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Die Finanzsphäre ist dreimal so schnell gewachsen wie die Realwirt- schaft. Jetzt steht sie kurz vor der Kernschmelze Seite 2 Euro-Land ist so gut wie abge- brannt – aber ein Scheitern der Ge- meinschaftswährung hätte katastro- phale Folgen Seite 3 Der Kapitalismus hat sich in seiner Ideologie festgefressen – was aber nicht an der Dummheit, sondern an den Interessen liegt Seite 5 Der Dollar wackelt zwar immer mehr – seine Rolle als Weltreserve- währung ist aber noch lange nicht ausgespielt Seite 7 junge W elt Die Tageszeitung krise Beilage der Tageszeitung junge Welt Sonnabend/Sonntag, 8./9. Januar 2011, Nr. 6 G eschichte wird gemacht«, war einst ein geflügelter Spruch der Linken. Dahinter stand in Westeuropa das politische Selbstbewußtsein einer neuen Generation. Die wollte den »Muff von tausend Jahren« beseitigen, rebellierte gegen obrigkeitsstaatliche Strukturen und verabscheu- te Kriege, wie den der USA in Vietnam. Auch eine erstarkte Gewerkschaftsbewegung prägte jene Zeit, die aber vor allem durch die System- auseinandersetzung mit dem realen Sozialis- mus gekennzeichnet war. Der Kapitalismus war in Frage gestellt, und das ist er auch heute. Allerdings scheint es an Antworten zu man- geln. Mag sein, daß seinen Gegnern auch ein Teil Knowhow verlorengegangen ist, manche Rezepte gelten als veraltet, anderes muß neu entwickelt werden. Eines ist jedoch gewiß: Die Menschen sind dem Wüten der »Märkte« und der Macht ihrer politischen, juristischen und medialen Sympathisanten nicht zwangsläufig hilflos ausgesetzt. Der Kapitalismus ist flexibel und mächtig, aber nicht unverwundbar. Seine vermeintlichen Stärken sind auch seine Schwächen. Dem Ka- pitalverhältnis liegt kein moralisches Konzept zugrunde. Profit zu generieren, bedingt weder Ethik noch Ästhetik. Der Sinn des Mehrwertes liegt in dessen Aneignung – womit es persön- lich wird: Für die, die nehmen, und jenen, de- nen genommen wird. Daraus folgt zwingend: Was Beschäftigte, Bildungshungrige, Unterdrückte und auch Er- werbslose wollen, müssen sie sich erkämpfen (Gewerkschaften aufgewacht!). Es liegt in der Dialektik gesellschaftlicher Widersprüche – wie dem zwischen Kapital und Arbeit –, daß ausgeklügelte Systeme zur »Umverteilung« nicht der Verwertungslogik entsprechen. An- dererseits kann diese Logik nicht aufgehen, wenn es keine Regularien gibt. Das Kapital hat ein existentielles Interesse daran, daß eine Art Burgfrieden mit dem »Faktor Arbeit«, also den abhängig Beschäftigten, existiert. In der materiellen Wirklichkeit ist der Grund- widerspruch des Kapitalismus, also der zwi- schen gesellschaftlicher Produktion und priva- ter Aneignung, sehr wohl sichtbar. Geld gebiert keinen Wohlstand. Aktienoptionen bauen keine Häuser. Hedgefonds buddeln nicht das Eisen- erz aus. Reale Werte schafft ausschließlich der Mensch mit zielgerichtetem Handeln, mit sei- ner Arbeitskraft. Sie ist und bleibt entscheiden- de Quelle allen gesellschaftlichen Reichtums. Es ist keineswegs so, daß das »Kapital« die »Arbeit« in babylonischer Gefangenschaft hält. Es tut nur so, angefangen von den Fakten, bis zu der Begrifflichkeit »Arbeitgeber«. Wenn man so will, liegt hier die Sollbruchstelle des Systems. Um da den Hebel erfolgreich ansetzen zu kön- ne, braucht es vor allem kollektiven Willen. Es bedarf der Zuversicht, die nur aus Wissen und Er- fahrung erwachsen kann. Kräftige Lohnerhöhun- gen könnten ein solcher Hebel sein. Der zerstört den Kapitalismus nicht, kann ihn aber zähmen. Der Preis der Ware Arbeitskraft wird nicht vom Staat, nicht vom Unternehmer festgesetzt. Er ist Resultat eines permanenten Klassenkampfes. Den Kapitalismus »verbessern« heißt, ihn schwä- chen. Und es gibt keinerlei materiellen oder mo- ralischen Grund, den Profiteuren des Systems je- ne global-volkswirtschaftlichen Kosten verstärkt in Rechnung zu stellen, die aus einer extrem gesteigerten Produktivität resultieren, die die in- ternationale Arbeitsteilung gravierend verändert hat. Ressourcenverbrauch, Bildung und Ausbil- dung gehören ebenso dazu wie die Wiederein- gliederung der »relativen Überbevölkerung« als aktiven Part des Reproduktionskreislaufs. Keine Atempause Wer Geschichte machen will, muß die materiellen Grundlagen der Gesellschaft ändern. Wie aber kämpft man gegen den Kapitalismus? Von Klaus Fischer THoMAS LoHnES/DAPD Die Deutsche Börse in Frankfurt am Main am letz- ten Handelstag des Jahres 2010: Der DAX war am Morgen um 1,09 Punkte auf 6 917,76 gefallen

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Die Finanzsphäre ist dreimal so schnell gewachsen wie die Realwirt-schaft. Jetzt steht sie kurz vor der Kernschmelze Seite 2

Euro-Land ist so gut wie abge-brannt – aber ein Scheitern der Ge-meinschaftswährung hätte katastro-phale Folgen Seite 3

Der Kapitalismus hat sich in seiner Ideologie festgefressen – was aber nicht an der Dummheit, sondern an den Interessen liegt Seite 5

Der Dollar wackelt zwar immer mehr – seine Rolle als Weltreserve-währung ist aber noch lange nicht ausgespielt Seite 7 jungeWelt

Die Tageszeitung

k r i s e Beilage der Tageszeitung junge Welt Sonnabend/Sonntag,8./9. Januar 2011, Nr. 6

Geschichte wird gemacht«, war einst ein geflügelter Spruch der Linken. Dahinter stand in Westeuropa das politische Selbstbewußtsein einer

neuen Generation. Die wollte den »Muff von tausend Jahren« beseitigen, rebellierte gegen obrigkeitsstaatliche Strukturen und verabscheu­te Kriege, wie den der USA in Vietnam. Auch eine erstarkte Gewerkschaftsbewegung prägte jene Zeit, die aber vor allem durch die System­auseinandersetzung mit dem realen Sozialis­mus gekennzeichnet war. Der Kapitalismus war in Frage gestellt, und das ist er auch heute. Allerdings scheint es an Antworten zu man­geln. Mag sein, daß seinen Gegnern auch ein Teil Knowhow verlorengegangen ist, manche Rezepte gelten als veraltet, anderes muß neu entwickelt werden. Eines ist jedoch gewiß: Die Menschen sind dem Wüten der »Märkte« und der Macht ihrer politischen, juristischen und

medialen Sympathisanten nicht zwangsläufig hilflos ausgesetzt.

Der Kapitalismus ist flexibel und mächtig, aber nicht unverwundbar. Seine vermeintlichen Stärken sind auch seine Schwächen. Dem Ka­pitalverhältnis liegt kein moralisches Konzept zugrunde. Profit zu generieren, bedingt weder Ethik noch Ästhetik. Der Sinn des Mehrwertes liegt in dessen Aneignung – womit es persön­lich wird: Für die, die nehmen, und jenen, de­nen genommen wird.

