-

kei, ein unehelich im Frauengefängnis von Langata geborener Angehöriger der »Unterschicht«, scheiterte schon im An-satz mit seinem Versuch, als verantwort-licher Angestellter der kenianischen Zentralbank »ehrlich« zu sein und Be-

trugsfälle ohne Rücksicht auf Ansehen und Stellung der von ihm entlarvten täter öffentlich zu machen. Er wurde entlassen, erhielt auch nach dem Regie-rungswechsel von Moi zu Kibaki keine Arbeit mehr und starb schließlich mit 38 Jahren an Lungenentzündung, weil ihm das Geld für Medikamente fehlte.

Was den »Whistleblower«, den »Nest-beschmutzer« Githongo von Munyakei, dem Bruder im Geiste, unterscheidet, ist seine schon mit der Geburt vorgezeich-nete und abgesicherte berufliche Kar-riere, der damit verbundene Zugang zu politischen und wirtschaftlichen Macht-zirkeln und – viel wichtiger noch – die Möglichkeit, bei Gefahr für Leib und Leben das Land verlassen und bei Freunden im Ausland unterkommen zu können. Eine wenig überraschende Par-allele übrigens zum krisengeschüttelten Griechenland: Während der Militärdik-tatur in den Jahren 1967 bis 1974 konn-ten sich dort vor allem jene ins franzö-sische oder deutsche Exil absetzen, die entsprechende Mittel und Verbindungen hatten. Oder so bekannt waren wie der Komponist Mikis theodorakis. Die Un-terschiede hinsichtlich politischer Sitten in Afrika und Europa aber scheinen sich zunehmend zu verwischen. Wahr ist, daß Dissidenten oder Oppositionelle in Westeuropa heute normalerweise nicht um ihr Leben fürchten müssen – ausge-nommen vielleicht in Berlusconis Itali-en, wo nichts mehr unmöglich scheint.

Wahr ist und bleibt aber auch, daß die in Deutschland von fast allen politischen Par-teien so vehement verlangte Förderung von »Eliten« eine Demokratie in ihrer idealen Ausprägung nicht zu festigen, sondern zu schwächen und am Ende zu zerstören ver-mag. Weil Eliten und Korruption (letztere in ihren mannigfachen Formen) ein einzi-ges Paar Schuhe sind. Was Wrong, auf Ke-nia bezogen, ausführt, mag heute auch für die USA und Europa gelten: »Korruption kann eine ganze Gesellschaft destabilisie-

ren und zu Grunde richten. Korruption auf Regierungsebene ist kein unbedeutendes hitorisches Detail, sondern hat tatsächlich gewaltige Auswirkungen. Die kenianische Katastrophe hat dies auf extreme Weise deutlich gemacht.«

Der AntikorruptionszarMichela Wrong über den Kreislauf der Eliten: Die Geschichte des Kenianers John Githongo. Von Hansgeorg Hermann

Michela Wrong: »Jetzt sind wir dran«: Kor­ruption in Kenia. Die Geschichte des John Gi­thongo. Deutsch von An­na Latz. Edition Tiamat, Berlin 2010, 424 Seiten, 22 Euro

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Mittwoch, 16. Juni 2010, Nr. 136 junge Welt 6 l i t e r a t u r

Der Ende Januar im Alter von 87 Jahren verstorbene Howard Zinn war neben Noam choms-ky eine der bedeutendsten Figu-

ren der US-amerikanischen Linken. Als Hi-storiker und Verfasser einer erfolgreichen Geschichte des amerikanischen Volkes von unten sowie als engagierter Aktivist und unermüdlicher Vortragsreisender in Sachen »Freiheit und Democracy« war er ein wirk-lich populärer Intellektueller.

In der Edition Nautilus ist nun seine von Jürgen Schneider übersetzte Autobio-graphie mit dem paradigmatischen titel »Schweigen heißt Lügen« auf Deutsch er-schienen. Dem erstmals 1994 in Amerika publizierten text wurde in der deutschen Ausgabe ein vom Autor verfaßtes Nachwort angehängt.

Howard Zinn ist als charles Dickens lesender Sohn europäischer jüdischer Ein-wanderer in ärmlichen Verhältnissen »klas-senbewußt« in New York aufgewachsen. Dort kam er auch zum ersten Mal mit Kom-munisten in Kontakt, »ganz normale Bur-schen und gute Athleten«, die ihn auch zu seiner ersten Demonstration mitnahmen. Dort gelangte er durch den ersten Poli-zeiknüppel seines Lebens zu der Erkennt-nis, daß die Kommunisten Recht hatten, wenn sie behaupteten, »daß etwas grund-sätzlich falsch war in diesem Land. Es be-traf nicht nur die schreckliche Behandlung der Schwarzen, das Ganze war verrottet bis in die Wurzel… die alte Ordnung mußte beseitigt, eine neue Gesellschaft begründet werden – kooperativ, friedlich, egalitär.«

Als antifaschistischer Freiwilliger in den Krieg gezogen und als Bombenschütze an verheerenden Einsätzen über Europa betei-ligt, kam er als entschiedener Kriegsgegner wieder zurück. Dank seines Kriegeseinsat-zes gelang es dem ehemaligem G.I., zu studieren und Hochschullehrer zu werden. Ein Zufall war es dann, daß der junge weiße Professor für Geschichte und Politik aus New York city seine erste feste Stelle 1956 an einer Hochschule für ausschließlich schwarze Mädchen in Atlanta fand – einer von Rassentrennung geprägten Südstaaten-provinz.

Allein die Kapitel über die sieben Jahre, die er mit seiner Familie dort verbracht hat, lohnen die Lektüre des Buches; schon um zu verstehen, welch großen Mut selbst kleine Protest- und Widerstandsaktionen erforderten und unter welch hohem Preis selbst geringste Erfolge im Kampf gegen die Rassensegregation erzielt wurden. Die existentielle Radikalität der aus heutiger Sicht scheinbar moderaten Protestformen läßt sich kaum noch nachvollziehen: »Ich begriff bald, daß sich hinter der Höflichkeit und dem Anstand meiner Studentinnen ei-ne lebenslange Empörung verbarg.« Sit-ins

waren noch keine mehr oder weniger unter-haltsamen Sitzstreiks, sondern der riskante Besuch eines nur für Weiße reservierten Schnellimbisses durch schwarze Kunden.

Unter einer Politik der kleinen Wider-standsaktionen und bescheidenen Kampa-gnen verstand Zinn eine subversive Alltag-spraxis, die den herrschenden Konsens der Macht aufbrechen und zu »einer mit un-beugsamer Ausdauer betriebenen Aushöh-lung der verkrusteten Regeln der Rassen-trennung« führen sollte: »Mir wurde klar, daß keine noch so kleine Mahnwache, kei-ne schwach besuchte Versammlung, keine Diskussion der eigenen Vorstellungen, ob in großem Rahmen oder mit einem ein-zelnen, als unbedeutend abgetan werden kann.« Schließlich habe der massenweise Kampf gegen den Vietnamkrieg auch mal so angefangen. Und unter anderem mit der Frage, so Zinn, warum die US-Armee im fernen Südostasien und nicht zur Verteidi-gung von Freiheit und Demokratie seiner schwarzen Bürger im eigenen Lande ein-gesetzt werde.

Manches geht in der langen Aufzählung aller möglichen treffen, Demonstrationen, Prozesse, Gutachten und Aktionen fast un-

ter, ist aber bezeichnend für die Rolle, die Zinn sich selbst dabei gab. Zum einen wird beiläufig ein tonbandgerät erwähnt, mit dem er ein Interview mit Aktivisten aus der Friedensbewegung aufnahm. Wenn Politik heißt, daß Geschichte gemacht wird, was gibt es da Besseres für den Historiker, als dies aufzuzeichnen und dabei den Akteu-ren auch eine geschichtliche Dimension mitzugeben? Zum anderen spricht er vom Erkenntniswert, den diese Praxis, neben dem schon erwähnten Polizeiknüppel und einem Gefängnisaufenthalt, hat. Eine gute Ausbildung sei nämlich eine »Synthese aus dem Studium von Büchern und sozialer Aktion.«

Angesichts all der Niederlagen und Schrecken, die die Menschheit bei dem Versuch, sich zu emanzipieren, durchleiden mußte, wirkt Zinns Geschichtsoptimismus verwunderlich. Wenn er aber davon erzählt, wie er gemeinsam mit einem schwarzen Freund von einer Kellnerin bedient wurde, die den rassistischen Button mit der Auf-schrift »Niemals!« trug, wird nachvollzieh-bar, was er meint: »Es hatte sich bereits et-was geändert in Alabama, denn sie brachte uns unseren Kaffee.«

Kaffee in Alabama»Diese Kommunisten hatten Recht«: Howard Zinn erzählt aus seinem Leben im Kampf gegen die Rassentrennung. Von Reinhard Sauer

Howard Zinn: Schweigen heißt Lügen. Autobio­graphie. Aus dem Engli­schen übersetzt von Jür­gen Schneider. Edition Nautilus, Hamburg 2010, 288 Seiten, 22 Euro

Die Welt im Jahr 2030. Felix Steiner lebt ein gewöhnliches Leben. Er hat eine beinahe perfekte Freundin,

eine schöne Wohnung in einer Stadt wie jede andere. Doch sein Alltag gerät aus den Fugen, als sich in den Medien Meldungen über seltsame Morde und das plötzliche Ver-schwinden von Menschen häufen. Felix ver-folgt die Berichte, doch sie scheinen nichts mit seinem Leben zu tun zu haben – bis er selbst verschwindet und in einem Kranken-haus in einer fremden Welt erwacht.

