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Organizing. Neues Konzept oder alter Hut? Ein Buch des Hamburger Sozialhistorikers Peter Birke Seite 3 Co-Management. Zur Wiederbele- bung der Gewerkschaftsbewegung nicht geeignet. Ein Interview mit Klaus Dörre Seite 4 Rammbock Fiat. Unter Führung des Turiner Autokonzerns geht Italiens Kapital zum Frontalangriff über. Von Raoul Rigault Seite 8 Mythos Tarifeinheit.Wenn »Sozial- partner« gemeinsam das Streik- recht einschränken wollen, sollten die Alarmglocken klingen Seite 10 junge W elt Die Tageszeitung gewerkschaft Beilage der Tageszeitung junge Welt Mittwoch, 29. September 2010, Nr. 227 Daß die Leiharbeiter vor zwei Jahren als erste nach Hause geschickt wurden, war für die DGB- Gewerkschaften durchaus in Ordnung, solange man die Stammbelegschaften beisammenhalten konnte. Aber daß nun, da die Kon- junktur wieder anzieht, Unternehmer und Bun- desregierung nicht stracks Kurs auf die Wiederein- führung der »sozialen Marktwirtschaft« neh- men, enttäuscht unsere Arbeiterführer. Man habe »beim Einstellungsverhal- ten der Arbeitgeber den Eindruck, daß diese dort weitermachen, wo sie vor der Krise waren, und dies noch verschärft, indem der Beschäftigungsaufbau fast ausschließlich in miß- bräuchlicher Anwendung der Leiharbeit stattfin- det«, bedauert der DGB- Chef. Ja, wer hätte das ahnen können? G erechtigkeit geht anders« lautet das Motto der dies- jährigen »Herbstaktion« des DGB. Es ist nicht ganz klar, wer der Adressat dieser Bekannt- machung sein soll. Die eigene Basis, die vielleicht noch nicht begriffen hat, was im Lande läuft? Vielleicht ist auch »die Politik« gemeint, wer immer das sein mag. Womöglich Bundeskanzlerin Angela Merkel, die »sich in der Koali- tion nicht durchsetzen« kann, wie der DGB-Vorsitzende Michael Sommer neulich im Kölner Stadtanzeiger analy- sierte. Eben noch, in der Krise war sie »die Kanzlerin der sozialen Balance«, aber auf einmal, plötzlich und unerwar- tet, »spart die Regierung zu Lasten der Schwächeren«. Und woran liegt es? Li- berale Lausebengel und bayrische So- zialreaktionäre haben Frau Merkel als Geisel genommen:»Es kann einem übel werden, wenn man sieht, wie eine Fünf- Prozent-Partei zusammen mit einer un- berechenbaren CSU die Richtung der Politik bestimmt«, erklärt uns der DGB- Chef die Welt. Für die DGB-Gewerkschaften ist es schwer zu verstehen: Eben noch, in der Krise, waren sie gefragte Gesprächspart- ner im Kanzleramt, und auch die Un- ternehmer ließen keine Gelegenheit ver- streichen, auf die Opfer hinzuweisen, die man »gemeinsam« zu erbringen bereit war, um die konjunkturelle Durststrecke durchzustehen. Tatsächlich ist man in der Bundesrepublik mehr oder weniger ohne Massenentlassungen durch die Depres- sion gekommen – abgesehen von den paar hunderttausend prekär Beschäftig- ten, die aber irgendwie nicht zu zählen scheinen. Daß die Leiharbeiter vor zwei Jahren als erste nach Hause geschickt wurden, war für die DGB-Gewerkschaf- ten durchaus in Ordnung, solange man die Stammbelegschaften beisammenhal- ten konnte. Aber daß nun, da die Kon- junktur wieder anzieht, Unternehmer und Bundesregierung nicht stracks Kurs auf die Wiedereinführung der »sozialen Marktwirtschaft« nehmen, enttäuscht unsere Arbeiterführer. Man habe »beim Einstellungsverhalten der Arbeitgeber den Eindruck, daß diese dort weiterma- chen, wo sie vor der Krise waren, und dies noch verschärft, indem der Beschäf- tigungsaufbau fast ausschließlich in miß- bräuchlicher Anwendung der Leiharbeit stattfindet«, bedauert der DGB-Chef. Ja, wer hätte das ahnen können? Immerhin, auch in diesem Elend gibt es Hoffnungsschimmer. Die IG Metall fordert in der laufenden Stahltarifrun- de die Gleichstellung der Leiharbeiter. Ihre Verwaltungsstelle Salzgitter-Peine nutzt den Tarifkonflikt, um zugleich gegen »Sparpaket« und Atompolitik der Bundesregierung zu mobilisieren: »Ungerechte Sparpakete, einseitige Belastungen der Beschäftigten bei der Gesundheit, Rente erst mit 67 und ei- ne unverantwortliche Energiepolitik mit längeren Laufzeiten der Atomkraftwerke – das ist die Bilanz der schwarz-gelben Bundesregierung. Dagegen müssen wir uns gemeinsam wehren«, heißt es in de- ren Aufruf für eine Großkundgebung am 29. September. Man richte sich »nicht nur an die Beschäftigten in Salzgitter und Peine, sondern auch an alle Bürge- rinnen und Bürger in unserer Region«. Die Aktion finde »ganz bewußt während der Arbeitszeit statt, damit der Wider- stand gegen Sparpaket und Atompolitik auch wirtschaftliche Auswirkungen auf die Unternehmen hat. Auch kann dies als ein kleiner Vorgeschmack auf die kom- mende Auseinandersetzung während der Atommülltransporte gesehen werden«. Nun, das ist die angemessene Sprache. Ein anderes Flugblatt flatterte uns die- ser Tage ins Haus – dieses nicht von der größten, sondern der vermutlich kleinsten Gewerkschaft der Republik. Die Frankfur- ter Ortsgruppe der Wobblies, der Industri- al Workers of the World (IWW), verteilte es kürzlich vor den dortigen Stadtwerken. Deren Kantinenbetreiber, das zur multi- nationalen Compass Group gehörende Unternehmen Eurest, ist auf die Idee ge- kommen, Weiterbildungen für Mitarbei- ter in der Freizeit durchzuführen. »Die Compass-Group hat mitten in der Krise satte Gewinne erwirtschaftet – auf dem Rücken der Mitarbeiter«, schreiben die Wobblies. »Personalabbau, ausgedünnte Schichten und unbezahlte Mehrarbeit, das ist das Rezept. So ist es kein Wunder, daß nun Schulungen ins Wochenende hinein verlegt werden.« Und sie fragen weiter: »Wie lange wollt Ihr Euch solche Über- griffe eigentlich noch gefallen lassen? Wenn Ihr Euch jetzt nicht wehrt, werdet Ihr bald jeden Samstag kommen müssen. Mal eine Schulung, mal zum Sauberma- chen.« Und sie schließen: »Wir können als Gewerkschaft auf die Einhaltung gesetzli- cher Schutzbestimmungen und Rechte der Beschäftigten pochen. Ihre Durchsetzung aber hängt davon ab, ob die Beschäftigten sich im Betrieb gegen die Aushöhlung von Arbeitnehmerrechten zur Wehr set- zen. Wenn Ihr dazu bereit seid, unterstüt- zen wir Euch nach Kräften.« Wir geben diese Zeilen hier nicht wieder, weil wir Werbung für eine radikale Splittergrup- pe machen wollen (obwohl uns auch das durchaus eine Herzensangelegenheit ist). Das Flugblatt ist bemerkenswert, weil dar- aus die richtige Einstellung spricht. Aus dem Elend, auch aus dem, in das wir uns durch Kuschelgewerkschaften und aufs Co-Management versessene Betriebsräte haben manövrieren lassen, können wir uns nur selbst erlösen. So und nicht anders muß man die Dinge anpacken. Widerstand geht anders Sollen sie Opposition gegen Sozialkürzungen organisieren oder über Nachbesserungen verhandeln? Die Gewerkschaften können sich nicht entscheiden. Von Jörn Boewe AP/DIMITRI MESSINIS THESSALONIKI, Griechenland, 10. September 2010: Protest gegen Privatisierung staatlicher Betriebe

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Page 1: jw-2010-09-29-99

Organizing. Neues Konzept oder alter Hut? Ein Buch des Hamburger Sozialhistorikers Peter Birke Seite 3

Co-Management. Zur Wiederbele-bung der Gewerkschaftsbewegung nicht geeignet. Ein Interview mit Klaus Dörre Seite 4

Rammbock Fiat. Unter Führung des Turiner Autokonzerns geht Italiens Kapital zum Frontalangriff über. Von Raoul Rigault Seite 8

Mythos Tarifeinheit. Wenn »Sozial-partner« gemeinsam das Streik-recht einschränken wollen, sollten die Alarmglocken klingen Seite 10 jungeWelt

Die Tageszeitung

gewe r k s c h a f t Beilage der Tageszeitung junge Welt Mittwoch,29. September 2010, Nr. 227

Daß die Leiharbeiter vor zwei Jahren als erste nach Hause geschickt wurden, war für die DGB-Gewerkschaften durchaus in Ordnung, solange man die Stammbelegschaften beisammenhalten konnte. Aber daß nun, da die Kon-junktur wieder anzieht, Unternehmer und Bun-desregierung nicht stracks Kurs auf die Wiederein-führung der »sozialen Marktwirtschaft« neh-men, enttäuscht unsere Arbeiterführer. Man habe »beim Einstellungsverhal-ten der Arbeitgeber den Eindruck, daß diese dort weitermachen, wo sie vor der Krise waren, und dies noch verschärft, indem der Beschäftigungsaufbau fast ausschließlich in miß-bräuchlicher Anwendung der Leiharbeit stattfin-det«, bedauert der DGB-Chef. Ja, wer hätte das ahnen können?

Gerechtigkeit geht anders« lautet das Motto der dies-jährigen »Herbstaktion« des DGB. Es ist nicht ganz

klar, wer der Adressat dieser Bekannt-machung sein soll. Die eigene Basis, die vielleicht noch nicht begriffen hat, was im Lande läuft? Vielleicht ist auch »die Politik« gemeint, wer immer das sein mag. Womöglich Bundeskanzlerin Angela Merkel, die »sich in der Koali-tion nicht durchsetzen« kann, wie der DGB-Vorsitzende Michael Sommer neulich im Kölner Stadtanzeiger analy-sierte. Eben noch, in der Krise war sie »die Kanzlerin der sozialen Balance«, aber auf einmal, plötzlich und unerwar-tet, »spart die Regierung zu Lasten der Schwächeren«. Und woran liegt es? Li-berale Lausebengel und bayrische So-zialreaktionäre haben Frau Merkel als Geisel genommen:»Es kann einem übel werden, wenn man sieht, wie eine Fünf-Prozent-Partei zusammen mit einer un-berechenbaren CSU die Richtung der Politik bestimmt«, erklärt uns der DGB-Chef die Welt.

Für die DGB-Gewerkschaften ist es schwer zu verstehen: Eben noch, in der Krise, waren sie gefragte Gesprächspart-ner im Kanzleramt, und auch die Un-ternehmer ließen keine Gelegenheit ver-streichen, auf die Opfer hinzuweisen, die man »gemeinsam« zu erbringen bereit

war, um die konjunkturelle Durststrecke durchzustehen. Tatsächlich ist man in der Bundesrepublik mehr oder weniger ohne Massenentlassungen durch die Depres-sion gekommen – abgesehen von den paar hunderttausend prekär Beschäftig-ten, die aber irgendwie nicht zu zählen scheinen. Daß die Leiharbeiter vor zwei Jahren als erste nach Hause geschickt wurden, war für die DGB-Gewerkschaf-ten durchaus in Ordnung, solange man die Stammbelegschaften beisammenhal-ten konnte. Aber daß nun, da die Kon-junktur wieder anzieht, Unternehmer und Bundesregierung nicht stracks Kurs auf die Wiedereinführung der »sozialen Marktwirtschaft« nehmen, enttäuscht unsere Arbeiterführer. Man habe »beim Einstellungsverhalten der Arbeitgeber den Eindruck, daß diese dort weiterma-chen, wo sie vor der Krise waren, und dies noch verschärft, indem der Beschäf-tigungsaufbau fast ausschließlich in miß-bräuchlicher Anwendung der Leiharbeit stattfindet«, bedauert der DGB-Chef. Ja, wer hätte das ahnen können?

Immerhin, auch in diesem Elend gibt es Hoffnungsschimmer. Die IG Metall fordert in der laufenden Stahltarifrun-de die Gleichstellung der Leiharbeiter. Ihre Verwaltungsstelle Salzgitter-Peine nutzt den Tarifkonflikt, um zugleich gegen »Sparpaket« und Atompolitik der Bundesregierung zu mobilisieren:

»Ungerechte Sparpakete, einseitige Belastungen der Beschäftigten bei der Gesundheit, Rente erst mit 67 und ei-ne unverantwortliche Energiepolitik mit längeren Laufzeiten der Atomkraftwerke – das ist die Bilanz der schwarz-gelben Bundesregierung. Dagegen müssen wir uns gemeinsam wehren«, heißt es in de-ren Aufruf für eine Großkundgebung am 29. September. Man richte sich »nicht nur an die Beschäftigten in Salzgitter und Peine, sondern auch an alle Bürge-rinnen und Bürger in unserer Region«. Die Aktion finde »ganz bewußt während der Arbeitszeit statt, damit der Wider-stand gegen Sparpaket und Atompolitik auch wirtschaftliche Auswirkungen auf die Unternehmen hat. Auch kann dies als ein kleiner Vorgeschmack auf die kom-mende Auseinandersetzung während der Atommülltransporte gesehen werden«. Nun, das ist die angemessene Sprache.