Daraus folgt zwingend: Was Beschäftigte, Bildungshungrige, Unterdrückte und auch Er­werbslose wollen, müssen sie sich erkämpfen (Gewerkschaften aufgewacht!). Es liegt in der Dialektik gesellschaftlicher Widersprüche – wie dem zwischen Kapital und Arbeit –, daß ausgeklügelte Systeme zur »Umverteilung« nicht der Verwertungslogik entsprechen. An­dererseits kann diese Logik nicht aufgehen,

wenn es keine Regularien gibt. Das Kapital hat ein existentielles Interesse daran, daß eine Art Burgfrieden mit dem »Faktor Arbeit«, also den abhängig Beschäftigten, existiert.

In der materiellen Wirklichkeit ist der Grund­widerspruch des Kapitalismus, also der zwi­schen gesellschaftlicher Produktion und priva­ter Aneignung, sehr wohl sichtbar. Geld gebiert keinen Wohlstand. Aktienoptionen bauen keine Häuser. Hedgefonds buddeln nicht das Eisen­erz aus. Reale Werte schafft ausschließlich der Mensch mit zielgerichtetem Handeln, mit sei­ner Arbeitskraft. Sie ist und bleibt entscheiden­de Quelle allen gesellschaftlichen Reichtums. Es ist keineswegs so, daß das »Kapital« die »Arbeit« in babylonischer Gefangenschaft hält. Es tut nur so, angefangen von den Fakten, bis zu der Begrifflichkeit »Arbeitgeber«. Wenn man so will, liegt hier die Sollbruchstelle des Systems.

Um da den Hebel erfolgreich ansetzen zu kön­ne, braucht es vor allem kollektiven Willen. Es bedarf der Zuversicht, die nur aus Wissen und Er­fahrung erwachsen kann. Kräftige Lohnerhöhun­gen könnten ein solcher Hebel sein. Der zerstört den Kapitalismus nicht, kann ihn aber zähmen. Der Preis der Ware Arbeitskraft wird nicht vom Staat, nicht vom Unternehmer festgesetzt. Er ist Resultat eines permanenten Klassenkampfes. Den Kapitalismus »verbessern« heißt, ihn schwä­chen. Und es gibt keinerlei materiellen oder mo­ralischen Grund, den Profiteuren des Systems je­ne global­volkswirtschaftlichen Kosten verstärkt in Rechnung zu stellen, die aus einer extrem gesteigerten Produktivität resultieren, die die in­ternationale Arbeitsteilung gravierend verändert hat. Ressourcenverbrauch, Bildung und Ausbil­dung gehören ebenso dazu wie die Wiederein­gliederung der »relativen Überbevölkerung« als aktiven Part des Reproduktionskreislaufs.

Keine Atempause Wer Geschichte machen will, muß die materiellen Grundlagen der Gesellschaft ändern. Wie aber kämpft man gegen den Kapitalismus? Von Klaus Fischer

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Die Deutsche Börse in Frankfurt am Main am letz-ten Handelstag des Jahres 2010: Der DAX war am Morgen um 1,09 Punkte auf 6 917,76 gefallen

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Sonnabend/Sonntag, 8./9. Januar 2011, Nr. 6 junge Welt 2 k r i s e

Die kapitalistische Wirtschaft steht fast vor der Kernschmel­ze – verantwortlich dafür ist die seit Mitte der 70er Jahre

weltweit eingeleitete Umverteilung von den Arbeits­ zu den Besitz einkommen. Theoretisch wie empirisch steht das au­ßer Frage – auch wenn es die Herrschaft­seliten in Politik und Wirtschaft ebenso wie die meisten Ökonomen bewußt ver­meiden, darüber zu diskutieren.

Zur Umverteilung hinzu kommt die verstärkte Privatisierung der Altersvor­sorge durch kapitalgedeckte Finanzie­rungsverfahren – in Deutschland auch durch die »Riester­Rente« forciert. Fol­ge dieses neoliberalen und marktradikal umgesetzten Umverteilungsmodells war, daß die Massenkaufkraft zurückging und weniger in die Realwirtschaft investiert wurde.

Das Wachstum verlangsamte sich da­durch, und die Arbeitslosigkeit nahm zu – was wiederum die Krise verschärfte: Der erweiterte Akkumulationsprozeß geriet ins Stottern. obwohl die realwirtschaft­lichen Profitraten schwächelten, legte das Kapital den gerade noch realisierten Gewinn im Finanzsektor an, zumal hier höhere Renditen zu erzielen waren. Die Folge war eine weitere Umverteilung: jetzt innerhalb der Besitzeinkommen – von den Gewinnen zu den Zinsen und Grundrenten.

In der Finanzsphäre werden eben kei­ne Werte geschaffen, sondern nur um­verteilt. Der Vermögende gibt über eine Bank dem Unternehmen oder Immobili­eninvestor einen Kredit und sichert sich mit dem Zins auf diesen Kredit einen Teil des Unternehmensgewinns oder der Grundrente (Miete/Pacht). Da aber die Unternehmer/Investoren innerhalb der gesamten Wertschöpfung nicht auf Ge­winn oder Grundrente verzichten wollen, wurden die Arbeitseinkommen schließ­lich immer mehr abgesenkt. Das aber erwies sich als kontraproduktiv: Die Um­verteilung wurde zu Lasten der produ­zierenden Realwirtschaft auf die Spitze getrieben.

Um weltweit in der Finanzsphäre agieren zu können, mußten die Kapital­märkte für die Geld­Mächtigen (altgrie­chisch: Plutokraten) zunehmend libera­lisiert werden – feste Wechselkurse und Kapitalverkehrskontrollen waren dabei nur hinderlich. Die herrschende neolibe­rale Politik gehorchte und schaffte bei­des ab. So konnte schließlich die Finanz­sphäre in den vergangenen gut 30 Jahren etwa dreimal so schnell wachsen wie die Realwirtschaft. Auch das hatte negative Folgen: Das Kreditangebot weitete sich stetig aus und mußte so immer mehr Kreditnachfrager finden. Am Ende wur­den sogar drittklassige Schuldner akzep­tiert, wie die »Subprime­Krise« in den USA ab 2007 überdeutlich gemacht hat.

Die Schuldner können aber ihre An­nuitäten (Tilgung plus Zinsen) letztlich nur durch menschliche Arbeit und natur­gebrauch begleichen – durch Wertschöp­fung also. Das gilt für den einzelnen Schuldner genauso wie für eine ganze Volkswirtschaft. Fällt diese Wertschöp­fung in Form eines Überschußprodukts beim jeweiligen Schuldner aus, so ist die Schuldenkrise programmiert.

In der Ökonomie gibt es allerdings ein einfaches Gesetz: Der Saldo aus gesamtwirtschaftlichen Vermögen und Verbindlichkeiten ist immer gleich null. Kurzfristig läßt sich zwar das Wertge­setz bei Vermögenswerten wie Aktien, Anleihen, Rohstoffen oder Immobilien

durch spekulativ aufgebaute Vermögen­spreisinflationen ausschalten, die größer sind als die Annuitäten. Langfristig geht das natürlich nicht. Setzt das spekula­tive Herdenverhalten der Boomphase aus und die Preise der Vermögensgüter fallen, platzen die Blasen, und die Kre­dite werden notleidend. So erklärt sich schließlich jede Schuldenkrise. Ist diese in der Finanzsphäre ausgelöste Krise erst einmal da, verlangt sie nach opfern – eine Rolle, die die Plutokraten aber am allerwenigsten übernehmen wollen.

