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D as ist eine schöne Geschich- te, die man jedem guten Ver- lag wünscht. Erfolg haben mit einem tollen Roman. Und nicht mit dem neuen Heimatmist, der nun auf der Krimischiene und oft noch mit Comedy-Einflüssen angelabert kommt oder dieser Gegenwartsliteratur- abteilung, die so neobiedermeierlich um das Familiennachtkästchen hingehäkelt ist, daß man schon nach den ersten Zei- len (mit Wolfgang Pohrt gesprochen) ei- nen fünfstöckigen Espresso braucht. Der Aufbau Verlag hat nun einen Hit, den niemand auf der Rechnung hatte, »Je- der stirbt für sich allein« von Hans Falla- da, 1947 erschienen und seit Jahrzehnten ziemlich vergessen; eine Geschichte vom alltäglichen Wahnsinn im Nazi-Berlin und vom Widerstand eines einfachen, ei- gentlich unpolitischen Arbeiterehepaars. Woher das Interesse für diesen Stoff 2011 in Deutschland? Es hat schon eine gewisse Komik, daß es der ungeahnte und fulminante Erfolg in Großbritannien, USA, Israel und anderen Ländern ist, der zu einer deutschen Neu- ausgabe geführt hat (die sich erstmals an Falladas ursprüngliche Fassung hält, die, schreibt Almut Giesecke im Nachwort, für die Erstausgabe geglättet worden war). Und woher das Interesse im Ausland? Der Erfolg von »Jeder stirbt für sich allein« beziehungsweise in der engli- schen Ausgabe »Alone in Berlin« zeige, »daß das britische Schwarzweißbild der Hitlerjahre endlich einer nuancierteren Wahrnehmung weicht«, schrieb Gina Thomas vor einem halben Jahr in der FAZ. Mag sein. Aber ich weiß nicht recht. »Endlich« also; und endlich nuancierter. Endlich haben die Briten mal erkannt, so interpretiere ich das, daß es nicht nur den Stauffenberg-Widerstand gab, der sich so unglaublich mutig formierte, als das Re- gime schon am Ende war, sondern auch einen Widerstand bei den ganz einfachen Leuten. Ich bin mir sicher, daß jeder Brite das schon immer wußte, aber sich sagte, fuckin’ so what, was hat’s geholfen, die Nuancen sind nun mal unter so einem großen Ganzen ziemlich egal. Was ja nicht heißt, daß so ein kleiner folgenloser Widerstand, wie ihn Fallada beschreibt, jemals egal wäre. Alles Spekulation. Man würd’s eben gern wissen; weil dieses Nazi-Deutsch- land in Griechenland, Italien, England und vielen anderen Ländern nicht so verges- sen ist, wie das die Deutschen gern hätten. Ich kann mir eher vorstellen, daß es sich irgendwie herumgesprochen hat, wie es Roger Cohen in der New York Times un- ter dem Titel »The Banality of Good« be- schrieb: Falladas Roman vereinige »den Horror von Conrad, den Wahnsinn von Dostojewsky und das kühl Bedrohliche von Capotes ›Kaltblütig‹«. Mehr Spreng- kraft kann man hinter einem Roman nicht aufbauen. Und wenn er bei seinem Er- folgslauf einen Tarantino-»Inglourious Basterds«-Effekt bekommen hat und als Nazi-Thriller im Supermarkt mitgenom- men wird, dann vollkommen zu Recht. Ich lasse den Text hier eine Stunde ruhen, und was passiert inzwischen? Weil der Sarrazin als Hetzredner grade etwas weniger herumkrakeelt, springt der See- hofer als dumpfer Haßredner ein. Keine Überraschung, aber immer wieder ekel- haft. Ja, Falladas letzter Roman ist bestens geeignet, um sich über die deutsche Leit- kultur zu informieren. Hans Fallada, berühmter Autor seit 1932, als er mit »Kleiner Mann – was nun?« einen Welterfolg hatte, blieb wäh- rend der Naziherrschaft in Deutschland. Ein verfemter Autor, der sich – Wiglaf Droste hat es im Juli 2003 in einer Se- rie für diese Zeitung beschrieben – mehr Die Maske fällt: Jutta Ditfurth über Die Grünen als Motor des neokon- servativen Rollbacks.Von Rainer Balcerowiak Seite 3 Selbstlose Hilfe: Christiane Rothlän- der rekonstruiert das Leben des Wi- derständlers Karl Motesiczky. Von Helmut Dahmer Seite 7 Der komische Vogel: Der Regisseur und Lebemann Werner Schroeter hinterläßt seine Memoiren. Von Gisela Sonnenburg Seite 11 Paranoid und trotzdem im Recht: Jonathan Lethem mixt Manhattan- Realien mit fiktionalen Elementen. Von Frank Schäfer Seite 19 junge W elt Die Tageszeitung literatur Tageszeitung junge Welt Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 Fortsetzung auf Seite zwei O Daß es einem graut Hans Falladas letzter Roman »Jeder stirbt für sich allein« erstmals ungekürzt. Von Franz Dobler Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein. Un- gekürzte Neuausgabe, mit einem dokumenta- rischen Anhang.Aufbau Verlag, Berlin 2011, 704 Seiten, 19,95 Euro »Égérie et j’ai pleuré / Egeria / Muse und ich habe geweint = Et j’ai ri et j’ai pleuré / und ich habe gelacht und ich habe geweint« ALLE ILLUSTRATIONEN DIESER BEILAGE: MISS.TIC/EDITION NAUTILUS

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Das ist eine schöne Geschich-te, die man jedem guten Ver-lag wünscht. Erfolg haben mit einem tollen Roman.

Und nicht mit dem neuen Heimatmist, der nun auf der Krimischiene und oft noch mit Comedy-Einflüssen angelabert kommt oder dieser Gegenwartsliteratur-abteilung, die so neobiedermeierlich um das Familiennachtkästchen hingehäkelt ist, daß man schon nach den ersten Zei-len (mit Wolfgang Pohrt gesprochen) ei-nen fünfstöckigen Espresso braucht.

Der Aufbau Verlag hat nun einen Hit, den niemand auf der Rechnung hatte, »Je-der stirbt für sich allein« von Hans Falla-da, 1947 erschienen und seit Jahrzehnten ziemlich vergessen; eine Geschichte vom alltäglichen Wahnsinn im Nazi-Berlin und vom Widerstand eines einfachen, ei-gentlich unpolitischen Arbeiterehepaars. Woher das Interesse für diesen Stoff 2011 in Deutschland?

Es hat schon eine gewisse Komik, daß es der ungeahnte und fulminante Erfolg in Großbritannien, USA, Israel und anderen Ländern ist, der zu einer deutschen Neu-ausgabe geführt hat (die sich erstmals an Falladas ursprüngliche Fassung hält, die, schreibt Almut Giesecke im Nachwort, für die Erstausgabe geglättet worden war). Und woher das Interesse im Ausland?

Der Erfolg von »Jeder stirbt für sich allein« beziehungsweise in der engli-schen Ausgabe »Alone in Berlin« zeige, »daß das britische Schwarzweißbild der Hitlerjahre endlich einer nuancierteren Wahrnehmung weicht«, schrieb Gina Thomas vor einem halben Jahr in der FAZ. Mag sein. Aber ich weiß nicht recht. »Endlich« also; und endlich nuancierter. Endlich haben die Briten mal erkannt, so interpretiere ich das, daß es nicht nur den Stauffenberg-Widerstand gab, der sich so unglaublich mutig formierte, als das Re-gime schon am Ende war, sondern auch

einen Widerstand bei den ganz einfachen Leuten. Ich bin mir sicher, daß jeder Brite das schon immer wußte, aber sich sagte, fuckin’ so what, was hat’s geholfen, die Nuancen sind nun mal unter so einem großen Ganzen ziemlich egal. Was ja nicht heißt, daß so ein kleiner folgenloser Widerstand, wie ihn Fallada beschreibt, jemals egal wäre.

Alles Spekulation. Man würd’s eben gern wissen; weil dieses Nazi-Deutsch-land in Griechenland, Italien, England und vielen anderen Ländern nicht so verges-sen ist, wie das die Deutschen gern hätten. Ich kann mir eher vorstellen, daß es sich irgendwie herumgesprochen hat, wie es Roger Cohen in der New York Times un-ter dem Titel »The Banality of Good« be-schrieb: Falladas Roman vereinige »den Horror von Conrad, den Wahnsinn von Dostojewsky und das kühl Bedrohliche von Capotes ›Kaltblütig‹«. Mehr Spreng-kraft kann man hinter einem Roman nicht

aufbauen. Und wenn er bei seinem Er-folgslauf einen Tarantino-»Inglourious Basterds«-Effekt bekommen hat und als Nazi-Thriller im Supermarkt mitgenom-men wird, dann vollkommen zu Recht.

Ich lasse den Text hier eine Stunde ruhen, und was passiert inzwischen? Weil der Sarrazin als Hetzredner grade etwas weniger herumkrakeelt, springt der See-hofer als dumpfer Haßredner ein. Keine Überraschung, aber immer wieder ekel-haft. Ja, Falladas letzter Roman ist bestens geeignet, um sich über die deutsche Leit-kultur zu informieren.

Hans Fallada, berühmter Autor seit 1932, als er mit »Kleiner Mann – was nun?« einen Welterfolg hatte, blieb wäh-rend der Naziherrschaft in Deutschland. Ein verfemter Autor, der sich – Wiglaf Droste hat es im Juli 2003 in einer Se-rie für diese Zeitung beschrieben – mehr

Die Maske fällt: Jutta Ditfurth über Die Grünen als Motor des neokon-servativen Rollbacks. Von Rainer Balcerowiak Seite 3

Selbstlose Hilfe: Christiane Rothlän-der rekonstruiert das Leben des Wi-derständlers Karl Motesiczky. Von Helmut Dahmer Seite 7

Der komische Vogel: Der Regisseur und Lebemann Werner Schroeter hinterläßt seine Memoiren. Von Gisela Sonnenburg Seite 11

Paranoid und trotzdem im Recht: Jonathan Lethem mixt Manhattan-Realien mit fiktionalen Elementen. Von Frank Schäfer Seite 19 jungeWelt

Die Tageszeitung

l i t e r a t u r Tageszeitung junge Welt Donnerstag,17. März 2011, Nr. 64

Fortsetzung auf Seite zwei O

Daß es einem grautHans Falladas letzter Roman »Jeder stirbt für sich allein« erstmals ungekürzt. Von Franz Dobler

Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein. Un-gekürzte Neuausgabe, mit einem dokumenta-rischen Anhang. Aufbau Verlag, Berlin 2011, 704 Seiten, 19,95 Euro

»Égérie et j’ai pleuré / Egeria / Muse und ich habe geweint = Et j’ai ri et j’ai pleuré / und ich habe gelacht und ich habe geweint«A

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Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 junge Welt 2 l i t e r a t u r

Mit 17 wird Gladys Ambort 1975 in Argentinien wegen ihrer politi-schen Haltung inhaftiert. Ihr Buch ist ein eindringlicher und genauer Bericht darüber, wie durch Gewalt, Erniedrigung und Folter das Ich zu zerbrechen droht.Mit einem Vorwort des argentinischen Regisseurs Pino Solanas und dem argentinischen Schriftsteller Osvaldo Bayer.

ISBN: 978-3-942281-94-2, 224 Seiten, 19,90 Euro.

Eine eklatante kapitalistische Krisenentwicklung hat zu einem neuen Interesse an Marx geführt.Werner Seppmann kritisiert die „Neue Marx-Lektüre“, die oft auf dessen weltverändernden Anspruch verzichtet. Ist Marxismus ohne Revolutionsperspektive entradikalisiert?

ISBN: 978-3-942281-95-9, 304 Seiten, 21,- Euro.

Das Entern der sechs Schiffe der Gaza-Solidaritäts-Flottille mit neun Toten am 31. Mai 2010 durch israelische Kommandos löste weltweit Empörung aus.Das Buch mit Texten von Moshe Zuckermann, Noam Chomsky, Henning Mankell, Norman Finkelstein u. v. a. ist das aktuellste zum Thema Israel/Palästina.

ISBN: 978-3-942281-88-1, 304 Seiten, 19,90 Euro.

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Edition PROVO Band 1

WIR SIND EIN BILD DER ZUKUNFT – AUF DER STRASSE SCHREIBEN WIR GESCHICHTEIm Dezember 2008, nach der Erschiessung eines 15-jährigen Schülers durch die Polizei begann die Revolte in Griechenland. Es war mehr als ein Protest gegen die alltägliche Gewalt der Einsatzbereitschaften. Innerhalb weniger Tage verwandelte sich der Protest einzelner zur Revolte gegen das gesamte Gesellschaftssystem. Texte zur griechischen Revolte 2008 bis 2010.

ISBN: 978-3-942281-82-9, 366 Seiten, 24,90 Euro.

Die BIBLIOTHEK DES WIDERSTANDS dokumentiert und refl ektiert Kämpfe für soziale Veränderung, weltweit und von den Sechziger Jahren bis heute.

Jeder Band ist ein LAIKA-Mediabook: ein Hardcover-Buch mit einer Dokumentarfi lm-DVD im hinteren Innendeckel. Rund 100 Bände wird die Reihe einmal umfassen. Viele Filme erscheinen dabei erstmals im deutschsprachigen Raum oder erstmals in deutscher Sprache. Die Bibliothek des Widerstands wird vom LAIKA-Verlag in Kooperation mit der Tageszeitung jungeWelt herausgegeben.

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schlecht als recht durchschlug und -schrieb, mit viel Alkohol, Morphium, Tragödien. Mal mußte er sich Dr. Goeb-bels vom Leib halten, dann war er als »gemeingefährlicher Geisteskranker« im Irrenhaus. Immer verzweifelt auf dem schmalen Grat arbeitend, den Nazis nicht ins Messer zu laufen und keine Nazilite-ratur zu schreiben. Es entstanden Werke, mit denen er nicht glücklich sein konnte.

Im Herbst 1946 konnte Fallada ab-rechnen. 668 Seiten, geschrieben in vier Wochen oder, wohl besser gesagt, reinge-hämmert, rausgekotzt; als hätte er geahnt, daß es seine letzte Chance war, es denen heimzuzahlen. Man spürt, daß er all seine Erfahrungen und seinen Haß reingepackt hat. Johannes R. Becher hatte ihm die Un-terlagen über den Fall der Eheleute Ham-pel gegeben, die 1943 hingerichtet wur-

den, nachdem sie zwei Jahre lang Post-karten in Berlin ausgelegt hatten. Einige sind im Anhang abgebildet, auf der von der Gestapo als Nr. 176 registrierten heißt es: »Freie Presse! Fort mit dem Hitler Verreckungs System! Der gemeine Soldat Hitler und seine Bande stürzen uns in den Abgrund! Diese Hitler Göring Himmler Goebbels Bande ist in unser Deutschland nur Todes Raum zu gewähren!«

Um sein Ehepaar Quangel baut Falla-da ein vollständiges Berliner Alltagsbild, macht einen kompletten Schwenk vom Mietshaus, zu dessen Bewohnern auch eine alte Jüdin und SS-Männer gehören, auf die Straßen. Sein Personal reicht vom Arbeiter Quangel über die kleine Nutte bis zur kleinen krakeelenden Nazigröße, die den Kriminalkommissaren vorgesetzt wurde. Eine Versammlung von Spitzeln, miesen Typen, verschlagenen, tretenden, kuschenden, herzlosen Drecksäcken. Ei-ne überwältigende Trostlosigkeit, von der die wenigen Personen, die gegen das Pack sind, erdrückt werden. Oder wie Tuchols-ky über einen anderen Fallada-Roman schrieb, das ist »so unheimlich echt, daß es einem graut«. Wer glaubte, ein besseres Bild vom Unterschichten-Berlin haben zu können, wird es nuancierter sehen.

Ich habe nicht so viel und lange nichts von Fallada gelesen. Und bin überrascht,

wie modern der Roman daherkommt. Durch die Aufsplitterung in 73 Kapitel, die sich gegenseitig permanent weiterzu-jagen scheinen. Drive, Szenenwechsel, Sogwirkung, Tempo. Das Gespür des Profis für Action und Cliffhanger. Der Stoff, aus dem die Amerikaner eine ihrer großartigen neuen Serien machen wür-den. Als hätte Fallada sich gesagt, hier ist das Hoffnungsloseste, was es gibt, aber ich will, daß ihr es lest, ich kriege euch, es ist ein Thriller. Der auch immer wie-der einen grotesken, schneidenden Hu-mor entwickelt, der vielleicht erst heute so ankommt. Wenn zwei kleine Spitzel die Wohnung der jüdischen alten Dame ausräumen möchten, sich dabei betrinken und von einem Nazi-Papa mit seinen eif-rigen HJ-Jungs gestellt werden, die den-selben Plan hatten, dann ist das auch eine komische Nummer, die mit jeder Zeile ins Bösartigste kippen kann.

Schwarzweiß wäre zu hell, Falladas Blick zieht uns in die tiefste Schwärze. Laßt den letzten Funken Hoffnung fahren. Selbst dieses Ehepaar ist ja trostlos mit seinen Postkarten, und erst nachdem der Sohn auf dem Schlachtfeld gefallen ist, be-ginnen sie mit ihrem Widerstand. Umge-ben von kleinen Denunzianten, die hinter jeder Ecke auf ihren Verräter treffen, der schon von seinem Gestapo-Kontakt hän-gengelassen wird. Ausgerechnet Kommis-sar Escherich, der die Postkartenschreiber verfolgt, eine miese und mörderische Type, faszinierend in seiner Gerissenheit, begeht zuletzt Selbstmord und sieht sich als den einzigen Menschen, den Postkarten-Atten-täter Quangel überzeugen konnte. Es gibt keine Klischeefiguren in diesem Roman, Fallada seziert jeden bis ins genaueste, und deswegen nannte es Primo Levi »das beste Buch, das je über den deutschen Wider-stand geschrieben wurde«.

Erst mit dem letzten Kapitel richtete der Autor den Blick nach vorn: »Aber nicht mit dem Tode wollen wir dieses Buch beschließen, es ist dem Leben ge-weiht…« Kurz nach Kriegsende trifft ein Junge auf den Vater, der für ’ne halbe Zigarette alles und jeden denunziert hatte, und der Sohn ist von derselben Art. Doch der Sohn hat sich inzwischen geändert, ein neues Leben angefangen. Und nun verprügelt der Sohn den Vater, um ihn sich vom Hals zu halten. Das war Falladas Hoffnung kurz vor seinem frühen Tod. Was die Deutschen von diesem Bild und von seinem Buch hielten, erlebte er nicht.

O Fortsetzung von Seite eins

Der Klang der Revolte:Das Buch zu den Volksaufständen in der arabischen Welt

Arian FariborzRock The Kasbah

Popmusik und Moderne im OrientReportagen aus Ägypten, Algerien, Israel,

Palästina, Marokko, dem Libanon und dem IranVorwort von Christian Burchard (Embryo)

182 Seiten · 35 Farb- und Schwarzweißfotos · Broschur · € 17,90ISBN 978-3-930378-84-5

Anhand von sieben Länderbeispielen wird in dem Buch aufgezeigt, welche Rolle Pop, Rock, Jazz und Hip-Hop als Ventil für den sozialen und politischen Protest einnehmen.

Hadayatullah HübschPeace Train – Von Cat Stevens zu Yusuf Islam

200 Seiten · 5 Schwarzweißfotos · Broschur · € 19,90ISBN 978-3-930378-76-0

Das Buch beschäftigt sich mit den vielen Facetten im bewegten Leben von Cat Stevens beziehungsweise Yusuf Islam. Ausführlich beschreibt Hübsch dessen musikalische Kar-riere, seine geheimnisvollen Songtexte und religiöse Sinnsuche, die Hinwendung zum

Islam sowie die diesbezügliche Medienresonanz.

PALMYRA VERLAGHauptstraße 64 · 69117 Heidelberg · Tel. 0 62 21/16 54 09 · Fax 0 62 21/16 73 10

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Afghanistan und keine Zentralasienstrategie

»Zentralasien. Politische Reisereportagen«

Buchvorstellung und Diskussion am 18. 04. 2011, 19.00 UhrDie LINKE Berlin-Neukölln, Richard-Platz 16, 12055 Berlin

2. aktualisierte Auflage 2010, 300 Seiten, ISBN 978-3-935597-80-7

Elke Windisch

Afghanistan steht seit dem 11. September 2001 als einziges zentralasiatisches Land im Fokus der Öffentlichkeit. Doch davon, dass der Westen das Land kennt, kann keine Rede sein. Elke Windisch beleuchtet die Geschichte des Landes, por-trätiert zentrale Figuren wie Hekmatyar und Schah Massoud, zeigt wirtschaftliche Zusammenhänge auf. Die profunde Kennerin mutmaßt nicht über die Zukunfts-chancen Afghanistans. Doch wer sie fragt, hört Thesen, die manchem Sicherheits-politiker die Haare zu Berge stehen lassen.

Helen SibumAmnesty International Journal

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junge Welt Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 3l i t e r a t u r

Vor rund 20 Jahren, im April 1991, hat Jutta Ditfurth die Grü-nen verlassen. Nachdem Tho-mas Ebermann, Rainer Tram-

pert und andere profilierte Linke diesen Schritt bereits einige Monate zuvor voll-zogen hatten, verlor die Partei mit Ditfurth ihre letzte Spitzenpolitikerin, die dezidiert antiimperialistische, antikapitalistische und radikalökologische Positionen vertrat. Die Austritte waren die einzig mögliche Konsequenz aus der bitteren Erkenntnis, daß die Entwicklung der Grünen zu ei-ner »modernen« Mittelstandspartei nicht mehr aufzuhalten war. Der gern plakativ als Kampf zwischen »Fundis« und »Realos« beschriebene Richtungsstreit war entschie-den, die Orientierung auf eine »rot-grüne Reformregierung« zur strategischen Leitli-nie geworden. Daß die Protagonisten dieser Entwicklung knapp neun Jahre später zu Propagandisten deutscher Angriffskriege wurden, war seinerzeit noch nicht vorher-sehbar, liegt aber durchaus in der politi-schen Logik der Entwicklung.

Aus den Grünen-Dissidenten entstand keine neue politische Strömung. Einige suchten ihr Heil bei der PDS, andere zogen sich aus dem Parteienwesen zurück und betätigten sich in außerparlamentarischen Gruppen und Netzwerken oder traten als Publizisten in Erscheinung. Ditfurth grün-dete mit anderen die Ökologische Linke, aus der später auch die Wählervereinigung ÖkoLinX hervorging. In Ditfurths Wohnort Frankfurt am Main schaffte diese Gruppe immerhin zweimal den Einzug in das Stadt-parlament. Hauptsächlich widmete sich die gelernte Soziologin aber der Publizistik. Zu ihren vielen Veröffentlichungen gehö-ren das antiesoterische Standardwerk »Ent-spannt in die Barbarei« (1996), der Roman »Die Himmelsstürmerin« (1998), eine mit dem Titel »Durch unsichtbare Mauern: Wie wird so eine links« versehene Autobiogra-phie (2002) sowie eine Ulrike-Meinhof-Biographie (2007).