Zu seiner großen Überraschung wird er noch am selben tag entlassen und nach Hause geschickt. Dort stellt er entsetzt fest, daß er bereits seinen Platz in dieser Paral-lelwelt hat. Er hat eine Frau, einen Sohn und einen Job. Nur sein eigenes Gedächtnis zeugt davon, daß er einmal ein anderes Le-ben gelebt hat. Doch die neue Welt ist keine gewöhnliche. Felix Steiner ist in einer Dik-tatur gelandet, deren grausames Regime Andersdenkende verfolgt. Hilflos versucht er sich zunächst zu integrieren. Lebt das Leben, das ihm vorbestimmt ist. tag für

tag arbeitet er als Angestellter im grau-en Verwaltungsapparat des Regimes, bis er feststellt, daß er nicht der einzige ist, für den die Diktatur nicht Alltag, sondern Aus-nahmezustand ist. Er findet Gleichgesinnte und schließt sich einer Widerstandsgruppe, den so genannten »Spionen«, an… Bastian Wierziochs Debütroman »Doch Dunkel« ist eine Gratwanderung. Das beinahe an Sci-ence Fiction erinnernde Szenario der Dikta-tur könnte künstlich wirken, gelänge es dem Autor nicht, diese Parallelwelt aus der Per-spektive seines Protagonisten auch für den Leser unmittelbar erlebbar und plausibel zu machen. Selten schafft es ein Roman, seiner Hauptfigur so nahe zu kommen, wie dem Felix Steiner in »Doch Dunkel«. Der Leser wird so abrupt in die Handlung hineingezo-

gen wie der Protagonist in die »schöne neue Welt«. Dies ist auch der außergewöhnlichen Form des Romans zu verdanken. Formal erinnert der text an ein Hörstück oder ein Drehbuch, Wierzioch versteht sein Hand-werk hervorragend. Er ist Radiojournalist, Autor mehrerer Fernsehdokumentationen zum thema Rassismus und Rechtsextre-mismus und setzt mit seinem Debütroman nun auch literarisch hohe Maßstäbe. »Doch Dunkel« fordert seine Leser. Man muß sich in den unkonventionellen Stil sprichwört-lich hineinlesen. Ist das einmal geschafft, läuft die Handlung wie in einem Film vor dem inneren Auge ab.

Diese Unmittelbarkeit ist es, die eine Distanzierung von der scheinbar fremden Welt der Diktatur unmöglich macht und

dadurch Rückschlüsse auf das eigene Le-ben zuläßt. Neben erkennbaren Elementen, die auf verschiedene totalitäre Regime, wie Nordkorea oder das Dritte Reich anspie-len sowie erschreckenden Zukunftsszena-rien à la George Orwell, enhält der Roman auch Verweise auf unseren Alltag im Hier und Jetzt. Überwachung, Repression, Ras-sismus, Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten sind teil unserer Welt. Wo hört Freiheit auf? Womit finden wir uns bereits ab? Wie handeln wir, wenn wir uns überwacht wähnen? Was geben wir auf? Große Fragen unseres Alltags, auf die »Doch Dunkel« im Gegensatz zu den meisten anderen Büchern mit ähnlichen thematiken, keine großen Antworten parat hat. Man kann sie sich beim Lesen stellen, muß es aber nicht. Der Roman führt Me-chanismen vor Augen und tut das niemals abstrakt oder exemplarisch, sondern sehr konkret und aus seiner Geschichte heraus. Mit »Doch Dunkel« hat Bastian Wierzioch ein sperriges, aber gerade deshalb unbe-dingt lesenswertes Buch geschrieben.

Gefühlte DiktaturBastian Wierzioch geht in »Doch Dunkel« auf tuchfühlung mit einem fiktiven totalitären Regime. Von Anna Dumange

Bastian Wierzioch: Doch Dunkel. Plöttner Verlag, Leipzig 2010, 139 Seiten, 14,90 Euro

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junge Welt Mittwoch, 16. Juni 2010, Nr. 136 7l i t e r a t u r

Helmut Salzinger – dieser Name hat einen gewissen Klang. Besonders deutschen Beat-Autoren beginnen bei

seiner Erwähnung die Augen zu glän-zen. Salzinger, das ist die alte, die gute, alte Zeit. Salzinger fungierte seit Mitte der sechziger Jahre als Sprachrohr der aufkommenden Popkultur in den Main-stream-Medien und legendär ist seine »Jonas Überohr«-Kolumne in Sounds, der ersten bedeutenden deutschen Pop-Postille.

Nun hat Frank Schäfer einen Sam-melband mit Essays und Rezensionen des 1993 viel zu früh verstorbenen Sal-zinger aus den Jahren 1966 bis 1982 herausgegeben, und das ist erst mal ungewöhnlich: das Best-of eines Kriti-kers? Wenn Kritiker nicht mehr da sind, schreit kein Hahn mehr nach ihnen. Selbst wenn Reich-Ranicki nicht mehr da ist, wird kein Hahn mehr nach ihm krähen. Wieso nach Salzinger?

Dafür gibt es tatsächlich einige gu-te Gründe, denn Salzinger ist anders: seine texte sind, wie es im Nachwort heißt, eine »Art EKG der intellektuellen Erregungszustände der Zeit« gewesen – also Stimmungsparameter der jüngeren Kulturgeschichte, welche die Bewußt-seinsstufen der sechziger bis achtziger Jahre getreu dokumentieren und zudem so etwas wie eine Psychogenese, ein Psychogramm und eine Psychohistorie der pop- und subkulturellen Bewegun-gen darstellen.

Salzinger hat sich im übrigen nicht bloß auf eine Kunstsparte beschränkt, sondern fühlte sich gleichermaßen für Musik, Literatur und bildende Kunst zuständig, berichtete also über die neue-sten Bands ebenso wie über (vornehm-lich) amerikanische Literatur (thomas Pynchon, truman capote, Hubert Sel-by, Norman Mailer) und den Siegeszug der Pop Art.

Wie er das tat, war außerordentlich, schon stilistisch: Insbesondere in sei-nen längeren Abhandlungen erweist er sich als treffsicherer Ironiker. Dazu die Methode: Salzinger operiert nicht nur als guter Hermeneutiker, der sich in unterschiedlichste Sujets optimal ein-fühlt, nein, er argumentiert ideologie-kritisch, mit Benjamin und Marcuse, und er tut das auf angenehm entspannte,

unideologische Weise. Dadurch gelingt es ihm die Wirkungsmechanismen und Lügenmodelle des Kulturbetriebs offen-zulegen. Gerade aus dieser Perspektive ist seine Auseinandersetzung mit Mar-cel Reich-Ranicki ein absolutes High-light – mit triefendem Spott überzieht Salzinger dessen Anti-Avantgardismus und theorie feindlichkeit sowie sein Plädoyer für eine »zurückhaltende Ge-sellschaftskritik«, ein Originaldiktum unseres größten lebenden Kritikers, das gleichsam als Leuchtschrift für den Re-zensentenduktus auch der heutigen Zeit gelten kann. Darf’s auch ein bißchen mehr sein? Nein, lieber nicht. Von allem nur ein bißchen, ein bißchen Stil, ein bißchen Frieden, ein bißchen Kritik.

Salzinger amüsiert sich blendend (und uns mit) über den Zentralbegriff in Reich-Ranickis »literaturkritischem« Kriterienkatalog: nämlich ob »ihn« etwas »gelangweilt« hat oder nicht. Gleichzeitig spricht Salzinger ihm aber eine wahre Kritikfähigkeit ab, wirft ihm vor, seine vorgeblichen Fallbeilurteile seien doch immer nur Pseudo-Verrisse, die an anderer Stelle gemildert würden, er wolle es sich halt mit niemandem verderben, typischer Fall von charak-termaske, ein »organischer Intellek-tueller«, um mit Antonio Gramsci zu reden. Leider hat sich Salzingers Resü-mee in dieser Sache nicht bewahrheitet: »Ich glaube aber, die Zeiten, in denen man über Marcel Reich-Ranicki noch streiten konnte, sind unwiederbringlich dahin.« Hätten 1968 mehr Menschen Salzinger im WDR zugehört, uns wäre einiges erspart geblieben.

Auch die RAF kriegt ihr Fett weg, schon früh hat Salzinger, trotz aller Systemkritik, begriffen, daß dies nicht der richtige Weg sein konnte, und er verweigerte vehement, sich dem Kon-sequenzdiktat der damaligen Linken zu unterwerfen: »Gewöhnlich sind es ja Schwachköpfe, die nicht bloß davon reden, man müsse endlich was tun, ak-tiv werden, sondern dies auch in die tat umsetzen, und was sie dann tun, beweist, daß sich mal wieder die akti-ven Schwachköpfe ans Werk gemacht haben.« – Eine Diagnose, erschienen im Jahr 1975. Ein anderes thema, dem Salzinger sich immer wieder widmete, ist die Rolle des Kritikers, also seine ei-gene Position, die er luzid und selbstkri-tisch problematisierte. Sein involvierter, zugleich vorurteilsfreier Blick auf die »Szenen« seiner Zeit dürfte besonders für Leute, die nach 1980 geboren sind, von Interesse sein, erlauben seine texte doch endlich mal einen unverstellten, unverklärten Zugang auf die Ereignisse, ästhetischen Erzeugnisse und Lebens-kulturen von damals.

Kurz: Das Ganze ist richtig prima. Frank Schäfer hat ein ausführliches, sehr instruktives Nachwort geschrieben, und das praktische Pocket-Hard-cover, in dem der Hamburger Verlag Philo Fine Arts das Buch herausgebracht hat, ist ebenso lektüre- wie reisetauglich. Kaufen, lesen, weiterdenken.