Ein anderes Flugblatt flatterte uns die-ser Tage ins Haus – dieses nicht von der größten, sondern der vermutlich kleinsten Gewerkschaft der Republik. Die Frankfur-ter Ortsgruppe der Wobblies, der Industri-al Workers of the World (IWW), verteilte es kürzlich vor den dortigen Stadtwerken. Deren Kantinenbetreiber, das zur multi-nationalen Compass Group gehörende Unternehmen Eurest, ist auf die Idee ge-kommen, Weiterbildungen für Mitarbei-ter in der Freizeit durchzuführen. »Die

Compass-Group hat mitten in der Krise satte Gewinne erwirtschaftet – auf dem Rücken der Mitarbeiter«, schreiben die Wobblies. »Personalabbau, ausgedünnte Schichten und unbezahlte Mehrarbeit, das ist das Rezept. So ist es kein Wunder, daß nun Schulungen ins Wochenende hinein verlegt werden.« Und sie fragen weiter: »Wie lange wollt Ihr Euch solche Über-griffe eigentlich noch gefallen lassen? Wenn Ihr Euch jetzt nicht wehrt, werdet Ihr bald jeden Samstag kommen müssen. Mal eine Schulung, mal zum Sauberma-chen.« Und sie schließen: »Wir können als Gewerkschaft auf die Einhaltung gesetzli-cher Schutzbestimmungen und Rechte der Beschäftigten pochen. Ihre Durchsetzung aber hängt davon ab, ob die Beschäftigten sich im Betrieb gegen die Aushöhlung von Arbeitnehmerrechten zur Wehr set-zen. Wenn Ihr dazu bereit seid, unterstüt-zen wir Euch nach Kräften.« Wir geben diese Zeilen hier nicht wieder, weil wir Werbung für eine radikale Splittergrup-pe machen wollen (obwohl uns auch das durchaus eine Herzensangelegenheit ist). Das Flugblatt ist bemerkenswert, weil dar-aus die richtige Einstellung spricht. Aus dem Elend, auch aus dem, in das wir uns durch Kuschelgewerkschaften und aufs Co-Management versessene Betriebsräte haben manövrieren lassen, können wir uns nur selbst erlösen. So und nicht anders muß man die Dinge anpacken.

Widerstand geht andersSollen sie Opposition gegen Sozialkürzungen organisieren oder über Nachbesserungen verhandeln? Die Gewerkschaften können sich nicht entscheiden. Von Jörn Boewe

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THESSALONIKI, Griechenland, 10. September 2010:Protest gegen Privatisierung staatlicher Betriebe

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Mittwoch, 29. September 2010, Nr. 227 junge Welt 2 g e w e r k s c h a f t

In der Schweiz ist das Referen-dum über die Ablehnung der EU-Freizügigkeit im Februar vergan-genen Jahres gescheitert. Doch

die »Schwarze-Raben-Kampagne« der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) gegen die vermeint-liche osteuropäische Ausländerflut hat deutlich gemacht, welches frem-denfeindliche Potential auch hierzu-lande entfacht werden könnte, wenn Deutschland im Mai nächsten Jahres die Übergangsfristen für die Arbeitneh-merfreizügigkeit und Dienstleistungs-freiheit aufhebt. Dann nämlich können Beschäftigte aus Lettland, Litauen, Po-len, der Slowakei, Slowenien, Tsche-chien, Ungarn und Estland ohne Ein-schränkung in Deutschland arbeiten. Zwei Jahre später soll die vollständige Öffnung der Arbeitsmärkte auch für Bulgaren und Rumänen folgen.

Um zu beraten, wie man latent vor-handenen Überfremdungsängsten den Boden entziehen kann, luden der DGB und die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) Mitte September zur Konferenz »Mobilität in Europa« ein. Nach dem Motto »erstmal die Sachla-ge prüfen«, erörterten Wissenschaftler und Gewerkschafter die »Auswirkun-gen von Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit auf Ar-beitsmärkte und Betriebe«.

Weitgehend einig war man sich, daß es keine Migrationswelle geben wer-de. Derartige Prognosen entbehrten je-der empirischen Grundlage, wie Timo Baas und Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Freiburg herausstellten. Denn der deutsche Arbeitsmarkt sei, zumin-dest was eine langfristige Migration angeht, alles andere als attraktiv. Das liege zum einen an bereits bestehenden Migrationsnetzwerken zu Ländern wie Spanien oder Irland, die ihre Arbeits-märkte schon seit Jahren für die neuen Mitgliedsstaaten geöffnet haben. Zum

anderen würde das abnehmende Lohn-gefälle zwischen Deutschland und ost-europäischen Ländern wie Polen oder Tschechien den Anreiz einer Migrati-on verhindern. Schließlich führe die immer noch mangelnde Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüs-sen dazu, daß die Bereitschaft, nach Deutschland zu ziehen, speziell unter den besser Qualifizierten, wenig aus-geprägt sei. Für eine Lösung des in den vergangenen Wochen immer wie-der propagierten Fachkräftemangels in Deutschland fehlen schlicht die passen-den Rahmenbedingungen.

Anders dagegen sieht es mit der zeit-lich begrenzten Migration aus, etwa durch Leiharbeit und Entsendungen.

Mit dem Auslaufen der Ausnahmere-gelungen zur Dienstleistungsfreiheit, die für Branchen wie das Bau- und Reinigungsgewerbe galten, können Unternehmen künftig Beschäftigte auch in andere Mitgliedsstaaten ent-senden – etwa in Form eines Leihar-beitsverhältnisses. Geschieht dies für Beschäftigte in Branchen, die nicht über Arbeitnehmer endsendegesetz – also einen verbindlichen Mindestlohn – geschützt sind, gelten die Bedin-gungen des Herkunftslandes. Bisher bestehende Werkvertragsabkommen zwischen Deutschland und den neu-en Mitgliedsländern und die darin be-stimmten Mindeststandards sind da-mit hinfällig. DGB-Vorstandsmitglied

Annelie Buntenbach sprach von einer »neuen Dienstleistungsökonomie«. Schon jetzt stünden Hunderte deutsche Unternehmen in den Startlöchern, um Leiharbeitsfirmen in Osteuropa zu er-öffnen. Zwar gelte sowohl für die Bau- als auch für die Reinigungsbranche ein Mindestlohn. Da die Einführung einer Untergrenze für Leiharbeit aber bisher von Union und FDP blockiert werde, bestehe die Gefahr einer massi-ven Ausweitung zum Zweck des Lohn-dumpings. Nach einer Schätzung des Düsseldorfer Arbeitsrechtlers Frank Lorenz könnten durch die Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie zu den derzeit 800 000 Leiharbeitnehmern weitere 500 000 hinzukommen. Da es in Deutschland außerhalb der ins End-sendegesetz aufgenommenen Mindest-lohnbranchen keine Meldepflicht für entsandte Arbeitskräfte gibt, befürchtet er zudem hohe Einnahmeverluste für Staat und soziale Sicherungssysteme. Gleiches gilt auch für die Saisonarbeit mit ihren aktuell etwa 180 000 Be-schäftigten Auch hier würden aufgrund des fehlenden Mindestlohns bisherige Mininimalstandards ab Mai kommen-den Jahres wegfallen.

Handlungsbedarf sehen die Gewerk-schaften vor allem bei der Regierung. Ihre Vorgängerinnen seien zwar dem Wunsch nach Übergangsfristen nach-gekommen. Sie hätten die Zeit aber nicht genutzt, durch die Schaffung ent-sprechender rechtlicher Rahmenbedin-gungen eine Gefährdung von Arbeits-plätzen durch Lohndumping zu vermei-den. Die Gesetzeslücken seien »so groß wie Scheunentore«, sagte Buntenbach. Das gelte sowohl für die Erfassung von Leiharbeit, das unzureichende Endsen-degesetz als auch das generelle Fehlen von Beratungsmöglichkeiten für betrof-fene Beschäftigte.

Denn neben Risiken für die hiesi-gen Arbeitsmärkte beinhaltet die Ar-beitnehmerfreizügigkeit auch enorme Gefahren für die Rechte der entsandten Beschäftigten, so Lorenz. Viele wissen oft gar nicht, welche Rechte sie in ih-rem Arbeitsverhältnis haben, ob ihnen eine Krankenversicherung zusteht, oder an wen sie sich im Falle von Lohnbe-trug wenden können. Die europäische Endsenderichtlinie schreibe die Ein-richtung staatlicher Beratungsstellen sogar zwingend vor. Doch die einzigen praktischen Initiativen gingen bisher vom DGB und einigen osteuropäischen Botschaften aus, die allerdings nur ei-nen geringen Teil des Bedarfs abdek-ken können.

Gesetzeslücken, so groß wie ScheunentoreIm Mai 2011 öffnet Deutschland seine Arbeitsmärkte für Osteuropa. Auswirkungen auf die Migration bleiben gering. Die Gefahr von Lohndumping durch fehlende Regelungen ist dafür um so größer. Von Johannes Schulten

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SAN SEBASTIAN, Spanien, 7. Februar 2010:Laßt die Verursacher der Krise zahlen! Demonstration gegen die Politik der Europäischen Union

Mit dem Auslaufen der Ausnahmeregelungen zur Dienstleistungsfrei-heit, die für Branchen wie das Bau- und Reini-gungsgewerbe galten, können Unternehmen künftig Beschäftigte auch in andere Mitgliedsstaa-ten entsenden – etwa in Form eines Leiharbeits-verhältnisses. Geschieht dies für Beschäftigte in Branchen, die nicht über Arbeitnehmer-endsendegesetz – also einen verbindlichen Min-destlohn – geschützt sind, gelten die Bedingungen des Herkunftslandes.

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gewerkschaft erscheint als Beilage der Tageszei-tung junge Welt im Verlag 8. Mai GmbH, Torstraße 6, 10119 Berlin. Redaktion: Jörn Boewe (V. i. S. d. P.), Anzeigen: Silke Schubert, Gestaltung: Michael Som-mer.

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junge Welt Mittwoch, 29. September 2010, Nr. 227 3g e w e r k s c h a f t 3

Es geht voran«, verkündete der Deutsche Gewerkschafts-bund im vergangenen Jahr stolz: »2008 ist es den DGB-

Gewerkschaften gelungen, gegenüber dem Vorjahr den Mitgliederrückgang zu halbieren.« Wer solche Erfolgsmeldun-gen produziert, muß in der Tat verzwei-felt sein. Seit Jahrzehnten verlieren die DGB-Gewerkschaften Mitglieder. Vor zehn Jahren organisierten sie noch rund acht Millionen Menschen, von denen heute noch 6,26 Millionen übriggeblie-ben sind. Eine Trendumkehr gab es in den letzten Jahren lediglich bei der Ge-werkschaft Erziehung und Wissenschaft und der Gewerkschaft der Polizei. Aber auch hier sind die Verluste aus dem vergangenen Jahrzehnt längst nicht aus-geglichen.

In den meisten Branchen, egal ob Dienstleistung oder Industrie, ist an Zu-wächse nicht zu denken: 3,7 Prozent ihrer Mitgliedschaft verlor die Bahngewerk-schaft Transnet im vergangenen Jahr, 3,2 Prozent die IG BAU, 1,9 Prozent die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, 1,6 Prozent die IG Metall. Letztere ist, weil ver.di ihre Mitglieder noch schneller ver-liert, seit ein paar Jahren wieder stärkste Einzelgewerkschaft der Welt. Für das laufende Jahr muß sie, einem Bericht der Frankfurter Rundschau zufolge, mit einem dreiprozentigen Rückgang bei den Beitragseinnahmen rechnen. Das sind 13 Millionen Euro, die fehlen und wehtun. »Wenn alles so weiterläuft wie bisher, wird die IG Metall in sechs bis sieben Jahren wegen des Altersaufbaus in der Mitgliedschaft unter eine Million Voll-beitragszahler haben«, heißt es in einem Vorstandspapier von 2009.

Wer verzweifelt ist, braucht klare Anweisungen zum Handeln oder Be-ten, und irgendwo dazwischen muß man die Rezeption US-amerikanischer »Organizing«-Stategien durch die Ap-parate der verschiedenen DGB-Bran-chenverbände einordnen. Nachdem sie gemerkt haben, daß »McKinsey« für sie

nicht das Richtige ist, setzen die Ge-werkschaften nun wieder verstärkt auf Klassenkampf. Allerdings – und die Ein-schränkung ist wichtig – nur im Ein-zelbetrieb und nur in Bereichen, wo sie schwach vertreten sind.

Was aber, bitteschön, bedeutet das neue Zauberwort? »Ausgangspunkt« sei-en »Beschäftigte und Konflikte am Ar-beitsplatz«, heißt es in dem 2005 in erster Auflage erschienenen ver.di-Klassiker »Organizing – Gewerkschaft als sozi-ale Bewegung« von Agnes Schreieder. Die Methode setze »ein Verständnis von Gewerkschaft voraus, das die Beschäftig-ten, die potentiellen Mitglieder selbst, als Hauptstützen der Gewerkschaft sieht«.

Daß dies nun als unerhört neu ange-priesen wird, zeigt vor allem, wie sehr die Gewerkschaften hierzulande auf den Hund gekommen sind. Hier wird offenbar das Fahrrad neu erfunden. Ab-hängig Beschäftigte, die, statt sich ge-geneinander ausspielen zu lassen, soli-darisch zusammenschließen, um ihren Chef unter Dampf zu setzen – das ist schließlich die Grundlage gewerkschaft-licher Tätigkeit. »Organizing« ist nicht eine »Option« unter vielen, sondern das A und O jeder Arbeiterbewegung. Nur ist diese Binsenweisheit in den fetten Jahren des rheinischen Kapitalismus und in der Kuschelecke der halbstaatlichen FDGB-Gewerkschaften verschütt gegan-gen. Sie war weg, als mit der Mauer auch die letzten Hemmungen des westdeut-schen Kapitals fielen und man sie am nötigsten gebraucht hätte. Fast zwei Jahr-zehnte neoliberalen Durchmarschs unter verschiedenen parteipolitischen Farben inklusive der Hartzschen »Schockthera-pie« waren nötig, damit in den Schalt-zentralen der gesamtdeutschen Arbeiter-bürokratie der Groschen fällt: »Weniger Co-Management – mehr konfliktorische Auseinandersetzung.« So steht es in ei-nem Strategiepapier des 2. Vorsitzenden der IG Metall, Detlef Wetzel, und anderer führender Funktionäre von 2008. »Weni-ger Stellvertreterpolitik – mehr direkte

Beteiligung und Übernahme von Verant-wortung«, und: »Es geht um Emanzipa-tion, nicht um Reklame«. Man reibt sich die Augen, fühlt sich irgendwie veräp-pelt. Aber unterm Strich kann man nur zustimmen.