Der unumstößliche Saldo von Ver­mögen und Kredit verlangt nach einer Bilanzkürzung – es geht also nicht ohne die Kontraktion des Finanzsektors. Ent­scheidend ist dabei, wie diese auf die Realwirtschaft durchschlägt, sie könnte im schlimmsten Fall eine wirtschaftli­che Gesamtkatastrophe auslösen.

Das aber bringt unweigerlich die Po­litik und somit den Staat auf das kapi­talistische Spielfeld – die einzigen Ak­teure, die gesamtwirtschaftlich denken und handeln können. Der Staat hat jetzt zwei Aufgaben: Zum einen muß er »fau­le« Kredite und »toxische« Wertpapie­re von den Vermögenden weitgehend übernehmen – ansonsten kollabiert der Finanzsektor. Zum anderen muß die Re­alwirtschaft antizyklisch durch kredit­finanzierte Konjunkturpakete und eine expansive Geldpolitik gestützt werden.

Schon vor der Krise waren die ab­

hängig Beschäftigten die Verlierer, jetzt tragen auch sie wieder einen Großteil der Last: Sie bekommen weniger Lohn, wodurch dem Staat wiederum Steuern entgehen. Im Gesamtergebnis steigt die Staatsverschuldung gigantisch an, und die Plutokraten verlieren nur kleine Tei­le ihres Vermögens. Die Rettung der privaten Finanzvermögen führt also per­verserweise zu mehr öffentlicher Schuld und damit öffentlicher Armut.

Zur Zeit sind infolge der weltweiten Finanz­ und Wirtschaftskrise die ersten realwirtschaftlich schwächeren Staa­ten in der Euro­Zone durch ihre hohe Verschuldung in große Probleme gera­ten. In Griechenland und Irland ist die staatliche Finanzierungskrise offen zu Tage getreten, worauf die Finanzmärk­te – eine anonyme Umschreibung für Plutokraten – sofort reagierten. Mittler­weile verlangen sie auch von souveränen Staaten wie Portugal, Spanien und Bel­gien auf Staatsanleihen enorme Zins­Risikoaufschläge. Und zugleich fordern sie den Abbau des staatlichen Sektors durch krisenverschärfende Senkung der Staatsausgaben, insbesondere beim Per­sonal und im Sozialbereich. Schließ­lich pochen die »Geld­Mächtigen« auch noch zynisch auf weitere Steuersenkun­gen – wodurch sie angeblich die Wirt­schaft beleben wollen. Dieses Denken und Handeln ist nicht nur wirtschaftlich borniert – es nützt obendrein ausschließ­lich den weltweit agierenden Plutokra­ten.

Wenn diese Herangehensweise nicht bald beendet wird, droht eine noch grö­ßere Weltwirtschaftskrise, als die so­eben erlebte. Sie zu bekämpfen ist öko­nomisch einfach, politisch allerdings schwer: Die herrschende Politik muß nur die großen, hoch konzentrierten Vermö­gensbestände weltweit mit einer Vermö­gensabgabe besteuern. Schuldenerlaß, auch zwischen den armen und reichen Ländern, heißt die befreiende Losung für einen dringend notwendigen wirt­schaftlichen neustart außerhalb eines destruktiven neoliberalen Regimes.

Kurz vor der KernschmelzeDie Finanzsphäre ist in gut drei Jahrzehnten etwa dreimal so schnell gewachsen wie die Realwirtschaft. Von Heinz-J. Bontrup

Professor Dr. Heinz-J. Bontrup ist Wirtschafts-wissenschaftler an der FH Gelsenkirchen und Sprecher der »Arbeits-gruppe Alternative Wirt-schaftspolitik«

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Luxus satt: Auf der »Monaco Yacht Show« (hier ein Bild vom Sep-tember 2009)

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junge Welt Sonnabend/Sonntag, 8./9. Januar 2011, Nr. 6 3k r i s e

Der Euro brennt lichterlohDie Lage spitzt sich zu – ein Scheitern der europäischen Währung wäre aber katastrophal. Von Michael Schlecht

Der Euro brennt, es ist ein Flä­chenbrand. Im Frühjahr wurde über nacht für Griechenland ein Rettungspaket von 110 Mil­

liarden Euro geschnürt, dann für künftige Fälle ein gigantischer Rettungsschirm von 750 Milliarden Euro aufgespannt. Darunter stellt sich jetzt Irland als erstes Land. Weite­re sind bedroht: Portugal, Spanien, Belgien und Italien. Selbst für Deutschland sind die Kreditausfallversicherungen um 50 Prozent teurer geworden. 2011 wird die Lage sich zu­spitzen, wohl schon in den ersten Monaten.

Wird der Euro gerettet, bzw. kann er überhaupt zu vertretbaren Kosten geret­tet werden? Sollten die bedrohten Länder nicht einfach aus dem Euro aussteigen? Wäre es nicht das Beste, wenn Deutschland wieder zur D­Mark zurückkehrte?

Der hohe Anteil der Exportwirtschaft hierzulande bei gleichzeitig schwacher Binnenwirtschaft ist eine Fehlentwicklung. Wenn Deutschland wieder eine eigene Währung hätte, würde sofort um 30 bis 40 Prozent aufwerten. Mehr als ein Drittel al­ler Arbeitsstunden hängt an der Exportwirt­schaft – bei einer Aufwertung wären zwei bis drei Millionen Arbeitsplätze in Gefahr.

Aber auch für die Krisenländer wür­de ein Ausstieg alles schlimmer machen. Wenn etwa Griechenland die Drachme wieder einführte, wären die Auslandsschul­den in Euro nach wie vor vorhanden. Die neue griechische Währung müßte gegen­über dem Ausland aber um etwa 50 Prozent abwerten. Dann wäre die Schuld doppelt so drückend wie heute. Selbst wenn Grie­chenland sich mit einer Umschuldung in Höhe von 50 Prozent von einem Teil der Schulden befreien wollte, wäre der Effekt der Abwertung gerade ausgeglichen. Je­doch wäre Griechenland auf Jahre, wahr­scheinlich Jahrzehnte vom internationalen Kapitalmarkt abgeschnitten.

Auch die deutsche Stammtischparole – »Wir wollen nicht länger die Faulenzer aushalten« – zeugt von Unkenntnis. Grie­chenland zahlt für die Hilfskredite rund drei Prozent mehr Zinsen als Deutschland. Deshalb macht Deutschland mit der not anderer Profite. »Das sind etwa 300 Mil­lionen Euro im Jahr«, meint Klaus Regling, Leiter des EU­Rettungsfonds.

Würde Griechenland aus dem Euro aus­steigen und umschulden, würde es für den deutschen Steuerzahler erst richtig teuer. Zwar würden auch hiesige Banken und Finanzzocker getroffen, die griechische Staatspapiere halten. Jedoch: Mindestens zwei Drittel der deutschen Forderungen ge­genüber den Südländern und Irland werden von Banken gehalten, die unter deutscher Staatskuratel stehen.

Vor diesem Hintergrund ist klar: Ein Weg zurück in nationalstaaterei ist ver­hängnisvoll, wir brauchen ein gemeinsa­mes Europa. Die Frage ist jedoch, ob dies ein solidarisches, ein soziales Europa wird

oder eines, in dem das deutsche Kapital die Hegemonie hat. Auch Merkel und die Bundesregierung wollen den Euro und die EU erhalten. Jedoch verfolgen sie einen Kurs, der auf den Ausbau der deutschen Hegemonie über Europa zielt. Zugespitzt gesagt: Früher kamen Panzer, heute rollt Merkel über den Kontinent.