EKGHelmut Salzinger über die intellektuellen Erregungszustände seiner Zeit: Ein »Best of Jonas Überohr« ist im Verlag Philo Fine Arts erschienen. Von Enno Stahl

Helmut Salzinger: Best of Jonas Überohr. Popkri­tik 1966 – 1982. Hrsg. von Frank Schäfer. Philo Fine Arts, Hamburg 2010, 350 Seiten, 16 Euro

Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich«, sagt ein Sprich-

wort aus Uganda. Eine Aufforderung zum positiven Denken, die die Ein-wohner des afrikanischen Kontinents nur allzu gut brauchen können, glaubt man den medialen Bildern von Hunger, Elend, Krieg und Naturkatastrophen.

Doch fernab der Schlagzeilen gibt es auch ein anderes Afrika. Das ist geprägt von den Menschen, die sich, allen Wid-

rigkeiten zum trotz, nicht geschlagen geben, sondern mit Mut und tatkraft das eigene Schicksal in die Hände neh-men.

Birgit Virnich hat sie in ihrer Repor-tagensammlung »Ein Fahrrad für die Flußgötter«, die im »A1 Verlag« erschie-nen ist, beschrieben. Die in Südafrika gebürtige langjährige ARD-Korrespon-dentin ist für ihr Buch durch 39 afrika-nische Staaten gereist, um ein anderes, differenziertes Bild des Kontinents zu zeichnen. Herausgekommen ist dabei eine eindrucksvolle Zusammenstellung

von einfühlsamen Reportagen, die sich jeweils einer einzelnen Person widmen.

Virnich führt uns zu höchst unter-schiedlichen Kulturkreisen und Men-schen: So begleiten wir einen jungen tuareg zu einer Hochzeit und erfah-ren von seinem zweigeteilten Leben als motorisierter touristenführer und traditioneller Wüstensohn. Wir lernen Manu Diouf aus Dakar kennen, der mit seiner Rapmusik junge Senegalesen von der gefährlichen Überfahrt nach Europa

abhalten will. Mit den Frauen im ke-nianischen Kibaki, dem größten Slum Ostafrikas, gehen wir auf den Fußball-platz und lernen, wie aus Müllhalden Gemüsegärten werden. Und wir treffen auf connie Bwiza aus Ruanda, die als demokratische Politikerin den Spagat zwischen Aufarbeitung des Genozids und der Aussöhnung zwischen Opfern und tätern zu vollbringen versucht…

Egal ob ehemaliger Kindersoldat, verarmter Fischer oder Sozialarbeiter für verstoßene »Hexenkinder« – ihnen allen begegnet Virnich auf wohltuend

zurückhaltende Weise und läßt deren Schicksale für sich sprechen. Mitfüh-lend, aber ohne eurozentristische Über-heblichkeit, berichtet sie so über die Kreativität, die Energie und die schein-

bar grenzenlose Geduld, mit der die Menschen trotz schier unüberwindli-cher traumata und alltäglicher Nöte das eigene Leben meistern und die Zukunft ihres Kontinents gestalten.

Müllhalden zu Gemüsegärten»Ein Fahrrad für die Flußgötter«: Birgit Virnich berichtet über Afrika jenseits der Schlagzeilen. Von Mona Grosche

Birgit Virnich: Ein Fahr­rad für die Flußgötter. Reportagen aus Afrika. A1 Verlag , München 2010, 223 Seiten, 19,80 Euro

Wiljo Heinen: Geld – Markt – Illusion Über »Marktwirtschaft«Pocket, 174 S., 5,– € · ISBN 978-3-939828-28-0➡www.gutes-lesen.de

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Mittwoch, 16. Juni 2010, Nr. 136 junge Welt 8 l i t e r a t u r

Es gibt Sätze, die sind so entlar-vend wie fürchterlich: »Ich muß damit anfangen, daß Pickler, seit

sie ins System gekommen ist, ständig auf der Flucht war«, sagt die Direktorin des ungarischen Kinderheims, aus dem die vierzehnjährige Pickler, ein Mäd-chen, dem ihre Umgebung den Vorna-men verweigert, immer wieder ausreißt, um zu ihrer Mutter zurückzukehren. Wie kommt man ins System und was ist das überhaupt? Kriszta Bódis, Jahrgang 1967, in Budapest lebende freischaffen-de Regisseurin für Dokumentarfilme und Schriftstellerin, erzählt in ihrem zweiten Roman »Artista« – das Buch war in Un-garn auf den Bestsellerlisten –, wie eine Jugend buchstäblich gestohlen und miß-braucht wird. Das ist das System. Natür-lich will es nur integrieren, und natürlich gibt es auch die, die es doch bloß gut meinen. Besser wird davon nichts, und Pickler wird nicht als einzige in Bódis erschreckendem und kühn konstruiertem Buch sterben. Zu Beginn der Erzählung ist die Katastrophe längst passiert. Die

Psychologin Judit führt Interviews mit den Beteiligten und Verstrickten, die in verschiedenen Stimmen von dem erzäh-len, was vor Picklers »Salto mortale« geschah.

Judit läßt den alkoholisierten und ob-dachlosen Vater zu Wort kommen: »Ich werde nie vergessen, als das Kind gebo-ren war und sie sagten: ›Herr Pickler, es ist ein Mädchen‹ – ›Egal‹, hab ich gesagt. Hauptsache es ist gesund, das soll es sein. Meine liebe Ehefrau zur Ärztin, das werde ich nie vergessen: ›Was soll ich jetzt damit?‹ Darauf die Ärztin: ›Lieben Sie sie‹.« Als Pickler zwei Jahre alt ist, wird sie von der Mut-ter das erste Mal dem Staat überantwor-tet. Es ist ausgerechnet die tochter, die später versuchen wird, der geschiede-nen und haltlosen Mutter eine Stütze zu sein. Die Erwachsenen in »Artista« sind gründlich Gestrandete. Ihre Kinder ma-chen es ihnen nach und haben die Welt bereits bestens begriffen. Janó, einer der Freunde Picklers, er wird zum Geliebten der Psychologin: »Als kleiner Knirps

habe ich jeden Abend um ein Fahrrad gebettelt. Dann bin ich draufgekommen, daß Gott so nicht funktioniert. Hab mir ein Fahrrad geklaut und zu Gott gebe-tet, daß er mir vergibt.« Wer das lustig findet, sollte bis zur Insassin Berti wei-terlesen. Sie zeichnet »immer dasselbe. Gaskammern, Baracken, Stacheldraht. Dann einen Friedhof.«

Die Kinder als Opfer zu bezeichnen, wäre zu leicht und hieße, sie zu ernied-rigen. Sie sind Beute. Mister D., einer der Erzieher, entpuppt sich nicht nur als lächerlich-gescheiterter Künstler, der Pickler mit seiner Privatesoterik nervt. Er ist schlicht ein Schwein, das daran verdient. Das System muß geölt werden und hat keinen Notausgang: Selbst die Drogen, in die sich die Kinder flüchten, gehören dazu. Dabei gibt es ein anderes Leben in »Artista«. Pickler, vom Für-sorgepersonal als »deviant und mensch-lichen Worten unzugänglich« einge-schätzt, will Akrobatin werden. Die Ar-tistenschule müsse sie sich verdienen, heißt es in der Logik des Systems. Aber

braucht sie überhaupt eine Ausbildung? In ihren Kunststücken tut sie, was nicht vorgesehen ist. Und es sind dann die Zi-geuner, zu denen sie ausreißt, die sie mit »Artista« anreden. In der Großfamilie, die Pickler aufnimmt, erlebt sie – die meint, »ich habe noch keinen normalen typen getroffen. Und wenn ich einen treffen würde, könnte es sein, daß ich ihm nicht glaube« – Nähe einmal nicht als Illusion und Hohn. Argwöhnische Leser könnten vermuten, hier werde am Mythos der edlen Wilden gestrickt. Dar-um geht es aber nicht. Und vor allem geht es nicht anders: Die verachteten Zigeuner, die im Plauderton von Ord-nungswidrigkeiten reden und dabei sehr wohl über ein Regelwerk verfügen, sind in »Artista« diejenigen, deren Welt zwar im Umbruch, aber nach menschlichen Maßstäben normal ist. Pickler geht zu denen, die selbst staatlicher Zurichtung ausgesetzt sind. Daß sie bleiben könne, wünscht man ihr. Daß das System sie nicht loslassen wird, ahnt man an dieser Stelle bereits.

Deine Jugend gehört dir nicht Kriszta Bódis’ Roman »Artista« über das kurze Leben eines ungarischen Heimkindes. Von Robert Mießner

Kriszta Bódis: Artista. Aus dem Ungarischen von Christina Kunze. Voland & Quist (Reihe Sonar), Dresden und Leipzig 2009, 272 Seiten, 19,90 Euro

Patti Smith wollte offenbar keine richtige Autobiographie schrei-ben – und das ist das kleine Manko dieses schönen Buches,

das man ihm nicht einmal ankreiden darf. Smith hat sich vorgenommen, ein Bild ihrer Liebe und Seelenverwandtschaft zu Robert Mapplethorpe zu zeichnen, und kann sich aus diesem Grund vielen Aspekten ihrer Vita nur unzureichend oder gar nicht widmen. Vielleicht liegt es daran oder an ihrer Bescheidenheit, daß sie etwa über die eigene künstlerische Arbeit immer nur sehr beiläufig spricht. So richtig überzeugt von ihrer Bestim-mung scheint sie denn auch lange nicht gewesen zu sein. »Überall lagen Platten herum, die besprochen werden wollten. Die Wand war zugepinnt mit meinen Helden, aber meine eigenen Bemühun-gen waren alles andere als heldenhaft. Ich saß auf dem Fußboden und versuchte zu schreiben, schnippelte aber stattdes-sen an meinen Haaren herum.«

Konkreter wird es selten. Und so er-fährt man hier eher wenig über ihre er-sten schriftstellerischen Gehversuche in den späten Sechzigern als Kritikerin für die renommierten US-Rockmagazine, für Creem, Crawdaddy, Circus und bald auch den Rolling Stone, die ja für ihre darauf folgende Karriere als Musikerin nicht ganz unwesentlich gewesen sein

dürften. Auch ihr erster Lyrikband »Se-venth Heaven« hat sich offenbar von selbst geschrieben, über die Genese ein-zelner texte verliert sie kaum ein Wort. Und was sie zu den Entstehungsbedin-gungen ihres legendären Debütalbums »Horses« zu berichten weiß, hätte auch gern doppelt so umfangreich sein kön-nen. Man hätte sich einfach ein bißchen mehr Auskunft darüber gewünscht, wie die naive Landpomeranze, die wegen eines unehelichen Kindes, das sie dann zur Adoption freigibt, aus der bigotten Provinz nach New York flüchtet, auf ein-mal zur Rockliteratin mutiert.