Ihrer einstigen politischen Heimat hat Ditfurth bereits im Jahr 2000 ein Buch (»Das waren die Grünen. Abschied von ei-ner Hoffnung«) gewidmet. Doch seitdem ist einiges passiert. Die Grünen können inzwi-schen bequem Vorwürfe, daß sie ihre »alten Ideale verraten« oder ihre »Anhänger täu-schen«, ignorieren: Denn längst ist die Par-tei Repräsentant einer bereiten gesellschaft-lichen Strömung, die auf die Zementierung der herrschenden ökonomischen Verhält-nisse durch deren »Modernisierung« setzt. Exemplarisch und ausführlich schildert Ditfurth dies in ihrem neuen Buch »Krieg, Atom, Armut. Was sie reden, was sie tun: Die Grünen« am Beispiel der Atompolitik. Nahezu perfekt gelang es der Partei, die An-ti-AKW-Bewegung mit klaren Bekenntnis-sen zu vereinnahmen – und zu neutralisie-ren, als es darum ging, die »Atomausstieg« genannte langfristige Bestandsgarantie für

die Meiler in Regierungsverantwortung durchzusetzen. Ohne die grüne »Kompro-mißbereitschaft« zur Jahrtausendwende hätte es für die jetzige Regierungs koalition keine Möglichkeit gegeben, die Laufzeiten der AKW beträchtlich zu verlängern. Aus aktuellem Anlaß warnt Ditfurth auch vor Il-lusionen in bezug auf das Bahnhofsprojekt »Stuttgart 21«. Es ist nicht auszuschließen, daß die Protestwelle gegen den Abriß des alten Hauptbahnhofs die Partei Ende März in die baden-württembergische Landesre-gierung spülen wird. Doch längst haben

sie – wie die Autorin detailliert belegt – die Fundamente gelegt, um den Protest elegant abwürgen und den Bahnhof bauen zu kön-nen.

Um die außenpolitische Rolle der Grü-nen zu charakterisieren, greift Ditfurth tief in den Fundus der Parteigeschichte. Bereits 1993 trat eine »bellizistische Vorhut« um den heutigen Europaabgeordneten Daniel Cohn-Bendit in Erscheinung, die offen die Entsendung deutscher Truppen nach Bos-nien forderte. Der Parteispitze war längst klar, daß der Preis für die Regierungsbe-

teiligung auf Bundesebene die Unterstüt-zung der NATO-Doktrin und der Kriegsteil-nahme der Bundeswehr war. Und sie war bereit, diesen Preis zu bezahlen. Ditfurth skizziert in diesem Abschnitt den Weg der Grünen vom Mitläufer zum Vorreiter einer neuen Kriegspolitik, die unter dem Label Menschenrechtsinterventionismus verkauft wird. Und verweist auf Parallelen in der PDS und ihrer Nachfolgepartei Die Linke.

Der letzte Teil des Buches widmet sich der Sozialpolitik. Auch auf diesem Feld ist eine mehrstufige Entwicklung zu beobach-ten. Ihre ursprüngliche Anziehungskraft er-langten die Grünen nicht nur als Vertreter der Friedens- und Ökologiebewegung, son-dern auch durch ihre in der Anfangsphase eindeutige antikapitalistische Ausrichtung. Aber bereits Ende der 80er Jahre definierten einige »Querdenker« den »konsumfreund-lichen Citoyen« als grünes Subjekt der Zu-kunft. In der Zeit der »rot-grünen« Bun-desregierung (1998–2005) wurde dann eine bis dahin im »rheinischen Kapitalismus« undenkbare Verarmungsstrategie exeku-tiert. Hartz-Gesetze, Rentenkürzungen und Deregulierungen der Arbeitsverhältnisse sind Eckpunkte einer Politik, »die die Zahl der Armen vergrößert, die Armen noch är-mer und vor allem noch aussichtsloser ge-macht hat«, bilanziert Ditfurth diese Phase. Und sie erinnert daran, daß auch sogenannte Linke in der Fraktion wie Hans-Christian Ströbele diesbezüglichen Gesetzen stets zu-gestimmt haben. Fleißig wurde zudem an ideologischen Konstrukten gearbeitet, um diese Politik als fortschrittlich zu verkaufen: Mit Angriffskriegen verteidigt man Men-schenrechte, mit Rentenkürzungen schafft man Generationengerechtigkeit, und mit der Förderung prekärer Beschäftigung verbes-sert man Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Anhand von Äußerungen, Veröffentlichun-gen und Aktivitäten einzelner grüner Politi-ker von der Kommunal- bis zur Bundesebe-ne veranschaulicht Ditfurth die aggressive Rolle, die diese Partei bei der Formierung ei-nes zwar »ökologisch sensiblen«, aber sozi-aldarwinistischen Bürgertums spielt. Ihr Fa-zit: »Soziale Ungleichheit macht diejenigen, die an ihrer Verschärfung mitarbeiten und von ihr profitieren, bösartig. Sie enthemmen sich, die Maske fällt. Und sie fällt exakt in den Milieus, in denen sich die Grünen heute verorten: in der ›Mitte‹ und ›links der Mit-te‹. Wie weit rechts das auch sein mag. Die Grünen sind ein ganz spezieller Motor des neokonservativen Rollbacks.«

Einige Schilderungen und Analysen in dem Buch werden dem politisch interes-sierten Leser bekannt vorkommen. Doch gerade angesichts des Höhenflugs, den die Grünen laut Umfragen derzeit in der Wäh-lergunst erleben, kann ein derartiges Up-date nichts schaden. Zumal Ditfurth auch 20 Jahre nach ihrem Bruch mit den Grünen noch reichlich Wut im Bauch hat, was das Buch zusätzlich lesenswert macht.

Wut im Bauch Das »ökologisch sensibilisierte«, aber sozialdarwinistische Bürgertum formiert sich: 20 Jahre nach ihrem Parteiaustritt legt Jutta Ditfurth eine hochaktuelle Abrechnung mit den Grünen vor. Von Rainer Balcerowiak

Jutta Ditfurth, Krieg, Atom, Armut. Was sie reden, was sie tun: Die Grünen. Rotbuch Verlag, Berlin 2011, 288 Seiten, 14,95 Euro

Patrick PécherotBELLEVILLE–BARCELONAParis, 1938 – in Spanientobt der Bürgerkriegund in Belleville langweiltsich ein Detektiv. »DieAtmosphäre! Sie ist es, diean Patrick Pécherot so be-geistert, diese Fähigkeit,eine Epoche in ihrer fühl-baren Realität auferstehenzu lassen ...« Le MondeBroschiert, € 14,90

Abdourahman A. WaberiTOR DER TRÄNENEin dramatischerKonflikt zwischenzwei Brüdernin Dschibuti, amHorn von Afrika.»Ein Buch, indem Waberi virtuosmit Genres undFormen spielt:Tagebuch, Notiz-heft, Spionage-roman, historischeund geostrate-gische Anmer-kungen, Märchenund Legenden,Predigten undBeschwörungen …durch zweiganz und garkonträre Stimmenhindurch, die einander suchen und in einemhochspannenden Spiel begegnen.« Le Monde

»Ein Buch von seltener Kraft, geradezu fieberhaft, dasnoch lange nach der Lektüre nachklingt.« Le Figaro

Gebunden mit Schutzumschlag, € 16,00

Milena MagnaniDER GERETTETE ZIRKUSMilena Magnani er-zählt eine Geschichtevom Rand der Ge-sellschaft, die in dieMitte unserer Gegen-wart führt: in einRoma-Camp amRande einer Groß-stadt. »Der Romangleicht einem Prosa-gedicht, in demVerzauberung undAlltag zu Freude undKummer des Lesersständig abwechseln.«La RepubblicaGebunden mit SU€ 18,90

Reznikoff / Flügel (Hg.)BOMB IT, MISS.TIC!In ihren Schablonen-Graffitispielt die Pariser KünstlerinMiss.Tic mit Humor, mit demVerlangen und Bildern derVerführung. Seit 1985 sprühtsie auf Zäune und Haus-wände von Paris ihre legen-dären Frauenbilder, kombi-niert mit erotisch-poetischenWortspielen.Klappenbroschur, € 12,00

Abbas KhiderDIE ORANGEN DES PRÄSIDENTEN

Zwei Jahre verbringtder junge Mahdiin Saddam HusseinsGefängnis – nursein Talent alsGeschichtenerzählerund seine Liebe zurTaubenzucht lassenihn diese Hölleüberleben. Für seinDebüt Der falscheInder erhielt der Autorden »Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis«.Gebunden mit SU€ 16,00

In jeder guten Buchhandlung | Mehr zum Programm: www.edition-nautilus.de Edition Nautilus

»... eine berührende undgrausame Geschichte von Un-terdrückung und Befreiung, vonSchrecken und Hoffnungen.«Corriere di Bologna

»Das richtige Buch zur richtigenZeit!... Ein ungewöhnliches Buch,das einen ergreift.«Lesezeichen, Bayerischer Rundfunk

Anz junge welt F11:Anz. junge welt F08 (II) 23.02.2011 15:40 Uhr Seite 1

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»Créer c’est résister / kreieren / erschaffen / ist / heißt widerstehen / Widerstand leisten«

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Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 junge Welt 4 l i t e r a t u r

The Russians have an under-standing of Rhizom-War«, meinte Alexander Brener in der Prenzlauer-Berg-Kneipe

des Anarchoehepaars Papenfuß/Fellien »Rumbalotte« (Abkürzung für »Ruhm und Ehre der Baltischen Rotbannerflot-te«). Der botanische Begriff »Rhizom« wurde von den Philosophen Gilles De-leuze und Felix Guattari aufgegriffen als Modell für ein gleichsam unterirdisch- verknüpftes Beziehungsgeflecht Wider-ständiger. Der Philosoph Alexander Bre-ner kommt aus Rußland, wo er laut der Kunstkritik »zum Kulminationspunkt des Moskauer Aktionismus« heranreifte – mit nicht selten gewalttätig endenden Performances. Als er seinen Aktionsra-dius nach Westen hin ausdehnte, tat er sich mit der Wiener Slawistin Barbara Schurz zusammen. Ihre gemeinsamen »Abenteuer«, etwa auf einer Lesung von Toni Negri in einer italienischen Millio-närsvilla, in einer Irrenanstalt im Kongo und in der Trotzki-Villa in Mexiko, wo sie auf einen Nachkommen der einst von Trotzki gezüchteten Riesenkaninchen stießen, veröffentlichten sie als Berichte in der Zeitschrift Gegner des Basisdruck-Verlags. Ihre Bücher, u. a. »Was tun?« und »The Art of Destruction«, gab der Wiener Verlag Selene heraus. Seitdem es diesen nicht mehr gibt, publizieren sie ihre Bücher im Selbstverlag. Es sind z. T. Reiseberichte. Das letzte hieß: »Die Befreiung Istanbuls«. Ich zählte darin 32 Verbrechen und ebenso viele Obszöni-täten. Es enthält daneben aber auch ein Lob auf das Unglücklichsein sowie die Tiqqun-»Theorie vom Bloom«. Ihr näch-ster Bericht stammt aus Rom, er geht Mitte März in Druck.

Bevor die beiden sich jüngst wieder in Berlin niederließen, hatten sie eine Dis-kussion mit der Gruppe »Tiqqun« in Paris, die sie überzeugte, den Kulturbetriebs-kontext, alles Spektakelige, hinter sich zu lassen. Es ging und geht ihnen ums »Wer-den«, das haben sie mit »Tiqqun« gemein-sam, und beide berufen sich dabei auf den Philosophen Gilles Deleuze. Wie dieser in dem Artefilm »Abécédaire« ausführte, ist die Revolution keine Geschichte, sondern ein »Werden, was die Historiker nie be-greifen«. Und daß die Revolution noch je-desmal übel endete, »das weiß man doch! Schon die englischen Romantiker redeten über Cromwell genauso wie die heutigen Exlinken über Stalin. Das hält aber zum Glück doch niemanden davon ab …« An anderer Stelle sagt er über das Werden: »Es kommt durch Bündnisse zustande. Das Werden ist eine Vermehrung, die durch Ansteckung geschieht. Es handelt sich dabei immer um einen Plural – also

um Kollektive, Schwärme, Meuten, Ban-den …« Die Gruppe Tiqqun sorgte jüngst mit ihrem Manifest »Der kommende Auf-stand« für einigen Medienrummel. Im Internet findet man unterdes noch einige weitaus bessere Lageberichte, Pamphlete, Manifeste von ihnen – zuletzt die »Ein-führung in den Bürgerkrieg«. Daneben hat der Merve-Verlag ihre »Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens« ver-öffentlicht und der Verlag »diaphanes« u. a. »Kybernetik und Revolte«. Nicht wenige deutsche Kritiker tun diese »Un-dergroundphilosophie aus Frankreich« als dunkel-postmodernen Theorieremix ab oder unterstellen ihr gleich, wie die taz, sich aus trübsten Naziquellen zu speisen. Da ist sich die Kritik in Ost und West schon lange einig: Spätestens seit Michel Foucaults Arbeiten gelten ihr die meisten linken Theorien aus Paris als unnötig ver-komplizierte Irrlehren.

Die Gruppe Tiqqun knüpft bei den »Situationisten« an, die einst schon die im »Mai 68« kulminierende Neue Linke beflügelt hatte. Den italienischen Philo-sophen Georgio Agamben kann man als ihren Lehrer bezeichnen, während To-nio Negris Schriften von ihnen als üble »Negrismus« abgetan werden. Praktisch nomadisieren sie zwischen »Landkom-munen« und »Schwarzem Block«. Die Polizei verdächtigte sie deswegen eines Bombenattentats. Die FAZ schrieb: »In Frankreich wurde eine terroristische Zelle ausgehoben. Das von einem Philosophen angeführte Kollektiv prophezeite eine Epoche der Unordnung, brachte Züge zum Stehen und manipulierte Hochspannungs-leitungen – und entfacht eine Diskussion über die Grenzen politischer Gewalt.«

Es geht dabei jedoch im Gegenteil um die Grenzen polizeilicher Gewalt, denn deren »Beweise« erwiesen sich als we-nig stichhaltig. Im Gegensatz zu denen der Gruppe Tiqqun, die fortlaufend die alten Bedrückungen des Proletariats mit ihrer »negativen Anthropologie« phäno-menologisch in ein Leiden am Hier und Jetzt übersetzt. »Die Unterwerfung un-ter die Arbeit, die eingeschränkt war, da

der Arbeiter noch nicht mit seiner Arbeit identisch war, wird gegenwärtig durch die Integration der subjektiven und existen-tiellen Gleichschaltung, d. h. im Grunde durch den Konsum, ersetzt,« heißt es z. B. in der »Theorie des Jungen-Mädchen«. Bei dieser Figur handelt es sich um das Resultat einer Kapitalisierung der Be-gehren beiderlei Geschlechts, die auf die Selbstverwertung hinausläuft. Wenn es dazu heißt: »Das Junge-Mädchen ist der Endzweck der spektakulären Ökono-mie«, dann klingt da die »Gesellschaft des Spektakels«, wie die Situationisten sie nannten, an. Es wird in ihren Schrif-ten ansonsten vieles neu gedacht. In der »Einführung zum Bürgerkrieg« schreibt Tiqqun in einer Fußnote: »Ich spreche vom Bürgerkrieg, um ihn auf mich zu nehmen, um ihn in Richtung seiner erha-bensten Erscheinungsweisen auf mich zu nehmen. Das heißt: meinem Geschmack entsprechend. Und Kommunismus nenne ich die reale Bewegung, die überall und jederzeit den Bürgerkrieg zu zunehmend elaborierter Beschaffenheit vorantreibt.« An anderer Stelle ist die Rede von »einer gewissen Ethik des Bürgerkriegs«.

Der Wissenshistoriker Michel Foucault fragte sich bereits: »Was gibt es überhaupt in der Geschichte, was nicht Ruf nach oder Angst vor der Revolution wäre?« Statt »nach zu rufen« bemühen sich Tiqqun, und ebenso Brener/Schurz, gegen die Re-duzierung der »Formes de vie« (Lebens- bzw. Existenzweisen), neue zu bestim-men – und das negativ, wenn es z. B. in der »Einführung zum Bürgerkrieg« heißt: »In der ziemlich reichhaltigen Sammlung von Mitteln, welche der Westen bereithält, um sie gegen jegliche Form von Gemein-schaft anzuwenden, findet sich eines, das ungefähr seit dem 12. Jahrhundert eine gleichermaßen vorherrschende als auch über jeden Verdacht erhabene Stellung einnimmt: ich meine das Konzept der Lie-be. Man muß ihm, über die falsche Alter-native, die es jetzt allem aufzwingt (»liebst du mich oder liebst du mich nicht?«), eine Art ziemlich furchterregender Effi-zienz bezüglich des Vernebelns, Unter-drückens und Aufreibens der hochgradig differenzierten Palette der Affekte und der himmelschreienden Intensitätsgrade, die beim Kontakt zwischen Körpern entste-hen können, zugestehen. So half dieses

Konzept mit, die gesamte extreme Mög-lichkeit der differenzierten Ausbildung der Spiele zwischen den Formes-de-vie einzuschränken.« An anderer Stelle heißt es: »Es genügt, sich in Erinnerung zu rufen, wie im Laufe des Prozesses der ›Zi-vilisation‹ die Kriminalisierung von allen Leidenschaften mit der Heiligsprechung der Liebe als einziger und einzigartiger Leidenschaft, als der Leidenschaft par ex-cellence einherging … Selbstverständlich gilt dies nur für das Wort und nicht für dasjenige, was sie unabsichtlich trotzdem hat stattfinden lassen …«

Ende Januar fand in Kreuzberg eine Ver-anstaltung der Gruppe »Freunde der klas-senlosen Gesellschaft/Redak tion ›Kosmo-prolet‹« statt, auf der es um eine Kritik an diesem und anderen Tiq qun-Texten ging: »Anstatt sich mit den Schranken der gegenwärtigen Kämpfe zu konfrontie-ren, flüchten sich die Autoren in die Pose von Verschwörern. Weil letztlich nebulös bleibt, wie das gesellschaftliche Elend produziert wird, bleibt auch die Möglich-keit seiner Abschaffung im dunkeln«, hieß es dazu vorab. Im vollbesetzten Saal wur-den dann jedoch eher die Tiqqun-Kritiker selbst kritisiert – als zu traditionell links argumentierend. »Die Tiqqun-Manifeste treffen genau den Nerv der Zeit«, fanden die meisten. Aber immerhin sorgten die »Freunde der klassenlosen Gesellschaft« mit ihrer Kritikvorlage für eine interessan-te Diskussion. Von den Autonomen wurde sie bereits vor einem Jahr geführt, »als Tiqqun noch kein Hype war«, wie eine Genossin etwas bitter meinte. Inzwischen fand schon die fünfte Veranstaltung über deren Text »Der kommende Aufstand« in Berlin statt, während derselbe in Kairo beinahe ein »Gehender« geworden wäre.

Auch Brener/Schurz haben diesen sich täglich ausweitenden »Arabischen Auf-stand« noch nicht praktisch zur Kennt-nis genommen, im Gegenteil: Anläßlich der Vorstellung der neuen Ausgabe der Papenfuß-Zeitschrift Konnektör Mitte Februar traten sie mit einer Schamlos-Performance in der Kneipe »Rumbalotte« auf, und demnächst wollen sie dort eine noch obszönere als »Hommage an GG Allin« aufführen. Inzwischen mehren sich jedoch hier auch solche Veranstaltungen, die sich mit dem »Arabischen Aufstand« befassen.

Die reale BewegungBraucht das Land neue Aufstandstheorien? Von Tiqqun zu Foucault und über ein paar Umwege auch wieder zurück. Von Helmut Höge

Alexander Brener/Bar-bara Schurz: Rom. Basis-druck Verlag, Berlin 2011, erscheint voraussichtlich im April 2011

Tiqqun: »Einführung in den Bürgerkrieg«, 2010: tarnac9.noblogs.org/gal-lery/5188/einfuehrung in den buergerkrieg.pdf

Weitere Tiqqun-Texte im Internet unter: www.tiqqun.info

Das Interview »Abé-cédaire« von Claire Par-net mit Gilles Deleuze, der 1995 starb, wurde auf Arte ausgestrahlt und Ende 2009 vom Verlag 2001 zusammen mit der Kreuzberger Firma »absolut Medien« auf Deutsch als DVD veröf-fentlicht – gesprochen von Hanns Zischler und Antonia von Schöning.

Gabriel Kuhn

Unter dem Jolly Roger Piraten im Goldenen ZeitalterDie Piraten des »Goldenen Zeitalters«, die von 1690 bis 1725 die Meere zwischen der Karibik und dem Indischen Ozean unsicher machten, haben bis heute kaum an Faszination verloren , wie nicht zuletzt die Kultfilme mit Johnny Depp als Käpt’n Jack Sparrow beweisen. Die politische Deutung ihrer Aktivitäten ist jedoch umstritten.

Auf der einen Seite werden sie als gewalttätige und erbarmungslose Kriminelle dargestellt, auf der anderen als Sozialrebellen und Revolutionäre.

»Nie zuvor wurden für die Analyse des Goldenen zeitalters so interessante Zugänge gewählt.« (Nora Räthzel)

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FrühschichtLinke Fabrikintervention in den 1970er Jahren

Im Mittelpunkt stehen die Erfahrungen der ProtagonistInnen dieses Experiments, die mal nur einige Monate, manchmal ein ganzes Leben in der Fabrik geblieben sind..

»Ich wusste nicht, was auf mich zukam. Aber ohne die Arbeiterklasse hatten wir keine Chance, die Welt zu verändern, so viel war klar.« Das schreibt Harry Oberländer 1977, einige Jahre nachdem er als revolutionärer Aktivist bei Opel in Rüsselsheim angeheuert hatte. Vom Studenten zum Arbeiter.

Was heute kaum vorstellbar klingt, war Anfang der 70er Jahre weit verbreitet. Auf die antiautoritäre Revolte von 1968 folgte für viele der Schritt in die Produktion; einige Tausend junge Linke tauschten den Seminar-stuhl gegen die Werkbank ein, um die Arbeiterklasse für Revolution und Kommunismus zu begeistern.

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Page 5: jw-2011-03-17-99

junge Welt Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 5l i t e r a t u r

Im Dienste des Antiimperialismus und Internationalismus hatte sich die westdeutsche Linke ehedem allerlei Identitäten geborgt und

war dabei mehr als einmal abgedriftet in Idolatrie. Die einen schleppten große Mao-Porträts mit sich herum, die ande-ren feierten Onkel Ho aus Vietnam; der Kult um den Commandante Che wich der Verehrung des Subcommandante im mexikanischen Dickicht. Selbst diese Zeiten sind passé. Einen genuinen In-ternationalismus hat es nur in Ansätzen gegeben, und auch nur bei denen, die hier zu den Waffen griffen, statt zur Be-stätigung der Moralität der eigenen Me-tropolenexistenz die Sammelbüchse auf-zustellen, damit Kriegsgerät beschafft werden konnte für die »kämpfenden Völ-ker« anderswo.

Heute, da sich von Marokko bis Bah-rain, von Tunesien bis Persien Revolten gegen die jeweiligen Despoten ereignen, ist auf den hiesigen Straßen kein massen-haftes und darum lautes »Wo ein Tyrann bekämpft wird, sind wir solidarisch« zu hören. Ohne der deutschen Kriegspolitik auch nur im geringsten wirksam entgegen-zutreten, widmet man sich lieber ehrpus-selig den Machinationen eines aufgebla-senen Dorfbarons als diesen Revolten, in denen der slowenische »altmodische Mar-xist« Slavoj Zizek einen Ausdruck »der universellen Revolution für Freiheit und Gerechtigkeit« sieht. Wo findet sich hier-zulande ein Beharren auf diesem Universa-lismus? Es gibt keinen Aufruf nirgendwo zur Unterstützung jener, die wie der ägyp-tische Blogger Hossam El-Hamalawy statt aufs Kreuzchenmachen für die »fat cats« auf direkte Demokratie setzen, auf die sich entwickelnden Stadtteil- und Fabrikräte. Keine Solidarität mit den Jugendlichen aus dem Gefängnis Gazastreifen, die jüngst ein »Manifest für Veränderung« veröffent-lichten, das mit einem Sechserpack FUCK begann: »Fuck Hamas. Fuck Israel. Fuck Fatah. Fuck UN. Fuck UNWRA. Fuck USA!« Fuck, kein Bismarck-Platz in irgen-deiner deutschen Stadt, der in einen Tahrir-Platz verwandelt würde.