Dies tut auch Peter Birke, Soziologe und Historiker und einer der Köpfe der »Gruppe Blauer Montag«, einem poli-tischen Zusammenschluß, den wir hier dem Verständnis unserer Leser zuliebe etwas lax dem marxistisch/syndikali-stisch orientierten Teil der Hamburger »autonomen Szene« zuschlagen wollen. In seinem beim Verlag »Assoziation A« erschienenen Buch »Die große Wut und die kleinen Schritte« zeigt er aber auch die Zwiespältigkeit der »Organizing«-Bestrebungen, die zumindest von Teilen des Gewerkschaftsapparats lediglich als neuer »Marketingtrend« verstanden und praktiziert werden. Der Autor spricht in diesem Zusammenhang von der »beque-men Vorstellung (…), daß es beim Orga-nizing vorrangig um eine neue Technik gehe, um einen systematisch komponier-ten Komplex von Handlungsanweisun-gen, der hinsichtlich seiner sozialen und politischen Bedeutungen neutral sei«.

Ohne Wenn und Aber begrüßt Birke gewerkschaftliche Versuche, Unzufrie-denheit, Unmut und diffusen Wider-stand unter den Beschäftigten (»labor unrest«) in (politische) Form zu brin-gen, zu organisieren: »Eine alltägliche Arbeit an innerbetrieblichen Konflikten und ihrer kollektiven Artikulation kann als der vielleicht größte Verdienst der Organizing-Projekte angesehen werden«, schreibt er. »Im Zentrum stehen hier die Arbeitenden selbst. Das Gewerkschafts-verständnis, das auf dieser Grundlage ins Spiel kommt, unterscheidet sich in diesem Sinne grundlegend von allen tra-ditionellen Ansätzen, einschließlich der meisten marxistischen Varianten.«

Birke ist aber unabhängig genug, den »ambivalenten Charakter der bisherigen Organizing-Politik« zu erkennen: »Die-se ist davon geprägt, daß es einerseits

um das Ziel geht, die Gewerkschaft als (letztlich bürokratischen) Apparat zu ret-ten, andererseits um den Wunsch nach einer basisdemokratischen und kämpfe-rischen Gewerkschaftspolitik.« Und so stößt man in der gewerkschaftlichen Pra-xis neben ermutigenden Ansätzen immer wieder auch auf jene Spielart des »Or-ganizings«, die letzlich nichts als eine »Innovation autoritärer Sozialtechniken« ist, »entpolitisierte Psychotechnik« zur »Rationalisierung« von »Hierarchie und Bürokratie«.

Wenngleich man »das aktuelle Inter-esse einiger Gewerkschaftsführer« also nicht als Entscheidung mißverstehen darf, »sich mangels Tanzpartnern wieder mehr am Ringkampf zu orientieren«, tun sich dennoch neue Perspektiven für eine kämpferische Klassenpolitik auf: »Die Chance besteht aus meiner Sicht nicht darin, daß sich dieser oder jener Gewerk-schaftsführer so oder so entscheidet«, be-tont Birke, »sondern in der Offenheit der Situation.« Die Arbeits- und Lebenswelt sei »nunmehr auch in der Bundesrepu-blik von einer massenhaften Erfahrung entgarantierter und diskontinuierlicher Arbeitsverhältnisse geprägt«. Die Arbei-terklasse ist nicht mehr das, was sie mal war, unter dem Druck der neoliberalen Angriffe wird der Gesamtarbeiter aufge-mischt und gezwungen, sich neu zu sor-tieren. In dieser Umbruchsituation kann durch Organizing »ein möglicher Beitrag zu dem geleistet werden, was die Opera-isten früher als Umschlag von der tech-nischen in die politische Neuzusammen-setzung der Klasse bezeichnet haben«. »Dabei ist es allerdings entscheidend, wer das Wort ergreift – und nicht gele-gentlich zum Schweigen gebracht wird. Organizing, so verstanden, ist weder Boxen noch Tanzen, keine neue Waffe im Arsenal der Gewerkschaftsstrategen, sondern die mögliche Aneignung des Rings durch eine neue soziale Figur, die auf der Grundlage der bis jetzt noch sehr verstreuten Konflikte ihre sozialen und politischen Rechte einfordern wird.«

Das Fahrrad neu erfindenNachdem »McKinsey« nicht das Richtige war, haben die Gewerkschaften das »Organizing« entdeckt. Kein Kursschwenk, aber eine Chance, meint der Historiker Peter Birke. Von Jörn Boewe

Peter Birke: Die große Wut und die kleinen Schritte. Gewerkschaftli-ches Organizing zwischen Protest und Projekt. Assoziation A, Berlin/Hamburg 2010, 12,80 Euro

PRAG, Tschechien, 21. September 2010:Gegen Budgetkürzungen! Feuerwehrmänner wehren sich

Abhängig Beschäftigte, die, statt sich gegeneinan-der ausspielen zu lassen, solidarisch zusammen-schließen, um ihren Chef unter Dampf zu setzen – das ist schließlich die Grundlage gewerkschaft-licher Tätigkeit. »Organi-zing« ist nicht eine »Opti-on« unter vielen, sondern das A und O jeder Arbei-terbewegung.

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Mittwoch, 29. September 2010, Nr. 227 junge Welt 4 g e w e r k s c h a f t

In Krisen gewinnen Gewerkschaften üblicherweise nicht an Einfluß. Dieses

Mal scheint es anders zu sein: Trotz der tiefsten Wirtschaftskrise der BRD-Geschichte und »schwarz-gelber« Regie-rungskoalition ist DGB-Chef Michael Sommer gefragter Gesprächs-partner im Kanzler-amt, wurden Vorschlä-ge der IG Metall wie die Abwrackprämie schnell aufgegriffen und umgesetzt. Wie kommt das?

Der entscheidende Punkt ist, daß sich bei den politischen Eliten etwas verändert hat. Sie wurden von der Schärfe der Krise über-rascht und mußten nach neuen Bündnis-partnern suchen, um überhaupt wieder ins Geschäft zu kommen. Dadurch sind die Gewerkschaften als Krisenmanager inter-essant geworden. In der Folge sind sie vom Katzentisch wieder stärker ins Zentrum der politischen Macht gerückt. Es scheint auf den ersten Blick tatsächlich so, als sei der deutsche Korporatismus – also die Einbindung der Gewerkschaften durch die politisch und ökonomisch Mächtigen – sta-bil. Die Frage ist aber, ob die strukturel-len Schwächen der Gewerkschaften – vor allem der Verlust an Organisationsmacht – durch eine solche Strategie zu kompen-sieren sind. Und das bezweifle ich.

Warum?In der Regel ist es so, daß korporatistische Deals – die ja auf Ebene von Eliten stattfin-den – keinen Anreiz für Beschäftigte ent-halten, sich zu organisieren. Es gibt zwar gerade bei jüngeren Menschen wieder eine größere Aufgeschlossenheit gegenüber den Gewerkschaften, aber eine grundlegende Erneuerung – die mit den »Organizing«-Projekten angestrebt wird – ist auf diesem Weg kaum zu erreichen. Solche Projekte würden einen Kontext benötigen, der von gewerkschaftlicher Konflikt- und Durch-setzungsfähigkeit zeugt. Es gibt zwar nach wie vor zaghafte Ansätze der Erneuerung, aber ich kann nicht erkennen, daß das in eine glaubwürdige Oppositionspolitik ein-gebettet wäre.

Das betrifft auch den Umgang mit der Regierung. Diese ist im Grunde schein-tot, mit einer FDP an der Fünf-Prozent-Schwelle und einem Anteil bei Wahlumfra-gen von insgesamt gerade mal 40 Prozent. Dennoch hat man den Eindruck, daß die Gewerkschaften als Preis für ihr gemeinsa-mes Krisenmanagement mit der Regierung darauf verzichtet haben, eine oppositio-nelle Stimme in der Gesellschaft zu sein, die die großen Fragen aufgreift. Wir haben es nach wie vor mit einer dramatischen Krisensituation zu tun – ich würde von ei-ner ökonomisch-ökologischen Doppelkri-se sprechen. Vor diesem Hintergrund sind eigentlich, wie man beim Fußball sagt, lange Pässe gefragt. Also Visionen und eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Politik, die in dieses Desaster ge-führt hat. Von einem entsprechenden Agie-ren der Gewerkschaften ist aber öffentlich kaum etwas wahrzunehmen.

Kann dieser »Krisenkorporatismus« zu einer dauerhaften Einbindung der Gewerkschaften durch die Eliten führen?

Es ist zumindest sehr fraglich, wie dauer-

haft solche Bündnisse sind. Die Regierung geht jetzt zur Austeritätspolitik, also zu staatlichen Kürzungspro-grammen über. Das heißt, die Folgen der Krisen zei-tigen wiederum Folgen, die das Bündnis auf eine Be-lastungsprobe stellen. Trotz des Aufrufs für einen »hei-ßen Herbst« erscheinen die Gewerkschaften eher zag-haft. Selbst an Punkten wie der Rente mit 67 und Hartz IV, an denen die Sozialde-mokratie ihre alte Politik teilweise korrigiert, zögern die Gewerkschaften, diese Wendung zur Opposition

mitzumachen. Das macht den Protest ge-gen die Regierung nicht glaubwürdiger. Ich bin mir daher auch nicht sicher, wie groß die angekündigten Mobilisierungen tatsächlich werden.

Auf den ersten Blick scheint dieses Agieren den Stimmungen derjenigen zu entsprechen, die noch in halbwegs ge-schützter Beschäftigung sind. Da haben wir ja eher »Wir sind Karstadt« oder »Wir sind Porsche« als unternehmensübergrei-fende Klassensolidarität. Bei unseren Be-legschaftsumfragen kommen wir aber auch zu gegenläufigen Ergebnissen. Es existiert zwar diese Identifikation mit dem Unter-nehmen, vor allem mit den Sicherheiten, die ein großer Konzern noch bieten kann. Gleichzeitig stellen wir aber fest, daß es ei-ne weit verbreitete Kritik, einen regelrech-ten Antikapitalismus, gibt – auch bei quali-fizierten Arbeitern und Angestellten. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von einem latenten, heimatlosen Antikapitalis-mus, weil dieser keine Adressaten findet. 70 Prozent halten in unseren Umfragen die Aussage zumindest für teilweise richtig, daß diese Gesellschaft in Zukunft keine Überlebenschance hat. Aber die Gewerk-schaften werden gar nicht als Adressaten einer solchen Kritik betrachtet. Und das hat natürlich etwas mit der realen Politik dieser Organisationen zu tun.

Dennoch scheint das Agieren von Ge-werkschaften und Staat in der Krise

zumindest vordergründig sehr erfolg-reich zu sein. Durch Konjunkturpro-gramme, Abwrackprämie, Kurzar-beit und »Beschäftigungssicherung-starifverträge« wurden die allseits erwarteten Massenentlassungen von Stammbeschäftigten vermieden.

Das stimmt, das muß man auch anerken-nen. Natürlich ist es zunächst einmal das Geschäft von Gewerkschaften, die unmit-telbaren Interessen von Beschäftigten zu vertreten. Das Problem ist nur, daß diese korporativen Strategien – die ihre Hochzei-ten in der Phase des prosperierenden fordi-stischen Kapitalismus hatten – heute etwas anderes bewirken als damals. Im Grunde sind das Politiken für Stammbeschäftigte, die stillschweigend in Kauf nehmen, daß das Risiko auf andere Gruppen abgewälzt wird. Der Niedriglohnsektor expandiert. Die Leiharbeiter waren in der Krise zu Hunderttausenden schnell wieder auf der Straße, ohne daß viel passiert wäre.

Es gibt allerdings auch Gegentenden-zen. Man darf die Gewerkschaften nicht über einen Kamm scheren. Innerhalb der Organisationen, auch zwischen den großen Gewerkschaftsblöcken existieren unter-schiedliche Orientierungen. Die IG Metall, die eher in Richtung einer korporativen Industriepolitik geht, ist nicht gleich ver.di und so weiter. Zudem signalisiert zum Bei-spiel die Forderung nach Gleichstellung der Leiharbeiter in der laufenden Stahlta-rifrunde, daß es in der IG Metall keine ein-heitliche Tendenz zugunsten einer exklu-siven Solidarität von Stammbeschäftigten gibt. Auch das muß man registrieren und darf nicht zu sehr grau in grau malen. Aber die Haupttendenz ist doch: Die IG Metall ist gegenwärtig nicht, was sie in der Bun-desrepublik lange war: das intellektuelle Zentrum, das in der Lage wäre, die Linke zusammenzuführen.

Mit dem beginnenden Aufschwung setzen die Unternehmer voll auf Leih-arbeit, Teilzeitverträge und befristete Beschäftigungsverhältnisse. Ist dieser Trend zur Prekarisierung überhaupt noch zu stoppen?

Es wird zumindest schwer. Daß die andere Seite jetzt verstärkt auf flexible und in erster Linie prekäre Beschäftigung setzt, hängt

auch mit den Erfahrungen zusammen, die sie damit gemacht hat. Es gab zuerst wenig gewerkschaftlichen Widerstand gegen die Ausweitung der Leiharbeit, dann eine recht erfolgreiche Organisierungskampagne in diesem Bereich. Diese hat aber nicht dazu geführt, daß die Arbeitsplätze von Leihar-beitern in der Krise in größerem Ausmaß verteidigt werden konnten. Das wirkt sich natürlich auf die Glaubwürdigkeit der Ge-werkschaften aus, weil man Erwartungen geweckt hat, die man in weiten Teilen nicht erfüllen konnte.