Was den Erfolg macht, registriert sie dann aber ziemlich scharf. Sie schneidet sich die Haare wie Keith Richards, und mit diesem androgynen Look nimmt man sie plötzlich wahr in der New Yorker Prä-Punk-Szene. Als sie dann noch bei ihrer ersten Dichterlesung in der ehrwürdigen St. Mark’s church den E-Gitarristen Len-ny Kaye mitbringt, der ihre Verse mit

»krachenden Akkorden und Feedback-Heulen« untermalt, ist sie plötzlich eine Underground-Sensation. »Ich wollte das geschriebene Wort mit der Unmittelbar-keit des Rock’n’Roll aufladen – ein Fron-talangriff.« Und das wird von der jungen Avantgarde entsprechend honoriert. We-nig später auch vom Mainstream.

Im Grunde aber interessiert sie sich immer mehr für andere Künstler. Für ihr großes Vorbild Rimbaud etwa, auf des-sen Spuren sie wandelt, um von seinem Ge nius beseelt zu werden – aber wie-der bringt sie nichts zu Papier. Für den Beat-Lyriker Gregory corso, der sie eine Weile unter ihre Fittiche nimmt. Für all die längst vergessenen Gäste des chelsea-Hotels, dessen inspirierende kreative At-mosphäre sie hier ganz plastisch nachzu-zeichnen weiß. Für die zweite Generation von Andy Warhols Factory-Belegschaft, mit der sie Abend für Abend feiert. Für Sam Shepard, den damals schon be-rühmten Off-Broadway-Dramatiker, mit

dem sie ein Verhältnis hat. Diese kleinen Porträts und Milieuskizzen machen das Buch so wertvoll. Was sie über Robert Mapplethorpe zu sagen hat, ist reine, sich bisweilen auch stilistisch etwas im hohen ton vergreifende Hagiographie.

Offenbar haben beide einander ge-braucht: Mapplethorpe die unbedingt von seinem Genie überzeugte Muse, die sich in den harten Jahren im Under-ground auch finanziell für ihn aufopfert; und Smith eine stete Inspirationsquelle und Autorität, die sie immer wieder for-dert und so ihre Produktionshemmungen überwinden läßt.

»Just Kids«, schreibt Patti Smith im Nachwort, sei die Einlösung eines Ver-sprechens, das sie ihrem Freund kurz vor seinem tod gegeben habe. Es spricht für die Qualität der Autorin, daß aus dem Versuch, »unsere Geschichte aufzuschrei-ben«, deutlich mehr geworden ist als eine nachgereichte Liebeserklärung und das erwartbare Requiem.

Der FrontalangriffIn »Just Kids« setzt Patti Smith ihrem verstorbenen Künstlerfreund Robert Mapplethorpe ein Denkmal. Von Frank Schäfer

Patti Smith: Just Kids. Die Geschichte einer Freundschaft. Aus dem Amerikanischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Kie­penheuer & Witsch, Köln 2010, 331 Seiten, 19,95 Euro

Am 11.03.2010 erschienen!GegenStandpunkt 2-10

Aus dem Inhalt:

Der WertIn unseren Artikeln zur Finanzkrise und zum Finanzkapital haben wir unseren Lesern Einsichtenwie die zugemutet, dass die Bewirtschaftung von Wertpapieren ein Wachstum eigener Art hervor-bringt, das sich den Titel „Blase“ nur dann einhandelt, wenn etwas schiefgeht. Tatsache ist ja, dassdas Finanzkapital handelbare Rechtsansprüche auf Erträge akkumuliert, die mit der Produktionvon Mehrwert nie und nimmer einzulösen wären. Tatsache ist auch, dass die massenhafte Entwer-tung solcher Anspruchstitel die gesamte Geldwirtschaft in Gefahr bringt, deswegen von den zu-ständigen Staatsgewalten mit einer gigantischen Wertgarantie abgewendet wird und dann sogarderen Garantiemacht in Frage stellt – ein deutlicher Beleg dafür, dass es sich bei diesen Wertob-jekten nicht um eigentlich ungedeckte, „letztlich“ nichtige Ansprüche handelt, sondern um den„Kern“ des marktwirtschaftlichen Reichtums, der auf keinen Fall eine „Schmelze“ erfahren darf.Einige kritische Leser werfen uns gleichwohl vor, dass das, was wir über den Wert finanzkapitalis-tischer Geldanlagen sagen, unverträglich sei mit dem, was sie bei Marx über „wertschaffende Ar-beit“ gelernt haben. Weil wir in dessen Kritik der politischen Ökonomie des Kapitals die theoreti-sche Grundlage für unsere Kritik des Finanzkapitals gefunden haben, sind wir uns dagegen sicher,Inhaltsverzeichnis mit weeiteren Artikeln:

http://www.gegenstandpunkt.com/gs/10/2/gsin102.pdf

dass es an Unklarheiten beim Verständnis der Marx’schen Erklärung des „Werts“ liegt,wenn unsere Erläuterungen des Finanzkapitals als Widerspruch zu Marx verstandenwerden. Deswegen ein grundsätzliches Angebot zur Klärung des „Werts“, also derwidersprüchlichen Form des gesellschaftlichen Reichtums und der Arbeit im Kapita-lismus, – für Marx-Leser und andere Interessierte.Ideologien über Konsum und Konsument in der MarktwirtschaftWas über den Konsum vermeldet wird, ist so merkwürdig wie aufschlussreich: Desöfteren muss er z.B. „angekurbelt“ werden, wird also gefordert, damit das Wachstumvorankommt. Offenbar ist er er nicht Zweck, sondern Mittel, um Geschäfte in Gang zubringen und zu halten. Als Anschub kommt denn auch eine Größe auf keinen Fall inBetracht: mehr Einkommen der arbeitenden Menschheit. Daneben hält sich vielmehrdie umgekehrte Sicht: Unversehens finden sich Menschen, die nicht recht wissen, wiesie über die Runden kommen sollen, in einer „Überflussgesellschaft“ wieder. Der Kon-sument – in seinen Entscheidungen frei, aber durch sein Einkommen beschränkt – sollmit dem, was er sich privat leistet, überhaupt für alle möglichen Übel wie Umweltschä-den usw. mitverantwortlich sein, mit seiner „Konsumentenmacht“ die aber auch korri-gieren können – per Einkauf. Das ist theoretisch verkehrt und praktisch wirkungslos.Der GegenStandpunkt führt den Nachweis und zer- und widerlegt einige der gängigenIdeologien zur „Konsumgesellschaft“.Für 15 € zu beziehen über den Buchhandel oder durch Bestellung anGegenStandpunkt Verlags Gesellschaft mbH, Kirchenstr. 88, 81675 München,Tel.: 089-2721604; Fax: 089-2721605; Email: [email protected]

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junge Welt Mittwoch, 16. Juni 2010, Nr. 136 9l i t e r a t u r

Der Wiener Songdog-Verlag hat letz-tes Jahr einen Band mit Gedichten Franz Doblers publiziert und seit-

dem den Markt in rasant-tollkühner Weise mit hübschen Bänden attackiert, die gro-ße Aufmerksameit verdienen. Und schon wieder haben die Wiener Feldforscher ein Pique-As aus dem Ärmel geschüttelt. Es ist der Band mit »Irischen Stories« von Mick Fitzgerald. Bei Leuten, die es wert sind, gelesen zu werden, soll man nicht knausern – der Band ist sowohl auf deutsch wie auch in englischer Sprache erhältlich.

Fitzgerald ist bislang vor allem als Musi-ker, Journalist und Schauspieler in Erschei-nung getreten. »Literarisches« Schreiben war anscheinend was für die blauen Stun-den. Oder sagen wir: Der Mensch muß essen. Fitzgerald stammt aus einer klas-sischen Künstlerfamilie. Die Mutter sang und spielte Piano im irischen Radio der dreißiger Jahre. Der Vater sang ein bißchen in Varietés, war aber eigentlich Arbeiter an den Docks. Beide Omas spielten die Konzertina, eine Art kleine Ziehharmoni-ka. Und ein Opa vergaß sich frenetisch im Stepptanz. Es konnte losgehen.

In den Siebzigern studierte Mick Fitz-gerald Sprachgestaltung und Schauspiel in Dublin. Sein irischer Kollege Ray McAn-nalay soll ihn dabei von der Bank gegenüber mit durch Kugelschreiberhüllen gepusteten Wattekügelchen drangsaliert haben. Ver-wunderte nicht: McAnnalay spielte später an der Seite De Niros in dem unsäglichen Streifen »the Mission«, in dem die chri-

stianisierung der Guaraní-Indígenas übelst geschönt wird.