Die Kanzlerin erhielt im Winter 2009/2010 den Titel »Madam non« – weil sie zunächst alle Hilfen für Griechenland hintertrieben hat. Sie wollte den Staat in die Ecke treiben und so massive Kürzungs­programme erzwingen. Merkel war immer die Scharfmacherin. Sie hat entscheidend

dafür gesorgt, daß Hilfen der EU sowie des Internationalen Währungsfonds an rigorose Kürzungen geknüpft sind. An der deut­schen Agenda soll Europa genesen.

Die irische Bevölkerung wird für die Bankenkrise in Haftung genommen. Bei den Kindern, beim Arbeitslosengeld, bei den Renten wird »gespart«, die Gehälter im öffentlichen Dienst wurden um 15 Pro­zent gekürzt, der Mindestlohn um einen Euro abgesenkt. So wird das Land erst richtig nach unten gezogen. .

Selbst Bankökonomen kritisieren diese Politik: »ohne expandierende Wirtschaft wird die Haushaltssanierung zum Ding der Unmöglichkeit.« Das konstatiert der Chef­volkswirt von Sal. oppenheim, norbert Braems, und verbindet das mit der Forde­rung nach einem EU­Konjunkturprogramm für notleidende Länder. Recht hat er!

Aber all das will Merkel nicht. Sie will »bestrafen«. Mittlerweile hat sie ein eu­ropaweites Austeritätsprogramm, also eine energische Sparpolitik im Umfang von mehr als 400 Milliarden Euro durch­gesetzt – ein gefährlicher Kurs! Denn die deutschen Exporte gehen zu 60 Prozent in die EU. Wenn dort die Wirtschaft stran­guliert wird, trifft dies auch die deutsche Exportwirtschaft.

Die Euro­Zone wird nur überleben, wenn Deutschland die einseitige Exporto­rientierung durch eine Wirtschaftspolitik ersetzt, die außenwirtschaftliches Gleich­gewicht zum Ziel hat. Dies geht nur über die Stärkung der Binnenwirtschaft, vor al­lem über höhere Löhne und damit ein Ende des Lohndumpings. Deutschland braucht den gesetzlichen Mindestlohn von zehn Euro und die Erhöhung des Arbeitslosen­geldes II auf 500 Euro. Außerdem muß die Binnennachfrage durch ein Zukunftspro­gramm für Bildung, Verkehr sowie die En­ergiewende in Höhe von 100 Milliarden Euro jährlich gestärkt werden.

Für die Durchsetzung dieser Ziele brau­chen wir vor allem in Deutschland eine breite politische Bewegung. Der Wider­stand in den unmittelbar betroffenen Kri­senländern ist beachtlich und verdient un­sere Unterstützung. Aber der eigentliche Hauptgegner für ein Europa der Völker sitzt in Berlin.

Michael Schlecht, MdB – Chefvolkswirt der Frak-tion Die Linke – Gewerk-schaftspolitischer Spre-cher im Parteivorstand Die Linke – 3. Januar 2011

Wir fordern: – Sofort raus aus Afghanistan! – Verhinderung des Krieges gegen Iran! – Stopp der Apartheid gegen PalästinenserInnen! – Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel!

MITGLIED werden bei den Freidenkern! WARUM?

Hier kannst du dich persönlich einbringen:für eine Welt ohne Kriegfür die Selbstbestimmung der Völkerfür den Antifaschismusfür die Selbstverwirklichung deiner Personfür das Menschenrecht auf Bildungfür eine lebenswerte/erlebenswerte Kulturfür die Trennung von Staat und Kirchefür die Trennung von Schule und Kirchefür ein sinnerfülltes Gemeinschaftslebenfür Austritte aus der Kirchefür Informationsaustausche zur Gesellschaftfür freidenkerische Namensweihenfür freidenkerische Jugendweihenfür weltliche Eheschließungenfür weltliche Trauerkultur

FREIDENKER = AUFKLÄRUNG Lernen, wie wir kämpfen müssen!

www.freidenker.org

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»Millionaire Faire«, Mün-chen, Oktober 2008: Die »Golden Zeus«-Zigarre, die der Mann gerade schmaucht, hat einen Wert von 400 Euro und ist mit Gold veredelt

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Sonnabend/Sonntag, 8./9. Januar 2011, Nr. 6 junge Welt 4 k r i s e

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Merkel füttert die BankenDie Bundeskanzlerin spielt die Staatsanwältin der Steuerzahler. In Wahrheit ist sie die »heilige Johanna« der Finanzindustrie. Von Fabio de Masi und Alexander Troll

Die Banken wurden gerettet, die Staatsverschuldung ist gestie­gen. Finanzindustrie und Su­perreiche verdienen daran so­

gar, denn sie leihen den Staaten Geld und kassieren dafür Zinsen. Eine Beteiligung der privaten Gläubiger an der Euro­Ret­tung ist daher dringend geboten. Banken müssen auf einen Teil der Rückzahlung ihrer Kredite an Euro­Staaten verzichten. Ökonomen nennen das »Hair­cut« – auf deutsch: Haarschnitt. Auch Kanzlerin An­gela Merkel spricht darüber – allerdings soll ihr »Hair­cut« erst 2013 kommen.

Merkel ist gerissen: Mit dieser Verzö­gerungstaktik verschafft sie den Banken Zeit, damit die ihre Schäfchen ins Trocke­ne bringen können. Das ist so, als ob die Kanzlerin eine Steuerfahndung bei der Deutschen Bank fordert, aber deren Chef Josef Ackermann gleich den Termin mit­teilt, damit er rechtzeitig die Leichen aus dem Keller schafft. Die Geldhäuser kön­nen in der Zwischenzeit die Zinsen weiter nach oben treiben. Kommt der »hair­cut« am Ende wirklich, sind ihre Tresore wie­der gut gefüllt.

Das Argument der Bundesregierung, hohe Zinsen seien gut, um die Regierun­gen der Krisenstaaten zum Sparen zu zwingen, ist ökonomischer Wahnsinn. Ir­land hatte bis zur Wirtschaftskrise einen Traumwert bei der Staatsverschuldung: 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Dagegen waren die Banken mit insgesamt 350 Prozent des BIP verschuldet. Sie sind also die tatsächlichen Schuldenmacher und werden durch hohe Zinsen auch noch belohnt.

Die EU­Verträge verbieten direkte Kre­dite der EZB an Euro­Staaten. Das führt zu der verrückten Situation, daß die Ban­ken sich zu einem Prozent Geld bei der Europäischen Zentralbank (EZB) leihen und es zu acht Prozent an Irland oder zu elf Prozent an Griechenland weiterver­leihen. Die Finanzindustrie verdient also an der Staatsverschuldung, die sie durch den Finanzcrash und die anschließende Bankenrettung überhaupt erst verursacht hat. Ex­Bundesbank­Chef Hans Tietmey­er hatte völlig recht, als er sagte: »Wir alle stehen unter der Kontrolle der internatio­nalen Finanzmärkte!«

Die Linke fordert daher direkte Kredite

der EZB bzw. einer neuen europäi schen Bank für öffentliche Anleihen an die Euro­Staaten. Letzteres wäre sogar sofort ohne Änderung der EU­Verträge möglich. Eine Bank für öffentliche Anleihen könnte sich bei der EZB günstig Geld beschaffen und diese Konditionen direkt an Euro­Länder weiterreichen. Letztere wären nicht länger als Sklaven den Kapitalmärkten ausge­liefert.