Es wird ganz schwer werden, Dämme gegen die Prekarisierung zu errichten. Im Moment finden Neueinstellungen, gerade in der Metall- und Elektroindustrie, vor allem in Form von Befristungen und Leih-arbeit statt. Es ist erklärtes Ziel der Fir-men, diese »Zone der Verwundbarkeit« auszuweiten. Wenn dem politisch kein Rie-gel vorgeschoben wird, wird es in der Tat schwer, das zu verhindern. Die Maßnah-men, die die Bundesregierung diesbezüg-lich bislang eingeleitet hat, sind aber kaum mehr als Augenwischerei.

Hat die Fragmentierung der Beschäf-tigungsverhältnisse automatisch eine Aufspaltung in Interessengruppen und einen Verlust von Solidarität zur Folge? Einige sehen hierin einen Grund für das Erstarken von Spar-tengewerkschaften.

Ich befürchte, daß die Gewerkschaften zu-sehends nicht zu Sparten-, aber zu Fraktal-gewerkschaften werden. In den weltmarkt-orientierten Branchen, dem öffentlichen Dienst, der kleineren und mittleren Indu-strie unterscheiden sich die Lebenslagen der Beschäftigten mittlerweile deutlich. Die Heterogenität wird noch größer, wenn man den Verfall von Einkommen im prekä-ren Bereich mit einbezieht, mit Stunden-löhnen für Toilettenfrauen an den Autobah-nen von 1,50 Euro und ähnlichem.

Diese Heterogenität vor Augen wird es für die Gewerkschaften, so wie sie jetzt agieren, sehr schwierig, eine inklusive So-lidarität zu praktizieren, die sich auf alle Lohnabhängigen und diejenigen bezieht, die indirekt auf lohnabhängige Einkom-men angewiesen sind. Möglicherweise bekommen wir eine Entwicklung, bei der

» Lange Pä s s e s i n d ge f rag t«Statt grundlegende Fragen zu stellen und »heimatlosen Antikapitalismus« aufzugreifen, setzen die Gewerkschaftsspitzen auf gemeinsames Krisenmanagement mit den politischen Eliten. Eine nachhaltige Strategie der Revitalisierung ist das nicht. Ein Gespräch mit Klaus Dörre

Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und

Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität

Jena

»Man darf die Gewerk-schaften nicht über einen Kamm scheren. Innerhalb der Organisationen, auch zwischen den großen Gewerkschaftsblöcken existieren unterschied-liche Orientierungen. Die IG Metall, die eher in Richtung einer korporati-ven Industriepolitik geht, ist nicht gleich ver.di und so weiter. Zudem signa-lisiert zum Beispiel die Forderung nach Gleich-stellung der Leiharbeiter in der laufenden Stahlta-rifrunde, daß es in der IG Metall keine einheitliche Tendenz zugunsten einer exklusiven Solidarität von Stammbeschäftigten gibt. Auch das muß man regi-strieren und darf nicht zu sehr grau in grau malen. Aber die Haupttendenz ist doch: Die IG Metall ist gegenwärtig nicht, was sie in der Bundesrepublik lange war: das intellektu-elle Zentrum, das in der Lage wäre, die Linke zu-sammenzuführen.«

GENF, Schweiz, 28. März 2009:»Vereinigte Banditen der Schweiz« – Protest gegen den G-20-Gipfel

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junge Welt Mittwoch, 29. September 2010, Nr. 227 5g e w e r k s c h a f t

einzelne Gewerkschaftsblöcke nur noch bestimmte Fraktionen von Lohnabhängi-gen vertreten. Das könnte in Bereichen mit noch hoher gewerkschaftlicher Orga-nisationsmacht die Tendenz verstärken, im Bündnis mit Unternehmern und Regierung Erfolge zu erzielen. Das wäre eine ver-hängnisvolle Entwicklung, die ich mit dem Begriff Fraktalgewerkschaft bezeichnen würde.

Seit einigen Jahren gibt es Versu-che deutscher Gewerkschaften mit »Organizing«. Ziel dieser aus dem angelsächsischen Raum stammenden Ansätze ist eine gewerkschaftliche Revitalisierung, also die Erhöhung der Organisationsmacht durch Kam-pagnen vor allem in bisher schwach organisierten Bereichen, aber auch eine größere Konflikt orientierung und die stärkere Einbeziehung der Beschäftigten. Wie fällt Ihre Bilanz dieser Aktivitäten aus?

Es ist ganz schwierig, hier eine wissen-schaftlich fundierte Bilanz zu ziehen, auch weil sich die Akteure nur ungern in die Karten gucken lassen. Auf Grundlage lau-fender Untersuchungen vermute ich, daß solche Praktiken teilweise Erfolg haben, teilweise nicht. Im Vergleich zu ihren Vor-bildern in den USA sind sie ganz anders ausgestattet und werden bei weitem nicht so professionell und akribisch durchge-führt. Bei knappen Ressourcen besteht in diesen Organisationen immer die Gefahr, daß solche Ansätze sehr schnell wieder beerdigt werden, wenn die Erfolge nicht sofort den Erwartungen entsprechen.

Der entscheidende Punkt scheint mir aber zu sein, daß diese Aktivitäten ein ent-sprechendes Umfeld benötigen, bei dem man merkt: Die Gewerkschaft ist eine kämpferische, authentische Interessenver-tretung, die tatsächliche Erfolge erzielen kann. Wenn in den Gewerkschaften eher eine Rückwärtsbewegung hin zu korporati-

ven Elitendeals stattfindet, haben es solche Bestrebungen schwer. Das gilt zumindest dann, wenn man mit »Organizing« einen tiefgreifenden Organisationswandel von Gewerkschaften verbindet. Das heißt aller-dings nicht, daß es nicht auch sehr erfolg-reiche »Organizing«-Projekte gibt.

Sowohl bei ver.di als auch in der IG Metall scheinen diese Ansätze bislang eher Nischencharakter zu haben und nicht zu einer Transformation der Gesamtorganisation zu führen.

Dem würde ich zustimmen. Zumindest ist das »Organizing« hierzulande bislang nicht so weit verbreitet, daß damit auch die Rolle der Gewerkschaft als soziale Bewe-gung deutlich würde. Wobei man auch klar sehen muß: Die deutschen Gewerkschaften sind anders als die US-amerikanischen, die Systeme industrieller Beziehungen sind sehr verschieden. In Deutschland spielen die Betriebsräte eine zentrale Rolle. Das ist ein entscheidender Unterschied. Die

Betriebsräte der großen, weltmarktorien-tierten Konzerne sind in den Industriege-werkschaften machtvolle Player, die enor-men Einfluß auf innergewerkschaftliche Entscheidungsprozesse haben.

Was bedeutet das für »Organizing«-Strategien?

Sie kommen an den Betriebsräten nicht vor-bei. In Bereichen, die neu erschlossen wer-den sollen, sind die Aktivitäten hierzulande oft darauf gerichtet, Betriebsräte überhaupt erst zu etablieren. In dieser Hinsicht gibt es tatsächlich eine Reihe erfolgreicher Pro-jekte. Aber auch den umgekehrten Fall: Daß sich alt eingesessene Betriebsräte zu-mindest nicht sonderlich begeistert zeigen, wenn aufgrund von »Organizing«-Projek-ten plötzlich neue Akteure in ihren Be-trieben auftauchen. Vor dem Hintergrund dieser sehr unübersichtlichen Gemengela-ge würde ich mich zum jetzigen Zeitpunkt davor hüten, pauschale Urteile zu fällen. Das Gespräch führte Daniel Behruzi

Kürzlich erschienen von unserem Gesprächspart-ner Klaus Dörre: Überbe-triebliche Regulierung von Arbeitsbeziehungen. In: Fritz Böhle/Günther Voß/Günther Wachtler (Hrsg.): Handbuch Arbeitssoziolo-gie, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, 1 013 Seiten, 69,95 Eu-ro, ISBN: 978-3-531-15432-9; Klaus Dörre: Landnah-me und soziale Klassen. Zur Relevanz sekundärer Ausbeutung. In: Klassen im Postfordismus, heraus-gegeben von Hans-Gün-ther Thien, Münster, Verlag Westfälisches Dampfboot 2010, 381 Seiten, 29,90 Eu-ro, ISBN: 978-3-89691-781-2

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Beiträge zusozialistischer Politik 58W IDERSPRUCH

30. Jg./1. Halbjahr 2010

Neoliberale und Gerechtigkeit; Krise des Steuerstaats; Steuerflucht, Steuerhinterziehung, internationale Steuerpolitik; Finanztransaktionssteuer, Ökosteuer; Gender Budgeting, Gleichstellung, Entwicklungs- zusammenarbeit; Staatsfinanzen und Care-Arbeit

U. Marti, M.R. Krätke, A. Missbach, M. Herkenrath, B. Gurtner, P. Wahl, H. Guggenbühl, A. Troost, Denknetz Fachgruppe, M. Madörin, A. Sancar, E. Klatzer, C. Michel, N. Imboden, F. Haug

Diskussion

F. Cavalli: Pharmaindustrie und Dritte WeltH. Busch / B. Glättli: Skandal AusschaffungsinitiativeA. Maiolino: Überfremdung und MediterranisierungA.-L. Hilty / M. Flückiger: Lage der KurdInnenP. Pfister: Mehr Streiks in der SchweizH. Schäppi: Zum SPS-Programmentwurf

Marginalien / Rezensionen / Zeitschriftenschau

Fr. 25.– / c 16.–

Steuergerechtigkeit – umverteilen !

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LONDON, Großbritannien, Flughafen Heathrow, 20. März 2010:Demonstration zur Unterstützung des streikenden Kabinenpersonals von British Airways

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Mittwoch, 29. September 2010, Nr. 227 junge Welt 6 g e w e r k s c h a f t

In wirtschaftlich schwierigen Zei-ten steigen die Anforderungen an die Interessenvertretungen der abhängig Beschäftigten. Die

arbeitsrechtlichen Bestimmungen und neue Entwicklungen erfordern Sach-kenntnisse und soziale Kompetenzen. Gewerkschaftsnahe Bildungseinrich-tungen bieten dafür umfangreiche Se-minarprogramme an. Die Grundlagen für die Mitbestimmungsrechte sind im Betriebsverfassungs- bzw. Personal-vertretungsgesetz geregelt. Nur, wer seine Rechte kennt, kann sie erfolg-reich vertreten. Gerade für neu gewähl-te Betriebs- und Personalräte ist eine Einführung in die Arbeit mit den Geset-zestexten unabdingbar. Diese Schulun-gungen gehören zum Aufgabenfeld der Gewerkschaften, so auch der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, die sich dabei auch von Partnern unterstüt-zen läßt.

In sieben Bundesländern gibt es dafür besondere Institutionen, die Bildungs-werke ver.di, die vielfältige Angebote vorhalten. Sie sind darüber hinaus auch anerkannte Einrichtungen der Erwach-senenbildung. In den übrigen Ländern werden solche Seminare direkt durch die Gewerkschaft und ihre Schulungs-zentren organisiert.

Das Bildungswerk ver.di in Nieder-sachsen e.V. ist das größte der soge-nannten Landesbildungswerke. Be-triebs- und Personalräte finden hier Informationsangebote zu wichtigen Themen für die tägliche Arbeit. Dazu gehören die Grundlagenseminare eben-so wie spezielle Schulungen zu Teil-zeitarbeit, Elternzeit, Arbeit im Wirt-schaftsausschuß oder Beamtenrecht für Personalräte. Neu im Programm ist das Thema Interessenvertretung bei prekä-ren Beschäftigungsverhältnissen.

Menschen in solch unsteten Jobs sind

einem besonderen Druck ausgesetzt und werden oft als Konkurrenten gegenüber den tariflich, sozial und arbeitsrechtlich besser abgesicherten Beschäftigten in-strumentalisiert. Im Tagesseminar ste-hen die Herausforderungen für Betriebs-räte durch atypische Beschäftigungsver-hältnisse im Mittelpunkt.

Vom 1. bis 5. November bietet das Bildungswerk ver.di in Niedersachsen e.V. in Göttingen ein Grundlagense-minar BR I (»Aller Anfang ist nicht so schwer …«) an, das für die im Früh-jahr 2010 neu gewählten Betriebsräte einen guten Einstieg bietet. Es führt das Betriebsverfassungsgesetz ein und übt seine Anwendung an praktischen Beispielen. Anhand von Leitfragen nach den Aufgaben eines Betriebsra-tes, seinen Beteiligungsrechten und den Möglichkeiten ihrer Durchsetzung wird Handlungskompetenz vermittelt. Anregungen und die Chance des Er-

fahrungsaustausches bekommen aber auch wiedergewählte Betriebsräte, die ihr Basiswissen auffrischen möchten. In Kurzform kann man dies am 4. No-vember tun (»Essentials der Betriebs-verfassung«).

Das Seminar BR 2 (»Mensch geht vor!«) vom 15. bis 19. November legt den Schwerpunkt auf Personalangele-genheiten. Kündigungen, Einstellun-gen, Versetzungen oder Eingruppierun-gen erfordern die Mitwirkung des Be-triebsrates. Es werden Rechtsnormen aufgefrischt und hilfreiche Arbeitsma-terialien zur Verfügung gestellt.

Die Seminare für die Betriebs- und Personalratsarbeit müssen in der Regel von den Arbeitgebern finanziert werden und gehören zum Standardrepertoire des Bildungswerks ver.di in Nieders-achsen e.V. Sie sind offen für Beschäf-tigte aus dem ganzen Bundesgebiet.

Regina Begander

Es ist wieder ruhig geworden in Südafrika. Die 1,3 Millionen Angestellten im öffentlichen Dienst haben nach dreiwöchi-

gem Streik ihre Arbeit aufgenommen, alles scheint normal zu laufen. In den miserabel organisierten öffentlichen Krankenhäusern wird wieder der Not-stand verwaltet. Und an den chronisch überfüllten und pädagogisch unterbe-setzten staatlichen Schulen schleifen längst desillusionierte Lehrer perspek-tivlose Kinder und Jugendliche durch. Nicht selten sollen 50 bis 60 in einem Klassenraum lernen, der nicht einmal so viele Stühle hat, geschweige denn ausreichendes Lehrmaterial. Die soziale Zeitbombe, das ist nichts Neues, tickt. Doch diesmal hat der mächtige Gewerk-schaftsbund COSATU den Zeitzünder exakt gestellt. Binnen drei Wochen soll der Staat auf die Lohn- und Wohnbeihil-feforderungen der Angestellten einge-hen, sonst wird der Streik wieder aufge-nommen.