Als im Dezember 2008 israelische Bomber, Panzer und Kampftruppen »Tod und Verwüstung« (Amnesty Internatio-nal) über den Gazastreifen brachten, als – wie ein Soldat der Golani-Brigade er-klärte – »wir auf alles schossen, was sich bewegte«, rührten hierzulande nicht we-

nige sich links verortende Propagandisten die Trommel für die zerstörerische Invasi-on mit dem Operativnamen »Gegossenes Blei«. Die vermeintlichen Kämpfer gegen den Antisemitismus wurden zu Apologe-ten des Staatsterrorismus. Die verheeren-de israelische Militäroperation hat Nor-man G. Finkelstein nun in einer Studie mit dem Titel »Israels Invasion in Gaza« untersucht. Diejenigen, die hierzulande im Rahmen des Anti-Islam-Feldzuges noch jedes Vorgehen Israels wortreich zu legitimieren wissen, werden sich schon an Finkelsteins primärem Anliegen stoßen: »Das Mindeste, was wir den Menschen in Gaza schuldig sind, ist eine wahrheitsge-treue Dokumentation ihres Leids.«

»Bei der Gaza-Invasion«, so Fin-kelstein, »ging es (…) erstens um die Wiederherstellung der israelischen ›Ab-schreckungsfähigkeit‹, und zweites um die Abwehr einer neuerlichen palästinen-sischen ›Friedensoffensive‹.« Bereits am ersten Tag seiner Gaza-Invasion löschte Israel 300 Menschenleben in nur vier Minuten aus. Die meisten Angriffszie-le befanden sich in dicht besiedeltem Wohngebiet, und das Bombardement begann »gegen 11.30 Uhr morgens, zu einer Zeit, wo reges Treiben herrschte und die Straßen voller Zivilisten waren, darunter die Schulkinder, die nach En-de der morgendlichen Unterrichtsschicht nach Hause wollten, und diejenigen, die zur Schule unterwegs waren, um an der nächsten Schicht teilzunehmen«, wie Fin-kelstein aus einem Bericht von Amnesty International zitiert. In den 22 Tagen der Operation Gegossenes Blei wurden 1 400 Palästinenser getötet, davon waren 350 Kinder. 258 Palästinenser starben, »weil israelische Truppen sich geweigert hatten, Rettungsteams zu ihnen durchzulassen«. Es wurde weißer Phosphor eingesetzt, weil – wie ein israelischer Soldat bekun-dete – »das Spaß macht und cool ist«. Es wurden fast die Hälfte der 122 Gesund-heitseinrichtungen, 58 000 Wohnhäuser, 280 Schulen und Kindergärten, 1 500 Fabriken und Werkstätten sowie 30 Mo-scheen beschädigt oder zerstört. Nach ei-nem von Finkelstein zitierten Bericht für die Liga der Arabischen Staaten seien 90 Prozent dieser Zerstörungen während der letzten Invasionstage angerichtet worden, und zwar in Gegenden, die die israelische Armee vollständig unter Kontrolle hatte.

Gaza war wehrlos, da helfen auch keine Hinweise auf die von der Hamas abgefeu-erten Raketen der Marke Eigenbau. Und es hilft auch nicht der Dokumentation des Leids der Bewohner von Gaza, wenn Fin-kelstein die »planlosen Raketenangriffe« der Hamas in die »Kategorie symboli-scher Gewalt, die Gandhi nicht verurtei-len mochte«, einzuordnen versucht. Eben diese Planlosigkeit verbietet die Einord-nung in diese Kategorie. Finkelstein lei-stet seinem Anliegen auch keinen Dienst, wenn er akribisch aufzählt, welche Kräfte sich angesichts der Gaza-Invasion gegen Israel stellten, er nicht unterscheidet zwi-schen Antizionismus und Antisemitismus und so letzteren völlig verharmlost, wenn er schreibt: »Die gemeldeten antisemi-tischen Vorfälle in Europa gingen sel-ten über bloße Unannehmlichkeiten wie E-Mails oder Graffiti hinaus.«

In dem im Auftrag des Präsidenten des UN-Menschenrechtsrats erstellten Goldstone-Bericht, auf den Finkelstein in seinem Epilog Bezug nimmt und der auch die seit Jahren anhaltende israelische Besatzungspolitik zum Gegenstand hat, wird Israel beschuldigt, in seinem Bestre-ben, die Zivilbevölkerung »zu bestrafen, zu demütigen und zu terrorisieren«, viel-fach gegen Völkergewohnheitsrecht und Völkervertragsrecht verstoßen zu haben. Israel werden zur Last gelegt: »Vorsätz-liche Tötung, Folter oder unmenschliche Behandlung (…) vorsätzliches Zufügen großen Leids beziehungsweise schwerer körperlicher oder gesundheitlicher Schä-den (…) in großem Ausmaß betriebene, nicht durch militärische Erfordernisse gerechtfertigte und auf unerlaubte und

willkürliche Weise vorgenommene Zer-störung von Eigentum und (…) Einsatz menschlicher Schutzschilde.«

Dessen völlig ungeachtet schrieb ein Kommentator einer bürgerlichen deut-schen Zeitung erst jüngst: »Israel wird im Nahen Osten als Vorposten der westlichen Werte gesehen, daran ändern auch Verstö-ße gegen diese Werte nichts. (…) Wer verhindern will, daß sich die politische Dynamik wendet, der muß nun schnell handeln und versuchen, von außen so viel Einfluß wie möglich zu nehmen auf die inneren Prozesse in den arabischen Staaten. Das gilt für den Westen, aber es gilt auch für Israel. (…) Die Revolutionen werden vorrangig als Bedrohung wahrge-nommen, gegen die es sich zu wappnen gilt – mit einer Erhöhung des Militäretats zum Beispiel, wie sie in diesen Tagen Premierminister Benjamin Netanjahu an-gekündigt hat.«

Finkelstein hingegen betont gegen die-ses großsprecherische Einfluß-Nehmen-Wollen und dumpfe Säbelrasseln, es sei das Ziel, »eine Lösung herbeizuführen, die es beiden Seiten, jedem Menschen er-möglicht, ein würdiges, produktives und friedvolles Leben zu führen.«

Gegossenes Blei»Wir haben auf alles geschossen, was sich bewegte« – Norman G. Finkelstein über Israels Invasion in Gaza. Von Jürgen Schneider

Norman G. Finkelstein: Invasion in Gaza. Aus dem Englischen über-setzt von Maren Hack-mann. Edition Nautilus, Hamburg 2011, 220 Sei-ten, 18 Euro

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Die nächste Revolution kommt bestimmt …

»Da beginnt jetzt etwas … Dieses Buch tut not.« Die Zeit

»Deutsche und Migranten feiern das Manifest der Vielen.« SZ

Das Buch:Manifest der Vielen.Deutschland erfindet sich neuherausgegeben von Hilal Sezgin, mit einem Geleitwort von Christoph Peters.Blumenbar 2011Volksausgabe € 12,90

Der Clip: »Manifest der Vielen« auf www.youtube.com

Abdelkader Rafoud � 50 Jahre Marokkanische MigrationDokumentation m. Abb. • ISBN 978-3-942490-02-3 • 187 S. • 15 Euro

Maïssa Bey � Nachts unterm Jasminaus dem Französischen von Christine Belakhdar • ISBN 978-3-927069-98-5 • 164 S. • 19 Euro

Abdelhak Serhane � Der Mann aus den Bergenaus dem Französischen von Ruth Wentzel • ISBN 3-927069-99-2 • 232 S. • 18 Euro

Aziz Chouaki � Stern von Algieraus dem Französischen von Barbara Gantner • ISBN 978-3-927069-92-3 • 198 S. • 18 Euro

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»Assurez vous contre le hasard / Versichern Sie sich gegen den Zufall / das Geschick.

Un regard es si vite arrivé / Ein Blick ist so schnell dahergekom-men / geschehen«

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Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 junge Welt 6 l i t e r a t u r

Es ist nicht leicht, ein Teil jener Kraft zu sein, die »stets das Böse will und stets das Gute schafft«, wie es im »Faust« von

Goethe heißt. Die Rede ist von tapferen Mißstandsaufdeckern und Aufklärungs-helden: Wer sich im Kampf gegen rechts schutzlos einläßt auf braune Theorien und ihr Lügengebälk, verfällt, ohne es zu merken, ihrer teuflischen Logik. Wer hingegen versucht, letztere zu ignorieren, läuft Gefahr, die »schwarzen Soßen« in ihrer Wirkungsweise zu unterschätzen.

Jetzt erschien ein Band, der ein Dutzend Versuche, den existierenden Rechtsextre-mismus zu analysieren, wie unter dem Brennglas bündelt. Die meisten interes-santen Forschungsrichtungen sind darin vertreten – beispielhaft. »Rechtsextremis-mus in Deutschland und Europa« (Peter Lang Verlag) ist ein lehrreiches Buch, mit kleinen Einschränkungen.

Den Anfang macht SZ-Starkommen-tator Heribert Prantl, einstiger Staatsan-walt, der mit ausgefeilter Rhetorik und provozierendem Tiefgang eine Art Auf-mischung versucht. »Wie bekämpft man Rassismus und Fremdenfeindlichkeit? Es gibt … einen merkwürdigen Glauben daran, daß es, wenn es um die Auseinan-dersetzung mit dem Rechtsextremismus geht, genügt, die richtige Gesinnung zu haben.« Prantl stellt die Gretchenfrage: »Was braucht man wirklich, um Visio-nen zu entwickeln für eine gute Zukunft der demokratischen Gesellschaft?« Seine Antwort ist soziologisch: »Man braucht Menschen, die sich trauen…« Und: »Man braucht Projekte, die ›Wehret den Anfän-gen‹ heißen und ›Buntes Leben‹«. Solche Bekenntnisse verdichtet Prantl zum Lob-lied des Widerstands. Das Versagen von

Staat und Polizei klingt an, wissenschaftli-che Rückbindung etwa an Hannah Arendt gelingt. Auch für das Eingeständnis, daß Integration anders aussehen würde als in Döner-Buden meßbar, findet er deutliche Worte.

Nur in einer Hinsicht ist er auf dem rechten Auge blind: Seine Kolleginnen und Kollegen, die kleinen und großen Me-dienhaifische in der bürgerlichen Presse sowie ihr akademischer Anhang, die Me-diatoren der »Extremismus-Forschung«,

haben versagt. Prantl weiß das – aber hier schweigt er. Doch solange es Professo-ren wie die Herausgeber vom »Jahrbuch Extremismus & Demokratie« gibt – Uwe Backes von der TU Dresden und den Chemnitzer Politikwissenschaftler Eck-hard Jesse – kann Grundsätzliches nicht stimmen. Jesse darf ungestraft behaupten, es gebe einen »harten« rechten Extremis-mus und einen »weichen« linken und der linke sei gefährlicher, weil er schwerer zu erkennen sei.

Solche »Argumente« beleidigen die Opfer rechtsextremer Gewalt – und sie haben inquisitorischen Charakter: Mit Willkür und Spucke kann so jede und jeder als »linksextremistisch« kriminali-siert werden. Ein Vorgang, den das Fa-milienministerium von Kristina Schröder

gerade zu legitimieren versucht: mit der »Anti-Extremismus-Klausel«, die von ge-gen rechts gerichteten Projekten (»Bun-tes Leben«, »Wehret den Anfängen«) Gesinnungsschnüffelei verlangt. Sie sol-len unterschreiben, daß ihre Mitarbeiter verfassungstreu sind. Sonst werden ihnen die Fördermittel versagt. Außer Sachsen sind zwar alle Bundesländer gegen diese Vorabinhaftnahme linken Gedankenguts. Aber es fehlt an Kraft, die Sache zügig abzuwehren, juristisch oder politisch. Ist das nicht typisch deutsch?

Und schon der zweite Beitrag im »Rechtsextremismus«-Band ist entspre-chend eine Zumutung, gleicht schon we-gen minderer Intelligenz einer Belästigung mit Sätzen. Der Autor, Wolfgang Gassen-harter, Professor an der Helmut-Schmidt-

Universität der Bundeswehr, findet die deutsche Gesellschaft toll: »Der Begriff ›Rechtsextremismus‹ löst in Deutschland weitgehend negative Assoziationen aus.« Sollen wir uns jetzt freuen? »Jemanden als rechtsextrem zu bezeichnen, bedeutet dessen Stigmatisierung.« Das wußte si-cher niemand aus der Zielgruppe solcher Bücher. Daß mit einem Zitat von Hajo Funke die Ortung eines »fremdenfeindli-chen Ethno-Nationalismus« erfolgt, trägt zur oberflächlichen Auswalzung des The-mas bei. Nicht aber zur Aufklärung.

Da ist viel interessanter, sich die Lage in England, Polen, Spanien und Frankreich nahebringen zu lassen. Angelika Beer, Eu-ropa-Politikerin, ist zwar keine überzeug-te Antifakämpferin. Aber die Neonazis in der EU gehen ihr auf den Senkel, und das ordentlich. Inwiefern Maggie Thatcher mit Parolen von »Recht und Ordnung« den Boden für Rassismen bereitete, legt dann Roger Eatwell dar. Englands Ober-schicht, traditionell antikommunistisch, wird durchaus mit entlarvt.

Hervorragend dekonstruiert Julia Ver-se, Berliner Doktorandin, den irischen Na-tionalismus. Ihre Zeugen gegen rechts: die Punkband »Boomtown Rats«. Beim The-ma Polen müßten dann die Alarmglocken ertönen: Degoutanter Antisemitismus, der sich liest, wie aus dem Dritten Reich origi-nal zitiert, darf sich dort formulieren. Ein Tabu! Jean-Yves Camus sammelt derweil Punkte gegen Le Pen, indem er dessen Mißerfolge im heutigen Frankreich zählt. Ambivalent sind die Meldungen aus Spa-nien: Bei mit 0,2 Prozent geringer rechts-extremer Wählerschaft gibt es besondere Gewalttätigkeit bei Rassismen. Wie heißt es: »Wehret den Anfängen!«

Aufklärung im braunen Nebel»Rechtsextremismus in Deutschland und Europa« bemüht sich um Fakten im Lügengebälk. Von Gisela Sonnenburg

Holger Spöhr / Sarah Kolls (Hrsg.): Rechtsex-tremismus in Deutsch-land und Europa. Peter Lang AG, Frankfurt/Ber-lin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2010, 205 Seiten, 29,80 Euro

»Martin Büssers Texte verkörpern etwas, das man in diesem Land, in dieser Sprache,zum ersten Mal an (und mit) Klaus Theweleit hatte erleben dürfen: männlichen Feminismus. Also besaß auch seine Begeisterung für Musik etwas Ozeanisches. Martins Unkorrumpierbarkeit war dabei nahezu gespenstisch (aber immer noch Pop).«Thomas Meinecke

Martin Büsser war in seiner Arbeit als Journalist, Autor, Verleger und Musiker eineherausragende Gestalt im deutschen Kulturbetrieb. Den Verlockungen des Mainstreamsnie erlegen, hat er auch seine eigene Szene nie mit falscher Zurückhaltung kritisiert.Ohne seine Artikel, Bücher und CDs wäre die deutsche Linke heute um einiges ignoranter. Martin Büsser starb im Herbst 2010.

MARTIN BÜSSERMUSIC IS MY BOYFRIENDTEXTE 1990–2010

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»L’art me ment / Die Kunst belügt mich / Be waff nung«

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junge Welt Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 7l i t e r a t u r

Motesiczky wuchs im Mi-lieu der Wiener Finanz-, Kunst- und Wissenschafts-aristokratie auf. Ererbte

Riesenvermögen gaben den Angehö-rigen dieser Oberschicht ein Gefühl von Sicherheit und Freiheit, wie es die große Mehrheit ihrer Zeitgenossen nie-mals kennenlernte. Nicht wenige dieser Kapitalrentner waren nicht nur Freigei-ster, dem guten Leben und den schö-nen Künsten zugetan, sondern auch auf der Suche nach einem Engagement, sei es einem philanthropischen, sei es ei-nem politischen. So wurde aus dem ver-träumten Cellisten Motesiczky, der 1919 seinen Grafentitel abgelegt hatte, ein Anarchokommunist, Widerständler und Menschenretter. Sein Interesse galt glei-chermaßen der Musik, dem Sozialismus und der Psychoanalyse. Sein Vater, der 1909 früh verstorbene ungarisch-tsche-chische Graf Edmund von Motesiczky, war ein ausgezeichneter Cellist, der noch mit Brahms musiziert hatte, und auch der Sohn widmete sich hingebungsvoll dem Cellospiel. Wie die Musik, war ihm die Psychoanalyse in die Wiege gelegt. Seine Großmutter, Anna von Lieben, ge-borene von Todesco, gilt – neben Joseph Breuers Patientin Berta von Pappenheim (»Frl. Anna O …«) – als die eigentliche »Erfinderin« der Psychoanalyse. In den von Freud und Breuer 1895 veröffent-lichten Studien über Hysterie figuriert sie als »Frau Cäcilie M…«

Christiane Rothländer hat für ihre 2004 abgeschlossene Dissertation, deren über-arbeitete Version jetzt als Buch vorliegt, alle erreichbaren Informationen über Karl Motesiczky gesammelt, um die verschie-denen Etappen seines kurzen Lebens zu rekonstruieren und diesem verborgenen Gerechten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Diese überaus sorgfältig recher-

chierte Biographie ist zugleich ein wichti-ger Beitrag zu der noch ungeschriebenen Geschichte der von Wilhelm Reich ins Leben gerufenen Sexpol-Bewegung.

Nach rat- und rastlosen Studentenjah-ren an deutschen Universitäten traf Mote-siczky 1931 in Berlin auf Wilhelm Reich, beteiligte sich an dessen sexualpolitischer Arbeit in der KPD-Jugend, begann eine Psychoanalyse bei ihm und folgte dem aus Deutschland und Österreich Vertriebenen in die Emigration nach Kopenhagen und Oslo. Unter dem Pseudonym » Teschitz« schrieb er regelmäßig in Reichs Zeit-schrift für Politische Psychologie und Se-xualökonomie (ZPPS), die 1934–1938 in 15 Heften herauskam. Die ZPPS stellte sich die Aufgabe, »die Forschungsmetho-de des dialektischen Materialismus (Mar-xismus) auf den Gebieten der politischen Psychologie und der Sexualpolitik auf Grund der Theorie der Sexualökonomie von Wilhelm Reich konsequent anzuwen-den.«

Mitte April 1934 veröffentlichte Mote-siczky-Teschitz einen »Diskussionsarti-kel« unter dem Titel »Zur Kritik der kom-munistischen Politik in Deutschland (mit besonderer Berücksichtigung des 13ten Ekkiplenums)«. Aufgabe dieses Plenums der Kommunistischen Internationale war es, die KPD-Politik vor und nach der Errichtung der Nazidiktatur als »vollstän-dig richtig« zu rechtfertigen. »Teschitz« schloß sich im wesentlichen einer Kritik Trotzkis an der Resolution der Komin-tern-Exekutive an, die Anfang Februar 1934 in der Wochenzeitung der deutschen Trotzkisten (IKD), Unser Wort, veröffent-licht worden war, und ergänzte sie – im Anschluß an Wilhelm Reich – durch eine sozialpsychologische Deutung der Men-talität der Mitglieder von SPD und KPD einerseits, der NS-Gefolgschaft anderer-seits. »Wir sind«, schrieb er, »mit einer großen Zahl kritischer Marxisten einig darin, daß die KPD und die KI in den letz-ten Jahren schwere Fehler begangen hat […].« Warum aber, fragte er, jagten »die

kommunistischen Arbeiter« den bürokra-tischen Parteiapparat »nicht – von Trotzki eines Besseren belehrt – zum Teufel?« Seine Antwort: Die kapitalistische Unter-drückung »erzeugt nicht nur Empörung, sondern auch Angst und Verzweiflung.« Viele Mitglieder hielten deshalb ihre Or-ganisation für eine große Familie, entwik-kelten eine »dumpfe ›Heimatbindung‹ an die Partei« und sahen in der innerparteili-chen Kritik »eine Art Verrat«.

Motesiczkys besonderes Interesse galt der Religionspsychologie. 1935 veröffent-lichte er im Sexpol-Verlag eine Broschüre zum Thema Religion, Kirche und Reli-gionsstreit in Deutschland – eine »erste Gesamtdarstellung der religiösen Umwäl-zung in Deutschland vom marxistischen Standpunkt«: Die Bindung der Frommen an ihre Kirche(n) resultiere aus ihrem lastenden Schuldgefühl wegen ihrer sexu-ellen Begierden und aus der Hoffnung auf eine kirchlich garantierte Erlösung, wenn nicht im Diesseits, dann im Jenseits. Der Nationalsozialismus sei für seine Anhän-ger hingegen wegen seiner Frontstellung gegen Ehe, Familie und Kirche attraktiv. Von einem faschistischen Regime erhoff-ten sie sich eine Lockerung der repressi-ven Sexualmoral.

Im Heft 3–4 der Zeitschrift hatte »Te-schitz« (1934) noch einen »Nachtrag« zu seiner Kritik der KPD-Politik veröf-fentlicht: Durch die neue Einheitsfront-Politik der Partei sehe er sich bestätigt und setze nun auf eine gründliche Reform der KPD (und anderer kommunistischer Parteien) durch »Selbstkritik« und in-nerparteiliche Demokratie. Wieder zwei Jahre später jedoch schrieb er resigniert, offensichtlich sei für die Sexpol kein Platz mehr innerhalb der (inzwischen auf die »Volksfront«-Politik umgeschwenk-ten) Kominternorganisationen. In seinem Artikel »Aus der internationalen Sexpol-Diskussion« hieß es in Heft 8–9 (1936): »Die sozialdemokratische Presse – mit Ausnahme der Freidenker – schweigt uns tot, die Kominternpresse hat uns ein für

allemal unter die Konterrevolutionäre ein-gereiht.« Eigentlich zeigten nur die Anar-chisten Sympathie für das Programm der Reich-Gruppe. Motesiczkys Ortsbestim-mung der »Sexpol« – und sein Schluß-wort als politischer Autor – lautete: Die Sexpol »trägt wesentlichen anarchisti-schen Forderungen Rechnung, ohne die durch Erfahrung erprobten marxistischen Auffassungen über Wirtschaftsstruktur oder die Rolle der Partei aufzugeben. Da-mit ist sie […] die Einheit von Marxis-mus und Anarchismus auf marxistischer Grundlage.«

Als Reich sich (1937) enttäuscht von der »verbürgerlichten« Psychoanalyse und von der (kommunistischen) Poli-tik abwandte, um sich der Erforschung der von ihm entdeckten biologischen »Orgon«-Energie zu widmen, ging Mote-siczky zurück nach Österreich, das kurze Zeit später von den Nazis eingemeindet wurde. Gemäß den faschistischen Ras-sengesetzen galt er als »Halbjude« (oder »Mischling I. Grades«). Es gelang ihm zunächst, den Familienlandsitz in der Hinterbrühl (17 Kilometer südwestlich vor Wien) vor der Arisierung zu retten. Dann nahm er sein Medizinstudium wie-der auf und setzte seine Lehranalyse bei dem Freudianer August Aichhorn fort. Seinem Motto »Wer wird Widerstand lei-sten, wenn alle gehen…« getreu, stellte er sein Gut Verfolgten, Untergetauchten und Oppositionellen als ein Refugium zur Verfügung. Mit einem Kreis guter Freun-de bildete er eine Widerstandsgruppe, die versuchte, von Deportation und Vernich-tung bedrohte Juden und Nazigegner aus Österreich und Polen nach Ungarn und in die Schweiz zu schleusen. Nach einer De-nunziation wurden mehrere Angehörige der Gruppe im Herbst 1942 verhaftet, zu-nächst im Wiener Gestapo-Hauptquartier am Morzin-Platz gefangengehalten und dann im Februar 1943 wegen »Judenbe-günstigung« nach Auschwitz deportiert. Motesiczky starb dort am 25. 6. 1943 in einem Häftlingskrankenbau an Fleckty-phus; seine (»arische«) Leidensgefährtin Ella Lingens konnte als Lagerärztin über-leben.