Fitzgeralds »Schiffbruch« sah ganz an-ders aus: Er blieb sich nämlich einfach treu. Ein kluger Konservativer. Um 1980 herum war er einer der Protagonisten der nicht nur in den Pubs von Dublin aufkeimenden Folk-Szene. Er spielte in den angesagtesten clubs – und in denen, in die sich nicht mal seine Mitstreiter hineintrauten. Dann mußte eben improvisiert werden! Zunächst spielte er in der Anfangsformation der le-gendären »tipsy Sailor« (mit dem späten Multi-Instrumentalisten Johnny Keenan am Banjo). 1983 gesellte er sich als Sänger, Gitarrist und Bodhránspieler zu den »Wild Geese«, die auch in Deutschland tourten, wo allerorten Friedenstauben auf den R4-Ärschen klebten – die Bezeichnung »tee-socke« für evangelische Kiffer war noch gut präsent. Es gab viel zu tun. Mercedes-Sterne brechen und taubenkleber wegwich-sen. Noch bis zum Ende der achtziger Jahre gingen deutsche Alternative, die sich längst in Yuppie-Vierteln eingenistet hatten, gerne zu Aufführungen der »Nebel von Avalón« –

natürlich zu Harfenbegleitung und Kerzen-gestank.

Mick Fitzgerald aber schrieb Mitte der Siebziger bis Mitte der Achtziger wie ver-rückt für die Musikpresse, machte u.a. Interviews mit Johnny cash und chuck Berry. Bis heute haut er hin und wieder den ein und anderen Brocken in die tasta-tur. Nach der »Millenniumswende« spielte er wieder viel theater (im Sommer 2008 war er im Dubliner Abbey theatre in Os-car Wildes »Ein idealer Gatte« zu sehen), partizipierte in irischen und nordirischen Independent-, Arthouse und tV-Produktio-nen. Nach seinem Album »Light Sleeper« (2003) erschien letztes Jahr wieder eine cD: »Damage Limitation«. Nicht jeden wird die vom Hocker hauen, aber Singer/Songwriter-Fanatiker sind bestens bedient. Wirklich interessant ist der Song »Is that Yourself that´s In It?«, bei dem Bob Marley und die «Irische Seele” Ringelpiez tanzen. Der überwiegende Rest ist nicht nur stark balladesk und chorlastig, sondern vor allem von einer Stimme dominiert, die nicht jeder mögen kann.

Bei Fitzgeralds Geschichten sieht das anders aus: Sie sind fast ausnahmslos groß-artig! Der deutschen Übersetzerin von Ing-var Ambjörnsen, Gabriele Haefs, ist sie zu verdanken.

Fitzgerald erzählt aus dem Bauch der Stadt. Liebe ist immer schon verflossen, wie das Guiness. Geehrt wird das Musik-instrument, Kodizes, und das der Anzug anständig sitzt (tut er fast nie). Alte Dinge haben Stellenwert. Die Vergangenheit exi-stiert. Bücher sind heilig und Schellack-platten. Das hier ist die alte Schule, die immer mehr ausstirbt. Bei Fitzgerald wird sogar das Scheitern verwehrt. Keine chan-ce. Buchmacher und Pfandleihen werden beglückt, als sei man in einem Hamsun-Streifen oder einfach nur im Ruhrpott des Jahres 2010. Es regnet immer, nie sieht man das Meer.

Neben der Musikbesessenheit des Au-tors liegt über vielen Stories ein Hauch von »Abschied« (oft von Irland). Zeit, weiter-zukommen. Bewegung. Die Arbeiten sind sensibel, hellwach und mit Witz verfaßt. Fitzgerald ist ein sehr guter Beobachter, und er hat Spaß am Detail. Die »Miete zu verbraten« nimmt er etwa wörtlich. Hervor-ragend. Letztlich sind das seriöse Hippie-Geschichten über Postbeamte, geschlosse-ne Bäckereien, Hausbesitzer, die einen los-werden wollen, Scham, Erinnerungslücken, gefährlich lebende Lotto-tipper, geklaute Betten, Unterwasserfußball (den es ja wirk-lich gibt, wenn auch nicht in Irland) und Regen, soviel Regen.

Immer Regenturn On, tune In, Drop Out: Über das irische Multi-talent Mick Fitzgerald. Von André Dahlmeyer

Mick Fitzgerald: Ses­sion. Übersetzung und Nachwort von Gabriele Haefs. Songdog­Verlag, Wien 2010, ISBN 978­3­9502890­3­9, 12 Euro

Mick Fitzgerald & The Bacha Trio: »Damage Limitation«, CD, clad­daghrecords.com, 2009. Kann in Deutschland unter [email protected] geordert werden.

Wenn einer seine letzten Stories schreibt, dann will er abhauen. Ins Aus-land womöglich. Oder ins

Jenseits. Und vorher soll noch mal alles gerichtet werden. Fanz Dobler bringt sei-ne Kurzgeschichten in Ordnung. Was da in den letzten fünf Jahren im Augsburg-Magazin a-guide zusammengeschrieben wurde, wird alphabetisch sortiert und im 168-Seiten-Bändchen verschnürt. Dabei sind bitterböse Satiren. Geschichten, in denen einer im Bahnhofshallengedränge betet: »Oh Herr, gib uns hier und jetzt einen dieser tapferen Selbstmordatten-täter.« Oder solche, in denen die ukrai-nische Putzfrau Kateryna wütend ihre Grenzen aufzeigt: »Gruß Gott, Wodka, bitte kuscheln, danke, Deutschland!«. Mal stößt man auf eine Parabel: »Die feigste Sau von allen aber ist der Fuchs«. Der Fuchs nämlich reißt gleich zwei Dutzend Hühner, wo er doch nur vier gleichzeitig wegschleppen kann. »So hat also auch der Fuchs seine Lektion Neoliberalismus gelernt.« Nicht immer gibt’s was zu lernen. Nicht immer haben die Episoden eine Pointe. Manchmal sind sie Miniaturen, Beschreibungen ei-ner Szene. In »Helden« etwa geht es um einen typ, der an der Bar sitzt und einen Witz erzählen soll, dem aber keiner ein-fällt. Und obwohl er eigentlich nichts gegen Drogen hat, zieht er die Line in der Küche dann doch nicht, sondern schlurft irgendwann allein die Straße entlang nach Hause.

Manche von diesen Geschichten spie-len in der Großstadt, das sind die, we-gen derer manche behaupten, der Dobler, das sei der bayerische Bukowski. Andere spielen in Augsburg. In manchen riecht es wie in verrauchten Bars, in anderen nach Knödeln. Oder eben nach tortellini in Sauerkraut-thunfisch-Sauce. Wie man die zubereitet? Sogar das erfährt man, auch ein Kochbuch ist die Kurzgeschich-tensammlung. Knoblauch, chili und wei-ßer Pfeffer sind ein Muß. Salz muß nicht. Weil Salz häufig überschätzt wird, aber auch, weil der Ich-Erzähler den Salzstreu-er nicht finden kann. Ob Franz Dobler sei-ne Nudeln mit Sauerkraut und thunfisch ißt? Man möcht’s ihm glauben. So lässig sind die Geschichtchen heruntererzählt, als ob sie geradewegs aus dem Alltag ab-

geschrieben wären, als ob sie genausogut tagebucheinträge sein könnten, als ob einer mit lockerem Handgelenk kleine Skizzen von den Szenen gemacht hätte, die so um ihn herum passieren. Meist ist es ein »Ich«, das erzählt, manchmal melancholisch, manchmal heiter. Immer kurzweilig, immer im schnoddrigen ton-fall.

»System« heißt die Geschichte zum Buchstaben S und hätte doch auch »Sex« heißen können, weil es eben darum geht, was Albert mit Birgit, Bogdan mit An-na und christian mit Doris macht. Ah, schon wieder Alphabet. Naomi, die mit Oskar vögelt, mag das Wort »vögeln« nicht und findet, Pussy klingt wie Britpop mit deutschen texten. Während Wladimir was mit Zarah machen muß, weil… Ja, warum eigentlich? Vielleicht, weil Dobler keine Namen mit den Anfangsbuchstaben X und Y eingefallen sind. Eine Kurzge-schichte für den Buchstaben Y gibt es aber, Yang heißt sie und hätte auch Yin heißen können.

In »Zufall« geht es dann um einen Abend, »an dem es einem okay vorkam, daß die Amerikaner die Stadt nicht voll-kommen weggebombt hatten.« Ein ar-beitsreicher tag, eine Lesung, ein wenig Palaver mit einem kroatischen Schrift-steller-Kollegen. Und ein Fazit: »Ein paar gute Geschichten. Ein paar gute Leute.« Fanz Doblers »Letzte Stories« sind wie so ein Abend. Man fühlt sich wohl dabei, man lacht, lehnt sich auch mal zurück und denkt nach. In den Anmerkungen bedankt der Autor sich bei seiner Familie, die hofft, die »Letzten Stories« seien nicht seine letzten Geschichten gewesen. Wir hoffen mit.

Bitte kuscheln, danke Deutschland!Warum der Fuchs die feigste Sau von allen ist, erzählt Franz Dobler in »Letzte Stories«. Von André Weikard

Franz Dobler: Letzte Stories. Blumenbar, Ber­lin 2010, 168 Seiten, 17,90 Euro

Erich Buchholz: Rechtsgewinne ? Ein Vergleich DDR /BRDTb., 286 S., 12,– € · ISBN 978-3-939828-54-9➡www.gutes-lesen.de

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Mittwoch, 16. Juni 2010, Nr. 136 junge Welt 1 0 l i t e r a t u r

Die seltsamsten träume haben wir immer mitten am tag. Wenn wir nur für fünf Minu-ten einschlafen, jedoch das

Gefühl haben, die träume dauerten ein ganzes Menschenleben.« Das schreibt tor Åge Bringsværd (geboren 1939 im norwegischen Skien) – elegant, geheim-nisvoll, subtil witzig. Seine Einstellung ist anarchistisch. Nicht umsonst hat Hans-Magnus Enzensberger, an dem man alles falsch finden mag, nicht aber sein Emp-finden für Eleganz, Bringsværds Nacher-zählung der »Edda« als Band 200 seiner »Anderen Bibliothek« herausgebracht und selbst übersetzt (»Die wilden Götter. Sagenhaftes aus dem hohen Norden«). Das heißt ja wohl was. Vor zwei Jahren erschien bei Onkel & Onkel (der Name verweist auf die zum Vertrieb von lite-rarisch-bildkünstlerischen Preziosen in Zeiten der Bankenkrise unverzichtbaren familiären Förderer) der Roman »Puder: Sleeping Beauty in the Valley of the Wild, Wild Pigs«. Gerade frisch in die Läden gekommen ist »Die Frau, die allein ein ganzer tisch war«, letzteres eher eine lange Erzählung als ein Roman.