Südafrikas Angestellte und Arbeiter

scheinen zu allem entschlossen, selbst ein Generalstreik stand schon im Raum und wurde nur kurzfristig abgeblasen. Vordergründig geht es um 8,6 Prozent mehr Lohn, die Regierung bietet inzwi-schen 7,5 Prozent. Aber dahinter steckt die generelle Kritik an einem immer schlechter werdenden Sozialstaat, an nicht funktionierenden Diensten vor al-lem für die Armen und dahinter steckt eine Abrechnung der Gewerkschaften mit der von Vetternwirtschaft geprägten Regierung. Letztere ist nicht gewillt, die neoliberalen Agenden ihrer Vorgänger zu verlassen. Genau dieser Konfliktkern unterscheidet die aktuelle Streikwelle von den jährlich wiederkehrenden Ar-beitsniederlegungen, die im Winter am Kap fast schon Tradition haben. Der COSATU verlangt eine linke Kabinetts-politik und läßt trotz der offiziellen Alli-anz mit dem regierenden ANC in letzter Zeit kaum eine Gelegenheit aus, den Partner zu kritisieren und oft auch zu brüskieren.

Gewerkschafts-Generalsekretär und

Hauptkritiker Zwelinzima Vavi hat dabei nur ein Problem: Er kann die Mächti-gen und die Oberschicht mit Streiks im öffentlichen Dienst kaum treffen. »Es sind Arbeiterkinder, die seit Streikbeginn nicht in der Schule waren, es sind Ar-beiter und deren Familien, die auf funk-tionierende öffentliche Krankenhäuser angewiesen sind. Die Reichen, die ge-sellschaftliche Elite eingeschlossen, sind von dem Streik kaum betroffen. Deren Kinder gehen auf private Schulen, wo Lehrer besser bezahlt werden. Sie gehen in private Krankenhäuser, um versorgt zu werden«, muß auch COSATU-Sprecher Patrick Craven in einer Stellungnahme zum Streik einräumen.

Während die Arbeitskämpfe in der Automobilindustrie oder beim Stromver-sorger Eskom schnell mit teils zweistel-ligen Lohnsteigerungen abgeschlossen wurden, zieht sich der Kampf bei de-nen, die nicht für Konzernprofite arbei-ten, kaugummiartig in die Länge. Die-ser Klassenkampf kann daher nur einen Verlierer kennen. Klein beigeben wollen

die Gewerkschaften aber trotzdem nicht. Doch auch die Regierung um Präsident Jacob Zuma, der im Mai 2009 dank der Unterstützung des COSATU ins Amt ge-kommen war, kann kaum einlenken und beklagt schon seit langem die leeren und durch die Fußball-Weltmeisterschaft zu-sätzlich ruinierten Staatskassen.

Kurzfristig läuft daher alles auf einen finanziellen Kompromiß hinaus, den die Regierung sich eigentlich nicht leisten kann und der die Arbeiter im öffentlichen Dienst kaum zu mehr Engagement und besseren Leistungen motivieren wird. Der Regierung werden weiter die Mittel fehlen, die sozialen Angebote auszubau-en – so denn in dieser Hinsicht überhaupt eine ernsthafte Absicht besteht. Die Ge-werkschaften haben es auf der anderen Seite allerdings auch versäumt, sich mit klaren Aussagen zu einer gesetzlichen Krankenversicherung und konkreten Ver-besserungsvorschlägen für den öffentli-chen Dienst politisch zu positionieren. Die Bombe tickt weiter, eine Entschär-fung ist kaum möglich.

Klassenkampf aufgeschobenStreikwelle legte offen: Soziale Frage in Südafrika ungelöst. ANC und Arbeiterklasse haben sich entfremdet. Von Christian Selz

Guter Rat für BetriebsräteBildungswerk ver.di macht fit für eine wirksame Beschäftigtenvertretung. Seminare für Neugewählte und zur Auffrischung

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Die Autorin ist verant-wortlich für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Bildungswerk ver.di in Niedersachsen

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»Es sind Arbeiterkinder, die seit Streikbeginn nicht in der Schule wa-ren, es sind Arbeiter und deren Familien, die auf funktionierende öffentli-che Krankenhäuser ange-wiesen sind. Die Reichen, die gesellschaftliche Elite eingeschlossen, sind von dem Streik kaum betrof-fen. Deren Kinder gehen auf private Schulen, wo Lehrer besser bezahlt werden. Sie gehen in private Krankenhäuser, um versorgt zu werden.« (COSATU-Sprecher Patrick Craven)

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junge Welt Mittwoch, 29. September 2010, Nr. 227 7g e w e r k s c h a f t

Sie sind Betriebsrat bei Daimler in Stuttgart-Un-tertürkheim und einer der Gründer der Betriebsgrup-

pe »Alternative«. Für wen und wozu wollen Sie eine Alternative sein?

Der Name steht nicht nur für ein betrieb-liches oder gewerkschaftliches, sondern auch für ein gesellschaftspolitisches Pro-gramm. Wir treten für eine nicht-kapita-listische Alternative zu den herrschen-den Verhältnissen ein, dagegen, daß in diesem Land gegen die Mehrheit der Bevölkerung Politik gemacht wird, daß Demokratie eine leere Hülse geworden ist. Unser Betätigungsfeld ist der Betrieb, insofern diskutieren und entwickeln wir primär Alternativen zur heute dominie-renden Betriebsratspolitik im Daimler-Konzern. Diese hat über die Jahre völlig aus den Augen verloren, daß die erreich-ten Standards nur mit einer kämpferi-schen, mobilisierenden Politik zu sichern sind, die die Bedürfnisse der Belegschaft gegen die Interessen der Unternehmens-leitung stellt. So etwas verursacht heftige Konflikte in Betriebsräten und innerge-werkschaftlich, und deshalb wurden wir 2006 gezwungen, eine eigene Liste zur Betriebsratswahl einzureichen.

Wie hat sich der Konflikt weiter entwickelt?

Es gab damals uns gegenüber zwar Aus-grenzung aus der Vertrauensleutearbeit, aber keine Ausschlüsse oder Funktions-verbote. Das war der IG Metall zu heiß. Vor der Betriebsratswahl in diesem Frühjahr wurde dann ein Modus Viven-di erreicht: IG Metall und BR-Mehrheit haben akzeptiert, daß wir unsere eigene Betriebszeitung nicht einstellen, wie sie es ursprünglich gefordert hatten. Im Ge-genzug sind wir nicht mehr eigenständig, sondern auf einer gemeinsamen IG-Me-tall-Liste zur BR-Wahl angetreten.

Halten Sie es für eine Grundsatz-frage, ob linke Gewerkschafter mit eigenen Listen antreten?

Das ist es meiner Meinung nach nicht, sondern hängt von der konkreten betrieb-lichen Situation ab. Dort, wo nicht ver-sucht wird, linke Kritiker und die Ver-treter kämpferischer Strömungen in der Gewerkschaft mundtot zu machen, wo man sich artikulieren kann, wo es einen offenen, fairen Meinungsstreit gibt, wo um andere Mehrheiten gerungen werden kann, dort wäre es weder gerechtfertigt noch sinnvoll, mit eigenen Listen anzu-treten.

Bei den Betriebsratswahlen im Frühjahr ist im Daimler-Werk Ber-lin-Marienfelde eine »Alternative«-Liste in Konkurrenz zur offiziellen IG-Metall-Liste angetreten. Dar-aufhin strengte der Ortsvorstand der IGM ein Ausschlußverfahren gegen drei »Rädelsführer« an. Die »Alternative« erreichte ein Viertel der Stimmen und Mandate. Anfang September beschloß der Ortsvor-stand nun, die Kollegen nicht auszu-schließen, aber mit einem zweijäh-rigen Funktionsverbot zu belegen. Wie bewerten Sie das?

Daß dem ursprünglichen Ausschlußan-trag nicht gefolgt wurde, sondern »nur« ein Funktionsverbot verhängt wurde, ist sicher ein Teilerfolg der Proteste dage-gen. Allerdings dokumentiert auch das Funktionsverbot, daß diejenigen, die solche Verfahren betreiben, immer noch nicht begriffen haben. Erstens, daß kriti-sche Stimmen dort, wo ein gewisser Grad an Unzufriedenheit der Belegschaft mit der Betriebsratspolitik erreicht ist, nicht mit solchen Methoden mundtot zu ma-chen sind. Zweitens verhindert ein Funk-tionsverbot gerade, daß man für seine Position in gewerkschaftlichen Gremien kämpfen kann und macht damit die Be-hauptung, die Strukturen der IG Metall seien so demokratisch, daß eigene Listen illegitim seien, bei allen Unzufriedenen vollends unglaubwürdig.

Die Berliner »Alternative«-Betriebs-räte mußten sich nicht nur dem Aus-schlußverfahren stellen, sie wurden auch aus linken Kreisen kritisiert. So wurde ihnen, etwa von Teilen der DKP, vorgeworfen, die Einheit der Gewerkschaft zu spalten.

Diese Art von Vorwürfen sind so alt wie die Konflikte um solche Listen. Wenn man Flugblätter aus den 70er Jahren raus-kramt, findet man genau die gleichen Argumente. Die Einheit der Belegschaf-ten oder der Gewerkschaft zu spalten ist ein Vorwurf, der denen, die ihn erheben, auf die Füße fällt. Die Einheit der Beleg-schaften spaltet die von der Mehrheit der Betriebsräte vertretene Politik viel mehr, als es die konkurrierende Kandidatur der Berliner Alternativen je könnte. So wurde z. B. der eherne gewerkschaftliche Grundsatz »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« aufgegeben. Einheit der Gewerk-schaft ist etwas, das in der Auseinander-setzung mit dem Unternehmer, gegen

den Unternehmer herzustellen ist – im Kampf. Eigene Listen wie damals un-sere oder jetzt die in Berlin sind Resul-tat davon, daß die Betriebsratsmehrheit das nicht mehr geleistet, sondern Beleg-schaftsinteressen den Rendite-Interessen des Unternehmers untergeordnet hat.

Es gab auch die Kritik, so in der Zeitschrift Arbeiterstimme, daß die Intention der »Alternative« zwar ehrenwert sei, sie sich mit ihrer eigenständigen Kandidatur in Kon-kurrenz zur IG-Metall-Mehrheit aber in eine Außenseiterposition manövrieren würde.

Dieses Risiko besteht. Aber es hängt ja nicht zuletzt von der eigenen Politik ab, die man macht. Wenn man die Probleme richtig artikuliert, die der Belegschaft auf den Nägeln brennen, wird das mit dem Isolieren nicht so einfach.

Arbeiten bei Daimler ist für viele Menschen in dieser Republik ein Synonym für anständige und gut be-zahlte Arbeit – mit anderen Worten, etwas, das von der Lebensrealität für immer mehr Menschen weit ent-fernt ist und in immer weitere Ferne rückt. Sind Ihre Auseinandersetzun-gen nur Nachhutgefechte?

Ob die Verteidigung tariflicher Standards dieser einigermaßen anständig bezahlten Arbeit ein Nachhutgefecht war, werden wir in ein paar Jahren wissen. Sie ist auf jeden Fall gerechtfertigt und nötig. Denn bekanntlich folgt aus dem Verzicht auf solche »Gefechte« nicht, daß es irgend jemandem woanders besser geht oder daß sich prekäre Arbeitsverhältnisse weniger schnell verbreiten. Die sind doch schon längst auf dem Werksgelände angekom-men, Leiharbeit und Fremdvergaben neh-men ständig zu. Das sind keine getrennten Welten mehr. Insofern sind die Verteidi-gung dessen, was man hat, gegen die An-griffe der Unternehmensleitung und der Kampf dafür, daß diese Prekarisierung gebremst und rückgängig gemacht wird, zwei Seiten einer Medaille.

Die Ausweitung unsicherer Arbeits-verhältnisse hat aber auch zwei Seiten: Einerseits setzen sie die noch tarifgebundenen unter Druck, an-derseits werden die Risiken gewis-sermaßen ausgelagert: In der Krise durften die Stammbelegschaften bei Kurzarbeit bleiben, weil die Leiharbeiter nach Hause geschickt wurden.

Genau so. Das wurde, auch von Betriebs-räten, als Möglichkeit verkauft, die Stam-marbeiter an Bord zu halten. Das ist von den Kollegen zwar durchaus als schreck-lich für die Leiharbeiter empfunden wor-den, aber das war nicht die Situation, in der sie rebellisch geworden wären. Da war die Sorge um den eigenen Arbeits-platz größer.

Es geht den Unternehmern auch nicht nur darum, daß prekär Beschäftigte bil-liger sind. Es geht auch darum, Spal-tungslinien einzuziehen, um Solidarität zu erschweren. Das ist beabsichtigt und eine reale Gefahr. Andererseits: Unse-re Kollegen, die mit Leiharbeitern und den Prekären von Fremdfirmen auf dem Werksgelände zusammenarbeiten, haben meist ein ziemlich sicheres Gespür dafür, daß das eine Sauerei ist. Es gibt auch viel Zustimmung zu Forderungen, das zu stoppen. Aber der Schritt zur Aktion fehlt noch.

Was, glauben Sie, könnte der zün-dende Funke sein?