Jahrzehnte später wurden Motesicz-ky und Lingens als »Gerechte unter den Völkern« anerkannt. Auf dem Gelände des Landguts der Familien Todesco und Motesiczky ließ Hermann Gmeiner zehn Jahre nach dem Krieg ein SOS-Kinder-dorf für Kriegswaisen bauen. Ein kleiner Gedenkstein, den seine Mutter und seine Schwester, die 1938 nach London geflo-hen waren, dort 1961 für Karl Motesiczky

aufstellen ließen, trägt die Inschrift: »Für die selbstlose Hilfe, die er schuldlos Ver-folgten gewährte, erlitt er den Tod.« Bald zeigte sich, daß selbst diese vorsichtige Umschreibung den Erben der Nazis in der Hinterbrühl (wo es in den letzten Kriegsjahren auch ein »Außenlager« des Konzentrationslagers Mauthausen gab) unerträglich war. Im Jahr 2000 wurde die Gedenktafel demoliert und beschmiert. Sie ist zwar inzwischen wiederherge-stellt, doch die düstere Vergangenheit der idyllischen Wiener Hinterbrühl harrt noch immer der »Aufarbeitung« und Do-kumentation. Christiane Rothländer hat mit ihrer Motesiczky-Biographie einen Anfang auch dazu gemacht.

Wenn alle gehenChristiane Rothländer rekonstruiert die Biografie Karl Motesiczkys und leistet damit unter anderem einen wichtigen Beitrag zur bislang ungeschriebenen Geschichte der Sexpol-Bewegung. Von Helmut Dahmer

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Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 junge Welt 8 l i t e r a t u r

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junge Welt Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 9l i t e r a t u r

Manchmal braucht die Lie-be etwas Zeit. Im Fall von Heinrich Steinfest Krimi-nalroman »Wo die Löwen

weinen« dauerte es stolze 70 Seiten bis sich die skeptische Neugier des Rezen-senten zunächst in zunehmend gespannte Aufmerksamkeit und schließlich in so etwas wie Leidenschaft zu verwandeln begann. Erzählt wird die Geschichte eines zunächst läppisch erscheinenden Kriminalfalls, der den Münchner Kom-missar Rosenblüt eher wider Willen nach Stuttgart führt, wo er unversehens in ein Verbrechen ganz anderen Ka-libers hineingezogen wird: den Ver-such gewählter Politiker und mächtiger Strippenzieher einer lebendigen Stadt mittels eines gigantischen Bahnprojek-tes den Garaus zu machen.

Als zentrale Figuren der Aufklärung oder des Widerstands in kriminologi-scher wie auch in politischer Hinsicht entpuppen sich ein stoischer Hund na-mens Kepler, der die Kunst beherrscht, die Handlung gerade dadurch voran zu bringen, daß er einfach nur herumsteht, ein Seiltänzer sowie eine rätselhafte antike Maschine, die den Projektma-chern allein durch ihre unterirdische Existenz im Wege ist und noch dazu schwanger zu sein scheint. Das klingt sehr weit hergeholt. Doch keine Bange. Bei aller Neigung zur Fantastik und zum gepflegten Popzitat zeigt der 1961 im australischen Albury geborene, in Wien aufgewachsene und seit vielen Jahren in Stuttgart lebende Schriftstel-ler und vormalige bildende Künstler Heinrich Steinfest in seinem Roman, daß er dem wirklichen Geschehen auf den Grund zu gehen bereit ist und da-bei mancherlei nützliche Erkenntnis zu Tage zu fördern vermag.

Anschaulich und nachvollziehbar schildert er, wie aus einem braven Bür-ger, einem ehemaligen Handelsvertre-ter, der seine Ehefrau verlor, zunächst ein Stuttgartforscher und schließlich ein militanter »Stuttgart 21«-Gegner wird. Dieser Herr Tobik, der im Verlauf der Handlung zum Präzisionsgewehr greifen wird, ist ein enttäuschter Parteigänger der SPD, dem nicht erspart geblieben war, »mitansehen zu müssen, wie die Sozial-demokratie sich in eine reaktionäre Null verwandelt und dann selbst angezündet hatte, ohne wirkliche Not eigentlich. Und diese Null verbrannte jetzt. Aber es war ein langsames Verbrennen, Zeit genug, noch

da und dort mitzumischen, Posten zu be-setzen, Staatstragendes zu spielen, Worte zu stemmen, leichte Worte, die nicht ins Gewicht fielen. Der Mann, der nun als Sprecher eines in erster Linie von der CDU und CDU-Leuten und CDU-nahen Inve-storen getragenen Projekts fungierte, ver-

trat symbolhaft den »modernen Geist« der Sozialdemokratie, deren Anbiederung an die Macht, deren kindhaftes Dabeiseinwol-len in höchsten Gremien, deren Hang zu Vernunftehen, Ehen, an deren Ende sie al-leingelassen dastanden: verbraucht, welk, kaum noch in der Lage, das Rot auf ihrer Krawatte vom Schwarz in ihrem Herzen zu unterscheiden.«

Treffend analysiert Steinfests Erzähler schon im ersten Kapitel den ökonomischen

Motor des Bahnprojekts, der Fragen des Gemeinwohls weit in den Hintergrund treten läßt: »Die Gigantonomie der ge-planten Höhlenarchitektur ergab sich aus der inneren Logik einer gewollten Ver-schwendung.« In seinem Nachwort macht Steinfest deutlich, daß die vielgelobte

»Schlichtung« für ihn vor allem eines ist: »demokratisches Theater«.

Dabei hätte der Autor gegen mehr De-mokratie überhaupt nichts einzuwenden. In einem Interview mit der Stuttgarter Zei-tung sagte er: »Kapitalismuskritik bedeutet nämlich nicht per se Demokratiekritik, wie gerne suggeriert wird. Die Kapitalisten de-korieren sich mit Demokratie, aber ihre Handlungsweisen der letzten Jahrzehnte sind zutiefst undemokratisch. Dazu kommt

ein Staat, der seine Kontrollmechanismen vernachlässigt. Ich habe als Krimiautor durchaus Verständnis für Leute, die sich schamlos bereichern; für den Krimiautor ist es ja wichtig, daß bestimmte Figuren sich monströs und inhuman verhalten, aber als Mensch in der Gesellschaft empfinde ich es

als dramatisch und tragisch, wenn die-se Leute nicht kontrolliert werden, und man sodann Gewinne privatisiert und Verluste verstaatlicht. Das ist fatal.«

Steinfests Roman belegt einmal mehr, daß all das Gerede vom Verstum-men der engagierten Literatur nichts weiter als ein an den Hochschulen ge-pflegter Irrglauben ist. Eindrucksvoll ist allein schon die Zahl der Krimiau-toren, die sich in jüngster Zeit durch den Widerstand gegen Stuttgart 21 zu literarischen und politischen Aktivitä-ten haben inspirieren lassen. Autoren wie Klaus Wanninger, Michael Krug, Christine Lehmann, Wolfgang Schor-lau und Stefanie Wider-Groth fanden hier ihr Material und ergriffen zum Teil selbst vehement auf seiten der »S21«-Gegner Partei.

Um zu Steinfest zurückzukommen. Der bringt in ein und demselben Buch organisch zusammen, was nach der An-sicht vieler Literaturexperten eigentlich gar nicht zusammenkommen kann: eine spannende Krimihandlung, realistisch erzählte Einblicke in den Protest ge-gen »Stuttgart 21« und eine politische Stellungnahme, die Urteilskraft mit li-terarischer Bildmächtigkeit verbindet: »Wenn nun gerne gesagt wird, in Stutt-gart werde doch immerhin niemand gefoltert, so schlimm könne es also gar nicht sein, so muß man vielleicht feststellen, daß der Verzicht auf Folter oft nur den historischen Umständen zu verdanken ist, aber nicht, weil die Folterer ausgestorben sind. Man sollte also nicht warten, bis Folter wieder ein legitimes Mittel politischer Verfahren darstellt. Wenn die Politik beginnt, auf immer schamlosere Weise eine ruinös

agierende, aber in sich und durch sich pro-fitable Wirtschaft an den Grenzen und Re-geln vorbeizusteuern – und lauter kleine Kunstwerke der Geldverschwendung zu schaffen, feines Porzellan, zerbrechlich, aber voller Glanzpunkte – dann ist das ein Hinweis, daß wir nicht mehr lange mit der Rücksicht der Staatsorgane zu rechnen haben. Jedes Theater geht zu Ende, eben auch das demokratische. Nach dem Thea-ter ist das Leben.«

Demokratisches TheaterHeinrich Steinfest hat einen sehr lesenswerten Krimi zu »Stuttgart 21« geschrieben. Von Thomas Wagner

Heinrich Steinfest: Wo die Löwen weinen. Theiss-Verlag, Stuttgart 2011, 19,90 Euro

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Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 junge Welt 1 0 l i t e r a t u r

Irgendwann in den gräßlichen Neunzigern begann zu allem Über-fluß auch noch die Popkultur, mit der bürgerlichen Gesellschaft zu

fusionieren. Ach was, ein und dasselbe zu werden…

Wer (wie ich) viel Zeit und Geld und seine ganze Biographie in die Hoffnung investiert hatte, Pop könne auf lange Sicht die ewige Wiederkehr des glei-chen Dagegenseins bleiben, mußte nun mit ansehen, wie er plötzlich identitäre Metastasen bildet: Popdeutschland zum Beispiel. Dem von Rot-Grün relaunch-ten Nationalismus kam er nämlich ge-rade recht, um alle zu einem möglichst umfassenden Wirgefühl zu verdonnern. Nur sollte das eben gerade nicht ausse-hen wie das alte, sondern lieber jung und sexy, weltoffen und tolerant.

Alles wurde über Nacht also zu Pop, der darüber aufhörte, etwas Bestimmtes zu sein: Er wurde alles, also nichts. Und zwar überall und ständig. Unter anderem auch schwarz-rot-goldener Un-verkrampftheitsmob. Und das nicht nur, weil der irgendwie Romero-Filme zu zitieren schien.

Auch die akademische Wissenschaft hat ihre angestammte Popferne längst eingetauscht gegen die Popnähe ihrer Themen und Methoden. Was also bleibt von dem großen Desintegrationsver-sprechen namens Pop, wenn der zum Tarnanstrich für Volksgemeinschaft, zum Einschließungsmilieu und zur spätkapitalistischen Subjekttechnik ge-worden ist?

Dieser Frage widmet sich der Reader »Pop Kultur Diskurs«. Und einige Bei-träge loten tatsächlich die im Vorwort versprochenen »Möglichkeiten und Grenzen einer kritischen Praxis inner-halb der Populärkultur« aus. Dazu muß natürlich zunächst der historische Ruin der Popkultur eingestanden werden, oh-ne deswegen gleich alles, was irgendwie Pop heißen kann, reflexhaft zu verwer-fen. Nur so kann die Popwerdung der bürgerlichen Gesellschaft gegen sich selbst gewendet werden, und der Blick wird für jene Veränderungen geschärft, die seine Einberufung zur Nationalkul-tur und zum Integrationsinstrument mit sich brachte. Und nur so gelingt es, sich trotzdem die vom Hals zu halten, die das ja schon immer gewußt haben.

Roger Behrens demonstriert dies am Beispiel der Poptheorie. Die verstand sich, als sie noch fast ausschließlich in Magazinen wie Sounds, Spex oder Testcard stattfand, als Organ »illegiti-mer Theoriebildung«. Mit dem Durch-marsch der Cultural Studies zur system-stabilisierenden Quacksalberin wurde jedoch auch Pop von den Rändern ins Zentrum der neoliberalen Reform-Uni verschleppt. Dort wird er aber nicht in der klassischen Weise von Wissenschaft bearbeitet. Statt dessen hat er ein ganz neues Paradigma akademischen Spre-chens installiert.

Pop ist hier nicht mehr Gegenstand wissenschaftlicher Analyse, sondern er wird selbst zum Subjekt, zur »gro-ßen Macht«, die spricht und handelt, bestimmte Absichten verfolgt oder ge-

schichtliche Aufträge erledigt: Pop kann … Pop will … Pop hat… und so weiter. Diese Aktivität muß Poptheorie dann nur noch protokollieren. Sie betreibt damit eine Art Personenkult am Sub-jekt gewordenen Pop. Die kritische Re-flexion des Popkunstwerks unterbleibt zugunsten jener bekannten »Kreuzung von Metaphysik und Journalismus«, die sich kaum noch vom Waschzetteltonfall der Popmagazine unterscheidet, außer daß sie sich mit dekorativen Fußnoten drapiert hat. Sie ist der Sound jener Ver-allgemeinerung, die es allen und jedem erlaubt, Pop anzurufen. In ihm finden alle alles – und dazu noch jene Gemein-samkeit, die alle integriert, auch wider deren Willen. Dagegen schlägt Behrens vor, die materialistische Einbettung von Popkultur zur Grundlage seiner kriti-schen Theorie zu machen.

Dies war im Prinzip bereits der Aus-gangspunkt der illegitimen Poptheorie wie ebenso das Thema alter Cultural-Studies-Ansätze. Um deren subversi-ves Potential wiederzugewinnen, muß Popkritik der Verallgemeinerung von Popkultur zur Staatsraison widerspre-chen. Und differenzieren: nicht gleich in »Gut« und »Böse«, aber doch in ver-schiedene Popformen und -gebrauchs-weisen. Zu zeigen wäre dabei, welche gesellschaftlichen Interessen sich bei welchen populärkulturellen Momenten bedienen und was sie damit im Schilde führen.

Aktuell sind dies vor allem identitä-re. Sonja Witte legt dar, warum »Das Wunder von Bern« mehr ist als bloß ein typisch deutscher Kinounfall. Wort-manns Film mag formal oder ästhetisch indiskutabel sein, Trash, inhaltlich ist er knallhart durchdeklinierte Ideologie: Er will erzählen, wie Deutschland sich 1954 neu erfand, was wiederum natür-lich auf die deutsche Fußballgegenwart schielt. Eine sehr traditionelle Vorstel-lung des »Weiblichen« spielt dabei die Schlüsselrolle, weil es ihr gelingt, die durch die NS-Erfahrung verhärteten Generationen auszusöhnen. Verhärm-te deutsche Männlichkeit bedarf also der Ergänzung durch feminin konotier-te Soft Skills, um ein ausgeglichenes Deutschland entstehen zu lassen. So weit, so abgeschmackt. Holger Adam und Jonas Engelmann erörtern wieder-um, wie eine bestimmte (und also re-flektierte) Popsozialisation dazu führen kann, daß sich Subjekte politisieren. Musikgeschmack und das Interesse an popsozialen Zusammenhängen können in Modelle und Erzählungen einführen, die auf etwas verweisen, das nicht im Bestehenden aufgeht. Inwieweit sich diese Utopie in eine Politisierung über-setzt, hängt dann durchaus auch von den Zufällen des Biographischen ab. Daß es diesen Sozialisationstypus aber trotz erschwerter Rahmenbedingungen noch immer gibt, spricht immerhin, wenn auch kleinlaut, gegen die These, Pop-kultur wäre vollständig von der Subver-sion zur Affirmation gebracht.

Daß im Einzugsbereich von Pop noch immer elementare und politische Unterscheidungen möglich sind, zeigt

Arne Schröder anhand von »Queer as Folk« und »The L Word«. Sie genügen nämlich nicht den Ansprüchen, die die Queer Theory stellt. Queerness fällt al-so keineswegs im Horizont eines alles verschlingenden, egalisierenden oder nivellierenden Popbegriffs mit ihrer Fernsehdarstellung zusammen. Viel-mehr kann sie sich gerade in der Kritik an ihr als »etwas anderes« markieren.

Damit wären exemplarisch Positionie-rungen benannt, mit denen Poptheorie nicht bloß ein Mehr desselben in der Allgemeingültigkeit von Pop wird. Dem-gegenüber steht allerdings eine Reihe von Beiträgen, die fast nichts mit Pop

und Popkultur zu tun haben, sondern al-lenfalls vage populärkulturelle Elemente in irgendeinen Zusammenhang bringen, etwa wenn mit dem Einsatz von Medien und »Festen« Inkludierungsprobleme der sozialen Stadtentwicklung kuriert wer-den sollen. Aber vielleicht ist das auch wiederum ein Indiz jener Allgemeinheit von »Pop«. Der in seinem Namen entfal-teten Beliebigkeit wird wohl bis auf wei-teres nicht so leicht zu entkommen sein. Es trotzdem zu versuchen, hebt »Pop Kultur Diskurs« aus jener Masse an Ver-öffentlichungen zum Thema heraus, die wir in den letzten Jahren zur Kenntnis nehmen mußten.

Alles Pop, oder was?Im Ventil Verlag ist ein Sammelband über die »Möglichkeiten und Grenzen einer kritischen Praxis innerhalb der Populärkultur« erschienen. Von Jürgen Schneiderbanger

Holger Adam/Yasar Aydin/Zülfukar Cetin/Mustafa Doymus/Jonas Engelmann/Astrid Hen-ning/Sonja Witte (Hrgs.): Pop Kultur Diskurs. Zum Verhältnis von Gesell-schaft, Kulturindustrie und Wissenschaft. Ventil Verlag, Mainz 2010, 288 Seiten, 14,90 Euro AFRITANGA Ab 25. 03. 2011 im Handel

The Sound of Afrocolombia US-0418Herausgeber: Steen Thorsson

Mit: Quantic Presenta/ Systema Solar/Choc Quip Town/Grupo Bahia/Alfon-so Córdoba/Tumbacatre/Grupo Gualajo/Cynthia Montaño/Roots Radical/La Revuelta u. v. a.

AFRITANGA vereint sowohl alte Stücke der Maestros der pazifischen und kari-bischen Küste, als auch den urbanen Sound einer neuer Generation.

LIEBLING LUITPOLDSwing, Rumba & Kaffeehausblues US-0421Coco Schumann/Pearl Bailey/Martti Innanen/Billie Holiday/Coconami/Duke Ellington/Abbey Lincoln/G.Rag u. v. a.

Auf „Liebling Luitpold“ gibt es die Musik, die wir heute in unseren Lieblingscafés hören wollen.

„20 wunderbare, stilvolle und stilsichere Tracks, zusammengebrüht zu einer De Luxe-Auslese- Mischung.“ Plärrer

JÖRG HUBEHerzkasperl Doppel-CD, US-0417Aufnahmen von 1977 bis 2009 auf zwei CDs.

„Das was er dem Publikum mitgeteilt hat, das bleibt als Forderung, und das, was er im Publikum verursacht hat, bleibt als Erfolg für einen ganz großen Kabarettisten.“ Dieter Hildebrandt

COCONAMI Ensoku US-0409Coconami, das sind Miyaji und Nami, zwei in München gestrandete Japaner.

„The Ukulele is back“ New York Times

„Coconami bewegen sich schwerelos nicht nur in zwei Kulturen, sondern auch noch in drei, vier weiteren, bis sich die Grenzen völlig auflösen.“ Frankfurter Rundschau

ATTWENGER Ab 08. 04. 2011 im Handel

flux US-0410Das österreichische GrooveSlangPunkDuo Attwenger spielt auf flux Rock’n Roll & Swing, Turbopolka & Speedlandler, Synthie & Geschichten, Brass & Kantri, Dsch-akkabum und gelegentlich auch langsam. „Irritierend positiv. Utopisch letztlich.“ Süddeutsche Zeitung

Bitte fordern Sie unseren kostenlosen Katalog an: www.trikont.de · [email protected] · Fax 089 - 6 92 72 04

Im Buchhandel vertrieben durch: Eichborn Verlag

DER TOD US-0415Mit: Heinz-Josef Braun / Georg Queri / Karl Obermayr / Gerhard Polt / Luise Kinseher / F. X. Karl / Ludwig Schmid-Wildy / Therese Giehse / Martin Sperr / Herbert Achtern busch / Annamirl Bierbichler / Elfi Pertramer / Dr. Döblin-gers Kasperltheater / Carl Amery / Franz Xaver Kroetz / Toni Berger / Gustl Bayrhammer / Hasemanns Töchter / Christa Berndl / Geschwister Schleich / Ruth Geiersberger / Dienstleistungsorchester / A. J. Mossmüller / Coconami / LaBrassBanda / Hans Söllner / Georg Ringsgwandl.

DIE LIEBE US-0416Mit: Bernhard Butz / Martina Gedeck / Udo Wachtveitl / Robert Hültner / Cleo Kretschmer / Franz Dobler / Franz-Xaver Kroetz / Albert Ostermaier / Walter Sedlmayr / Veronika Fitz / Helmut Fischer / Sepp Bierbichler / Ali Mitgutsch / Wolf Wondratschek / Willy Michl / Georg Ringsgwandl / William Wettsox / Die Isarspatzen / Bally Prell / Marcus H. Rosenmüller / Dr. Döblin-gers Kasperltheater / Ruth Geiersberger.

STIMMEN BAYERNS Ab 25. 03. 2011 im Handel

Eine neue CD-Reihe aus dem Hause Trikont. Eine einzigartige Enzyklopädie der bayerischen Sprache – Gesprochenes, Gesungenes und Gespieltes. In Fundstü-cken aus der Literatur, aus Zeitungen, in Tonspuren aus Filmen, in Gedichtbänden, Romanen und Radiosendungen entfaltet sich die bayerische Seele.

LABRASSBANDA endlich wieder unterwegs: 16. 06. Abenberg / 17. 06. Rehling / 30. 06. Kleinheubach / 01. 07. Coburg / 02. 07. Kopfing (AT) / 08. 07. Benedikt-beuern / 09. 07. Immenstadt / 15. 07. Straubing / 16. 07. Ingolstadt / 17. 07. Landshut / 21. 07. Stuttgart / 22. 07. Singen / 23. 07. Mainz / 13. 08.Rees Haldern / 13. 09. Hannover / 14. 09. Hamburg / 15. 09. Bremen / 16. 09. Kiel / 24. 09. Weingarten / 01. 11. Erfurt / 02. 11. Leipzig / 03. 11. Dresden / 04. & 05. 11. Berlin / 07. 11. Dort-mund /08. 11. Köln / 09. 11. Frankfurt a. M. / 10. 11. Freiburg i. B. / 02. 12. Regens burg / 04. 12. München Olympiahalle …

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Krebs hat vielleicht diesen ei-nen Vorteil. Nach der Diagno-se wissen die Betroffenen: Sie sind in Gefahr. Die Zeit

wird womöglich knapp. Man sollte sich überlegen, was noch zu tun ist und was zu unterlassen. Werner Schroeter, Regisseur und Lebemann, ließ sich von der Schau-spielerin Isabelle Huppert zu einer Reise nach Paris zur Chemotherapie überreden. Er sah noch einmal Freunde wie Ingrid Caven, die Chansonette. Er sah vor al-lem, wie man sich um ihn bekümmerte. Und er schrieb seine Memoiren.

Daß er darin am Ende seiner Religiö-sität freien Lauf ließ, mag der Krankheit geschuldet sein. Gelebt hat er aber als selbstbewußter Sünder. Kein Abenteuer ließ der ambitionierte Macho, der zugleich ein Schönling war, aus. Keine Klippe des Daseins, auf der er nicht tänzelte. »Tage im Dämmer, Nächte im Rausch«: In sei-ner Autobiographie, im Aufbau Verlag er-schienen, feiert er sich als Bohemien. Für Wim Wenders war er sowieso »der letzte Dandy unserer Zeit«.