Gegen eine Ausdehnung der Geldmen­ge durch die notenbank – nichts anderes ist der Aufkauf von Staatsschulden – wird gerne eingewendet, dann drohe eine Hy­perinflation. Die US­Zentralbank hat je­doch bereits 900 Milliarden US­Dollar in den Markt gepumpt, und die Zeichen in den USA stehen dennoch auf Deflation, das heißt, die Preise sinken sogar, statt zu steigen. Entscheidend ist nicht, wieviel Geld geschöpft wird, sondern ob Unter­nehmen damit investieren und Menschen damit einkaufen. Solange das Geld bei den Banken liegenbleibt, kommt es nicht zur Inflation auf den Gütermärkten.

Die Linke sollte daher keine Angst vor der eigenen Courage haben: Bereits der ehemalige Hamburger Bürgermeister und rechte Sozialdemokrat Klaus von Dohna­nyi hatte Anfang der 80er Jahre gefordert, einen Teil der öffentlichen Investitionen zinsfrei über die Bundesbank zu finan­zieren. notenbankkredite machen es erst möglich, die Banken zur Kasse zu bitten. Denn ohne diese werden Banken bei ei­nem »Hair­cut« höhere Zinsen von Euro­Staaten verlangen, um sich für Verluste zu entschädigen. Mit direkten notenbankkre­diten haben diese Länder aber eine billige Alternative zu den Kapitalmärkten.

Ein »Hair­cut« birgt aber auch Risiken: Die Staatsanleihen im Besitz der Zen­tralbank sind danach weniger wert. Das würde den Steuerzahler treffen, weil der Zentralbankgewinn sinkt. Denn dieser fließt üblicherweise in den Staatshaushalt. Deshalb muß der »hair­cut« so schnell wie möglich kommen, bevor die EZB sämt­liche Staatsanleihen im Tresor hat. Vom »Hair­cut« wären auch Banken im Staats­

besitz betroffen, wie die Hypo Real Estate oder die Landesbank Baden­Württemberg – beide könnten davon aber ausgenommen werden. Alternativ könnte der Staat neues Eigenkapital nachschießen.

Insgesamt wird durch den »Hair­cut« die öffentliche Verschuldung jedoch sin­ken: Denn nicht jede Bank ist system­relevant, und Vermögensbesitzer müssen vom Staat nicht gerettet werden. Private Geldhäuser, die wegen Verlusten durch Schrottpapiere Insolvenz anmelden müs­sen, sollte der Bund vergesellschaften. So kann der Staat die Banken endlich an die Kette legen. Wenn die Kreditinstitute wie­der Gewinne schreiben, sollen diese an den Fiskus fließen.

Wichtig ist: Die Linkspartei muß die Wut der Bevölkerung auf die Profiteure der Krise lenken. Es nützt nur der politi­schen Rechten, wenn wir die Europafahne schwenken, aber niemand mitläuft. Die Partei muß sagen, was los ist: Diese Euro­Rettung ist eine permanente Bankenret­tung.

Fabio De Masi ist Volks-wirt und Mitarbeiter des Chefvolkswirts der Bundestagsfraktion Die Linke, Michael Schlecht. De Masi betreibt einen EU-Blog: www.europafueralle.de

Alexander Troll ist Volks-wirt, wirtschaftspoliti-scher Referent der Frak-tion und Mitarbeiter der wirtschaftspolitischen Sprecherin der Fraktion Die Linke, Sahra Wagen-knecht.

Sir Alan Budd ist Grün-dungsmitglied des geld-politischen Komitees der Bank of England. Sein Kommentar zur Wirtschaftspolitik von Premierministerin Mar-garet Thatcher zwischen 1979 und 1990: Viele »haben nie (...) geglaubt, daß man mit Monetarismus die Infla-tion bekämpfen kann. Allerdings erkannten sie, daß (der Monetarismus) sehr hilfreich dabei sein kann, die Arbeitslosig-keit zu erhöhen. Und die Erhöhung der Arbeits-losigkeit war mehr als wünschenswert, um die Arbeiterklasse insge-samt zu schwächen. (…) Hier wurde – in mar-xistischer Terminologie ausgedrückt – eine Krise des Kapitalismus herbeigeführt, die die in-dustrielle Reservearmee wiederherstellte, und die es den Kapitalisten fortan erlaubte, hohe Profite zu realisieren.« (The New Statesman, 13. Januar 2003, S. 21)

Reichtum zeigen: Auf der Uhren-und-Juwelen-Show »Basel-world« in Basel, Schweiz, März 2010

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junge Welt Sonnabend/Sonntag, 8./9. Januar 2011, Nr. 6 5k r i s e

Ideologisch festgefressenBastard­Keynesianismus oder: Das System auf dem Prüfstand. Von Herbert Schui

Mit dieser Feststellung läuft man bei aufgeklärteren Zeitgenossen offene Tü­ren ein: Die Ursache der

schlechten Wirtschaftsentwicklung ist fehlende nachfrage. Produziert werden kann zu niedrigen Kosten, die Unter­nehmen allerdings haben ein Problem: Wie die Waren absetzen, die jede Menge Mehrwert enthalten? Denn der produ­zierte Mehrwert macht den Kapitalisten noch nicht ganz glücklich: Selig ist er erst dann, wenn er die Ware und damit den Mehrwert zu Geld gemacht hat.

Was die Bedingungen für die Reali­sierung der produzierten Werte sind, das war die Frage, die sich John Maynard Keynes (1883–1946) und die ganze Rich­tung, die seinem namen trägt, gestellt hat. Keynes hat in seiner Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes unter anderem Aufrühre­risches gefordert: Er verlangte eine Steu­erpolitik, die dem Staat mehr Einnahmen verschafft und die niedrigen Einkommen aufbessert. Das sollte die gesamtwirt­schaftliche nachfrage erhöhen; belastet werden sollten dagegen die Gewinnein­kommen. Sicherlich läßt sich diese Über­legung auf die Löhne übertragen. Beides aber verringert den Gewinn und die Pro­fitrate. Für Keynes war klar, daß das die Investitionsausgaben der Unternehmen dämpfen könnte. Deswegen forderte er eine gesellschaftliche Steuerung der In­vestitionen.

Aber immerhin: Die unternehmerische Autonomie würde durch Verteilungs­politik und Steuerung der Investitionen beschränkt. Das wäre der Anfang einer »kalten Sozialisierung« – so die Parole der Unternehmerschaft. Wenn aber die Firmen auf der einen Seite mehr nach­frage brauchen, auf der anderen Seite ihnen aber Verteilungspolitik zu ihren Lasten und eine politische Steuerung der Investitionen zutiefst zuwider sein müs­sen, dann wird sich die Politik in einem kapitalistischen Staat auf andere Elemen­te der keynesianischen Theorie verlegen müssen – das heißt auf Staatsdefizite und niedrige Zinsen.

Gegen Staatsschulden, um aus dem Konjunkturtief herauszukommen, ist nichts einzuwenden. Aber wenn sie an­haltend Verteilungspolitik ersetzen sol­len, schafft das viele Probleme. In jedem Fall müssen diese Schulden zu niedrigen Zinsen geordnet untergebracht werden. Das wiederum geht nur, wenn der Fi­nanzsektor eine öffentliche Einrichtung ist, wenigstens aber sehr eng reguliert wird. Hier spätestens müssen die Finanz­unternehmen laut aufschreien.