Ich denke, man muß seine Feuersteine funktionsfähig halten, um sie im richti-gen Moment an der richtigen Stelle be-nutzen zu können. Wie man an einem ganz anderen Beispiel, nämlich »Stutt-gart 21«, sehen kann: Da bricht sich an einem unerwarteten Punkt plötzlich die tiefe Unzufriedenheit, dieser Frust und dieser Zorn auf die Herrschenden massiv Bahn. Wann und welcher Punkt das sein wird, an dem der zündende Funke über die bloße Zustimmung zu Forderungen hinaus zur Aktion führt, das ist schwer vorherzusagen. Interview: Jörn Boewe

ROM, Italien, vor dem Parlament, 2. Februar 2010:Italienische Metallarbeiter protestieren gegen Stellenstrei-chungen der US-Firma Alcoa in deren sardinischer Fabrik

»Es geht den Unterneh-mern auch nicht nur dar-um, daß prekär Beschäf-tigte billiger sind. Es geht auch darum, Spaltungs-linien einzuziehen, um Solidarität zu erschweren. Das ist beabsichtigt und eine reale Gefahr. Ande-rerseits: Unsere Kollegen, die mit Leiharbeitern und den Prekären von Fremd-firmen auf dem Werksge-lände zusammenarbeiten, haben meist ein ziemlich sicheres Gespür dafür, daß das eine Sauerei ist.«

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» M a n m u ß s e i n e F e u e r s t e i n e f u n k t i o n s f ä h i g h a l t e n «»Stuttgart 21« zeigt: Frust und Zorn auf die Herrschenden können sich Bahn brechen, wenn niemand damit rechnet. Woher der zündende Funke kommt, ist schwer vorherzusehen. Ein Gespräch mit Tom Adler

Tom Adler ist IG-Metall-Betriebsrat im Daimler-Werk Untertürkheim und für Die Linke Mitglied im Stuttgarter Stadtrat. Er

gehört zu den Gründern der linken Betriebs-gruppe »Alternative« und engagiert sich bei den »Gewerkschaftern gegen Stuttgart 21«

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Mittwoch, 29. September 2010, Nr. 227 junge Welt 8 g e w e r k s c h a f t

Wir wollen al-les« lautete der Name ei-ner seinerzeit

recht bedeutenden linksra-dikalen Monatszeitung, die von 1973 bis 75 als Organ verschiedener, aus der 68er Bewegung hervorgegangener »Betriebsprojektgruppen« erschien. Ziel war, »die Ar-beiterklasse als autonomes revolutionäres Subjekt wie-der aufzuwerten und zu mo-bilisieren«. Ausgehend vom »Primat der Praxis und der Betriebsarbeit sowie einer radikalen Gewerkschaftskri-tik« sollte die Umwälzung der gesellschaftlichen Ver-hältnisse in Angriff genom-men werden.

In Italien macht sich nun Fiat-Vorstandschef Sergio Marchionne dieses Motto zu eigen, um – nicht ohne ein gewisses Maß an Provokation und Spontaneismus – seine Vorstellungen von der »Fa-brikgesellschaft« und dem »proletarischen Lebenszu-sammenhang« durchzusetzen. Die Arbeiter des größten In-dustriekonzerns sollen dabei zu reinen Objekten degradiert und es soll ein quasimilitä-risches Kommando etabliert werden, um die Profitrate si-gnifikant zu steigern. »Mar-chionne will alles«, erkannte die 1969 gegründete, linke Ta-geszeitung Il manifesto Ende Juli.

Das linksliberale Nachrich-tenmagazin L’espresso wid-mete dem »Subversiven« am 16. September die Coverstory und stellte fest: »Mitten in der Krise fordert Marchionne Ita-lien mit brisanten Vorschlä-gen heraus. Allerdings mit einem Ziel: es zu verändern.« Die Autoren sehen den Topmanager der Familie Agnelli dabei vor »seinem heißesten Herbst«. Das wä-re zu wünschen, doch noch ist der Wi-derstand auf eine Minderheit begrenzt. Den wichtigsten Eckpfeiler bildet dabei – noch vor den kleinen linken Basisge-werkschaften USB, CUB und Cobas – die Metallarbeitergewerkschaft FIOM, die dem größten, früher der KP und heute der Demokratischen Partei nahestehen-den Gewerkschaftsbund CGIL angehört.

Begonnen hat der Frontalangriff im Frühjahr im ehemaligen Alfa-Romeo-Sud-Werk von Pomigliano d’Arco bei Neapel. Zur »Standortsicherung« ver-langte der Fiat-Vorstand von den noch 4 881 Arbeitern die Zustimmung zu ei-nem Horrorkatalog sondergleichen: mehr Schichten, höheres Arbeitstempo, weniger Pausen, 80 zusätzliche Über-stunden auf Befehl, keine Bezahlung der ersten drei Krankheitstage und Sanktio-nen bei Streiks. Diese Normen verletzen nicht nur den 2008 geschlossenen und noch bis 2012 gültigen Manteltarifver-trag, sondern auch geltende Gesetze und die Verfassung.

Unter dem Druck der nackten Erpres-sung und einer lokalen Erwerbslosenrate von fast 25 Prozent votierten am Ende 2 888 Beschäftigte mit Ja, zur Überra-schung der bürgerlichen Medien und der Konzernspitze aber immerhin 1 673 mit

Nein (bei 239 Enthaltungen und 81 un-gültigen Stimmzetteln). Unter den Arbei-tern fiel die Zustimmung mit 2 494 mal Ja gegen 1 663 mal Nein noch knapper aus. Daß sich nicht wesentlich mehr dem Dik-tat beugten, verschlug dem sonst so red-seligen Fiat-Chef die Sprache. Fast zwei Wochen herrschte völlige Funkstille.

GutsherrenprinzipDie Antwort des »Padrone« bestand in einer weiteren Verschärfung. Der Aus-gliederung des Werkes in die nur mit einem lächerlichen Eigenkapital von 50 000 Euro ausgestattete neue Gesell-schaft »Fabbrica Italia Pomigliano« (FIP) folgte eine Repressionswelle ge-gen aufmüpfige Gewerkschafter. Binnen weniger Tage wurden in drei verschie-denen Werken fünf Aktivisten gefeuert. Einem Betriebsrat warf man vor, das Solidaritätsschreiben der Fiat-Arbeiter im polnischen Werk Tychy verbreitet zu haben, drei andere sollen in Melfi wäh-rend eines Streiks gegen befohlene Über-stunden Maschinen abgeschaltet haben, was ihnen den Vorwurf der »Sabotage« eintrug.

Dem Vorsitzenden des zweitgrößten, christlichen Gewerkschaftsbundes CISL, Raffaele Bonanni, der schon in Pomiglia-no für die Unterwerfung geworben hatte, rief den Fiat-Clan der Agnellis und ihre Manager in einem entwürdigenden Inter-

view für die familieneigene Tageszeitung La Stampa am 23. August auf, sich »von der FIOM nicht provozieren zu lassen«. Der zuständige Arbeitsrichter dagegen erklärte kurz darauf die Entlassungen für rechtswidrig. Davon unbeeindruckt, ver-weigerte der Fiat-Werkschutz den Betrof-fenen den Zugang zum Betrieb. Selbst die aufsehenerregende Intervention von Staatspräsident Giorgio Napolitano, der die Konzernspitze aufrief, das Urteil zu respektieren, blieb ohne Wirkung.

Marchionne macht aus seinen Restau-rationsbestrebungen keinen Hehl: »Wir sind nicht mehr in den 60er Jahren«, verkündete er Ende August auf einem Treffen der rechten katholischen Laien-organisation Comunione e Liberazione in Rimini. »Man muß die Denkweise än-dern.« Es gäbe keinen »Kampf zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Arbeitern und Padroni« mehr, sondern nur noch »Bedarf an einem Sozialpakt, um Ver-pflichtungen und Opfer zu teilen«. Die Beschäftigten sollten sich ein Beispiel an ihm nehmen, er habe schließlich auch nie Urlaub und sei rund um die Uhr für das Unternehmen da.

Diese Wiedereinführung des Gutsher-renprinzips soll dem Konzern im Kampf mit der globalen Konkurrenz zu einem deutlichen Rentabilitätssprung verhel-fen. Erklärtes Ziel ist eine Erhöhung der Rendite von geschätzten 1,4 Prozent in diesem Jahr auf 4,7 im Jahr 2014. Die

Fiat-Anlagen sollen 283 Tage im Jahr im Dreischichtbetrieb laufen und die großen Werke Turin-Mirafiori und Melfi ihre Auslastung von 64 auf 94 Pro-zent erhöhen. Weigern sich die Belegschaften, soll die Produktion nach Polen oder Serbien verlagert werden, wo die Arbeiter statt der in Italien gezahlten 1 300 Euro netto nur 500 oder 200 Euro im Monat erhalten.

Wie nicht anders zu er-warten, fand Fiat mit seinem Vorpreschen rasch Gleichge-sinnte und Nachahmer. Paral-lel zu dessen Übernahme des Zastava-Werkes in Kragujevac beschlossen auch OMSA und Daytech Produktionsverlage-rungen nach Serbien, um von den dortigen Niedriglöhnen und Subventionen zu profi-tieren, während die Großbank Unicredit Anfang August, trotz guter Ertragslage, ohne irgendeinen Kontakt zu den verdutzten Gewerkschaften den Abbau von 4 700 Stellen bis 2013 ankündigte. Oben-drein fordert die Geschäftslei-tung ultimativ »neue Regeln bei der Eingruppierung, neue territoriale und berufliche Mobilität sowie neue Flexi-bilität bei der Arbeitsaufnah-me«. Ein Schritt, bei dem, so der Sekretär der wichtig-sten Branchengewerkschaft FABI, Lando Sileoni, »der Fiat-Marchionne-Effekt« deutlich spürbar ist und der de facto den Ausstieg aus dem geltenden Tarifvertrag bedeutet. Ähnliches spielt sich beim drittgrößten euro-päischen Hausgerätehersteller Indesit ab. Der knapp 18 000 Beschäftigte umfassende

Konzern will in Bergamo und Treviso zwei Werke schließen und in den übri-gen eine Arbeitsverdichtung erzwingen. Überstunden und Schichtwechsel sollen auch hier nicht mehr vereinbart, sondern kommandiert, die Pausen von 30 auf 20 Minuten reduziert und Nachtschichtzula-gen ersatzlos gestrichen werden.

Angst um den ArbeitsplatzGegen diese Rambo-Politik regte sich selbst unter Industriellen Widerstand. Telecom-Italia-Chef Franco Bernabè, der von der französischen Handelskammer zur »Persönlichkeit des Jahres« gekür-te Edison-Manager Umberto Quadrino und der ehemalige Fiat-Vorstandschef Cesare Romiti priesen die Vorteile der »Konsenssuche« im Rahmen der »Sozi-alpartnerschaft«. Doch seit dem 28. Juli stellen sie nur noch die Minderheit, denn an diesem Tag schwenkte die Confin-dustria-Spitze unter Emma Marcegaglia auf Marchionnes Linie ein. Dieser hat-te »innerhalb von zwei Monaten« neue Spielregeln gefordert, andernfalls drohte er mit seinem Austritt aus dem wich-tigsten Unternehmerverband. Der wäre ohne Fiat und sein Gefolge nur noch ein Schatten seiner selbst gewesen. Am 7. September beschloß der Verband der Metallunternehmer Federmeccanica die Kündigung des geltenden Tarifvertrages. Am 15. starteten dann Verhandlungen mit

Marchionnes FrontalangriffUnter Führung des Fiat-Chefs versucht das italienische Kapital, verschärfte Ausbeutung durchzusetzen. Nur eine Minderheit der Gewerkschaften leistet Widerstand. Von Raoul Rigault

MARSEILLE, Frankreich, 23. September 2010:»Frauen! Doppelter Arbeitstag, halbe Rente!« Protest gegen Präsident Sarkozys Kürzungspläne

Marchionne macht aus seinen Restaurationsbe-strebungen keinen Hehl: »Wir sind nicht mehr in den 60er Jahren«, verkün-dete er Ende August auf einem Treffen der rech-ten katholischen Laien-organisation Comunione e Liberazione in Rimini. »Man muß die Denkweise ändern.« Es gäbe keinen »Kampf zwischen Kapi-tal und Arbeit, zwischen Arbeitern und Padroni« mehr, sondern nur noch »Bedarf an einem Sozial-pakt, um Verpflichtungen und Opfer zu teilen«. Die Beschäftigten sollten sich ein Beispiel an ihm neh-men, er habe schließlich auch nie Urlaub und sei rund um die Uhr für das Unternehmen da.

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junge Welt Mittwoch, 29. September 2010, Nr. 227 9g e w e r k s c h a f tden gelben Gewerkschaften CISL, UIL, UGL und FISMIC.

Italien zählt zu den von der Krise am stärksten betroffenen Ländern. Um fünf Prozent schrumpfte die Wirtschaft im vergangenen Jahr, nachdem es bereits 2008 ein Minus von 1,8 Prozent gegeben hatte. Die kurze Erholung um 1,3 Prozent im zweiten Quartal ist bereits wieder pas-sé. Für den Rest des Jahres prognostiziert die OECD »Nullwachstum«. 480 000 Arbeitsplätze wurden in den letzten drei Jahren vernichtet. 650 000 Beschäftigte befinden sich in Kurzarbeit. Jeder vierte Jugendliche ist erwerbslos. Eine Studie des Einzelhandelsverbandes Federdistri-buzione bestätigte Anfang August, daß die »vierte Woche«, in der traditionell das Geld knapp wird, inzwischen bereits Mitte des Monats beginnt. Entsprechend groß ist die Angst um den Arbeitsplatz, und entsprechend gering ist der Spiel-raum für streikbedingte Lohnausfälle.

Begrenzte Solidarität»Die von Marchionne geworfene Atom-bombe verändert alles und macht eine Änderung der politischen und gewerk-schaftlichen Strategien unabdingbar«, erklärte FIOM-Generalsekretär Mauri-zio Landini. »Die Realität ist, daß sie zusammen mit den verbrieften Rechten aller auch die Gewerkschaften eliminie-ren wollen – und nicht nur die FIOM.« Um das zu verhindern, hat Italiens älteste Gewerkschaft für den 16. Oktober 2010 zu einer Großdemonstration in Rom auf-gerufen, an der sich Beschäftigte aller Branchen, Prekäre, Erwerbslose, Mit-glieder linker Parteien und sozialer Be-wegungen beteiligen sollen. Außerdem beschloß ihr Zentralkomitee Anfang Sep-tember, bis dahin regional gestaffelte, jeweils vierstündige Arbeitsniederlegun-gen durchzuführen. Den drohenden neu-en Dumpingtarif will man juristisch und durch »Häuserkämpfe« aushebeln. Eher fragwürdige Hoffnungen. In der Vergan-genheit war es der Federazione Impiegati Operai Metallurgici (FIOM) bei ande-ren Separatabkommen nur in gut einem Zehntel der Firmen gelungen, bessere Haustarifverträge zu erreichen.