Wer außer Schroeter (1945–2010), dem Mann mit Samt im Blick und in der Stim-me, hätte einen Film so betitelt: »Abfall-produkte der Liebe«? Er war bekennender Schwuler, gelegentlich bisexuell. Davon erzählt er viel. Seine Werkthemen waren früh da: Einsamkeit, Liebe, Orgien, Tod, in dieser Reihenfolge. Die toleranten El-tern drängten ihn auf die Filmhochschule in München – und unterstützten ihn, als er dort ging. Seinen ersten wichtigen Film schnitt Schroeter nachts heimlich beim Bayerischen Rundfunk – und erntete den Josef-von-Sternberg-Preis. Was für ein begabter Junge, und was für ein vom Le-bensstil der Dekadenz Besessener!

Aber als er der Opern-Ikone Maria Cal-las begegnen soll, übergibt er sich vorher vor Aufregung. Die Callas mit ihrer Mi-schung aus Passion und Souveränität wird seine Lebensbegleiterin aus der Ferne. An sie denkt er, wenn er seine Finger mit schweren Klunkern belädt und aus sich ein wandelndes Kunstwerk macht. Schals und Hüte, Gürtelschnallen und Ledermontu-ren – sonderbar ästhetisch waren nicht nur seine Filme wie »Der Rosenkönig«. Das immer Andere, das schillernd Auffällige –

hier ist es Programm und Grund, das Wort »Persönlichkeit« zu benutzen.

Daß er auch verachtet wird, bestärkt Schroeter sogar. In der Schule ist er der Au-ßenseiter, bezieht oft Prügel. Später wird er von einem Redakteur als »komischer Vogel« beschimpft, von der aufgehetzten Augsburger Bevölkerung als »Ratte« und »Ungeziefer«. Trost sucht er in heißen Nächten, auch im Alkohol. Allerdings: Im Alter verträgt er nur noch Weißweinschor-le, was ihn völlig frustriert.

Neben der Callas hat das Sensibelchen mit Macker-Geste noch eine Muse, eine leichte: Caterina Valente. Werner Schroe-ter kreuzt nämlich alles und jeden: Hein-rich Heine und Christine Kaufmann gehen eine geistige Liaison ein, Igor Strawinsky

wird mit Lessings »Emilia Galotti« ver-kuppelt. Zweimal inszeniert Schroeter das Leidensdrama der Ehrbefleckung – im Abstand von fast zwanzig Jahren. Sein Büchner-Stück »Leonce und Lena« 1986 in Bremen wird schon durch einfache In-szenesetzung legendär: Liebe als heitere Verschaukelung.

Rosa von Praunheim, ein früher Gelieb-ter, Christoph Schlingensief, als Nach-wuchs-Kollege, und Elfriede Jelinek – die im Vorwort beschreibt, wie rhythmisch Schroeter pinkelte – tauchen irrlichternd auf wie in einem Tagebuch. Eine Ehe, eine Scheidung bringt Schroeter hinter sich – und Männer ohne Ende. Darunter den bildschönen Antonio Orlando, den er auch fotografiert. Michel Foucault, Peter

Zadek, das Goethe-Institut in Mexico Ci-ty: Die 70er sind für Schroeter eine klim-pernde Perlenkette aus Anekdoten und Hormonbomben auf Beinen.

Daß er 2010 auf der Berlinale den »Teddy Award« erhält, erfährt man im Nachwort von Claudia Lenssen. Daß er an unerfülltem Kinderwunsch litt – er wäre ein interessanterer Vater als die-ser langweilige Bundestagsabgeordnete, dessen Gattin eine langweilige Ministe-rin ist –, muß man sich erarbeiten. Denn locker weglesen lassen sich die Ergüsse trotz der amüsanten Plauderstimmung, mit der sie getarnt sind, nicht. Schroeter ist immer »hard stuff«: Ihn interessierte das Wesentliche auch am Unwesentli-chen.

Es ist fast ein Reflex, bei jedem neuen Krausser-Roman schon vorab zu applaudieren. Das hat

seine Gründe, und bisher hat man da-mit selten falsch gelegen. Im Wikipedia-Artikel zum Reflex heißt es: »Reflexe ermöglichen Lebewesen ein Leben in einer langfristig konstanten Umwelt: durch ein auf derartige Lebensbedingun-gen eingestelltes automatisches, sche-matisches oder stereotypes Reagieren, das unter gleich bleibenden Umständen dazu ausreicht, bis zur Geschlechtsreife zu leben und Nachkommen zu zeugen.« Ähnlich ergeht es den Figuren in »Die letzten schönen Tage«. Da ist Serge, der psychisch kranke Werbetexter, dem die Konstante Leben entgleitet und der nicht glauben kann, daß die Liebe seiner Freundin Kati echt ist. Die wiederum betrügt ihn mit seinem Kollegen David – weil sie glaubt, Serge zu lieben, aber den ersehnten Orgasmus bei ihm nicht bekommt. Als Serge zusammenbricht, fährt Kati mit ihm nach Malta, in der

Hoffnung, daß er fernab von Arbeits-platz und deutschem Winter genesen wird. Das Gegenteil wird der Fall sein, doch das weiß die von Gewissensbissen gebeutelte Kati noch nicht. Die Haupt-handlung des Romans verdichtet sich in Episoden aus der Sicht von Serge und Kati; dazwischen spricht David, der sich daheim nicht nur zum ersten Mal nach jemandem sehnt, sondern auch den Ausgangspunkt für Nebenschauplätze bildet. Der Florida-Urlaub seiner Mut-ter Jule und ihrer Freundin wird zum Desaster, ihr geliebter Kater stirbt an gebrochenem Herzen in Davids Armen. Außerdem ist da noch Becky, die Tochter von Davids in Toronto lebendem Bruder. Sie taucht zwar nur am Rande auf, ihr Schicksal gibt der Handlung schließlich die entscheidende Wende. Fast könnte man von einer Art literarischem Schmet-terlingseffekt sprechen, doch dafür sind die Flügelschläge zu gezielt und nicht vieldeutig genug. Die Nebenschauplätze wie etwa Jules Florida-Urlaub erinnern

eher an den Sack Reis, der hin und wie-der in China umfällt. Schade, denn jen-seits der Dreiecksbeziehung zwischen dem offensichtlich irren Serge, der sado-masochistischen Kati und dem bindungs-unfähigen David liegen auch tiefe Ab-gründe. Das Potential aller Figuren und Handlungen auszuschöpfen, ist Krausser in seinem Vorgängerroman »Einsamkeit und Sex und Mitleid« grandios gelungen. Im neuen Buch werden die Erzählsträn-ge zugunsten einer einzigen Haupthand-lung zurückgesetzt, mit der Folge, daß die Zusammenhänge zu lose sind, um sich tragfähig zu verdichten, und doch zu dicht sind, um als zufällig durchzugehen. Zu Beginn des Romans wirkt es fast, als wolle Krausser sich abwenden vom Prinzip des Kausalen, das Anarchische in der Zeit suchen, doch dafür ist »Die letzten schönen Tage« zu komponiert. Die Dreiecksbeziehung erfüllt, was sie verspricht: Sie tut weh. Woran erkennt man, daß die Liebe zum Reflex gewor-den ist? Was tun, wenn man auf das eige-

ne Leben nur noch reagiert? Nichts geht mehr und trotzdem geht es weiter. Inter-essant ist auch David, eine Karikatur des koksenden, würdelos alternden Berliner Kreativen, den die Hoffnung auf eine Liebe am Leben erhält, die er selbst nie gespürt hat. Und er bekommt am Ende des Romans dann auch seine Chance bei Kati. Der Leser weiß: Er wird scheitern. »Genetisch verankerte und reflektorisch zustande kommende Reaktionsweisen sind dabei quasi evolutionär »erprob-te« Reaktionsweisen; sie bilden sich nur bei Lebewesen aus, bei denen sie sich im Hinblick auf langfristige konstante Lebensbedingungen als effektiv für das eigene Leben erwiesen haben«, heißt es bei Wikipedia weiter. David wird Katis Helfersyndrom nicht ewig bedienen kön-nen – es wird jemand kommen, der sie mehr braucht. Applaudieren darf man Buch und Autor trotzdem. Denn ein Re-flex macht evolutionär Sinn, und Kritik an einem Krausser-Roman ist Jammern auf hohem Niveau.

Der Flügelschlag des SchmetterlingsHelmut Kraussers neuer Roman endet, wo der Abgrund beginnt. Von Anna Dumange

Sündige selbstbewußt!Werner Schroeter schrieb, bevor er starb, noch rasch seine Memoiren. Von Gisela Sonnenburg

Werner Schroeter: Tage im Dämmer, Nächte im Rausch. Aufbau Verlag, Berlin 2011, 389 Seiten, 22,95 Euro

Helmut Krausser: Die letzten schönen Tage. Dumont Literaturverlag, Köln 2011, 244 Seiten, 19,99 Euro

»Le porno est le bêtisier du désir / Porno ist das Off-Take / die Stilblüten-sammlung des Begeh-rens / der Sehnsucht«

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Ihre Welt zerbrach. Ihr Leben ging weiter«, lautet ziemlich pathetisch der Werbeslogan für eine russische Dr.-Schiwago-Verfilmung von 2006.

Ersetzt man das Pathos durch federleichte, lyrische Lakonie hat man das Thema von Olga Martynovas Roman »Sogar Papagei-en überleben uns« im Kern getroffen. Denn das Nachdenken über den Zeitfluß und die Brüche in der Zeit verknüpft alle anderen Themen des Buchs miteinander.

Olga Martynova wuchs in Leningrad auf und studierte dort am Herzen-Institut russi-sche Sprache und Literatur. Seit 1991 lebt sie in Frankfurt am Main. Bisher vor allem als Lyrikerin, Essayistin, Übersetzerin und Literaturkritikerin bekannt, landete sie mit ihrem ersten Roman auf Anhieb auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2010 und der Shortlist des Aspekte-Literatur-preises 2010. Sie schreibt ihre Gedichte auf Russisch und ihre Prosatexte – so auch »Sogar Papageien überleben uns« – auf Deutsch.

Martynova erzählt aus der Perspektive von Marina, einer Petersburger Litera-turwissenschaftlerin auf Vortragsreise in Deutschland im Jahr 2006. Marina verbin-det Berufliches und Privates. Erst wird sie Vorträge halten über die Oberiuten, den Dichterkreis um Daniil Charms und Alex-andr Wwedenski, dann will sie sich mit einem alten Freund, dem Berliner Germa-nistikprofessor Andreas, treffen. Die bei-den haben sich kennengelernt und verliebt, als Andreas 1986/87 in Leningrad stu-

dierte. Doch ihre Studentenliebe hielt den Schwierigkeiten einer deutsch-russischen Fernbeziehungen im Präinternetzeitalter nicht stand. Andreas und Marina blieben Freunde, heirateten im jeweils eigenen Land und ließen sich wieder scheiden. Nun hat Andreas Marina zwanzig Jahre zu spät einen Heiratsantrag gemacht. Und Marina hadert mit der Antwort: »Was werden wir anfangen mit uns, Andrjuscha, es ist zwan-zig Jahre her, daß wir uns getroffen haben, in einer nicht mehr exisitierenden Welt, in einem nicht mehr existierenden Staat, in ei-ner so nicht mehr exisitierenden Stadt …«. Soll sie wirklich ihre Stadt, ihre Freunde, ihren Beruf aufgeben, um einen Mann zu heiraten, der sie seinerzeit verlassen hat, weil ihm die Bedingungen einer Fernbe-ziehung zu anstrengend erschienen? Auf der Suche nach einer Antwort erinnert sich Marina an ihre Begegnungen mit Andreas im Verlauf von zwanzig Jahren, reflek-tiert die Entwicklung deutsch-russischer Befindlichkeiten, beschreibt, wie sich die gegenseitige Wahrnehmung mit den Zeiten immer wieder ändert.

Die Struktur des Romans orientiert sich an ihrem assoziativen Gedankenstrom, der eigene und fremde Erinnerungen an Menschen und Ereignisse ebenso in sich aufnimmt wie literarische und historische Fakten oder Zitate aus der russischen und deutschen Literatur. Auf diese Weise ent-steht ein erstaunliches Porträt eines Jahr-hunderts voller krasser Brüche, zusam-mengesetzt aus vielen kleinen subjektiven

Erinnerungsstückchen. Zur Orientierung der Leser steht über jedem der teils extrem kurzen Kapitel eine dreizeilige Zeitleiste. Sie reicht vom »5. Jh v. Chr.« bis 2006. Die für das jeweilige Kapitel relevanten Jahres-zahlen sind fett gesetzt. So kann man sich entspannt Marinas Gedankenstrom über-lassen und gleitet mühelos durch Zeit und Raum vom Deutschland des Jahres 2006 ins Leningrad der frühen Perestroika-Jahre, dieser Zwischenepoche, in der die alten Regeln niemanden mehr interessierten und neue noch nicht da waren. Von dort führen die Erinnerungen der Eltern und Großel-tern weiter in die Vergangenheit bis vor die Revolution, in die 30er Jahre und die Zeit der Blockade. Neben den Erinnerungen verknüpfen auch »die Dinge von früher« Gegenwart und Vergangenheit. Das kön-nen Vasen oder alte Fotografien sein, Felle von Katzen, die während der Blockade ge-gessen wurden oder Abschriften unveröf-fentlichter Manuskripte von Charms oder Wwedenski.

»Sogar Papageien überleben uns« ist mit gerade mal 200 Seiten ein ziemlich kur-zer, aber ungeheuer dichter Roman, dessen Reiz sich vernünftigen Beschreibungen entzieht. Es ist mehr als die klare Sprache oder die exakte atmosphärische Zeichnung von Menschen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit.

Olga Martynova: Sogar Papageien über-leben uns. Literaturverlag Droschl, Graz/Wien 2010, 208 Seiten, 19 Euro

Dinge von früherOlga Martynova zeichnet das ungeheuer dichte Porträt eines Jahrhunderts anhand zahlloser Erinnerungsfragmente. Von Franziska Lüdtke

Noch ein Buch über Erika Mann? Ist nicht langsam alles gesagt über die Familie Mann? Schon

allein, daß es von Erika Manns letzter Lebensgefährtin stammt, deren Existenz bis vor kurzem noch nicht einmal wahrge-nommen wurde, läßt aufhorchen, gerade weil diese bewußt Abstand zur Familie Erikas gehalten hat.

In der ersten Fassung der Biographie Erika Manns von der Herausgeberin dieses Buches, Irmela von der Lühe, fehlte Signe von Scanzoni völlig, in der späteren Neu-auflage wird sie eher am Rande erwähnt, als ob sie keine richtige Bedeutung gehabt hätte. In diesem Buch nun, in dem ihre Wichtigkeit in den letzten Lebensjahren Erika Manns überdeutlich wird, geht Lühe jetzt im Nachwort näher auf Scanzonis Lebensweg ein.

Signe von Scanzoni, die Dramaturgin und Musikjournalistin war, hat einen Ab-schiedsbrief an die Frau geschrieben, mit der sie die letzten zwölf Jahre von deren Leben zusammen war. Eingearbeitet in den bewegenden Bericht über die letzten Monate, die Erika Mann nach einer Hirn-operation bis zu ihrem Tod im Zürcher Kantonsspital verbrachte und in denen Si-gne von Scanzoni täglich an ihrer Seite war, sind Erinnerungen an ihre gemeinsa-men Jahre: daran, wie sie sich 1957 zufällig wiedertrafen, wie sehr sich Erika Mann um sie bemühte, wie sich ihre Beziehung ent-wickelte. Zahlreiche Gespräche über die unterschiedlichsten Themen, z. B. über Li-teratur, Musik, Kunst, Theater, Politik und aktuelles Tagesgeschehen. Immer wieder spielt Thomas Mann, sein Werk und sein Nachlaß, eine große Rolle. Und all das läßt ein teilweise anderes Bild als das bislang

bekannte von dieser Familie entstehen, gerade weil es nicht literarisch aufbereitet wird, sondern sich aus Alltagsgesprächen zusammensetzt. So kann Erika Mann ihren Vater dann auch beiläufig einen »gewöhn-lichen Homosexuellen« nennen, kann ver-deutlichen, warum sie die Aufgabe der »Nachlaßeule« auf sich genommen hat und reflektieren, was die Rolle der Älte-sten in der Familie ein Leben lang für sie bedeutet hat. Vieles ist erhellend, weil sie es einer vertrauten Person erzählt.

Es ist das Porträt von zwei Frauen, die sich mit 52 bzw. 42 Jahren wiedertrafen, als Kinder in München hatten sie sich nur flüchtig gekannt. Es beschreibt die Schwierigkeiten zweier Persönlichkeiten, die einen sehr unterschiedlichen Lebens-weg gegangen sind. Wo Erika Mann als direkt Bedrohte 1933 keine andere Wahl hatte, als ins Exil zu gehen, war Signe von Scanzoni, damals 18jährig, nicht akut gefährdet und in Deutschland geblieben: »Ich konnte mir den Luxus einer Stellung-nahme nicht leisten.«

Wie einschneidend diese Entscheidung für Erika Mann war, zeigt sich an diversen Gesprächen in diesem Buch. Auch wie unterschiedlich die beiden Frauen gewisse Situationen und Menschen sahen, was vor allem an ihrer Auseinandersetzung über Gustaf Gründgens deutlich wird. Aber es gab auch zahlreiche Gemeinsamkeiten, und die beiden unterstützten sich wenn möglich in ihrer jeweiligen Arbeit, wurden wichtige Vertraute füreinander.

Es wird deutlich, wie sehr die edito-rische Arbeit an Familienwerken Erika Mann zur Last geworden war, wie sehr sie sich angekettet fühlte, wie sehr sie sich mit Arbeit überhäufte, die sie nicht mehr

erfreuen konnte (zugleich lehnte sie aber die Hilfe anderer Familienmitglieder ab). Selbst umriß sie die Zeit vor ihrem »Nach-laßeulen-Amt« mit »als ich noch lebte.«

Signe von Scanzoni zeigt, daß Erika Mann sehr wohl geplant hatte, aus dem »Familiengefängnis« auszubrechen. Im Jahr vor ihrem Tode trafen sie sich häu-figer zu »Höhlenexpeditionen«, wie sie ihre gemeinsamen Aufenthalte in Hotels nannten, als Vorbereitung zur Loslösung Erika Manns aus ihrer häuslichen Situati-on. Auch ein gemeinsames Haus in Klo-sters hatten sie bereits gefunden, das sie »Niemandsland« nannten: »Fluchtziel für Dich und neue Heimstätte für mich.« Wie Erika Mann sagte: »Wir wollen zusammen noch was hinbringen!«

Durch ihre Krankheit kam es nicht mehr zum geplanten Zusammenleben. Die gleichzeitige Nähe und Distanz lassen die-sen langen Abschiedsbrief zu einem lie-bevoll geschriebenen Porträt Erika Manns werden, das ihre Stärken aufzeigt, wie auch Signe von Scanzonis Faszination für deren »unbedingtes Passioniertsein«, das aber auch vor Kritik nicht Halt macht. Sie thematisiert auch Manns jahrzehntelangen schrittweisen Selbstmord mit Tabletten und Alkohol, ohne jedoch ihr Verhalten zu be-werten. Reflexionen über die andere gehen in Überlegungen über das eigene Leben über. Ein überaus lesenswertes Buch, das durch seine Vielschichtigkeit fesselt.

Signe von Scanzoni: Als ich noch lebte. Ein Bericht über Erika Mann. Heraus-gegeben und mit einem Nachwort versehen von Irmela von der Lühe, Wall-stein-Verlag, Göttingen 2010, 243 Seiten, 22 Euro

Der Traum vom »Niemandsland«Die letzten Jahre Erika Manns, geschildert aus der Sicht ihrer Lebensgefährtin Signe von Scanzoni. Von Doris Hermanns

Leipziger Buchmesse, 17.–20. März 2011Halle 5, Stand A 221www.dietzberlin.de

16:00 Uhr | Die Bühne Halle 5, Stand A 300Stefan Schmalz, Matthias EbenauAuf dem Sprung – Brasilien, Indien und China Zur gesellschaftlichen Transformation in der KriseModeration: Mario Candeias

14:30 Uhr | Die Bühne, Halle 5Stand A 300Helmut SeidelVon Francis Bacon bis Jean-Jaques RousseauVorlesungen zur Geschichte der Philosophie Jutta Seidel und Jörn Schütrumpf stellen den Titel vor.

12:00 Uhr | Die Bühne, Halle 5 Stand A 300Roland Claus, Esther Lehnert, Yves Müller»Was ein rechter Mann ist …« Männlichkeiten im Rechts extremismus

16:00 Uhr | Die Bühne, Halle 5Stand A 300Matthias KraußHoch über Sumpf und Sand – Zwanzig Jahre Neu-BrandenburgModeration: Jörn Schütrumpf

15:00–15:30 Uhr | Sachbuchforum, Halle 5Stand A 210Wolf-Dieter Vogel, Teresa Sanchez Bravo, Lourdes M. S. OteraAbenteuer DDR. Wie Kubanerinnen und Kubaner die DDR und die Wende erlebtenModeration: Verona Wunderlich

10:30–11:00 Uhr | Sachbuchforum Halle 5 Stand A 210

16:00 Uhr | Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e. V. Harkortstraße 10, 04107 LeipzigGerhard EngelDer Kopf der Bremer Links radikalen: Johann KniefModeration: Jörn Schütrumpf | Klaus Kinner

10:00 Uhr | Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e. V. Harkortstraße 10, 04107 LeipzigWolf-Dieter Vogel, Teresa Sanchez Bravo, Lourdes M. S. OteraAbenteuer DDR. Wie Kubanerinnen und Kubaner die DDR und die Wende erlebtenModeration: Verona Wunderlich

17. März 2011

18. März 2011

19. März 2011

20. März 2011

CARMINATI/TRADARDI

BDS Vorwort von Abraham Melzer(Judische Stimme fur gerechten Frieden in Nahost e.V.)

Broschiert - ISBN 978-3-88975-133-1

8,00 €

PALÄSTINA DIE TRAGÖDIE EINES VOLKES

Gewaltloser Kampfgegen Israel-Apartheid

mit Beiträgen bedeutenderisraelischer bzw. palestinensischer

Historiker und Politologen.Dazu viele Bilddokumente.

Leinen/bebildert, Format 33x24,5 cm,ca. 200 Seiten - ISBN: 978-3-88975-156-0

Best.-Nr. 14306 35,00 €

Leipziger Str. 24 60487 Frankfurt / M Tel. (069) 77 92 23Fax (069) 77 30 [email protected]

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junge Welt Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 1 3l i t e r a t u r

Warum soll sich ein Besucher aus Kenia mit einem ver-rückten bayerischen König auseinandersetzen? So for-

muliert Johannes Erichsen, der Präsident der Bayerischen Schlösserverwaltung, sein berufliches Marketing- Grundproblem. Da-zu gehört die Frage, ob man den Versuch starten soll, die Ludwig-II-Schlösser Neu-schwanstein, Linderhof und Herrenchiem-see auf die UNESCO-Liste des Weltkultur-erbes zu hieven.

Vor 125 Jahren, am 13. Juni 1886, kam der »Märchenkönig« Ludwig II. (geb. 1845) im Starnberger See ums Leben. Das ist äuße-rer Anlaß für das Erscheinen einer neuen Kurzbiographie von Hermann Rumschöttel sowie der groß angelegten, in zweiter Auf-lage gründlich durchgesehenen Studie von Heinz Häfner, »Ein König wird beseitigt«. Man darf die Frage von Herrn Erichsen getrost aufgreifen und abwandeln: warum sollen heutige, noch dazu linke Leserin-nen und Leser sich mit einem Monarchen des 19. Jahrhunderts beschäftigen, dessen politisches Programm ganz klar ein neo-absolutistisches war, der sogar sein Herr-schaftsgebiet Bayern an die Preußen (!) verkaufen wollte, um auf einem sonnigen Inselstaat – den Kanaren oder Zypern – ein Traumkönigreich zu errichten, wo ihm kein Volk, aber vor allem keine Ministerialbüro-kratie hätte reinregieren können?