Weil die Interessen so sind, haben sich die meisten Länder auf anhaltende Staats­verschuldung verlegt. Andere, besonders Deutschland, hatten die Chance, ihre Ex­porte zu steigern. Hier wird Staatsnach­frage durch Auslandsnachfrage ersetzt. niedrige Zinsen sollten ein übriges bei­

tragen, indem sie die Unternehmen zu mehr Investitionen veranlassen und die privaten Haushalte zu mehr Konsum.

Das war die Konjunktur auf Pump, die vor allem die deutsche Regierung und ihre Kampfblätter aufgeblasen kriti­siert haben. (Verschwiegen wird bei die­ser Kritik, daß dies zu mehr nachfrage nach deutschen Exporten geführt hat.) Das Ziel der Politik war also, den Un­ternehmen zu mehr Absatz zu verhelfen, und dies mit einer nachfrage, die für sie keine Kosten sind, keine Löhne, keine Steuern. Joan Robinson, sie gehörte in den Cambridge­Kreis um Keynes, nannte dies schon in den 1970er Jahren Bastard­Keynesianismus. Dessen Folge ist die gegenwärtige Krise.

Der Sachverhalt ist bekannt: Vor der Krise ist der Lohnanteil am Volksein­kommen vor allem in den reichen Indu­strieländern gesunken, die Staatsschul­den sind rasch angestiegen, ebenfalls die Schulden der privaten Haushalte – besonders ausgeprägt in den USA und Großbritannien, aber auch in der EU. niedrige Zinsen und kaum regulierte Finanzmärkte haben die Finanzunterneh­

men zu risikoreichen Geschäften veran­laßt – nicht nur bei der Finanzierung von Wohnhäusern. In den USA setzt nun sehr früh im Jahr 2008 der übliche zyklische Abschwung ein. Damit werden Hypothe­kenkredite notleidend bzw. die Wertpa­piere, zu denen diese Kredite zusammen­gepackt worden waren. nun treten auch andere Risiken zutage. Die nächsten Etappen sind allgemein bekannt.

Die Rettung der Banken hat die Staats­verschuldung rasant erhöht. Das Pech dabei ist: Die Schulden steigern keines­wegs die nachfrage nach Gütern. nun bricht unter deutscher Führung der Wahn aus, in dieser Lage die neuverschuldung zu senken – erneut auf der Grundlage des Bastard­Keynesianismus. Denn nirgend­wo ist die Rede davon, im Gegenzug die Gewinne kräftig zu besteuern oder die Banken die Kosten ihrer Rettung zahlen zu lassen. Stattdessen müssen die Löhne im öffentlichen Dienst, die Ausgaben für Erziehung und Bildung wie Sozialstaat insgesamt dran glauben. Das senkt die gesamtwirtschaftliche nachfrage, die Produktion und die Steuereinnahmen.

Diese Strategie verlängert und vertieft

die Krise, besonders in den Problem­ländern. Sicherlich sind niedrige Zinsen hier hilfreich. Aber damit die Finanzun­ternehmen nicht mit demselben Unfug fortfahren, der die Krise ausgelöst hat, müßten sie nun an die Kandare genom­men werden. Die Überführung in Ge­meineigentum und ein enges Reglement wären die beste Lösung. Davon aber ist nichts zu sehen – außer zaghaften An­fängen im Rahmen der Vereinbarungen von Basel.

Das System hat sich in seiner Ideo­logie festgefressen – die ist aber nicht das Ergebnis von Dummheit, sondern von Interessen. Alle Vorstellungskraft soll sich nur ja innerhalb dieses Interes­sengebäudes entfalten. Diese Interessen schüchtern den Mut ein, sich unseres intellektuellen Erbes, des eigenen Ver­standes, zu bedienen.

Joan Robinson hatte da keine Hem­mungen: »Jedenfalls argumentiert Key­nes«, so interpretiert sie ihn etwas groß­zügig, »wenn ein System privater Unter­nehmen mit potentiellem Überfluß nicht umgehen kann, dann müssen wir es in ein System umändern, das es kann.«

(Mehr dazu in: »Gerech-te Verteilung wagen«, VSA Hamburg 2009)www.herbert-schui.de

Der emeritierte Profes-sor für Volkswirtschafts-lehre an der Uni für wirtschaft und Politik in Hamburg, Herbert Schui, ist Mitglied der Linkspartei, die er fünf Jahre lang als Abgeord-neter im Bundestag vertrat. Er war 1975 Mitbegründer der »Ar-beitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik« in der BRD.

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Derby-Tag auf dem Ep-som Downs Racecourse, Epsom, England, Juni 2010

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Staatspleiten am HorizontDie Finanzkrise kann nur gegen Finanzlobby und Superreiche durchgesetzt werden. Von Sahra Wagenknecht

Die Finanzkrise ist zur staatli­chen Schuldenkrise mutiert. Ein Land nach dem anderen in der Euro­Zone sieht sich mit

schwindendem Vertrauen konfrontiert, daß die aufgetürmten Kredite jemals zurück­gezahlt werden können. Wie ist es dazu gekommen?

Bei Gründung der Euro­Zone war be­kannt, daß sie sich aus Ländern mit un­terschiedlich hohem Produktivitätsniveau zusammensetzt. In Deutschland lag der Produktionswert je Arbeitsstunde bei Ein­führung des Euro um das Dreifache höher als in Portugal. Die erhoffte Angleichung blieb aus – im Gegenteil: Durch Lohn­ und Sozialdumping à la Agenda 2010 griff Deutschland unter Rot­Grün zum einzigen Hebel, den es in einem gemeinsamen Wäh­rungsraum gibt, seine eigene Wettbewerbs­fähigkeit weiter zu erhöhen.

Zwischen 2000 und 2009 häufte Deutschland so einen Leistungsbilanzüber­schuß von knapp einer Billion Euro an – Spanien dagegen ein Defizit von über einer halben Billion Euro. Für Deutschland be­deutete dies höhere Forderungen, für seine Handelspartner höhere Schulden – egal, ob sich diese beim Staat, in privaten Haushal­ten oder in Unternehmen niederschlugen. ohne die höhere Verschuldung in diesen Ländern hätte es die deutschen Exporte in dieser Größenordnung nicht gegeben. Den negativen Effekt, den die schlechte Lei­stungsbilanz auf ihr Wirtschaftswachstum hatte, konnten die betroffenen Staaten kurz­fristig nur durch eine schuldenfinanzierte Binnenwirtschaft ausgleichen.

Banken verdienten prächtigWie bei jeder auf Ungleichgewichten und Schulden basierenden Ökonomie verdien­ten die Banken dabei prächtig. Beim Immo­bilienboom in Irland und Spanien konnte ihre Gier erst durch das Platzen der Blase gebremst werden. Die Anglo Irish Bank et­wa hatte in den zehn Jahren vor dem Crash die von ihr vergebenen Kredite von drei auf 73 Milliarden – also um 2 433 Prozent! – er­höht. nachdem die Party vorbei war, pump­te die irische Staatskasse zur Rettung des Instituts vier Milliarden frisches Kapital in die Bank. Die Anglo Irish war nun verstaat­licht – sie bescherte ihrem jetzt öffentlichen Eigentümer aber einen Verlust von über zwölf Milliarden Euro.