»Der Gedanke daran, daß etwas unge-recht sein könnte – wirklich ungerecht –, war mir eigentlich neu«, stellt die Prot-agonistIn P in »Puder« fest. Das große

I erscheint hier angebracht, denn in der nahen Zukunft, in welcher der Roman spielt, ist es ein Leichtes, das eigene Ge-schlecht regelmäßig zu wechseln. Wenn man, wie P, nicht viel Geld verdient und einen Billigumwandler wählen muß, kann es allerdings schon mal geschehen, daß die Brüste größer werden als gewünscht. Denn die Gesellschaft, mit der Brings-værd uns konfrontiert, ist noch immer eine kapitalistische, eine transformierte Demokratie, also keine Demokratie. Man hat die Parteien abgeschafft – sie wa-ren sich zu ähnlich geworden – und das grundlegende Prinzip schlicht umgekehrt: Die Politik ist nicht mehr der ewig wech-selnden Laune des Volkes unterworfen, sondern manipuliert diese im Einklang mit Großkonzernen und den Segnungen der Biotechnik. Ähnliches hat kürzlich der Schriftsteller Robert Menasse in der Zeit ganz ernsthaft angeregt.

»Unglaublich, was inzwischen mach-

bar ist und wie schnell das alles geht. Es gibt nichts, wovor man sich noch fürch-ten müßte«, weiß P nach einer Umwand-lung – da ist sie schon neunzig Jahre alt, sieht aber aus wie dreißig. Wir sind also in einer Zeit nach Huxleys »Brave New World« und den Visionen eines Philip K. Dick. Die Welt ist eine bunte Matt-scheibe, auch weil die Realität nur noch im Freizeitpark »Alte Zeiten« erlebbar ist. P ist eine klassische Figur in dieser SF-Genre-Matrix. Sie möchte alles so selbstverständlich und wunderbar finden wie alle um sie herum. Aber sie/er kann es nicht. Sie weicht ab, sie/er wird beobach-tet, sie/er wird entführt, und schließlich entkommt sie/er in eine Welt außerhalb der Oberfläche; deren Existenz, inklusi-ve »Graulingen«, die noch richtig altern, sie/ihn wahnsinnig »surprised«. Außer-dem dreht sich viel um Schweine und die Frage, ob Noah nicht eigentlich nur die tiere retten wollte.

Auch in Bringsværds zweitem bei On-kel & Onkel erschienenen Buch geht es um den Widerstreit von Realität und Wahn und um die Frage, was nun eigentlich was ist. Wer es herausfinden will, muß – über Bringsværds Verwendung dieses Motivs ließe sich ein schönes Proseminar »Ein-führung in den Strukturalismus« geben – ganz schlicht schreiben, am besten mit Bleistift auf Papier. In »Die Frau, die allein ein ganzer tisch war« übernimmt diesen Job eine Handpuppe, die eine der nicht genau zählbaren Persönlichkeits-abspaltungen des Puppenspielers Sigurd ist, der mit schweren Verbrennungen in einem psychiatrischen Krankenhaus liegt. Bringsværds Schreiben ist eine radikale Suche nach dem Individuum, ohne die Existenz dieser Kategorie in Frage zu stellen. Man lese seine Werke zur nach-mitttäglichen Siesta vulgo Powernapping: Die träume werden phantastisch sein. Und sie gehören einem selbst, exklusiv.

Phantastische TräumeWollte Noah nur die tiere retten? tor Åge Bringsværd krempelt die Welt literarisch um. Von Ambros Waibel

Tor Åge Bringsværd: Die Frau, die allein ein ganzer Tisch war. Aus dem Norwegischen von Volker Oppmann. Verlag Onkel & Onkel, Berlin 2010, 128 Seiten, 16,95 Euro

Tor Åge Bringsværd: Puder: Sleeping Beauty in the Valley of the Wild, Wild Pigs. Aus dem Nor­wegischen von Volker Oppmann. Verlag Onkel & Onkel, Berlin 2008, 254 Seiten, 18,90 Euro

Die Literatur des Linus Volkmann könnte man als verschnörkelten Minimalismus bezeichnen. Das

merkt man schon am titel seines neuen Romans „Endlich natürlich“, der da auf dem Buchcover voll ausgeschrieben lautet: „Wie sehr muß man sich eigentlich noch ver-stellen, um endlich natürlich rüberzukom-men?“

Volkmann ist groß in den Kleinigkeiten, in der aphorismusartigen Nebenbeisozio-logie im Sinne von Max Goldt, mit diesem Gestus, daß es nie drauf ankäme – kommt es aber immer. Warum denn noch SPD wäh-len? Könnte man beispielsweise fragen. Der Prosaiker Volkmann antwortet: „Mann, war das für eine schlechte Stimmung im Penny. Wo war denn die kindliche Freude der un-teren Schichten über Fußball oder ihre Ge-schlechtsorgane? Was hatte die Bildzeitung denn aus dieser stolzen Kaste gemacht?“ Volkmann hat Wortschöpfungen drauf wie „proto-masturbierend“ oder „Grenzerfah-rungsgewitter“, sein Originalismus ist ein aus besseren Plattenkritiken überführter Lustigkeitsstil, wobei der Intro-Redakteur

Volkmann noch einer ist, der weiß, daß die Plattenkritik das freieste Genre des Journa-lismus ist.

Das unfreieste Genre hierzulande dürf-te der Deppenroman sein, so etwas wie „Hummeldumm“ von tommy Jaud oder „Frauen rächen besser“ von Kim Schney-der, wo jeder Witz angeblich sitzt – wie ein Krebsgeschwür. „Endlich natürlich“ ist so etwas wie eine Persiflage auf solcherlei comedy-Gesellschaftsromane frisch aus der geistigen Schrottpresse, nur spielt sie nicht im Büro-Büro-Irrenhaus, sondern in der der bornierten Flachsinn-Boheme, die die Goldenen Zitronen schon vor fast an-

derthalb Jahrzehnten in ihrem Lied „0.30 Uhr gleiches Ambiente“ ein für allemal versenkt haben. Auskennertum ohne Sinn, Verstand und Stil – eine typische Verfallser-scheinung im halbakademischen und voll-prekarisierten Milieu. Konsequenterweise ist die „Endlich natürlich“-Story, anders als beim sehr lustigen Vorgänger-Roman „An-ke“ (2006), auch extrem redundant, ohne Höhepunkte und Dramaturgie, frei nach Siegfried Kracauer geht es bei Volkmann sozusagen um die Genauigkeit im Unge-fähren. Sozialphobie als höflich-harmlose Macke für jedermann, von Volkmann im Jargon bedeutungslos gewordener coolness aufgezeichnet, ist das thema von „Endlich natürlich“, nach dem Motto „Du nennest es Depression, ich nenn es Party“. Ein typ namens Wilhelm Bitter arbeitet angewie-

dert als caterer, studiert etwas zufälliges und hat eine mehr oder minder mißlungene Affäre mit der Queen of the Kinderhörspiel names Freya von Rosenberg, die ungefähr doppelt so alt sein dürfte wie er – im psy-chonautischen, postpubertären Spiegelsta-dium fährt er mit seinem Vater und dessen neuer Freundin in den Skiurlaub, nur daß die Freundin noch jünger ist als Bitter. Aber ist Alter nicht sowieso eine reaktionäre Ka-tegorie? Für Bitter ist das soziale Leben ein einziger Neurosendschungel, so wie man-che bloßes Kauen bei geschlossenem Mund für katastrophales Schmatzen halten.

Der teilweise geniale Unterhaltungs-

künstler Bernd Begemann irrt, wenn er Linus Volkmann für einen „Indierock-tho-mas-Bernhard, nur in lustig“ hält. In seinem Eckensteher-Geschimpfe ist Volkmann viel weniger repetetiv und in der Form viel we-niger durchgearbeitet als Bernhard, eher ist Volkmann eine Art Neo-Wilhelm Ge-nazino, der ja rein lautmalerisch-moralisch betrachtet Wilhelm Bitter heißen müßte. Und sind die von Volkmann beschriebenen

Indie-Rock-Hörer in ihrem ich-tue-so-als-wenn-ich-mir-nichts-gefallen-lasse-wäh-rend-ich-mir-alles-gefallen-lasse-Gestus nicht das historische Echo der ratlos-bie-deren Krawattenmenschen und VW-Käfer-Ratenabbezahler im späten Adenauer-Re-gime? Schnäppchenjäger aufgepaßt: Im Unterschied zu Genazino gibt es bei Volk-mann in viel weniger langen Sätzen viel mehr Ironie.

Sozialphobie für jedermannDu nennst es Depression, ich nenn es Party: Linus Volkmann hat mit »Endlich natürlich« einen neuen Roman vorgelegt. Von Christof Meueler

Linus Volkmann: Endlich natürlich, Ventil, Mainz 2010, 175 Seiten, 12,90 Euro

Alle reden vom Goldstone-Gaza-Report!Wir haben ihn übersetzt und gedruckt!