So ganz stringent, norddeutsch-zielge-richtet kann die Antwort nicht ausfallen; Häfner jedenfalls weist überzeugend nach, daß der König keineswegs wahnsinnig war. Und das ist insofern bemerkenswert, als der »Chef des Hauses Wittelsbach« (ja, sowas gibt es) ihm und seinen Mitarbeitern die Nutzung des Geheimen Hausarchivs der Familie nur unter der Auflage eines »um-fassenden Publikationsverbots zur Frage der politischen Geschichte im Zusammen-hang mit der Entmündigung Ludwigs II.« gestatten wollte. Es würden ausschließlich Archivalien vorgelegt, die sich auf den Gei-steszustand von König Ludwig II. bezögen. Archivalien, die das politische Entmündi-gungsverfahren beträfen, seien hingegen nicht Gegenstand der Benutzungserlaub-nis. In einem Anhang bietet Häfner dann eine kurze Auflistung von Dokumenten, die vorhanden sein müßten, deren Vorlage aber mit der wenig inspirierten Begründung (»Verbleib unklar«, »verschollen«) verwei-gert wurde.

Für dieses spätabsolutistische Vorgehen des Hauses Wittelsbach gibt es nachvoll-ziehbare Gründe. Ludwig soll der moderne Mythos bleiben, der er ist: der romantische, bildhübsche, an die zwei Meter große Jüng-ling auf dem Thron; der Wagner-Förderer, Neuschwanstein-Bauer und politische Traumtänzer; der von den Alpenbauern ge-liebte »Kini«, der mit dem Märchenschlitten auf verschneiten Paßtraßen einherfährt; und schließlich der - leider, leider – nicht mehr regierungsfähige, an der bösen Welt (und an Bismarck, der ihm seine Souveränität nimmt) wahnsinnig werdende Mensch, der die Regierungsgeschäfte seinem guten On-kel Luitpold überträgt, welcher dann der in Bayern immer noch verklärten sogenannten »Prinzregentenzeit« den Namen gab, die be-kanntlich ihr faktisches Ende mit der Münch-

ner Räterepublik fand, also einem Volksauf-stand gegen ein repressives Regime.

Ach ja, ein wenig den Buben zugetan war er auch noch, der Ludwig, aber halt eher so – wie sagt man? – genau: platonisch.

Bernhard von Gudden, jener Arzt, der Ludwig für verrückt erklärte, ohne ihn je untersucht zu haben, wußte es besser: »Es ist besser für den König, als geisteskrank tituliert zu werden, da man ihn für einen der perversesten Menschen halten müsse.« Ludwig II. war schwul und das in einem sehr handfesten Sinne: »Lieber Karl [Hes-selschwerdt, Vertrauter und Stallmeister des Königs]! Lasse dir nochmals den Ku-nis [Penis] wie er bei jenem Menschen in Nizza war, explizieren u. schicke mir denselben aufgezeichnet. Verbrenne dieses Blatt – Ludwig.« Das ist, wie mit vielen

dieser Billetts, nicht geschehen. Mit zuneh-mendem Alter – mit 41 war er tot – wurde Ludwig sich seiner sexuellen Orientierung bewußt und ließ in ganz Europa nach männ-lichen Prostituierten forschen; ob ihm an-dere Möglichkeiten offengestanden hätten, sich sexuell zu verwirklichen, darf bezwei-felt werden. Sein zunehmender, schließ-lich totaler Rückzug aus der Öffentlichkeit erklärt sich jedenfalls damit hinreichend. Außerdem war er in seinen letzten Jahren durchaus nicht gut anzusehen, er hatte stark zugenommen und alle Zähne verloren.

Ludwig war aber nicht nur schwul, er war ein schwuler Herrscher, der immer noch über dem Gesetz stand. Philipp Fürst zu Eulenburg, der später selbst zum Opfer eines Skandals wegen homo sexueller Be-ziehungen im Berlin Wilhelms II. wurde, schreibt 1885 nach Preußen: »Es ist Ihnen bekannt, daß König Ludwig neuerdings in seiner Zuneigung zu dem jüngeren Stall-personal sehr energisch geworden ist … Ich fürchte eine unglückliche Konstellation von nicht deckbaren Schulden mit einem öf-fentlichen Skandale zur Bockbierzeit von besoffenen ›Lustbuben zu Pferde‹«. Und so kam es dann eben auch. Aber bis zum Schluß war Ludwig völlig klar und bearbei-tete Akten – das sah auch kein geringerer als Bismarck so, der Ludwig entgegen aller Verschwörungsmythen durchaus zugetan war: Bismarck hatte viel übrig für Abso-lutismen. Mit den »Lustbuben zu Pferde« sind die »Chevauxlegers« gemeint, also Soldaten der leichten Kavallerie, die in die Traumschlösser abkommandiert wurden. Ludwig II. war – so der heutige Diskurs – ein voll verantwortlicher Täter, der junge, abhängige Männer mißbrauchte.

Wer ein realistisches Bild von Person und Epoche haben will, muß Häfners Studie lesen – und kann sich dann Rumschöttels sachkundige, aber betuliche Kurzgeschich-te sparen. Als Leser wird man nicht umhin kommen, an die Fälle Walter Sedlmayer und Rudolph Moshammer zu denken; und daß deutsche Gerichtsmediziner den RAF-Leuten Ulrike Meinhof, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin und Andreas Baader die Gehirne entnahmen, weil gewaltsamer Wi-derstand gegen deutsche Verhältnisse ja dann doch irgendwie krankhaft sein muß – daran darf man sich ebenfalls erinnern. Es sei denn, man wollte, ob einer solchen As-soziation, auch den Autor dieser Rezension für geistig umnachtet erklären.

Lustbuben zu PferdeNicht verrückt, nur schwul: Zwei Bücher zum 125. Todestag Ludwigs II. von Bayern. Von Ambros Waibel

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Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 junge Welt 1 4 l i t e r a t u r

Am Ende des Interviews stellt Ulf Drechsel, selbst Musi-kredakteur, seinem Vater Karlheinz Drechsel zwei

Fragen, deren Antworten höchst cha-rakteristisch für den ganzen Band »Zwi-schen den Strömungen. Mein Leben mit dem Jazz« sind: »Gibt es Platten, die du immer wieder hören kannst? – Ja, unbedingt. Charlie Parker zum Beispiel, Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre. Das ›Toronto Concert‹ mit Dizzy Gil-lespie (…) frühe Aufnahmen vom Os-car Peterson Trio (…) Louis Armstrong kann ich mir natürlich immer wieder anhören. Nicht unbedingt mit »Hello Dolly«, aber mit seinen historischen Meilenstein-Aufnahmen. (...)« Und die zweite Frage: »Gibt es eine Schallplatte, hinter der du ewig her warst und über die du dich deshalb ganz besonders gefreut hast, als du sie nach ewigem Suchen endlich in den Händen gehalten hast?« Ja, es gibt sie: »... eine Aufnahme mit dem Pianisten Erroll Garner gemein-sam mit Woody Herman, der ausschließ-lich singt, nur die beiden.« Die Platte war nie in Westeuropa erschienen, aber 1994 fand Drechsel sie mit zerlöchertem Cover und zerkratzt in einem Second-handladen in New Orleans. Sein Kom-mentar: »Das sind zwar alles ziemlich sentimentale Songs, ›Midnight-Songs‹, aber trotzdem wunderbar. Am wichtig-sten für mich ist in diesem Fall meine Geschichte mit dieser LP.«

So, möchte man sagen, ist der »Dr. Jazz«, der Drechsel in der DDR war: Ein wandelndes Lexikon der Jazzgeschichte, ein präzise, freundlich und stets bis zur Vollständigkeit antwortender Gesprächs-partner, ein Platten und Faktensammler, der für eine seltene Aufnahme bereit ist, auch an den Rand der Legalität zu gehen, ein Raritätenhorter, der den Mainstream nicht verachtet, ein Fex, der fast unab-hängig von Zeitläufen, Wetter und – wie andeutungsweise zu erfahren ist – auch von Familie nur einem folgt: Jazz. Man sieht den Protagonisten, den Rundfunk-regisseur, der Jazz zumeist »nebenberuf-lich« betreibt, mit diesem Willen, alles zu wissen, gleichsam die Welt durchbohren. All das ohne Sammelwut, ohne Krampf – Gelassenheit aus Souveränität. Drechsel

wurde 1930 in Dresden geboren, und die Swingplattensammlung seines Bruders wird sein Grunderlebnis. Er übersteht es unbeschadet, als er mit 13 Jahren Kost-proben in der Schule vorspielt und die Nazis in gefährliche Aufregung versetzt. Er erlebt die große Zeit des Swing, die es auch in der Sowjetischen Besatzungszo-ne gab, wird 1952 als Rundfunkassistent entlassen, weil – wie er nach 1990 er-fährt – der Spionage verdächtig. Er macht das ganze Hin und Her mit, das es in der

DDR in den 50er Jahren zum Jazz gab, bis er seine große Jazzsendung im DDR-Rundfunk gestaltet – 30 Jahre lang. Er wird Jazz-Moderator, was hieß: Weder Ansager noch Conferencier, sondern einer, der die Verbindung zwischen den Musikern und ihrem Publikum herstellt, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Der beide – Band-mitglieder wie Zuhörer – durch sein knapp dargebotenes Wissen über jeden einzelnen auf der Bühne in den Bann zog. Als er 1965 Louis Armstrong und die All Stars durch

die DDR begleitet, ernennt ihn die Frau des Weltstars, Lucille, voller Begeiste-rung zum »finest Master of Ceremonies«. Noch zwei Jahre später erinnert sich Arm-strong in einem hier abgedruckten Brief an Drechsel dieses Talents, das im US-Showbusineß nicht vorkommt. Na klar, in einem Buch wie diesem gibt es viele Namen, ungezählte Anekdoten – das muß sein, vor allem aber liefert es die Auskunft: Jazzmoderatoren gab es wohl nur in der DDR. Und dieser ist ein ganz großer.

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junge Welt Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 1 5l i t e r a t u r

In der Anleitung zum ultimativen Berlin-Roman empfiehlt Harald Schmidt »einen gereizten Mono-log über Gott und die Welt, …

denn hier läßt sich alles unterbringen, was man als ökologisch interessierter Katholik im taumelnden Kapitalismus über die Jahre so alles zusammengele-sen hat«. Als jemand, der im Hauptberuf Verleger ist, weiß ich, daß manchmal ganze Bücher aus diesem gereizten Mo-nolog bestehen, den der Autor in spe mit einem Lektor »diskutieren« und »durcharbeiten« will. Das Buch wen-det sich dabei nicht nur an »kritische Intellektuelle«, die »beißenden Humor« lieben, sondern auch an »eine breitere Bevölkerungsschicht«, die aber schon ziemlich breit sein müßte, um zu diesem Roman zu greifen. Für den definitiven Berlin-Mitte-Roman hat Harald Schmidt ein feines Gespür, denn Harald Schmidt wäre nicht Harald Schmidt, wenn er nicht das genaue Gegenteil des Romans entwirft, der Erfolg verspricht, und in dem die Figuren Dirk, Sarah, Andreas und Doro heißen, was allein schon ein verläßlicher Abschreckungsfaktor ist. In dem Moment jedoch, wo Schmidt seine Idee ausgereizt hat, hört er dankens-werterweise auch wieder auf und wirft schnell noch ein schönes Bonmot hin, das mit allem nichts zu tun hat, aber ja mal erwähnt werden kann: »Betrachte abwechselnd meinen Penis und den neu-en Roman von Martin Mosebach. Auf beides habe ich mich den ganzen Tag gefreut.«

Diese Anleitung zum Berlin-Roman ist der einzige Originalbeitrag in einer Sammlung von Focus-Kolumnen, die in regelmäßigen Abständen als Buch erscheinen, aber weil ich niemanden kenne, der das von einem Mops her-ausgegebene »Nachrichtenmagazin oh-ne Nachrichten« liest, ist diese Glos-sensammlung mit dem Titel »Fleischlos schwanger mit Pilates« sehr erfreulich, denn hier könnten die Abertausende von Autoren, die langatmige Abhandlungen über heiße Eisen verfassen, die unter den Fingernägeln brennen, und dabei vor Begeisterung über sich selbst ganz hingerissen sind, lernen, wie man sich kurz faßt und eine Idee nicht zu Tode reitet.

Vor allem aber mag ich Harald Schmidt, weil er die gleichen Vorur-teile hat wie ich, die natürlich keine Vorurteile sind, sondern selbstverständ-lich begründete Aversionen – da bin ich ganz wie der moderne Zeitungsleser, der eine Zeitung nur liest, weil er in ihr sein Weltbild bestätigt bekommen will und andernfalls mit Abokündigung droht. Schmidt macht sich lustig über die »Basics« der deutschen Frau, die nach ihrer ersten Niederkunft »Bequem-treter, Anorak und Fahrradhelm« trägt, über den modernen Vater als »Protago-nisten der Generation Umhängetasche/Rucksack«, für den »eine vierspurige Stadtautobahn für das Rad mit Kin-deranhänger gerade breit genug ist«, und über die Tatsache, daß »bei fast jedem Kind heute Hochbegabung oder das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) diagnostiziert wird«. Und da hat Schmidt nun mal recht. Ich muß es wis-sen, denn ich sitze mittendrin in einem Viertel, wo diese Beobachtungen täglich bestätigt werden und man mit Leuten zu tun hat, die sich fürchterlich über den Verlust ihres häßlichen Rollkoffers im letzten Urlaub aufregen. Aber wie

Harald Schmidt so schön hämisch fragt: »Was wird schon drin gewesen sein? Crocs, Trekkingsandalen, bedruckte T-Shirts, Fleece-Jacken, Piratenhosen, Halbarmhemden und weitere unzählige und potthäßliche Outdoor-Klamotten. Alles Dinge, deren Verschwinden unse-re Umwelt schöner machen.«

Sollte jetzt jemand denken, och ist doch bloß das übliche wertkonservative Linken- und Alternativenbashing, dann wird der für Fragen des Stils unemp-findliche Leser Schmidt zumindest für seinen Spott auf »Stuttgart 21« schät-zen müssen, denn Schmidt preist die 28 Minuten, die der Zug künftig von Stuttgart nach Ulm braucht, als gerade-zu »traumhaft«, denn »in Stuttgart leben und in Ulm arbeiten – viele junge, hoch qualifizierte Paare sehen darin eines der vordringlichsten Ziele«. Und Schmidt läßt auch keinen Zweifel daran aufkom-men, wie es um Deutschland bestellt ist, wenn bei einem wie zu Guttenberg »junge Frauen in Großstädten nichts als Glückshormone ausschütten« und sich die »Mehrheit der Deutschen ausgerech-net in der Krise von einem finanziell unabhängigen Adligen bestens repräsen-tiert sieht«. Trotz dieser deprimierenden Anzeichen gibt Schmidt nicht auf und entwirft ganz im Sinne großer Aufklärer »15 Warnzeichen«, an denen sich merken läßt, daß man an sich noch arbeiten muß, z.B. wenn man Richard David Precht für einen Philosophen hält.

Von solchen Stellen gibt es jede Men-ge, so daß man sie sich leider gar nicht alle merken kann. Schmidts schönste Anmerkung aber ist ihm zu Franz Jo-sef Wagner gelungen. Die steht nicht in dem Buch, aber damals dachte ich, not bad! Dafür kann man auch mal in Bild schreiben. Dort nämlich verfaß-te Schmidt »Post an Wagner« statt der »Post von Wagner«, weil der mit einem Bandscheibenvorfall im Krankenhaus

lag. Schmidt übermittelte Wagner auf selten hinterhältige Weise Glückwün-sche zum 60. Geburtstag und schrieb: »Manch einer wünscht sich für seinen Sechzigsten vielleicht einen festliche-ren Rahmen. Aber Bettpfanne, Tropf und Schnabeltasse können Zeichen des Himmels sein … Mit operierter Band-scheibe wird sich Ihr Sexleben ändern müssen. Ich wünsche Ihnen heilende Hände.« Selten wurde jemandem an der genau richtigen Stelle zu verstehen ge-geben, was für ein Volltrottel er ist, aber das auf so charmante und nonchalante, aber auch hinterhältige Art, die wehr-los macht. Schmidt ist auf wunderbare Weise gemein, und diese Gemeinheit ist genau das richtige Gegengift für die Zu-mutungen des Lebens. Harald Schmidts Kolumnen sind wie ein Martini bianco auf Eis, der vor dem Essen angenehm die Kehle hinabrollt.

Harald Schmidt: Fleisch-los schwanger mit Pila-tes. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2011, 224 Seiten, 8,95 Euro

Gereizte MonologeHarald Schmidts Kolumnen führen zur Ausschüttung von Glückshormonen. Von Klaus Bittermann

Donnerstag, 17. März 2011:

▶ Laura Göbelsmann: „Jenseits des Grüns. Cornwall und seine industrielle Vergangenheit“ um 14.30, Forum Halle 3 („buch aktuell“) Stand E 405

Freitag, 18. März 2011:

▶ Germinal Civikov: „Der Milosevic-Prozess“: um 10.30, Die Bühne, Halle 5, Stand A 300

▶ Barbara Eder und Felix Wemheuer: „Die Linke und der Sex“: um 11.15, Wiener Ka� eehaus, Halle 4, Stand D21

▶ Hannes Hofbauer: „Experiment Kosovo“: um 12.30, Die Bühne, Halle 5, Stand A 300

▶ Germinal Civikov: „Srebrenica. Der Kronzeuge“: um 14.30, Die Bühne, Halle 5, Stand A 300

Sonntag, 20. März 2011

▶ Germinal Civikov, Cathrin Schütz und Hannes Hofbauer: Veranstaltung: „Zielscheibe Serbien“: um 13.45, Forum International, Halle 4

auf der Leipziger Buchmesse 2011:

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»La terreur est hu-maine / Der Schrecken ist menschlich«

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Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 junge Welt 1 6 l i t e r a t u r

In Deutschland wurde Michael Cun-ningham mit »The Hours« als Vir-tuose sich verquickender Ebenen und Zeiten bekannt. Seine Erzäh-

lungen sind verankert in literarischen Bezügen und divergierenden Epochen. In »Specimen Days« war Walt Whitman die Referenzadresse, in »The Hours« Vir-ginia Woolf. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, die handelnden Personen in einem explizit kulturgesättigten Mi-lieu wirken zu lassen, auch wenn dieses immer wieder aufschimmert als Verspre-chen einer Welt, in der das Individuum zu sich selbst findet. Die literarischen Figuren aus anderen Zeiten sind Paten, zuweilen bilden sie das Leitmotiv, in jedem Fall geben sie dem Dasein von Cunninghams Protagonisten Sinn und Struktur.

»In die Nacht hinein«, Cunninghams jüngstem, in deutscher Übersetzung er-schienenen Roman, beginnt in der un-mittelbaren Gegenwart und spielt in New York City. Rebecca und Peter sind ein finanziell saturiertes Ehepaar in mittle-ren Jahren. Sie sind seit über zwei Jahr-zehnten verheiratet, arbeiten beide im Kulturbetrieb und leben in einer dieser begehrten Wohnungen in SoHo Manhat-tan. Sie sind schön, sie sind gebildet, sie sind gut angezogen und haben die richtigen Freunde. Alles hat einen fei-nen, sensiblen, zuweilen hypersensiblen Anschein in einem soliden Umfeld, und doch ist alles, wie man nach und nach erfährt, in der Krise. Die Krise droht im Lauf des Romans zur Katastrophe zu werden. Der Katalysator, der Rebecca und Peter an den Abgrund treibt und für kurze Zeit den Verdacht erweckt, ihre Ehe in tausend Stücke explodieren zu lassen, ist Rebeccas sehr viel jüngerer Bruder Ethan, genannt Missy. Missy kommt von Mißgeschick. Mit seinem Auftauchen beginnt eine Reise in die Vergangenheit, zurück in Rebeccas El-ternhaus, das Vorleben der Gegenwart, das Unbewußte der Sippe, das schlechte Gewissen der ehemals beteiligten Per-sonen. Ethan ist der begabte, charisma-tische Nachzügler in der Familie. Das Mißgeschick passierte, als seine Mutter ungewollt mit ihm schwanger wurde. Das frühbegabte Kind ist ebenso reizend wie überflüssig, es wird nebenbei mehr von den Geschwistern als von den be-reits zu alten Eltern erzogen und entwik-kelt im Lauf seiner späteren Jugend ein ausgewachsenes Drogenproblem. Missy scheint das Leben nicht ernst zu nehmen. Zudem weiß er nicht, was er will und wozu er auf der Welt ist. So strandet er scheinbar hilflos bei einer seiner älteren Schwestern. Rebecca will ihn auf die richtige Spur bringen und bittet Peter, ihr dabei behilflich zu sein. Peter ist nicht erfreut über den Gast, der sein Sohn sein

könnte und ungefähr das Alter von Bea hat, seiner und Rebeccas Tochter. Um so erstaunter ist er, als er schon nach we-nigen Tagen Ethans Charme erliegt, der ihn auch deswegen so anspringt, weil ihn Ethan an die junge Rebecca, die Jugend der Liebe, den Anfang beider Ehe erin-nert. Abgesehen davon aber ist Ethan bei weitem nicht so hilflos wie er scheint … Ab hier nimmt der Roman einen verblüf-fenden Verlauf. Ein Katz- und Mausspiel beginnt, dessen Verlierer Peter ist. Als

man das Ende fast greifen zu können glaubt, ändert sich im letzten Augenblick noch einmal die gesamte Situation und konfrontiert den Leser mit einem ver-blüffenden Ergebnis.

Es gibt bestimmte Topoi – die famili-ären Konstellationen, die Schwierigkei-ten mit den Kindern, die Selbstzweifel der Eltern, das Unglück der mittleren Jahre – die Cunninghams Roman mit dem zeit-gleich erschienenen Epos von Jonathan Franzen verbinden. Der Blick auf die Familie mag erstaunen in einer Zeit, wel-che die konventionellen Verbindungen schon für tot erklärt hat. Vor allem in der Schwäche der Eltern gegenüber ihrem Nachwuchs sind die Romane verwandt. Während eines nächtlichen Spaziergangs durch Manhattan telefoniert Peter mit seiner Tochter Bea. Durch die Verquik-kung des Dialogs mit der Beschreibung der nächtlichen Straßen wird der Leser

Zeuge von Peters Verwurzelung in der Stadt und seiner Entwurzelung als Vater. Manhattan wirkt in Peters Wahrnehmung eigentümlich vergangen, eine Stadt, die alt geworden ist. Die Assoziation zu Mel-villes traurigem Helden Ahab aus Mo-by Dick schiebt sich in seine Visionen wie der Ansatz eines Traums. So sind es nicht nur die einfachen Vergangenhei-ten, die in diesem wie anderen Romanen Cunninghams zugegen sind. Auch die Scheinwelt, der Spiegel, die Wunderlän-

der, geschaffen von anderen Stimmen, summen als Referenzpunkte eines Koor-dinatensystems mit, ohne die das gegen-wärtige Personal straucheln würde.

Bis zum Schluß wird nicht deutlich, was den liebevoll agierenden, mitunter eigentümlich unsicheren, fast verzweifel-ten Peter, der gegen die Gnadenlosigkeit seines Kindes keine Chance hat, als Vater hat versagen lassen. Bea verweigert sich nicht nur dem elterlichen Rat. Sie verwei-gert sich der finanziellen Unterstützung, der Bildung, der ästhetischen Perfektion und vor allem dem so begehrten, kultu-rell geprägten Lebensstil. »Ach, Bea, du verlorenes Mädchen, nichs als Feindse-ligkeit und abgekaute Nägel … Deine Eltern sind schlank und attraktiv, und du bist es aufgrund eines genetischen Streiches nicht.« Die Jungen, egal ob Kinder oder späte Geschwister, sind das, womit die Älteren nicht gerechnet haben.