Dies ist kein Einzelfall: Insgesamt wur­den den EU­Banken seit 2008 staatliche Bürgschaften in Höhe von 4,6 Billionen Eu­ro zur Verfügung gestellt. Allein 2009 sind davon 1,1 Billionen in Anspruch genommen worden und an die Banken geflossen – Mit­tel, die somit den Staatshaushalten fehlen. Dazu kommen die zusätzlichen Schulden, die Staaten aufgrund der nötig gewordenen Konjunkturpakete und automatischer Sta­bilisatoren (z.B. Kurzarbeitergeld) aufneh­men mußten.

ohne die Finanzkrise würden wir heute nicht über mögliche Staatspleiten in der Euro­Zone diskutieren. Schon lange vor der Krise haben allerdings Steuersenkungen für Reiche und Konzerne dafür gesorgt, daß die Basis einer stabilen und langfristigen Finanzierung staatlicher Ausgaben Stück um Stück untergraben wurde – und zwar europaweit. Die Vermögenssteuer wurde in vielen Ländern aufgeweicht oder – wie in Deutschland – ganz ausgesetzt; Unter­nehmenssteuern und Spitzensteuersätze ge­senkt. Wen wundert es da noch, daß die Rei­chen immer reicher wurden? Gut 800 000 Multimillionäre besitzen in Deutschland die Hälfte des gesamten Finanzvermögens.

Durch die steuerliche Entlastung der Vermögenden und großen Konzerne fehlen dem Staatshaushalt beträchtliche Finanz­mittel. Das führt zu Kürzungen bei öffentli­chen Aufgaben, oft im Sozialhaushalt. Zum wird die öffentliche Hand gezwungen, sich immer stärker zu verschulden. Die nutz­nießer der Steuerentlastungen verwandten nicht selten die eingesparten Gelder dazu, ihren Bestand an verzinsten Staatsschuld­titeln aufzustocken. Dieses gestiegene An­gebot an Staatsanleihen wurde zur »Geld­maschine« – auch für die Banken, die sich das nötige Geld billig bei der Europäischen Zentralbank besorgten. In einigen Ländern der Euro­Zone ist dieses räuberische Sy­stem jetzt aber an seine Grenze gestoßen.

Vermögensabgabe gefordertInitiativen wie die des Leiters des Base­ler Instituts für Gemeingüter und Wirt­schaftsforschung, Alexander Dill, weisen in die richtige Richtung. In Anbetracht der Tatsache, daß die privaten Vermögen der Deutschen seit 2000 um 83 Prozent auf 8,2 Billionen Euro gestiegen sind, sollen seiner Meinung nach die Vermögenden den

staatlichen Schuldenberg von 1,8 Billionen Euro abtragen, und zwar durch eine Vermö­gensabgabe.

notwendig wären allerdings angemes­sene Freibeträge, denn es waren in erster Linie die Superreichen, die von dem neo­liberalen Zockermodell der letzten Jahr­zehnte profitiert haben. Zwei Zahlen sind dabei interessant: Die EU­weite Staatsver­schuldung lag 2009 bei 9,6 Billionen Euro. Das Finanzvermögen aller Millionäre und Multimillionäre in der EU lag bei 9,4 Bil­lionen Euro. Beide Größen sind über die Jahre in ziemlichem Einklang expandiert. Eine europaweite Vermögensabgabe von 50 Prozent auf alle Vermögen oberhalb von einer Million Euro würde die Staaten auf einen Schlag von der Hälfte ihrer Schulden befreien. Ein »Hair cut« von 50 Prozent hätte bei richtiger Ausgestaltung eine ähn­liche Wirkung.

Egal, welcher Weg aus der Schulden­krise am Ende eingeschlagen wird, eines steht fest: Alle sinnvollen Lösungsansätze müssen im Parlament und auf der Stra­ße gegen die Interessen der Finanzlobby und der oberen Zehntausend durchgesetzt werden.

Sahra Wagenknecht ist wirtschaftspolitische Sprecherin der Links-fraktion im Bundestag.

Auktionstag bei Sotheby’s: Eine mit Smaragden, Rubinen und Diamanten besetzte Brosche aus der Kollek-tion der Herzogin von Windsor, hergestellt bei Cartier, soll für 100 000 bis 150 000 Pfund verstei-gert werden (November 2010)

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nicht nur der Euro, auch der Dollar schlittert seit 2008 von einer Krise in die näch­ste. In den USA selbst wie

auch weltweit steht er vor so giganti­schen Problemen, daß sich immer wie­der die Frage stellt, ob er seine Rolle als Weltreservewährung möglicherweise ausgespielt hat.

Die Weltwirtschaft kann derzeit jedoch kaum ohne den Dollar auskommen – we­der im Warenaustausch noch in der Fi­nanzwirtschaft. Denn aufgrund der Größe und Einheitlichkeit des US­Wirtschafts­raums und dessen hochentwickelter Fi­nanzmärkte hat kein anderes Land eine Währung, die sich so gut als Reservewäh­rung eignet wie der Dollar. Auch der Euro ist keine Alternative – Hoffnungen, er könne sich durchsetzen, gingen in den Turbulenzen der Euro­Krise unter.

Dennoch: Das Vertrauen in den Dol­lar ist weltweit erschüttert. Dazu hat erst kürzlich beigetragen, daß die USA erneut die Gelddruckmaschinen angeworfen haben und obendrein ihre gigantischen Defizite in Staatshaushalt und Leistungs­bilanz nicht in den Griff bekommen.

Unterdessen mehren sich die Versu­che einiger Staaten, etwa im Rahmen bilateraler Handelsabkommen, aus dem Dollar auszusteigen. Die VR China z. B. ist mit Rußland und Brasilien übereinge­kommen, den Austausch von Waren und Dienstleistungen unter Umgehung des Dollars in den jeweiligen Landeswährun­gen abzuwickeln.

China sitzt auf den weltweit größten Dollarreserven. Die Staatsbank in Peking wollte diesen Devisenberg zwar abbau­en – dennoch wuchs allein der Bestand

an US­Schatzbriefen (T­Bonds) bis 2010 weiter, bis auf über 900 Milliarden Dollar im november. Das ist ein gutes Drittel der gesamten Währungsreserven des Landes.

Peking erreichte die neue Rekordmar­ke trotz aller Versuche, den Dollar beim Warenaustausch mit Drittländern zu um­gehen oder die eingenommenen Dollar schnell in andere Währungen umzuwan­deln, nicht zuletzt durch den Kauf von EU­garantierten Schatzbriefen der Griechen und Portugiesen. Es nützte auch wenig,

daß China massenhaft Unternehmen und Rohstoffreserven im Ausland aufkaufte, gigantische Vorratslager für Buntmetalle anlegte oder Privatleuten den Import von Gold erlaubte. Chinas Problem ist, daß seine gigantische Exportindustrie zur Zeit mehr Dollar einnimmt, als sinnvoll ausge­geben werden können. So werden weitere Dollar­Reserven aufgebaut, obwohl die Führung in Peking zunehmend um die Stabilität der US­Währung fürchtet.

Immer öfter findet die US­Regierung jedoch nicht mehr genug Käufer für ihre T­Bonds. Deshalb hat die US­notenbank beschlossen, im ersten Halbjahr 2011 für 600 Milliarden Dollar T­Bonds des US­Finanzministeriums zu kaufen. Damit soll ein Teil des rasant wachsenden Haushalts­defizits der US­Bundesregierung gedeckt werden, das in den letzten beiden Jahren 1,4 Billionen Dollar (fast zehn Prozent des Bruttoinlandprodukts) erreichte.

ohne massive Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen wird das US­Haus­haltsdefizit bis Ende 2011 wegen der Auf­rechterhaltung der Steuererleichterungen für die Reichen um weitere 350 Milliarden auf 1,75 Billionen Dollar steigen. nicht wenige Analysten prognostizieren bereits »griechische Verhältnisse« für das einsti­ge »Land der unbegrenzten Möglichkei­ten«. Wiederholt hat daher der ehemalige Chef der US­notenbank, Paul Volcker, in den vergangenen Monaten gewarnt, daß der Spielraum zur Korrektur der »gewal­tigen wirtschaftlichen und fiskalischen Probleme« immer weiter schrumpft.