Von erheblicher Bedeutung ist die Positionierung der innerlich sehr zerris-senen Confederazione Generale Italiana del Lavoro, CGIL. Immerhin hat sich mit der den öffentlichen Dienst repräsen-tierenden Funzione Pubblica die zwei-te große Einzelgewerkschaft der FIOM angeschlossen. Unterstützung kommt auch von den Lehrern der FLC, da beide mit den Ministern Renato Brunetta und Mariastella Gelmini ähnliche Widerparts und neben massivem Stellenabbau und zunehmender Prekarisierung auch mit ei-ner dreisten »Anti-Faulenzer-Kampagne« zu kämpfen haben. 50 000 Lehrerstellen fielen seit Amtsantritt der Berlusconi-Regierung vor zwei Jahren bereits weg. Und die Zahl der Prekären beläuft sich laut Corriere della Sera unter den Staats-bediensteten mittlerweile auf mehr als 1,5 Millionen.

Dennoch ist die Solidarität begrenzt. Nach den Transport- und Tourismus-Be-schäftigten haben nun auch die Chemiker der FILCTEM, zusammen mit ihren un-ternehmerfreundlichen CISL- und UIL-Pendants, einen neuen Tarifvertrag mit diversen Öffnungsklauseln und um ein Jahr längerer Laufzeit unterzeichnet. Der kampanische CGIL-Regionalsekretär Michele Gravano entblödete sich nicht, der FIOM Ende Juni im besten CISL-Stil »politischen Infantilismus« vorzuwerfen. Die Nummer zwei der CGIL, Susanna Camusso, erfreute das Industriellenblatt Il Sole-24 Ore erst kürzlich mit ihrer Be-reitschaft zu weiterer »Flexibilität«.

Eine enorme Hausmacht der Bürokra-tie bildet der Rentnerverband SPI, der die Hälfte der CGIL-Mitglieder stellt und ih-ren Kurs auf dem letzten Kongreß zu 94

Prozent unterstützte. Obendrein hat die rund ein Zehntel der Organisation reprä-sentierende ehemalige »Apparatlinken«-Strömung »Lavoro & Società« vor einem Jahr die Seite gewechselt und betätigt sich immer öfter als Vorhut der Führung.

Zwar hat CGIL-Generalsekretär Guglielmo Epifani mittlerweile erkannt, daß »unsere Gegner nicht scherzen« und es »einen Versuch gibt, die FIOM für lan-ge Zeit auszuschalten«. Deshalb müsse man ihrer »Isolierung« entgegenwirken und sie »im Kampf nicht alleinlassen«. Doch fordert er die Metaller gleichzeitig durch die Blume zum Einlenken auf: »Die FIOM darf sich nicht selbst isolie-ren, weil sie auf diese Weise eine Nie-derlage erleiden und auch die CGIL in diese Niederlage mit hineinreißen wür-de.« Folgerichtig beschränkt sich die Mobilisierung der Leitung des nationa-len Gewerkschaftsbundes CGIL auf eine zentrale Manifestation am 27. Novem-ber. Die Gewerkschaftslinke, die trotz erheblicher Unregelmäßigkeiten und Stimmungsmache auf dem letzten Kon-greß 17 Prozent der Mitglieder und gut ein Viertel der Erwerbstätigen vertrat, hatte darüber hinaus einen regional ge-staffelten, vierstündigen »Generalstreik« gefordert.

Der Sekretär von Rifondazione Co-munista und ehemalige Sozialminister Paolo Ferrero wünscht sich »mindestens einen Generalstreik«. Noch weiter geht Marco Ferrando, Kopf der Kommunisti-schen Arbeiterpartei (PCL), die sich im Sommer 2006 aus Protest gegen deren Regierungsbeteiligung von der Rifonda-zione abgespalten hatte. Ferrandotritt da-für ein, »daß alle politischen und gewerk-schaftlichen Linken ihre Kräfte bei der Vorbereitung einer großen, vereinigen-den und lang andauernden Generalmo-bilmachung der gesamten Arbeitswelt vereinen, mitsamt der Besetzung aller Betriebe, die Entlassungen vornehmen oder von den rechtlichen und tariflichen Standards abweichen«.

Desolate LinkeWohlklingende Parolen, die von den re-alen Möglichkeiten allerdings weit ent-fernt sind. Über den bemitleidenswerten Zustand der politischen Linken sagt be-reits ein Blick auf die aktuellen Mei-nungsumfragen alles. Das renommierte ISPO-Institut sieht die – im wesentlichen aus Rifondazione, deren Mitgliederzahl sich binnen zwei Jahren von 95 000 auf 46 000 halbiert hat, und der Partei der Italienischen Kommunisten (PdCI) beste-hende – Linksföderation nur noch bei 2,1 Prozent. Die »rot-grüne« Allianz Linke-Ökologie-Freiheit (SEL) kommt dagegen auf 4,5 Prozent. Dieser lose Verbund, dem es an elementarsten demokratischen Strukturen fehlt, fungiert vor allem als Wahlverein des apulischen Regionspräsi-denten Nichi Vendola, der sich selbst als »weißer Obama« anpreist und vor allem als »großer Fabulierer« auffällt.

Die Hoffnungen mancher Linker, daß ausgehend von der FIOM eine »neue Arbeiterpartei« entstehen könnte, sind Wunschdenken. Das Terrain dieser Ge-werkschaft ist die Verteidigung der Tage-sinteressen der Metallarbeiter. Ihr Hori-zont ist der »Kampf für den Aufbau einer sozialen Opposition gegen Regierung und Confindustria, um die Situation auf der tariflichen und gewerkschaftlichen, aber auch der sozialen Ebene zu verän-dern«, wie ihr Chef Landini Mitte Sep-tember in Bologna erläuterte.

Spontaner WiderstandEntscheidend wird sein, welche Reaktion das Vorgehen der Unternehmer unter den Betroffenen zeitigt und welche Rolle die Reste der radikalen Linken dabei spielen können. Erste vielversprechende Ansätze gibt es: So hat der vor wenigen Tagen

verkündete Abbau von 2 500 Arbeitsplät-zen beim größten Schiffbauer Fincantieri zu spontanen Streiks und Protesten ge-führt. In Neapel knüppelte die Polizei vor dem Gebäude der Region auf eine Demonstration von Werftarbeitern und Angehörigen ein, in Palermo kam es zu Rangeleien bei einer Kundgebung von 300 Beschäftigten vor dem Werkstor, und in Castellammare di Stabia besetzten drei Arbeiter einen der Kräne.

In Mailand erinnerten sich derweil entlassene Arbeiter von Europas größ-tem Einzelhändler Carrefour des alten Mottos »Wir wollen alles!« und der »proletarischen Einkäufe« der 70er Jah-re. Den 64 ehemaligen Angestellten eines Subunternehmens war widerrecht-

lich gekündigt worden, weil sie die Um-stellung auf Akkordlohn ablehnten. Die Anordnung des zuständigen Arbeitsge-richts auf Wiedereinstellung wird von dem französischen Konzern, der seinen Gewinn vor Steuern im ersten Halbjahr um 40 Prozent auf 712 Millionen Euro steigerte, schlicht ignoriert. Nachdem sie fast drei Monate kein Geld gesehen hatten, zogen sie Anfang des Monats zweimal zur Filiale in der Via Farini, luden die Einkaufswagen voll Lebens-mittel und andere Güter des täglichen Bedarfs und erklärten an der Kasse, sie betrachteten das als Vorschuß auf die ausstehenden Löhne. Erst die eilig her-beigerufene Polizei konnte den Abtrans-port der Waren verhindern.

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Wo steht die ostdeutsche Wirtschaft? Wie kann gewerkschaftliche Vertretung erfolgreich sein? Welche Lehren sind dazu aus den vergangenen 20 Jahren zu ziehen? Die IG Metall hat diese Pro-zesse von Anfang an begleitet und mitgestaltet. Annette Jensen, Journalistin und Publizistin, zieht ein Resümee, schildert die gewerkschaftliche Arbeit der »Metaller« im Osten Deutschlands und lässt dabei die Beschäftigten vor Ort zu Wort kommen.

Wer nicht kämpft, hat schon verloren!

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Annette JensenIm Osten was NeuesUnterwegs zur sozialen Einheit

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Über den bemitleidens-werten Zustand der politischen Linken sagt bereits ein Blick auf die aktuellen Meinungsum-fragen alles. Das renom-mierte ISPO-Institut sieht die – im wesentli-chen aus Rifondazione, deren Mitgliederzahl sich binnen zwei Jahren von 95 000 auf 46 000 halbiert hat, und der Partei der Italienischen Kommuni-sten (PdCI) bestehende – Linksföderation nur noch bei 2,1 Prozent. Die »rot-grüne« Allianz Linke-Ökologie-Freiheit (SEL) kommt dagegen auf 4,5 Prozent. Dieser lose Ver-bund, dem es an elemen-tarsten demokratischen Strukturen fehlt, fungiert vor allem als Wahlverein des apulischen Regions-präsidenten Nichi Vendo-la, der sich selbst als »wei-ßer Obama« anpreist und vor allem als »großer Fabulierer« auffällt.

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Mittwoch, 29. September 2010, Nr. 227 junge Welt 1 0 g e w e r k s c h a f t

In demonstrativer Einmütigkeit wa-ren der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Michael Sommer, und sein Sozialpartner,

der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Dieter Hundt, Anfang Juni vor die Pres-se getreten. Beide stellten gemeinsame Eckpunkte für eine Novellierung des Ta-rifvertragsgesetzes vor. Den Plänen von DGB und BDA zufolge soll in einem Betrieb mit konkurrierenden Tarifver-trägen nur derjenige der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern angewen-det werden. Für dessen Laufzeit würde Friedenspflicht bestehen – nicht nur für die Vertragspartner, sondern für alle im Betrieb vertretenen Gewerkschaften.

Drei Wochen später war klar, was die Spitzenverbände angetrieben hatte: Das Bundesarbeitsgericht gab seinen jahr-zehntelang aufrechterhaltenen Grund-satz »Ein Betrieb – ein Tarifvertrag« auf und erklärte den Abschluß mehrerer Tarifverträge und die Konkurrenz ver-schiedener Gewerkschaften in einem Betrieb für grundsätzlich zulässig. Spon-tan schloß sich eine große Koalition von CDU/CSU, FDP, SPD und Linkspartei der DGB-BDA-Forderung an. »Die Po-litik muß jetzt umgehend reagieren und die Gesetzeslücke schließen«, erklärte Linksparteichef Klaus Ernst. »Es darf nicht sein, daß etwa sogenannte Christ-liche Gewerkschaften Gefälligkeitstarif-verträge für ein paar wenige abschließen und der ganze Betrieb darunter leiden muß.«

Linkspartei laviertErnst hätte als langjähriger IG-Metall-Funktionär eigentlich besser wissen müs-sen, daß sich die Sache genau umge-kehrt verhält: Die neue Rechtsprechung des BAG erleichtert es sogar, Gefällig-keitsabschlüssen »gelber Gewerkschaf-ten« einen Riegel vorzuschieben. In der Rechtsabteilung der IG Metall hatte man dies längst erkannt: »Der Vorstoß des BAG«, notierte diese in einem Positi-onspapier, »erschwert es den Arbeitge-bern, Flächentarife durch ›speziellere« Dumpingtarife auszuhebeln«. Wochen später, nachdem innerhalb verschiede-ner DGB-Gewerkschaften Kritik an dem völlig undemokratisch zustande gekom-

menen Vorstoß von Sommer und Hundt laut geworden war, machte Ernst einen Rückzieher.

Die neue Ausgabe der Vierteljahres-schrift Lunapark 21 widmet der Debatte um die sogenannte Tarifeinheit gleich drei Artikel. Rainer Balcerowiak, Politik-redakteur bei der jungen Welt, stellt in seinem Text »Kartell der Lohndrücker« klar, daß sich die Initiative des DGB- und des BDA-Chefs keineswegs gegen unternehmerfreundliche Scheingewerk-schaften richtet: Vielmer wolle man sich »unliebsame Konkurrenten bzw. Stören-friede vom Hals schaffen«. Der Autor verweist hier auf »Spartenorganisationen wie die Gewerkschaft Deutscher Loko-motivführer (GDL), die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF), die Piloten-vereinigung Cockpit (VC), die Ärztege-werkschaft Marburger Bund (MB) und die Unabhängige Flugbegleiterorganisa-tion (UFO)«, die seit einigen Jahren »in teilweise spektakulären Tarifkämpfen deutliche Gehaltserhöhungen« durch-setzen konnten. Schlüsselstellung und hoher Organisationsgrad »verleihen die-sen Gewerkschaften eine entsprechen-de Durchsetzungsmacht«. Balcerowiak weist darauf hin, daß es sich bei den genannten »Funktionseliten« um Berufs-gruppen handelt, die überwiegend bis vor wenigen Jahren noch von den DGB-Gewerkschaften organisiert wurden. Al-lerdings hätten diese »die Möglichkeit, diese Durchsetzungsmacht zum Wohle aller Beschäftigten (…) einzusetzen, nie genutzt«.