Sie sind der häßliche Riß im eigenen Leben. Ethans Verhalten hebt Peter aus seiner Verankerung, schleudert ihn in Phantasien, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Der innere Kompaß zeigt plötzlich eine Richtung an, von der Peter bis dahin noch gar nicht wußte, daß sie für ihn existierte. Der einsame Konflikt der Figur und seine perfide Lösung sind überraschend, spannend, faszinierend – und seien deswegen hier nicht erzählt, ebenso wenig wie das Ende.

Der Präsenz, in dem »In die Nacht hinein« erzählt ist, verleiht dem Gesche-hen die Unaufhaltsamkeit fortschreiten-der Bilder, eher an einen Film erinnernd als an einen Roman. Einmal ist von der »Dringlichkeit des Vergänglichen« die Rede, als sei der Leser Zeuge einer un-mittelbaren Handlung, die er nicht auf-halten kann.

Seiner erstaunlichen Wende zum Trotz aber bleibt der Roman ein wenig im Be-langlosen haften. Es scheint um nichts mehr zu gehen und die Geschichte weckt den Verdacht, daß nicht nur ihre Protago-nisten resigniert haben, sondern auch der Autor. Die Erzählung bleibt jenseits ihres dramatischen Konflikts in einer merk-würdigen Schwebe. Die Figuren wirken mitunter blaß, von der Handlung über-fallen. Ihnen fehlt die Courage und Ei-gensinnigkeit, die das Personal aus »The Hours« besonders machte.

Rebecca und Peter stehen für kurze Zeit am Abgrund. Beide haben etwas gesehen, das sie tief verunsichert hat: Re-becca die Möglichkeit eines neuen, ande-ren Lebens, Peter die der Homosexuali-tät. Der Abgrund, den Cunningham dem Leser eröffnet, ist auch eine neue Spur. Für den Bruchteil eines Augenblicks scheint sie verführerisch. In diesem Mo-ment zeigt der Roman Stärke, ist doch genau die Erkenntnis der Schatten das, was wir brauchen, um uns unserer selbst gewahr zu werden. Aber die Erkenntnis flackert nur kurz und verlischt. Sie bleibt ohne Konsequenz, eine Fopperei, ein Alptraum, eine verwirrende Weggabe-lung. Es scheint, als hätten Rebecca und Peter Angst vor ihrer eigenen Courage. Ist es das, was ihnen die nächste Genera-tion, Bea und Ethan, heimlich verübeln? Fehlt ihnen vor den Älteren der Respekt, weil sie als Kinder hinter deren Selbst-betrug, der in einem allzu angenehmen Leben lauern kann, gekommen sind?

Das MißgeschickMichael Cunninghams Roman über eine Krise, die sich zur Katastrophe auszuwachsen droht. Von Barbara Bongartz

Michael Cunningham: In die Nacht hinein. Aus dem Amerikanischen von Georg Schmidt. Luchterhand Verlag. 19,99 Euro

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Allem Gerede vom Verstummen der engagier-ten Literatur zum Trotz: Schriftsteller/innen mischen sich ein. Sie thematisieren Probleme und Missstände, die tabuisiert werden und in den großen Medien oft zu kurz kommen. Gespräche mit D. Dath, R. Zelik, J. Zeh, I. Trojanow, R. Menasse, E. Schöfer, M. Wil-denhain, J. Todenhöfer, W. Kaminer, Biermösl Blosn, Chr. Lehmann, M. Mäde u. v. a.

Über der Türkei explodiert ein Flugzeug voller Waffen. In Paris wird eine Frauenleiche auf einem verlassenen Parkplatz abgeladen. Zwischen beiden Ereignissen liegen viele tausend Kilometer, und doch … Präsiden-tenberater François Bornand versucht eine Staats krise zu verhindern und schickt seinen Mann fürs Grobe ins Rennen. Mord und Verrat häufen sich – im Namen der Staatsräson? Bei ihrer Ermittlung kommt Polizistin Noria Ghozali der Sphäre der Macht gefährlich nahe.

»Wenn ein Axolotl auf eine Malefi zkröte trifft: Eine scharf beobachtete Literaturbetriebssatire mit-samt Kriminalfall – Showdown Frankfurter Buch-messe.« Sylvia Staude, Frankfurter Rundschau

»Vergnügen pur: Lehmann ironisiert auf sehr hohem Niveau, selbstrefl exiv und romanimma-nent die Spielregeln und Gesetze des Literatur-betriebs. « Stefan Schweizer, literaturkritik.de

Deutscher Krimi Preis 2011 für Dominique Manottis Wirt-schaftsthriller Letzte Schicht (Platz 3 International)

»Der mit großem Abstand beste politische Krimi des Jahres … absolut nobelpreis-würdig … weltweit derzeit einzigartig … So etwas Intensives habe ich lange nicht gelesen.« Deutschlandfunk, Denis Schecks Büchermarkt

»Ein Betriebsunfall, eine Fabrikbeset-zung. Arbeiter geraten an Material, das die Fusion zweier Wirtschaftsgiganten beein-fl ussen und die Regierung stürzen könnte. Manotti ist eine Klasse für sich: lebens-nah, realistisch, vertrackt. Der Krieg der Konzerne in den kleinen Städten. Solitär.« arte / KrimiWelt Jahresbestenliste 2010

»Sezierend kühl, von fast dokumentari-scher Präzision. Manottis handwerkliche Finesse setzt diesem komplexen, intelli-genten und hochspannenden Thriller die Krone auf.« Horst Eckert, Focus.online

»In einer Zeit, da das Wetter vom Smalltalk in die internationale Politik aufgestiegen ist, gelingt dem AutorInnen-Duo Bohnet-Pleit-gen genau diese Balance zwischen Leich-tigkeit und Schwere: Kein Durchkommen ist abwechslungsreich, intelligent und voller Sprachwitz – kurz, ein guter Krimi, der weit über den Tellerrand des Verbrechens hinaus-schaut. « Aviva-Tipp, Aviva-Berlin.de

Die spannendste Lektüre ist politisch – Argument Verlag mit AriadneANZEIGE

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junge Welt Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 1 7l i t e r a t u r

Der große Verweigerer des Li-teraturbetriebs, dessen Werk trotz aller Generalrenitenz na-hezu vollständig im Deutschen

Taschenbuch Verlag vorliegt, meldet sich mal wieder eindrucksvoll zu Wort: In sei-nem neuen Buch »Das Geschenk« erzählt Wolf Wondratschek, das selbsternannte »Arschloch der achtziger Jahre«, von einer schweren Midlife Crisis. Der Ich-Erzähler, der in dem für Wondratschek-Verhältnisse vergleichsweise unspektakulär betitelten Buch das Wort führt, ist offenbar identisch mit dem Autor, heißt er doch genauso wie dessen vor Jahrzehnten eingeführtes Alter ego: Chuck.

Dieser Chuck, den die überwiegend älte-ren Leser des Autors noch aus dem Gedicht-band »Chucks Zimmer« (1974) kennen dürften, ist eine angeberische und draufgän-gerische Natur, vom Boxsport begeistert und der Halbwelt zugeneigt. Vor allem aber ringt er um Unabhängigkeit, verleugnet ve-hement die alles dominierende Rolle des Geldes in unserer Gesellschaft, bedient sich aber durchaus der Drogen, geht ihrem trüge-rischen Freiheitsversprechen auf den Leim. Ja, fast scheint es, als würde Wondratschek in »Das Geschenk« mit seiner langjährigen Außenseiterexistenz abrechnen, über die er in seinen zahlreichen Reportagen und Stories, versammelt in »Die weißen Jah-re« (2007), berichtet hat: dieses Leben in Schwabinger Dachkammern, als der Autor sich jeglichem sozialen Aufstieg verweiger-te und irgendwie in existentiellem Streik befand.

Diese Daseinsform, früher häufig Gegen-stand heroischer Überhöhung, wird in »Das Geschenk«, ob nun gewollt oder nicht, als problematisch erkennbar. Vor allem in der Konfrontation mit dem pubertierenden Sohn droht die Lonely-Cowboy-Attitüde lachhaft zu werden. Aber der Reihe nach: Das Buch beginnt zwar mit Szenen zwi-schen Vater und Sohn, die von gegenseiti-gem Unverständnis geprägt sind und auch nicht der Komik entbehren. Der in feinster Prosa geschriebene Text will aber vor allem

ergründen, wie der alternde und offenbar bankrotte Dichter zu diesem Kind gekom-men ist und welche Funktion es heute in

seinem Leben hat.Und so erzählt Chuck, was passieren

mußte, damit er »das Geschenk« der Vater-

schaft empfangen durfte. Daß er ein junges Mädchen, die spätere Mutter seines Kindes, als Ersatz für eine kostspielige Drogen-entziehungskur mißbrauchte, reut ihn nicht allzusehr. Vielmehr bekennt sich Chuck ebenso umständlich wie schwärmerisch zur väterlichen Liebe, die ihn aktuell bewegt. Und nebenbei werden allerlei früher auf-gestellte Theoreme, von der unabhängigen Existenz etwa, die es zu gestalten gelte, ad absurdum geführt.

An einer Stelle räsoniert Chuck zum Beispiel, er habe »ein überschaubar gutes, beneidenswert unkompliziertes Leben« ge-führt. Die Erinnerungen an die Revoluzzer- und Kommunenzeiten sprechen aber eine ganz andere Sprache. Überhaupt erscheint das unbeschwerte Bohèmeleben, das da noch einmal emphatisch beschworen wird, heute in einem anderen Licht: Diese Anein-anderreihung von sinnlosen Räuschen und ernstlichen Depressionen will doch eigent-lich niemand mehr erleben müssen.

Wie Wolf Wondratschek die tiefe Ver-zweiflung schildert, in der er steckte, das Drogenelend und die Rettung daraus, das ist bemerkenswert. Hier erzählt einer, weil es ihm eine psychohygienische Notwendig-keit ist. Nicht das Produkt eines fleißigen Zeitgenossen, der den literarischen Markt mit der üblichen Kriminal- oder Wellness-Literatur für das überwiegend weibliche Publikum beliefert, erwartet den Leser. Die Sätze des Wolf Wondratschek sind dem Schmerz abgerungen und lindern ihn viel-leicht. Und diese Wechselwirkung ist ja seit jeher eine gute Grundlage für die Kunst.

Wer nun aber glaubt, der neue Chuck sei zur Gänze domestiziert worden, der sieht sich am Ende des Buches getäuscht. Auch wenn Chuck sich den hochnotpeinlichen ärztlichen Untersuchungen beugen muß, die ein Mann seines Alters gelegentlich über sich ergehen lassen sollte, einschließ-lich der Abgabe eines Dichter-Ejakulats: Dem eigentlichen Herrscher unserer Zeit, dem Geld, gedenkt Wolf »Chuck« Won-dratschek sich anscheinend niemals zu fügen.

Grauer WolfWolf Wondratscheks »Geschenk« an seine Leser. Von Martin Brinkmann

Wolf Wondratschek: Das Geschenk. Carl Han-ser Verlag, München 2011, 176 Seiten, 17,90 Euro

Es bahnte sich an. Einen argwöh-nischen und schicksalsskeptischen Zug hatte Eugene Cantor, genannt

Bucky, immer schon. Aber noch stemmte er sich der Bedrohung entgegen, stark und nicht korrumpierbar. Schließlich war das seine Aufgabe – seine Freunde kämpften in Frankreich gegen die Nazis, er war we-gen seiner außerordentlichen Sehschwä-che dazu verdammt, an der Heimatfront Stellung zu halten. Bei der Army wollte man ihn nicht. Dabei galt er, Bucky Can-tor, 23 Jahre jung, jüdischer Sportlehrer in Weequahic, einem jüdischen Stadtteil von Newark an der US-amerikanischen Ostküste, als überaus sportlich. Sportlich, beliebt und erfolgreich. Er darf während dieses ereignisvollen Sommers 1944 die Kinder der Stadt beaufsichtigen und sport-lich unterrichten, und er macht das gern.

Das mit der Sehschwäche war nicht Buckys einziges Handicap – seine Fami-liengeschichte war auch keine einfache. Die Mutter starb bei seiner Geburt, sein Vater war ein gesuchter und bestrafter Dieb, Bucky wuchs bei seinen Großel-tern auf, einfachen Leuten, die einen Ge-müsehandel betrieben. Gerade auch dank seiner Verlobten Marcia, einer Tochter aus gutem Haus, die in einem Sommercamp irgendwo im Norden jobbte, stand Buk-ky Cantor auf der Sonnenseite und trotz Sehschwäche in der Blüte seines Lebens. Er war jung und er war stark. Da nahte, unsichtbar und unaufhaltsam, die Kata-strophe.

Schon diese kleine Inhaltsangabe – es geht um Philip Roths neuen Roman »Ne-mesis« – klingt wie ein perfektes Szena-rio für einen Katastrophenfilm aus dem Hollywood der alten Schule. Tatsächlich bewegt sich Philip Roths Schreiben immer sehr nahe an Filmbildern, an einer eigenen

Art von Hyperrealismus, aber vielleicht scheint das auch nur so, weil Philip Roth der letzte lebende Vertreter einer besonde-ren Ostküstenschule des amerikanischen Schreibens ist. Schon Bellow, Updike, Cheever, Carver oder Yates haben so ge-schrieben. Es ist ein unsagbar elegantes Erzählen, dabei möglichst unprätentiös und genau; durchaus avantgardistisch ge-schult, aber sublim; und immer gut darin, einen Blick für die Umgebung zu bewah-ren und eine Atmosphäre zu kreieren, die genausoviel von Zeitgeschichte wie von dem besonderen Moment weiß. Hier ist es also Newark im Sommer 1944. Allein, wie Roth das Flirren über den Straßen, kurzum die Atmosphäre einer Stadt im Sommer, wenn die Kinder Schulferien haben, be-schreibt, ist grandios. Daß er das Gesche-hen ins Jahr 1944 versetzt, paßt nur genau.

Aber es nicht so, daß Roth nur Film-vorlagen liefern kann. Er ist auch ein Meister des psychologischen Blicks. Und des Herausschälens eines Wesenszugs, der späterhin verhandelt werden kann und wird. Für »Nemesis«, seinem ge-fühlt achtundfünfzigsten Roman, hat er sich etwas Besonderes einfallen lassen. Natürlich geht es hier um Amerika, wie schon so oft, und nicht um alte Männer und ihr Verhältnis zu Körpern, besonders denen junger Frauen. Obwohl, auf einer übertragenen Ebene geht es darum natür-lich auch.

Was Roth aber vordringlich macht, ist eine Erfindung. Die Erfindung der Ka-tastrophe. Hier erfindet er den Ausbruch einer Polio-Epidemie, die es so nie gege-ben hat. Zwar stimmt, daß erst später ein Impfstoff gegen diese »Kinderlähmung« genannte Viruserkrankung gefunden wer-den konnte, zu spät zum Beispiel auch für Franklin D. Roosevelt, dem prominente-sten Opfer und gleichsam größten Förde-rer der Polio-Forschung. Aber eine Epide-mie, die große Teile der Jugend der Stadt Newark innerhalb kurzer Zeit hinwegrafft, hat es nie gegeben. Zum Glück.

Aber Roth wollte nicht endlich einen Katastrophenroman wie Camus’ »Die Pest« schreiben, er war natürlich auf etwas anderes aus. Auf die Beschreibung eines pflichtbewußten und schicksalsverlieb-ten Mannes, Bucky Cantor, dem besagtes Schicksal eben böse mitspielt. Aber, und das zeigt Roth sehr subtil, sehr gekonnt, und mit einem Perspektivwechsel im drit-ten Kapitel: Das Schicksal kann einem böse mitspielen, aber nur so weit, wie man das zuläßt. Soviel sei verraten: Es hätte alles anders enden können, hätte der Fatalismus nicht irgendwann die Rolle des Schicksals übernommen.

Natürlich ist dieser Roman auch eine Auseinandersetzung mit einer altherge-brachten Idee von »Gott«, und lustiger-weise weiß Roth auch, daß sich inzwi-schen eine Menge Distanz dazwischen-

geschoben hat. Für diese Distanz spricht die (leichte) Perspektivverschiebung, die eigentlich keine ist, da der Erzähler sich lediglich sehr lang hinter dem Erzählten versteckt hielt.

Philip Roth wird dieser Tage 78, und er scheint sich an den Rhythmus zu halten, den schon die Filmemacher Claude Cha-brol und Woody Allen vorgelebt haben. Mit jedem Jahr erscheint mindestens ein neues Werk. Jede alte Idee wird aufge-frischt, jede Ecke ausgeleuchtet, nichts darf mehr auf dem Schreibtisch liegen-bleiben, es eilt, der Tod naht. Es ist sprich-wörtlich ein Arbeiten gegen den Tod. Bei besagten Filmemachern führte und führt es mitunter zu einer Gleichförmigkeit des Stoffs. Das ist bei Roth mitunter vielleicht ähnlich. Der Unterschied ist, daß Roth das Thema Älterwerden, Verfall, die Gren-zen des Körpers immer weiter ausarbeitet, eben so weit, wie es noch geht. Er bindet das Versagen ins System. Er ernährt sein Schreiben von den Fehlern.

Und nebenbei wird das Elegante mit dem Alter scheinbar noch eleganter. Klit-zekleine Fehler macht Roth zwar auch noch (warum er Bucky Cantor einen sehr guten Turmspringer und einen guten Speerwerfer hat sein lassen, wird sein Ge-heimnis bleiben – ganz abgesehen von der Frage, ob Kurzsichtige auf Sprungtürmen überhaupt gut aufgehoben sind). Sonst aber ist und bleibt er mit jedem Buch tatsächlich ein brillanter Erzähler. Einer, der nie langweilt, der Materie, Sprache nie über die Handlung stellt, noch es um-gekehrt hält; einer der tatsächlich etwas übers Leben erzählen kann, auch über das seiner Leser; einer, der Figuren ausleuch-ten kann und real werden läßt. Man nenne einen zweiten, der diese Kunst so meister-haft beherrscht.

Eine alte Idee von GottPhilip Roth hat’s drauf: Auch im hohen Alter liefert der letzte lebende Vertreter der »Ostküstenschule« zuverlässig Qualität. Von René Hamann

Philip Roth: Nemesis. Aus dem Amerikani-schen von Dirk van Gu-steren. Hanser Verlag, München 2011, 224 Sei-ten, 18,90

»S’offrir quand tout se vend / Sich verschenken, wenn alles sich verkauft / sich anbieten, wenn alles verkauft wird.«

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Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 junge Welt 1 8 l i t e r a t u r

Hierzulande ist Ricardo Piglia bislang hauptsächlich als Ro-manautor in Erscheinung getreten. Doch der argentini-

sche Schriftsteller hat vor seinem Debüt »Respiración artifical« (1980, deutsch »Künstliche Atmung« (2002) vor allem Kurzgeschichten verfaßt. Sein Heimatland blickt auf eine lange eigenständige Tradi-tion der kurzen Formen zurück. Macedo-nio Fernández, Jorge L. Borges, Silvina Ocampo und Julio Cortázar haben im 20. Jahrhundert die Möglichkeiten der phan-tastischen Kurzgeschichte ausgelotet. Der 1940 im erweiterten Speckgürtel von Bu-enos Aires geborene Piglia ist in erster Linie ein großer und begeisterter Leser. Neben James Joyce, Robert Musil, Franz Kafka und Jorge Luis Borges hat er auch die Werke des lange Jahre im Schatten ste-henden argentinischen Autors und Spros-ses preußisch-italienischer Einwanderer, Roberto Arlt, genau studiert.

Wie Arlt borgt sich Piglia seine Figu-ren vom Rande der Gesellschaft. Ende der 1960er Jahre befand sich Argentinien im Umbruch, rechtskonservative Militärs hat-ten eine demokratisch gewählte Regierung aus dem Amt geputscht – das einstige Ein-wandererparadies wurde immer mehr zum Ort, von dem aus Menschen in bessere Gefilde aufbrachen. Piglias Pro tagonisten in dem Erzählband »Der Goldschmied« sind Nomaden, kommen aus der Provinz in die Hauptstadt Buenos Aires und su-chen ihr Glück in oft zweifelhaften Un-ternehmungen. Sie sind Kleinkriminelle, Zuhälter und Boxer, Hinterwäldler, Möch-tegerndetektive und Liebeskranke. Es eint sie eine gewisse Abneigung gegen Frau-en – zu oft wurden sie von den zunehmend selbständiger werdenden Argentinierinnen gekränkt. Eine Arlt’sche misogyne Halb-welt erwächst aus den Erzählungen von Piglia – die technische Finesse allerdings stammt von Borges. Nicht eine einzige der Geschichten fängt mit dem Anfang an – wir stolpern in medias res in die Schicksale der scheiternden Protagonisten oder be-kommen gleich das Ende aufgetischt – das wir jedoch erst im Laufe der Erzählung verstehen. Doch Piglia ist nicht nur Leser, sondern auch Universitätsdozent, Litera-turkritiker und öffentlicher Intellektueller. So wundert es nicht, daß er in seinen Er-zählungen zusätzlich »wissenschaftliche« Verfahren mit ins Spiel bringt:

Renzi, das Alter ego des Autors – der in seinem Antidiktaturroman »Künstliche Atmung« wieder auftaucht – wird in »Die Verrückte und die Geschichte des Verbre-

chens« mit einem ungewöhnlichen Fall be-traut. Der Gerichtsreporter ist krank, Ren-zi, der eigentlich Literaturkritiken schreibt, muß einspringen. Ein Animiermädchen wurde tot aufgefunden. Der ermittelnden Polizei scheint der Fall klar, ihr letzter Liebhaber hat sie umgebracht. Alles wird seinen gewohnten Gang gehen. Niemand würde sich in dem autoritären Klima jener Jahre mit den Sicherheitskräften anlegen, auch Renzis Chefredakteur hat längst ei-nen Pakt mit ihnen geschlossen, und den-

noch wird der Literaturkritiker stutzig: Die einzige Zeugin des Verbrechens, eine verrückte Berberin wird nicht müde, die immer gleiche Litanei zu wiederholen. Immer gleich? Renzi erinnert sich an sei-ne linguistischen Studien an der Fakultät und zückt das Aufnahmegerät. Als er im Büro alles fein säuberlich niederschreibt, bemerkt er, daß es Wörter gibt, die sich nicht wiederholen. Er rekonstruiert, was die bekloppte Augenzeugin ihm mitteilen

will und findet den wahren Täter. Daß sein Chef ihn das nicht schreiben läßt, ist nur noch eine Fußnote der Zeit. Renzi tippt sein Kündigungsschreiben und gleich da-nach die Erzählung.

Wiederholung und Variationen sind stän-dige Verfahren von Piglias Geschichten: Wie erzähle ich einen Sachverhalt, wenn es tausend andere Möglichkeiten gibt, ihn zu schildern, fragen sich seine Protago-nisten. Manchmal sind sie an der Grenze gestrandet, zwischen Brasilien und Argen-tinien in der letzten Pianobar, und spüren in »Der Pianist« einer vermeintlichen Dop-pelmörderin hinterher, oder sie führen den Leser vor wie in »Der Goldschmied«. Ein Mann saß jahrelang im Gefängnis, weil er als Soldat Schuld an einem Unfall war. Dieser Makel führte schließlich dazu, daß sich seine Frau von ihm trennt und ihm auch das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter entziehen läßt. Dem Mann, der als Goldschmied arbeitet und inzwischen in Buenos Aires wohnt, gehen die Ereignisse nicht aus dem Kopf. Obsessiv beschließt er, seine Familie im Strandbad Mar del Plata wieder aufzusuchen. Der Leser folgt ihm auf Schritt und Tritt, durch Piglias raffiniertes Spiel der Andeutungen meint er das Geschehen zu antizipieren, sieht schon, wie der Mann den neuen Liebhaber seiner Exfrau und sie selbst im Affekt tötet und die Tochter entführt. Doch es kommt anders, die mitgeführte Waffe wird nicht gezückt und dennoch bleibt das Ende un-gewiß – wie bei so vielen Erzählungen von Piglia in dem von Carsten Regling sorgsam für Wagenbach zusammengestellen Band, die in einem Schwebezustand verharren, der uns die Geschichten des argentinischen Autors wieder und wieder lesen läßt.