Es muß also gespart werden. Reiche, Superreiche und Rüstungsindustrie wer­den laut Entscheidung des US­Kongres­ses weitgehend verschont – bleiben also nur noch die kleinen Leute. Denen allzu

tief in die Tasche zu greifen, ist aller­dings problematisch: In zwei Jahren ste­hen Präsidentschaftswahlen an. Da ist es ratsamer, lieber die Gelddruckmaschinen anzwerfen.

Damit rutscht der Dollar immer wei­ter in den Sumpf. Aus dem kann er aber nur herausgezogen werden, wenn die US­Führung ihre Politik grundsätzlich kor­rigiert und die riesigen Militärausgaben kappt – geschieht das nicht, ist die Rolle als Weltreservewährung über kurz oder lang ausgespielt.

Bisher haben durch den Kauf von T­Bonds andere Staaten die Kriege der USA finanziert. Wenn diese Einnahmequelle versiegt und statt dessen die US­Bevölke­rung für die Staatsdefizite geradestehen muß, dann dürfte sich auch deren Einstel­lung zur Kriegspolitik der Machtelite in Washington ändern.

Bisher konnte die US­Regierung ihrer Bevölkerung sowohl Kanonen als auch Butter bieten. Demnächst wird es Kano­nen oder Butter heißen.

Totgesagte leben längerDer lange Abschied vom US­Dollar als Weltreservewährung. Von Rainer Rupp

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Gerhard Schröder meinte wäh­rend seiner Zeit als Kanz­ler, zum Regieren brauche er nichts weiter als das Fern­

sehen und die Bild­Zeitung. Und als er 2005 die Wahl verloren hatte, lag das für ihn an einem Vermittlungsproblem: Glotze und Bild hatten offenbar versagt.

In der Tat sind Berichte und Kommenta­re im Fernsehen und den Zeitungen – mal mehr, mal weniger – darauf aus, in Koope­ration mit Politikern und PR­Leuten für Massenloyalität gegenüber der Regierung und dem Gesellschaftssystem zu sorgen. Das geht nur, wenn eine Scheinwelt insze­niert wird, wenn die Wahrheit unter die Räder kommt. Dazu gehört symbolische

Politik. Sie soll vortäuschen, daß etwas getan wird, wenn es wegen der Krise für die Mehrheit des Volkes schlecht läuft.

Thomas Meyer hat in seinem Essay­band »Die Inszenierung des Scheins« (1992) diese symbolische Politik so cha­rakterisiert: »Sie schafft Bilder, wo es um Argumente geht. Sie macht Verstellung zur zweiten natur, wo nur offenheit hel­fen kann. Sie versöhnt mit politischem Voyeurismus, wo Einmischung geboten wäre.« Ähnlich Karl Jaspers in seiner »Geistigen Situation der Zeit« (1931): »Wo etwas in der Diskussion Zwingendes nicht mehr gesagt werden kann, hilft eine ad hoc herbeigezerrte Pathetik.«

Ein Beispiel ist das sogenannte Demo­

graphieproblem: Sicherlich läßt sich die Rentenfrage lösen, wenn der Lohn wenig­stens mit der Arbeitsproduktivität steigt, wodurch auch die Einnahmen der Renten­versicherung zunehmen. Wenn aber vom Verteilungskonflikt nicht die Rede sein darf, dann muß als Pathetik der Genera­tionenvertrag her, oder, wie bei der Staats­verschuldung, die Versündigung an den Kindern. (Das macht sich besonders gut, wenn an anderer Stelle Kindesmißbrauch die öffentliche Debatte beherrscht: Wer kreditfinanzierte Konjunkturprogramme fordert, gerät unter der Hand in den Ver­dacht, ein Konjunkturpäderast zu sein.) Beim Afghanistan­Krieg war pathetisch von Brunnenbohren und Mädchenschu­len die Rede; der Irak­Krieg wurde »ge­gen den Terrorismus« geführt.

Die Internetplattform Wikileaks deckt auf, daß der systematische Einsatz von Folter durchweg bekannt und akzeptiert war – auch durch offizielle Stellen, daß es sich also im Gefängnis Abu Ghraib nicht um einmalige Fehlleistungen han­delte. Das stört bei der Inszenierung ei­ner Scheinwelt ebenso wie Wikileaks’ zutreffende Informationen über die Zahl der im Irak getöteten Zivilisten. Anderes wiederum ist bekannt – etwa, daß Angela Merkel »selten kreativ« ist und Silvio Berlusconi »unfähig«. Aber ihren nutzen hat die Information doch: Wer das sagt, muß sich jetzt nicht mehr allein fühlen. Das macht Mut.

Wikileaks will »denen zur Seite stehen, die unethisches Verhalten in ihren eigenen Regierungen und Unternehmen enthüllen wollen«. Damit wird es Teil eines Wider­standes, der sich dann herausbilden muß, wenn die Wirklichkeit mit dem Schein offensichtlich nicht mehr übereinstimmt, wenn sich die Leute nicht mehr hinters Licht führen lassen. (Allemal hat es die Propaganda schwer, Absurditäten wie die gleichzeitige Zunahme der Produktivität der Arbeit und der Armut zu erklären: Je absurder die Zustände, um so abstruser die Rechtfertigung.)

So läßt sich der Widerstand gegen »Stutt­gart 21«, gegen die nutzung der Atomkraft in Deutschland verstehen. Ähnlich ist es mit den Protesten in vielen Ländern Euro­pas gegen die Beseitigung des Sozialstaa­tes, gegen Lohnsenkungen. Diejenigen, die diesen Protest zu ihrer Sache machen, sind die einzigen, die diese Wirtschaftskri­

se tatsächlich rasch beenden könnten: Sie müssen die Regierungen zwingen. Denn diese – durchsetzt von der Wirtschaftslob­by – können weder intellektuell erfassen, daß sich die Krise nur gegen das Interesse der tonangebenden Geschäftswelt behe­ben läßt, noch wollen sie sich mit dieser anlegen. Da kann nur manifester Druck und Protest weiterhelfen.

Eine wirkliche opposition muß sich dem System der Inszenierung einer Scheinwelt verweigern. Sie darf sich nicht integrieren. Sie muß Integrationsverwei­gerer sein. Das fällt sicherlich all denen schwer, die es nicht ertragen können, aus­geschlossen zu sein, die auf dem Sprung sind mitzumachen. oder mitzuregieren.

krise erscheint als Beila-ge der Tageszeitung jun-ge Welt im Verlag 8. Mai GmbH, Torstraße 6, 10119 Berlin. Redaktion: Peter Wolter (V. i. S. d. P.); An-zeigen: Silke Schubert; Gestaltung: Michael Sommer.

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Spielverderber Wikileaks Die Internetplattform stört die Politik bei der Inszenierung einer Scheinwelt. Von Herbert Schui

Der emeritierte Profes-sor für Volkswirtschafts-lehre und Politik in Hamburg Herbert Schui ist Mitglied der Links-partei, die er fünf Jahre lang als Abgeordneter im Bundestag vertrat. Er war 1975 Mitbegründer der »Arbeitsgruppe Al-ternative Wirtschaftspo-litik« in der BRD.

Und noch schnell zu Chanel: Shopping in New York, Oktober 2010

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