Wer über Gaza reden will – muß ihn lesen!

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812 Seiten, Broschur. Mit einem Vorwort von Ilan Pappe.

ISBN 987-3-9813189-4-4

Das Netzwerk-Cuba - Informationsbüro- e.V. will einen fairen und solidarischen Zugang zu diesem faszinierenden Land ermöglichen. Erfahren Sie, was Sie schon immer über kuba und Lateinamerika wissen wollten.zweimal wöchentlich: Netzwerk-Cuba-NaCHrICHteN – onlinekostenlos auf dem Laufenden sein unter: [email protected]

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Bertolt Brecht: Das Manifest Marx/Engels in HexameterAudio-CD, ca. 35 min, 11,– € · ISBN 978-3-939828-31-0➡www.gutes-lesen.de

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junge Welt Mittwoch, 16. Juni 2010, Nr. 136 1 1l i t e r a t u r

Bad Fucking« heißt das jüngste Werk aus der Feder des öster-reichischen Autors, Regisseurs und Vorlesers des Marxschen

Opus magnum »Kapital«, Kurt Palm, der in Vöcklabruck zur Welt kam. Vöcklabruck liegt in der Nähe der Ortschaften Mösendorf und Zipf. Laut Klappentext ist das Buch eine »Provinzkrimigroteske«. Die Häufig-keit, in der von Schweiß, Sperma, Blut und Scheiße die Rede ist, erinnert allerdings an den Wiener Aktionismus. Das actionpral-le und von multiplen Handlungssträngen durchzogene Buch, in das »Elemente des Heimatromans, des Arztromans, der Pro-vinzposse« (Kurt Palm) eingeflossen sind, liest sich zudem wie ein Filmskript.

Im Bezirk Braunau in Oberösterreich gibt es zwar tatsächlich die 91-Seelen-Ge-meinde Fucking, Bad Fucking allerdings ist ein fiktiver Ort. Der ist seit einem Bergsturz fast zur Gänze von der Außenwelt abge-schnitten, er befindet sich in einer Art Sack-gasse. Und das nicht nur in geographischer Hinsicht. Sehenswert sind Bad Fuckings Hausberg, das Hohe Hirn, der Höllensee sowie in der Dorfkirche das Gemälde »Die Beweinung christi« aus dem Umkreis von Giovanni Bellinis Werkstatt. Das gesellige Zentrum des Kaffs ist das Wirtshaus »Zum Mohren«, das im Volksmund »Neger« heißt.

Die Handlung läßt sich grob wie folgt skizzieren: Bad Fuckings Bürgermeister Aloysius Hintersteiner (der die Abkürzung A. H. mag) steckt im tiefsten Schlamas-sel, steht er doch kurz vor dem finanzi-ellen Ruin. Und auch die Gemeinde ist im Begriff, die letzte Million zu verlieren. Der einzige Hoffnungsschimmer ist der geplante Bau eines Asylantenheimes am Höllensee. Die Sache hat nur den Haken, daß die Zufahrtsstraße über das Grundstück von Vitus Schallmoser führen müßte, der das Fahrtrecht nicht gewähren will. Die

Innenministerin Maria Sperr wartet auf ei-nen Lösungsvorschlag, will sie doch das Asylantenheim von ihrer eigenen Baufir-ma errichten lassen und den Konkurrenten

Alois Besamer (dessen richtigen Namen im realen Oberösterreich jeder kennt) aus-stechen.

»Bam, Oida, jetzt bin ich gfickt!« sagt eines der im Hotel »Zum Hohen Hirn« ein-gefallenen Mädels der cheerleader-truppe

»Vienna Honeybees«, als Hintersteiners Sohn, der pickelgesichtige Empfangsbur-sche Philipp, ihnen erklärt, Bad Fucking liege in einem Funkloch. Während vier

Greise, Stammgäste im »Neger«, auf dem Sportplatz den Honeybees beim training zusehen und sich angesichts der demon-strativ gezeigten Arschgeweihe einig sind, daß »die Weiber aus der Stadt schärfer sind als ein tranchiermesser«, findet der ehe-

malige Hoteldiener Bartl Rettenbacher in einer im Kalteiswald gelegenen Höhle sei-nen einstigen chef Vitus Schallmoser tot in einer Blutlache. Bartl, Wellisch, Hinterstei-ner und der Zahnarzt Dr. Ulrich befördern den Leichnam auf dem traktoranhänger der Marke »Mengele« des Fleischhackers Ignaz Pamminger in dessen Kühlraum.

Derweil erpreßt Veronika Sandleitner, die gerne Opernsängerin geworden wäre, nun aber in Bad Fucking einen Fotoladen betreibt, Philipp, der ihr imponieren woll-te, indem er sich VRONI auf den Pimmel schrieb und diesen fotografierte. Aus Wien wird die Kriminalbeamtin camilla Glyck nach Bad Fucking geschickt, um im Fall des Verschwindens der Innenministerin zu ermitteln. Vor der Abfahrt wirft camilla mit Strychnin versetzte Knacker in den Hof, um den fortwährend kläffenden Köter ei-nes Nachbarn zu vergiften. Später wird sie erfahren, daß der Nachbar sich die Knacker einverleibt hat – Exitus. Ihre Kollegen sind begeistert, galt der typ doch als eine zen-trale Figur in einem internationalen Kin-derpornoring. Außerdem sterben die Wie-ner Philharmoniker, und die Aale kehren in den Höllensee zurück. Aber alles soll hier wirklich nicht verraten werden.

Von den Oberösterreichischen Nachrich-ten gefragt, warum er den Stoff nicht gleich zu einem Film gemacht habe, antwortete Palm: »Es gab ursprünglich das Konzept ei-ner ORF-Serie, so hat alles begonnen. Wir wollten viele Jahre nach twin Peaks den Wahnsinn in der österreichischen Provinz – in der oberösterreichischen – beschrei-ben. Das ist aus vielen Gründen nichts geworden, aber zum Glück hat mich der Residenz-Verlag getreten, daß ich endlich diesen Stoff schreibe. Auf einen Film in Österreich zu warten, ist nicht angenehm. Da fahren viele Züge ab, in die man nicht einsteigt.«

Am Fuß des Hohen HirnsÖsterreich im Ausnahmezustand: Kurt Palms durchgeknallte und rasante Provinzposse hebt das Genre »Heimatroman« auf eine neue Ebene der Aktualtiät. Von Jürgen Schneider

Kurt Palm: Bad Fucking. Residenz Verlag, St. Pölten/Salzburg 2010, 256 Seiten, 19,90 Euro

Man kommt sich ziemlich alt vor, wenn der Redaktionsvolontär ent-geistert fragt: »Was? Du kennst

toni Mahoni nicht?« Wenn man dann im Beipackzettel zu einem neu erschienenen Buch namens »Gebratene Störche« lesen muß, daß es sich bei besagtem Herrn Maho-ni um einen im Berliner Szenebezirk Fried-richshain ansässigen »Video-Blogger« mit »Kultstatus« handelt, der zudem mit seiner Band gerade eine Deutschlandtour mit über 40 Auftritten absolviert, wähnt man sich endgültig auf dem kulturellen Abstellgleis.

Im Internet wird man schnell fündig. In unzähligen clips berlinert sich Mahoni, be-gleitet von leicht schrammeliger Barmusik,

durch seinen nikotingeschwängerten Alltag. Es klingt ein bißchen nach dem jungen tom Waits, nur deutlich weniger depressiv.

Das sind alles keine Gründe, sich mit dem mittlerweile im Big Business ange-kommenen neuen »Underground-Star« zu beschäftigen und macht zunächst auch we-nig Lust auf Mahonis erstes Buch. Doch was da mit dem arg reißerischen titel »Gebrate-ne Störche« auf den Markt gekommen ist, entpuppt sich schnell als äußerst amüsantes literarisches Roadmovie voller schrulliger bis schriller Figuren und Örtlichkeiten.

Wirklich zum Knuddeln ist zweifellos Peggy, die mit ihren schrägen Aktionen dem Buch so eine Art roten Faden gibt. Mahoni lernt die stets in Bademäntel ge-kleidete Aktionskünstlerin im Konsumtem-pel KaDeWe kennen, als sie konzentriert und ruhig ihre Spucke auf einem Büfett mit Probierhäppchen verteilt, bis der Wach-schutz sie nach draußen geleitet. Vor ih-ren erklärtermaßen kapitalismuskritischen Happenings sind auch Souvenirläden auf Rügen und klerikale Kulturevents nicht ge-feit. Mahonis WG-Kumpels gewöhnen sich nach ersten Irritationen schnell an die junge Welt lesende Studentin und Veganerin. Ein gegensätzlicheres Paar als Peggy und Ma-honi kann man sich eigentlich nur schwer

vorstellen, doch daß und wie es klappen kann, wird nahezu herzzerreißend süß ge-schildert. Es lebe die Liebe. Es lebe die toleranz. Kombiniert sind sie unschlagbar.

Die Hauptbeschäftigungen des Prot-agonisten sind das Rauchen und die Zu-bereitung von möglichst fleischhaltigen Gerichten, vorzugsweise Hähnchen im Speckmantel. Getrunken wird natürlich auch, meistens Bier, aber manchmal auch heimlich der gute Wein des frankophilen Mitbewohners Pierre. Sein prekäres Dasein als Musiker akzeptiert Mahoni weitgehend klaglos. Die zur Geldbeschaffung manch-mal unausweichlichen Gelegenheitsjobs begreift er eher als Fortbildung denn als Fron. Herausforderungen als Aushilfe im Blumenladen meistert Mahoni ebenso sou-verän wie das Manövrieren von Baumaschi-nen und einen Kurzausflug in die Welt der »Heuschrecken«.