Starke für SchwacheÄhnlich beurteilt dies der frühere IG-Medien-Vorsitzende Detlef Hensche. Grundsätzlich sei das industriegewerk-schaftliche Prinzip, »wonach die Starken ihre Durchsetzungsmacht zugleich für die Schwachen einsetzen«, einer »tarif-politischen Sezession der Fluglotsen, Ärzte, Piloten und Lokführer« vorzuzie-hen. »Daß es aber dazu kam, hat nicht zuletzt hausgemachte Ursachen«, betont Hensche. Zu lange hätten die Großge-werkschaften des DGB »die notwendige Sensibilität gegenüber den spezifischen Problemen einzelner Berufe vermissen« lassen und »gar eine Kultur vermeint-licher Kernmitgliedschaften« mit »Ab-

grenzungstorheiten nach oben« gepflegt. Auch für Hensche steht fest: »Nicht der eigentlichen Krise des Tarifsystems, dem Unterlaufen tarifvertraglicher Normen, gilt die Sorge der Einheitsallianz aus DGB und BDA, sondern dem umgekehr-ten Phänomen, der wechselseitigen Über-bietung.« Eine »gesetzlich dekretierte Ta-rifeinheit« lehnt er entschieden ab: »Was verharmlosend als ›Ausdehnung der Frie-denspflicht‹ etikettiert wird, erweist sich für die nachrangigen Gewerkschaften als Streikverbot.«

Erkämpftes GrundrechtDer Ökonom und Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski erinnert daran, daß die Koalitionsfreiheit der Lohnarbeiter »keine Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft« war, sondern »ganz im Ge-genteil« im 19. Jahrhundert vom Prole-tariat in langwierigen Kämpfen gegen

die Bourgeoisie durchgefochten werden mußte. Auch die revolutionären Fraktio-nen des französischen Bürgertums, ein-schließlich der Jakobiner, lehnten »Ar-beiterkoalitionen« ab – »mit der Begrün-dung, daß mit ihnen die in der Revolution abgeschafften feudalen Korporationen (Zünfte, Gilden usw.) wiederhergestellt würden«. Wenn »Bürger, die denselben Gewerben, Handwerken und Berufen angehören, Beratungen aufnehmen oder untereinander Abmachungen treffen, um einvernehmlich die Leistungen ihres Ge-werbes oder ihrer Arbeit zu verweigern oder nur zu einem bestimmten Preis zu gewähren«, seien diese Handlungen als »Attentate auf die Freiheit und die Erklä-

rung der Menschenrechte« zu werten, zi-tiert Kuczynski das revolutionäre Gesetz von 1791. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts konnte in Frankreich wie auch in England und Deutschland das Recht auf »wirklich freie gewerkschaftli-che Betätigung« erzwungen werden.

In dieser historischen Perspektive kä-me eine Novellierung des Tarifvertrags-gesetzes im Sinne der DGB-BDA-For-derungen einem »Eingriff in die grund-gesetzlich verbriefte Koalitionsfreiheit« gleich: »Nun soll dies schwer erkämpfte Recht für die abhängig Beschäftigten in Deutschland erneut abgeschafft, zumin-dest aber eingeschränkt werden«. Wie die anderen beiden Autoren weist auch Kuczynski das von DGB-Seite vorge-brachte Argument, die Initiative würde sich gegen »Gefälligkeitsabschlüsse« richten, als vorgeschoben zurück. Die »Tarifverträge berufsgruppenorientierter Gewerkschaften sind nicht mit denen zu

verwechseln, die unternehmerfreund-liche ›gelbe‹ Gewerkschaften abschlie-ßen. Sie stehen vielmehr in der Tradition der freien Gewerkschaften in ihrer Auf-stiegsphase« bis zum Ersten Weltkrieg«, schreibt der Historiker. Die »erneute Bil-dung berufsorientierter Gewerkschaften« sei »lediglich der Versuch, zu den Ur-sprüngen zurückzukehren, um wirkliche Verbesserungen der sozialen Lage ab-hängig Beschäftigter zu erreichen«. Zwar seien »Risiken einer Zersplitterung nicht zu ignorieren, aber vielleicht bewirken ja gerade sie, daß die DGB-Mitglieder eine Führung wählen, die dem Großtanker neue Fahrt gibt. Damit wäre schon viel gewonnen.«

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Fall Emmely · BAG-Urteil zur Tarifeinheit · Maulkorb für die FAU ·Drohung mit Gewerkschaftsausschlüssen in der IG Metall · Arbeits-kämpfe in China · Neugründung eines linken Gewerkschaftsverban-des in Brasilien · Leiharbeit · Betriebesterben in Polen · Verwal-tungsreform in der IG Metall · Organisierung der Beschäftigten inder persönlichen Assistenz · Aufruhr bei Daimler · BR-Wahlen ·Bauarbeiterstreik in Herford · Arbeitskämpfe in Serbien gegenPrivatisierung · Kampf der Tabakarbeiter in der Türkei · brasiliani-sche Fischer gegen deutsches Stahlwerk

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junge Welt Mittwoch, 29. September 2010, Nr. 227 1 1g e w e r k s c h a f t

Mitte Oktober wird die britische Koalitionsre-gierung ihre nächsten Kürzungspläne bekannt-

geben. Soweit bekannt ist, sollen die Ausgaben um 34 Milliarden Pfund zu-rückgefahren werden. Am 20. Septem-ber veröffentlichte der britische Ge-werkschaftsbund TUC einen Bericht, der verdeutlicht, was diese Pläne z. B. für den englischen Nordwesten bedeu-ten werden. Hier sollen 1,17 Milliarden bei den Stadtverwaltungen gestrichen werden. Damit schultert der Nordwe-sten ein Sechstel aller kommunalen Kürzungen. Die Stadt Liverpool will 20 Millionen Pfund einsparen. Dies bedeutet unter anderem, daß 26 geplan-te neue Schulen nicht gebaut werden können.

Im Großraum Manchester/Liverpool ist jede zehnte Stelle im öffentlichen Dienst bedroht, insgesamt geht es um 95 000 Arbeitsplätze. Wie rabiat der Staat bei der Durchsetzung der Austeri-tätspolitik vorgeht, zeigt sich derzeit in Birmingham. Dort bekamen alle 26 000 städtischen Angestellten die Kündigung zusammen – mit der Aufforderung, sich gegebenenfalls erneut um ihren Job zu bewerben. 330 Millionen Pfund sollen auf diese Werise »eingespart« werden.

Selbstverständlich macht die Regie-rung vor dem Gesundheitssystem nicht halt. Dieses soll bis 2015 in Einzelteile zerschlagen und komplett dem Markt geöffnet werden. Damit wollen sich die Konservativen einen langgeheg-ten Traum erfüllen. In Großbritannien steht das Gesundheitssystem NHS in den Augen vieler Menschen für »Sozia-lismus«: das Recht auf kostenlose, uni-verselle Gesundheitsversorgung. Be-reits die Labour-Regierung unter Blair/Brown hatte dieses Recht ausgehöhlt,

nach dem Willen der Mitte-rechts-Ko-alition soll bald endgültig Schluß damit sein. Ein Gesetzesentwurf ist bereits ins Unterhaus eingebracht.

Auch die Post, Royal Mail, soll wie-der zur Privatisierung ausgeschrieben werden. Labour war daran gescheitert, die konservativ-liberale Koalition will es wieder probieren. Gekürzt werden soll auch im Bildungswesen. Schon die Labour Regierung hatte 2,5 Milli-arden für Universitäten und Colleges gestrichen, was 14 000 Jobs in Gefahr brachte. Demnächst sollen Schulen in großem Maßstab in sogenannte Acade-mies verwandelt und an private Anbie-ter verscherbelt werden.

Dies ist die Agenda der von David Cameron (Tories) und Nicholas Clegg (Liberal Democrats) geführten Koaliti-on. In Regierungskreisen wurde bereits frohlockt, die Gewerkschaftsführer ha-be man unter Kontrolle, von den Mas-sen sei kein Widerstand zu erwarten. Schließlich sei Großbritannien nicht Griechenland. Und tatsächlich ist die Politik der drei größten Gewerkschaf-ten UNITE, UNISON und GMB eher auf Verhandlungen mit der Regierung als auf Konfrontation ausgerichtet.

Anderseits haben britische Arbeiter in der Vergangenheit wiederholt gezeigt, daß sie durchaus zu erfolgreichen Mas-senrevolten in der Lage sind – notfalls auch ohne ihre Führer. Klassisches Bei-spiel ist der wirksame Widerstand gegen die Ende der 80er Jahre von Tory-Pre-mierministerin Maggie Thatcher geplan-te Einführung einer Kopfsteuer (»Poll Tax«). 18 Millionen Menschen, organi-siert in der »Anti Poll Tax Federation«, verweigerten seinerzeit die Zahlungen. 200 000 Menschen protestierten in Lon-don das war bis dato die größte Demon-stration in der britischen Geschichte.

Thatcher mußte schließlich ihren Hut nehmen, der Widerstand gegen die Poll Tax war einer der Gründe dafür.

Die Exekutive hat eine realistische Sicht der Dinge. Führende Polizeibe-amte rechnen Medienberichten zufolge fest mit sozialen Unruhen und fordern eine entsprechende Vorbereitung. Iro-nischerweise sind auch sie von Kürzun-gen betroffen, was unter Thatcher sei-nerzeit tunlichst vermieden wurde. Am 13. September erklärte der Präsident der Police Superintendents Association, Derek Barnett, das Kürzen von 40 000 Stellen bei der Polizei könne schwer-wiegende Folgen haben. In Zeiten des Sozialabbaus würden gesellschaftliche Spannungen und soziale Auseinander-setzungen zunehmen. In solchen Zeiten brauche man eine selbstbewußte und gut ausgerüstete Polizei.

Bislang war von Massenprotesten in Großbritannien noch nicht viel zu sehen. Aber auch die Anti-Poll-Tax-Kampagne fiel nicht vom Himmel. Es brauchte Zeit, bis sich die ersten loka-len Bündnisse formierten, Demonstra-tionen stattfanden und schließlich in Manchester gegen den Widerstand von TUC und Labour Party die Föderation gegründet wurde.

Erste Anzeichen kommender Ausein-andersetzungen gibt es bereits. Am 6. und 7. September wurde die Londoner U-Bahn bestreikt, am 16. September protestierten 2 500 Feuerwehrleute in der Hauptstadt gegen die Kürzungsplä-ne. Am 19. September demonstrierten 4 000 Gewerkschafter in Liverpool bei strömendem Regen gegen den Partei-tag der Liberaldemokraten. Hunderte gingen in den vergangenen Wochen unter anderem in Bristol, Bolton und Huddersfield auf die Straße.

Die Feuerwehrgewerkschaft FBU

führt eine Urabstimmung für einen Ar-beitskampf gegen die Kürzungen durch. Die Gewerkschaften NUJ, UNITE und BECTU wollen erstmals gemeinsam im Oktober bei der BBC gegen Ab-schläge bei der Rente streiken. Der bri-tische Gewerkschaftsbund TUC sieht sich zwar nicht in der Lage, eine Groß-demonstration im Herbst auf die Beine zu stellen, jedoch organisiert die Trans-portarbeitergewerkschaft RMT für den 23. Oktober in London einen Marsch gegen die Regierungspläne und lädt alle anderen Gewerkschaften ein, sich zu beteiligen. Auch gegen den Partei-tag der Konservativen Anfang Oktober wird es Proteste geben.

Innerhalb der Gewerkschaften regt sich Kritik an der Passivität der Füh-rung. 700 Vertrauensleute demonstrier-ten während des TUC-Kongresses in Manchester für einen kämpferischen Kurswechsel. Bei der Großgewerkschaft UNITE ist ein Erfolg des Linksbünd-nisses bei den Generalsekretärswahlen möglich. Sollte dessen Kandidat Len McLuskey gewinnen, würde dies den Druck auf den Apparat weiter erhöhen.

Die britische Regierung ist weniger stark, als es scheint. Ihre parlamenta-rische Mehrheit von 83 Sitzen ist für britische Verhältnisse nicht sehr groß und kann durch Nachwahlen (ein durch das spezielle Wahlsystem permanent bestehendes Risiko für jede Regierung im Vereinigten Königreich) ins Wan-ken geraten. Nun soll sie durch ein neues Gesetz gesichert werden, das die Zusammensetzung des gegenwärtigen Parlamentes auf fünf Jahre garantiert. Damit soll die Durchsetzung des »Spar-paketes« gesichert werden. Ob dies ge-lingt, wird letztendlich auf der Straße und in den Betrieben entschieden wer-den.

Times of AusterityGroßbritannien: Konservativ-liberale Regierung plant Frontalangriff auf das, was New Labour vom Wohlfahrtsstaat übriggelassen hat. Von Christian Bunke, Manchester

Wie rabiat der Staat bei der Durchsetzung der Austeritätspolitik vor-geht, zeigt sich derzeit in Birmingham. Dort bekamen alle 26 000 städtischen Angestellten die Kündigung zusam-men – mit der Aufforde-rung, sich gegebenenfalls erneut um ihren Job zu bewerben. 330 Millionen Pfund sollen auf diese Werise »eingespart« werden.

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HE BRÜSSEL, 20. März 2010:

Solidarität mit Griechenland: »Kapitalismus schadet den Arbeitern«

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Auf in einen »Heißen Herbst«Atom-Deal verhindern, Sozialabbau stoppen, soziale Ausgrenzung beenden – Demokratie zurückgewinnenAtom-Lobbyisten diktieren der Regierung Verträge, Steuermilliarden werden in sinnlosen Bauprojekten wie »Stuttgart 21« verbrannt und Manager streichen Bonuszahlungen ein. Die Rechnung dafür sollen Erwerbslose, Familien, Rentnerinnen und Rentner zahlen. Ihnen droht ein gewaltiges Kürzungspaket. Auch die Solidarität im Gesundheitssystem trägt die Regierung mit Kopfpauschalen, Zusatzbeiträgen und Geschenken an die Arbeitgeber zu Grabe. Gegen diese Politik der schwarz-gelben Regierung kämpft DIE LINKE und will dafür sorgen, dass endlich die Verursacher der Krise zahlen. Zusammen mit Gewerkschaften, Sozialverbänden, Kirchen und Bürgerinnen und Bürgern will sie Sozialabbau verhindern.

DIE LINKE fordert:• Herrschaft der Energiekonzerne beenden, Stuttgart 21 stoppen• Arbeitsmarktgipfel einberufen – Beschäftigte am Aufschwung beteiligen• Integration aktiv befördern – Ausgrenzung beenden • Verursacher der Krise zur Kasse bitten

Eine andere Politik ist möglich und nötig!

V.i.S.d.P. Ulrich Maurer

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