Nur einen Plan kann er nicht in die tat umsetzen. Das für eine Sause in der Provinz erworbene lebende Schwein mutiert binnen Stunden vom Fleischlieferanten zum Ku-scheltier.

Doch ein Storch wird tatsächlich gebra-ten, da sich das undankbare tier standhaft weigerte, ein liebevoll vorbereitetes Nest für seine Brut zu nutzen und statt dessen

den Feuerwehrturm vorzog, wohl auch zu Recht. Und wenn Mahoni seinem erzähle-rischen Affen so richtig Zucker gibt, dann darf es auch mal eine tasse Espresso mit Benedict im päpstlichen Hauptquartier sein.

Spaß macht das allemal, und selbst der des öfteren eingestreute Berliner Slang wirkt mitnichten so bemüht und aufgesetzt wie bei Mahonis musikalischen Ergüssen. Das Buch wird wohl ein Unikat bleiben, denn eine derartige Bestandsaufnahme der eigenen Lebenserfahrungen kann kein Autor zweimal schreiben. Es ist schlicht ein glühendes Plädoyer für das »Immer-weiter-machen-egal-wie«. Natürlich ist das Werk auch für Raucher ein Muß, denn eine lustvolle und begeisterte Hymne auf die Freuden des Konsums von selbstgedrehten Zigaretten wird man auf dem Literatur-markt ansonsten kaum finden.

SelbstgedrehtÜberleben als Künstler in Berlin: toni Mahoni raucht, jobbt und brät Störche. Von Rainer Balcerowiak

Toni Mahoni: Gebratene Störche. Galiani bei Kie­penheuer und Witsch, Köln/Berlin 2010, 253 Sei­ten, 14,95 Euro

Sommer, Sonne, SEX undSandstrand

WARNUNG! Kann Spuren von Vögeln enthalten

HOW I FUCKEDJAMAL * Sex goesinternational goes lite-rature. OhneRücksicht auf Intimitäts-verluste begeben sichjunge Autorinnen undAutoren auf das glatte Eisdes globalisierten Bei-schlafs und versammelnleise wie laute, explizitewie weniger expliziteGeschichten vom inter-nationalen Austausch(zwinker, zwinker).

Mit Beiträgen von: ThomasBallhausen, Malte Borsdorf,Michal Hvorecky, MarkusKöhle, Jan Kossdorff, MiezeMedusa, Jan Off, JulyaRabinowich, Clemens J. Setz,Andrea Stift, CorneliaTravnicek, u.a.

ISBN 9783852861883www.milena-verlag.at

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Mittwoch, 16. Juni 2010, Nr. 136 junge Welt 1 2 l i t e r a t u r

Wer ein Baby hat, weiß: auch wenn man erst acht Monate alt ist, sieht man manchmal aus wie 75. Vor allem kurz

nach dem Aufwachen, oder wenn man sehr müde ist. Aber warum schreibe ich über Babys, wenn doch ein Buch über die tän-zerin Valeska Gert (1892–1978) vorgestellt werden soll?

Eine der eindrucksvollsten Perfor-mances Gerts ist das Baby: Abwechselnd beziehungsweise gleichzeitig verkörpert Valeska Gert ein Baby und seine Amme. Ihr virtuoses (rasantes) Rollenspiel ver-blüfft und macht sprachlos vor Staunen, bruchlos wechselt sie von verzweifeltem Babygeschrei zum beruhigenden Singsang der Amme. Dialektik des menschlichen Daseins in anschaulichster Form. Schon an dieser Stelle wird deutlich: Der Begriff (Ausdrucks-)tänzerin wird der in Berlin aufgewachsenen Gert, bürgerlich Gertrud Valesca Samosch, nicht gerecht. Sie war Performancekünstlerin, lange bevor es die-sen Begriff gab. Gert ließ nicht nur ihren Körper sprechen, sie »tanzte« auch mit ihrem Gesicht und – größter Unterschied zum modernen Ausdruckstanz –, sie setz-te in »Geräuschliedern« ihre Stimme ein, sang, fauchte, schrie und jammerte. Auch die themen ihrer tänze waren grundle-gend anders als die ihrer Kolleginnen/Konkurrentinnen Mary Wigman oder Gret Palucca: Gert tanzte Huren, Kupplerin-nen, KZ-Wächterinnen, Autounfälle, einen Zirkus, den Orgasmus und den tod. Es verwundert nicht, daß Valeska Gert für ihre Zeitgenossinnen nur Geringschätzung übrig hatte. Sie bezichtigte Wigman und Palucca, lediglich »pseudoklassische Be-wegungen« zu vollführen. Ebenso wenig verwunderlich ist, daß weder damals noch heute Valeska-Gert-tanzschulen existieren (aber z. B. die Palucca-Schule in Dresden): Zu individuell, kraß, kompromißlos und deshalb an Elevinnen unvermittelbar war ihre Art zu tanzen.

tanz allein war ihr ohnehin zu wenig: Valeska Gert arbeitete transdiszplinär. Sie wirkte in Filmen mit, schrieb Bücher und Kolumnen, betrieb ihre eigene Kabarett-bühne »Kohlkopp« und war in allem, was sie tat, ihrer Zeit weit voraus. Bereits in den 1920er Jahren wünschte sie sich Mu-sik aus Natur- und Großstadtgeräuschen, ließ sich bei Auftritten von kreischenden Mädchen statt vom üblichen Orchester begleiten und schuf 1931 ihr »Opus Nr. 1, Komposition auf ausgeleiertem Kla-

vier« – zehn Jahre vor John cages prä-pariertem Klavier, wohlgemerkt. Neben ihrem visionär-avantgardistischen tun war Valeska Gert aber auch Realistin mit messerscharfem Blick für die Beschrän-kungen der Moderne – zu scharf und realistisch für Futurist und Surrealist An-dré Breton, der sie auf offener Bühne be-schimpfte. Valeska Gert machte die Pro-bleme des technischen Fortschritts sicht-bar, mehr noch, sie fokussierte die Fehler. Der gerade aufgekommene abendfüllende Kinofilm zum Beispiel beinhaltete eine Pause, der tempo gewöhnte Großstädter mußte warten, bis die Rolle gewechselt war. Gert kreiert die auch aus heutiger Perspektive radikale »Pause«: einen An-titanz aus Innehalten und Bewegungslo-sigkeit. Wäre sie heute noch am Leben, sie würde Atomkraftwerke, Flugzeugabstür-ze und IcE-Entgleisungen tanzen.

Außerdem erhob sie die Kneipe zum Kunstwerk: 1939 emigrierte Valeska Gert in die USA, weil sie als Halbjüdin in Nazi-deutschland kaum noch Auftrittsmöglich-keiten hatte. In New York eröffnete sie die Beggar Bar (in der ein gewisser tennessee Williams kellnerte). Deren Interieur war

komplett zusammengebettelt. In den Fünf-zigern wurde ihr Ziegenstall auf Sylt le-gendä.: »Die Gäste werden gemolken und meckern«, sagte Gert über ihr Lokal.

Daß Gerts Kunst/Schaffen gemeinhin als dada-, futur- oder expressionistisch be-zeichnet wird, ist schlichter Erklärungsnot geschuldet – sofern sie überhaupt in der Geschichtsschreibung vorkommt. Denn anders als Wigman und Palucca taugte Gert nicht zur idealisiert-ätherischen Aus-druckstänzerin. Sie war ein Freak, ein Puck, ein troll. Für Buchautor Wolfgang Müller ist sie Philosophin und Protopunk, direkte Vorläuferin viel später auftauchen-der Figuren wie Nina Hagen. »Real ist nur die ewige Verwandlung«, sagt Valeska Gert 1973 – ein Satz, der das Mantra von Popstars wie Madonna und Lady Gaga sein könnte.

Müllers erste Begegnung mit Valeska Gert fand 1975 via tV in der ARD-talk-show statt: Der 18jährige ist elektrisiert von der hochbetagten Gert, die auch im Alter Kunst und Leben glaubwürdig ver-eint. Müllers Entschluß, selbst Künstler zu werden, wird durch dieses Erweckungs-erlebnis manifest. Gert wird ohne ihr Wissen zu Müllers Muse und Leitstern – immer wieder wird Müller den Einfluß Valeska Gerts auf das Werk seiner Band bzw. seines Kunstprojekts Die tödliche Doris betonen. Sein Buch über Valeska Gert, »Ästhetik der Präsenzen«, ist daher auch keine Biographie im üblichen Sinn. Denn die gibt es schon und zwar von ihr selbst: die Hitler-Persiflage »Mein Weg«. Außerdem von Susanne Foellmer: »Vales-ka Gert. Fragmente einer Avantgardistin in tanz und Schauspiel der 1920er Jahre«, Bielefeld 2006. Wolfgang Müller dagegen bietet Variationen auf der Basis Gert. Er schweift ab, schreibt über Künstler wie Jo-seph Beuys, christof Schlingensief, Ming Wong, Björk, Die tödliche Doris und die Genialen Dilletanten – die Abschweifung hat Methode, Valeska Gerts Person und Werk dient als Matrix für Müllers Gedan-ken über (moderne) Kunst.

Und noch ein Zitat Gerts, das ihren Dialektik-Begriff verdeutlicht: »Ich will leben, auch wenn ich tot bin«, verkündete sie 1955. Wolfgang Müllers Buch macht Valeska Gert über seine Umwege und Ab-schweifungen lebendig.

Tanz den MussoliniDie Ausdrucks- und Performancekünstlerin Valeska Gert ließ ihren Körper sprechen: Wolfgang Müller widmet ihr ein faszinierendes Buch. Von Christina Mohr

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Wolfgang Müller/ Valeska Gert: Ästhetik der Präsenzen. Mit zahl­reichen Abbildungen. Martin Schmitz Verlag, Berlin 2010, 272 Seiten, 18,80 Euro

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