Ricardo Piglia: Der Goldschmied. Aus dem Spanischen von Carsten Regling und Sabine Giersberg. Wagenbach Verlag, Berlin 2010, 144 Seiten, 15,90 Euro

Wiederholung und VariationRicardo Piglia ist ein Meister der Kurzgeschichte. Von Timo Berger

Robert Brack hat einen guten Ruf als Autor von Kriminalro-manen, die überwiegend von

seiner Wahlheimat Hamburg handeln. Sein neuestes Werk »Blutsonntag« ist ein Politkrimi, eine direkte Fortsetzung seines letzten Buches »Und das Meer gab seine Toten wieder«. Romanheldin ist die Kommunistin und Journalistin Klara Schindler, die schon im vorhe-rigen Werk als Nebenfigur eine Rolle spielte. Ebenso, wie im ersten Band, liegt der Schwerpunkt auf der Schilde-rung des scheinbar unaufhaltsamen Vor-marsches der Nazis im Jahre 1932 und der Schützenhilfe, die ihnen dabei von seiten staatlicher Stellen und Vertretern der etablierten Parteien zuteil wurde.

Die Romanhandlung ist eher banal: Obwohl die Partei dagegen ist, recher-chiert Klara zu den Ereignissen des »Altonaer Blutsonntages« vom 17. Juli 1932. Der provozierende Aufmarsch der Nazis durch das traditionell kommu-nistische Altona endete mit schweren Auseinandersetzungen zwischen SA-Truppen und protestierenden Arbei-tern, dem Eingreifen der Polizei und 18 Toten – zwei davon waren Nazis, alle anderen Anwohner, zum Teil völlig unbeteiligt. Vier Kommunisten wurden

verhaftet, zum Tode verurteilt und hin-gerichtet.

Während die bürgerliche Presse unge-prüft die Version der Nazis übernahm und die Kommunistische Partei als Schuldige an dem Blutbad ausmacht, beginnt Klara mittels Befragung von Zeugen die tatsäch-lichen Ereignisse zu rekonstruieren. Sehr schnell stößt sie darauf, daß die meisten Toten auf das Konto einer Polizeieinheit gingen, die schon in Bereitschaft lag, um auf seiten der Nazis in die Auseinander-setzungen einzugreifen. Für Klara wird es nun lebensgefährlich. Da die eigenen Genossen sie im Stich lassen, kann sie nur noch auf einen versoffenen Kabarettisten,

einen ehemaligen Berufsverbrecher und einen russischen Anarchisten zählen …

Robert Brack hat für sein Werk um-fänglich recherchiert. Das Buch besticht durch seine ungewöhnliche Authentizität, die detaillierte Beschreibung des Milieus der Arbeiterbezirke und Künstlerkneipen, der muffigen Redaktionsstuben, der Saal-schlägereien und Straßenschlachten. Wie der Autor im Nachwort schreibt, orien-tiert sich die Schilderung der Ereignisse an dokumentierten Tatsachen; zahlreiche Details und Zeugenaussagen habe er un-verändert aus zeitgenössischen Quellen übernommen.

Der für das Blutbad von Altona ver-antwortliche Polizeioffizier Franz Kosa wurde später in der DDR verhaftet und zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt, dann aber in die Bundesrepublik überstellt und dort auf freien Fuß gesetzt. Den Justizmord an den vier Kommunisten thematisierte Ar-nold Zweig in seinem Roman »Das Beil von Wandsbek«, der 1951 von der DEFA verfilmt wurde. Für die 16 Erschossenen des »Blutsonntags« hat sich der Hambur-ger Senat bis heute nicht entschuldigt.

Robert Brack: Blutsonntag. Edition Nautilus, Hamburg 2010, 253 Seiten, 14,30 Euro

Das Blutbad von Altona Robert Brack versenkt sich in die Geschichte seiner Wahlheimat Hamburg und fördert Krimitaugliches zu Tage. Von Gerd Bedszent

ANTON STENGL

Zur Geschichteder K-Gruppen Marxisten-Leninisten in der BRD der Siebziger Jahre

Broschiert, 206 Seiten - ISBN 978-3-88975-177-5

10,00 €

Das bewegende Schicksal einerFrau, die ihren politischen Idealen

bis zu ihrem Tod treu blieb.

Broschiert, 378 SeitenISBN: 978-3-88975-158-1 10,00 €

Leipziger Str. 24 60487 Frankfurt / M Tel. (069) 77 92 23Fax (069) 77 30 [email protected]

RUTH WERNER

OLGA BENARIOEin Leben für die Revolution

Neuerscheinungen im trafo Wissenschaftsverlag

Bung, Jochen / Gruber, Malte-Christian / Kühn, Sebastian (Hg.): “Plagiate. Fäl-schungen, Imitate und andere Strategien aus zweiter Hand”, 2011, 260 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-89626-961-4, 32,80 EUR

Kaplan, Astrid: “Solange es Schlachthäuser gibt, wird es Schlachtfelder geben. Von der Notwendigkeit eines Quantensprungs des Mitgefühls”, 2010, 283 S., ISBN 978-3-89626-739-9, 29,80 EUR

trafo Wissenschaftsverlag, Finkenstraße 8, 12621 Berlin, Tel: 030/612 99 418 email: [email protected] www.trafoberlin.de

Tania Wittebeziehungsweise liebeRoman

Broschiert • 232 Seiten • 14,90 €

Sieben Frauen. Ein Mann. Und viel dazwischen. Ergibt, geschüttelt, drei einhalb Paare und jede Menge Gefühle!

„Dieses Buch steckt so voller Leben, dass man aufpassen muss, dass es einem in der U-Bahn nicht von alleine aus der Tasche hüpft!“ Elke Koepping (L-MAG)

BUCHPREMIERE!Tania Witte stellt beziehungsweise liebe vor.

Donnerstag, 24. März 2011, 20 UhrSchwuZ, Mehringdamm 61, Berlin-Kreuzberg

W W W. Q U E R V E R L A G . D EANZEIGEN

»Arrêter de tout avaler / Hört auf / Auf-hören, alles zu schlucken / In euch rein-zustopfen«

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junge Welt Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 1 9l i t e r a t u r

Man fragt sich nach der Lektüre von Jonathan Lethems neuem, wieder sehr

opulentem Roman »Chronic Ci-ty«, was man da eigentlich gelesen hat. Eine erkenntnistheoretische Spekulation? Eine postmoderne Science Fiction? Eine Studie über die Wirkungsweise von Paranoia? Eine Drogenvision? Ein Gesell-schaftsporträt des zeitgenössischen Manhattan? Oder nichts von alle-dem? Wie bei einem Roman von Thomas Pynchon ist man hinterher so schlau als wie zuvor – oder fühlt sich im Grunde sogar ein bißchen dümmer, weil man sich in diesem epischen Spiegelkabinett zwangs-läufig verrennt. Spaß immerhin hat es gemacht.

Der Schauspieler Chase Instead-man, ein ehemaliger Kinderstar, der von seinen Tantiemen lebt und überdies dem höheren Müßiggang frönt, ist eine große Nummer in den lokalen Klatschspalten. Seine Ge-liebte, die Astronautin Janice Trum-bull, ist gefangen im Orbit, weil ein chinesischer Minensperrgürtel sie an der Rückkehr zur Erde hindert, und schreibt von dort schmachten-de Mails an ihren irdischen Lover. Der lenkt sich derweil ab von sei-nem vermeintlichen Liebeskummer und macht die Nächte durch mit der ebenso charismatischen wie genial verpeilten Rockschreiber-Legende Perkus Tooth, einem schizoiden Verschwörungstheoretiker, der mit stupender popkultureller Gelehr-samkeit die ganze Gegenwartskul-tur als großen Fake entlarvt. Bei ihm trifft Chase zudem auf Oona Laszlo, Tooths einstige Assistentin, die mittlerweile als rasende Ghost-writerin Promibiographien raushaut und nach dem weggetippten Tages-pensum bald regelmäßig mit Chase ins Bett steigt. Richard Abneg, ein alter Schulfreund von Tooth und ehemaliger Revoluzzer, gesellt sich auch noch hinzu, und dieses Quar-tett versucht nun, befeuert von einer endlosen Reihe Joints, den Mysteri-en Manhattans auf den Grund zu ge-hen. Denn es geschehen merkwür-dige Dinge in der Stadt. Ein riesiger Tiger treibt sein Zerstörungswerk, der Stadtverwaltung möglicherweise nur als Ablenkungsmanöver dient, um eine außer Kontrolle geratene gewaltige Tun-nelbohrmaschine medial überschreiben will. Und warum ist Downtown Manhat-tan im ewigen Nebel versunken? Und warum hört der Winter nicht mehr auf? Das beliebte Internetspiel »Yet Another Life«, eine komplette virtuelle Realität

mit allem drum und dran, bringt sie auf eine Spur: Ist vielleicht ganz Manhattan ebenfalls nur eine Simulation, eine Rea-lität zweiter Ordnung? Man kennt dieses Szenario aus Daniel F. Galouyes Science-Fiction-Klassiker »Simulacron-3«, der von Rainer Werner Fassbinder (»Welt am Draht«) und später Josef Rusnak (»The 13th Floor«) adaptiert wurde.

Es ist die alte erkenntnistheoretische Frage, ob das, was man so glasklar vor sich sieht, die Wirklichkeit ist oder nur auf sie verweist, die diesem Roman nicht nur das Thema gibt, sondern ihn auch formal strukturiert. Lethem vermischt Manhattan-Realien mit offensichtlich fik-tionalen Elementen, läßt sein Personal über echte und erfundene Kunstwerke,

Filme und Bücher diskutieren. Man weiß nie so richtig, was hier stimmt und was nicht. Übrigens auch nicht auf der Handlungsebene. Alle Prot-agonisten sind janusköpfig, zeigen im Verlauf der Geschichte ein an-deres Gesicht. So entpuppt sich die leidende Astronautin als bloße Er-findung der Geisterschreiberin Oo-na, deren wirklich sehr anrühren-de Liebesbriefe die Öffentlichkeit bei Laune halten sollen. Nicht mal Chase, der mitfühlende, grundsym-pathische Ich-Erzähler, ist am Ende der, der er fast 500 Seiten zu sein vorgibt. Er spielt nur eine Rolle, die Rolle seines Lebens gewisser-maßen. Dafür bekommt er also die fetten Tantiemen!

Mit solchen Fiktionsbrechungen, postmodernen V-Effekten, stellt Lethem die Wahrhaftigkeit seiner Geschichte immer wieder selbst in Frage, er macht sie als bloßen, im-mer wieder neu überschreibbaren Text sichtbar, als ein komplexes ästhetisches Spiel mit Referenzen. Nichts anderes treibt den parano-iden Rockschreiber Tooth um, er steht nicht ohne Grund im Zentrum des Romans: Tooth repräsentiert gleichsam Lethems literarische Me-thode innerhalb der Fiktion.

Der offensive Selbstkommentar hat auch die Funktion einer Ent-schuldigung, denn bei derlei litera-rischen Schnitzeljagden spielt eine Kategorie wie Plausibilität naturge-mäß keine Rolle mehr. Das ist stets die Schwäche solcher überartifiziel-len Metakunst, wie kurzweilig und brillant formuliert sie im einzelnen auch sein mag und hier tatsächlich auch ist. Sie hängt im Orbit des Äs-thetischen fest, dreht leer, und hat mit den Dingen hienieden nur noch entfernt etwas zu tun.

Oder etwa doch? Sind wir alle bloß Teile eines Computerspiels, das besser spannend bleibt, weil es sonst Gefahr läuft, abgeschaltet zu werden – von wem auch immer? Man weiß es nicht. Eins aber wissen alle großen Paranoiker wie Thomas Pynchon, Philip K. Dick und eben auch Jo-nathan Lethem: Man kann paranoid sein – und trotzdem recht haben.

Aber Lethem ist natürlich viel zu smart, um nicht noch eine weitere

ironische Brechung einzubauen. »Es ist lediglich unser Wunschdenken, das dem Chaos Kontinuität verleiht«, läßt er ei-ne Nebenfigur verkünden, nicht umsonst einen Künstler. Denn deshalb gibt es die Kunst, und deshalb gibt es Paranoia. Bei-de sind kreative Funktionen derselben großen Sehnsucht, Ordnung ins Chaos zu bekommen.

Ordnung im ChaosMit »Chronic City« ist Jonathan Lethem der ganz große paranoide Wurf gelungen. Von Frank Schäfer

Jonathan Lethem: Chro-nic City. Deutsch von Johann Christoph Maass und Michael Zöllner. Tropen bei Klett-Cotta, Stuttgart 2011, 495 Sei-ten, 24,95 Euro

Der »Kleine Stimmungs-Atlas in Einzelbänden« behauptet, dieLösung einiger Probleme zu liefern. In fortlaufend erscheinen-den kleinen Bändchen zu je einem Lexem sortiert sich unsereÄsthetik neu. Der didaktischen Gymnastik von Einführungs-bänden verweigert sich der »Stimmungs-Atlas« genauso wie der»pauschalreisenden Erkenntnis«. Seine Form ist der Essay, seinFormat jackentaschengeeignet.

»A – Angst«Eine Einzelstimmung von

Thomas Gannbroschiert

ISBN 978-3-938801-76-512 Euro

»A – Albernheit«Eine Einzelstimmung von

Michael Glasmeierund Lisa Steib

broschiertISBN 978-3-938801-77-2

12 Euro

WEITERE STIMMUNGS-ATLANTEN IN PLANUNG

»V – Verstimmung«Eine Einzelstimmung von

Roger BehrensISBN: 978-3-941613-23-2

broschiert12 Euro

V »V – Verkrampfung«Eine Einzelstimmung von

Armin Chodzinkibroschiert

ISBN: 978-3-941613-25-612 Euro

V»Z – Zeit«

Eine Einzelstimmung vonAnna Echterhölter

broschiertISBN: 978-3-938801-78-9

12 Euro

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Textem Verlag

Bestellen unter www.textem.de

Stimmungsatlas in Junge Welt_01.03.11:Layout 1 04.03.2011 9:55 Uhr Seite 1

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»V – Verstimmung«Eine Einzelstimmung von

Roger BehrensISBN: 978-3-941613-23-2

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V »V – Verkrampfung«Eine Einzelstimmung von

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Eine Einzelstimmung vonAnna Echterhölter

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Stimmungsatlas in Junge Welt_01.03.11:Layout 1 04.03.2011 9:55 Uhr Seite 1

Der »Kleine Stimmungs-Atlas in Einzelbänden« behauptet, dieLösung einiger Probleme zu liefern. In fortlaufend erscheinen-den kleinen Bändchen zu je einem Lexem sortiert sich unsereÄsthetik neu. Der didaktischen Gymnastik von Einführungs-bänden verweigert sich der »Stimmungs-Atlas« genauso wie der»pauschalreisenden Erkenntnis«. Seine Form ist der Essay, seinFormat jackentaschengeeignet.

»A – Angst«Eine Einzelstimmung von

Thomas Gannbroschiert

ISBN 978-3-938801-76-512 Euro

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»Parisiennes femmes capitales / Pariserinnen Haupt(stadt)frauen / Pa-riserinnen entscheiden-de Frauen«

Page 20: jw-2011-03-17-99

Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 junge Welt 2 0 l i t e r a t u r

Ree Dolly stand bei Tagesanbruch auf den kalten Stufen ihres Hau-ses, roch drohendes Schneetrei-ben und sah Fleisch.« In Kur-

sen für kreatives Schreiben lernt man für gewöhnlich auch etwas über die Kunst, einen perfekten ersten Satz zu formulie-ren. Dieser erste Satz aus Daniel Woodrells Roman »Winters Knochen« wäre ein gutes Beispiel: Mit der lakonischen Wucht eines Kinnhakens entwirft der 1953 geborene, in St. Louis und Kansas City aufgewachsene Autor kurzerhand die Ahnung einer Welt, in der das Schöne äußerst rar sein dürfte.

Woodrell, ein Exmarine, der seine Bü-cher gern als »Country Noir« bezeichnet, enttäuscht uns nicht, denn die Welt der 16jährigen Ree ist eine Welt voller finste-rer, gefährlicher Männer. Männer wie Rees Onkel Teardrop, der »drei blaue Tränen aus Knasttinte« unterm linken Auge hat. Ins Gefängnis war der stets gewaltbereite har-te Hund mit dem verschmorten Ohr mar-schiert, weil er sich beim Kochen von Cry-stal Meth hatte erwischen lassen. Teardrop liebt sie sehr, die mächtig pushende, kristal-line Substanz, von der er gern einen großen Beutel bei sich hat. Er ist professioneller Methkocher und -konsument, wie so viele Angehörige der entfernt befreundeten, in knurriger Konkurrenz lebenden oder unter-einander verfeindeten Familienclans, die in den Ozarks zu Hause sind – einem großflä-chig bewaldeten Stück Bergland im Süden von Missouri. Der amerikanische Städter, die amerikanische Literatur mithin, kennt für die Dollys, Miltons, Bromonts oder Boshells des Romans den nicht sehr netten Ausdruck »White Trash«.

Das Leben in den Bergen ist karg und hart, und hart bis zur tödlichen Brutalität sind auch die Menschen dort. Die Män-ner haben das Sagen. Auf die Gesetze des Staates spuckt man, man hat seine eigenen archaischen Clangesetze. Woodrell, neben Denis Johnson und Cormac McCarthy einer der bekannteren amerikanischen Poeten des White Trash, stellt diese Art von Lebensführung nicht bloß, auch nicht allzu direkt in Frage. Es ist, was es ist. Um eine möglichst spannende Geschichte voller Abgründe zu erzählen, taugt eine moralisierende Haltung von oben herab ohnehin nicht. Woodrell weiß das. Etwas weniger Pathos dann und wann, um all der Unbarmherzigkeit eine metaphorische Form und atmosphärischen Ausdruck zu verleihen, hätte dem Buch gleichwohl nicht geschadet.

»Winters Knochen« (engl. »Winter’s

Bone« und ab 31.3. in der Verfilmung von Debra Granik im Kino zu sehen) lebt mehr noch als von den Bewohnern der Ozarks und der recht genauen Beschreibung des sozialen Milieus von Rees zähem Charak-ter, von ihrer unerschütterlich kämpferi-schen Haltung zur Welt. Knapp – und mehr als ein paar Sätze benötigt Woodrell oh-nehin nicht für plastische Beschreibungen von Physiognomien und Charakteren – be-schreibt er Ree als hochgewachsenes Mäd-chen mit »überraschend grünen Augen« und einem Körper, »der dazu geschaffen war, dem Nötigsten hinterherzuspringen«. Genau das tut Ree auch die ganze Zeit, wörtlich und im übertragenen Sinne.

Ihre Mom ist verrückt, die Morgenpillen »verwandelten sie in eine Katze, ein atmen-des Etwas, das am Feuer saß und ab und an Geräusche von sich gab«. Rees Vater Jessup, einen begnadeten Methkocher und Teardrops jüngeren Bruder, lernen wir gar nicht erst kennen. Der Platz der Vaterfigur bleibt leer, denn Jessup ist fort. Also ist es an Ree, für sich, die Mutter und zwei klei-ne Brüder zu sorgen, was leider kaum zu schaffen ist. Der Winter ist frostig, die Nah-rung rar. Rees Blick rüber zum Fleisch, zu

den Tierkadavern auf der anderen Seite des Baches, bedeutet auch: Es ist nicht ihres.

Indes hat Ree ein noch größeres Pro-blem am Hals: Sofern es ihr nicht gelingt, ihren Vater zu finden und dafür zu sorgen, daß er zum Haftprüfungstermin in einer Woche vor Gericht erscheint, verliert die Familie alles. Jessup, der schon einmal im Gefängnis saß, hat das Haus nämlich für seine Kaution verpfändet. Und so ist es die Zeit in diesem Buch, die eine gewisse Spannung garantieren soll. Allerdings ahnt man schnell, daß Ree, so unwahrscheinlich resolut, furchtlos und verantwortungsbe-wußt wie sie der Autor nun einmal entwor-fen hat, die Familie unbedingt retten wird. Und etwas später weiß man im Grunde auch, daß Jessup nicht mehr lebt, daß er gegen eherne Clangesetze verstoßen hat, zum Verräter wurde, um die eigene Haut zu retten. Aber eine Leiche tut es schließlich auch.

Und so geht Ree ihren Weg, wagt sich auf unbekanntes Terrain bei anderen Clans, hakt nach, bohrt rum, gibt keine Ruhe. Zwi-schendurch widmet sie sich mit zärtlicher Hingabe ihrer Freundin Gail und deren Ba-by. Metaphorisch gesagt, ist Ree das hart-

näckig flackernde Lichtlein in windumto-ster Dunkelheit. Selbstverständlich wird sie, die weit selbstbestimmter agiert, als es den Frauen in den Ozarks erlaubt ist, in einem der dramatischen Höhepunkte des Romans fürchterlich zusammengeschlagen. Die sich entladende Gewalt stellt Woodrell effekt-voll, aber einfühlsam dar als das, was sie für ihre Opfer ist: eine Hölle aus blanker Angst bis zur Entleerung des Darms und schreck-lichen Schmerzen an den Tagen danach.

Auf den letzten Seiten wird der nicht mehr ganz so furchteinflößende Onkel Teardrop Ree einen freundlichen Rat ge-ben: »Du mußt jeden Tag bereit sein zu sterben. Dann hast du eine Chance.« Da hat Ree das Schlimmste bereits hinter sich, hat die Mauer des Schweigens durchbrochen und etwas wahrhaft Monströses, wenn auch unbedingt Notwendiges getan. Eine eklige Sache, die mehr als nur ein bißchen Mumm erforderte und Ree und ihrer klei-nen Familie jenen Respekt der Bergbewoh-ner zurückbringen bringen wird, den es in Woodrells Welt dringend braucht, um zu überleben. Den Traum von der Freiheit, die Ree in der US-Army vermutet, stellt sie hintan. Die Familie ist wichtiger.

Jeden Tag sterbenDaniel Woodrell hat mit »Winters Knochen« einen Country Noir geschrieben. Von Michael Saager

Daniel Woodrell: Win-ters Knochen. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Liebeskind Ver-lag, München 2011, 223 Seiten, 18,90 Euro

Am 18.03.2011 erschienen! GegenStandpunkt 1-11

Aus dem Inhalt:

Ägypten: Viel Aufruhr – für einen Antrag auf bessere Herrschaft, den das Militär erhört

Die Führer der westlichen Welt werden von einem Volk überrascht: Dass die Massen in einem Land, an dessen gefestigtem Innenleben man äußerst interessiert ist, ohne dass man das bestellt hätte, seinem obersten Führer die Gefolgschaft kündigt, das fordert Kommentatoren wie politische Macher heraus. Nach einigem Zögern einigt man sich darauf, dass es da – wie auch in anderen Fällen – um „Demokra-tie gegen Diktatur“ geht, und hält den Machthaber, den man Jahrzehnte durchaus zu schätzen wusste, für „untragbar“. Ihn macht man für den Aufruhr verantwortlich. Und gibt damit auch den Demonstran-ten vor, was sie der westlichen Welt mit ihrem Drang nach Demokratie schuldig sind: „Rückkehr zu stabilen Verhältnissen“ in dieser Krisenregion, Frieden mit Israel, Sicherung des Suezkanals, kurz: lauter Interessen, für die Ägypten unter Mubarak funktioniert hat und künftig funktionieren soll. Das schließt den Ausschluss der ‚Islambrüder‘ aus dem Spektrum wählbarer Alternativen ebenso ein wie die Zufriedenheit darüber, dass das Militär die Sache in die Hand genommen hat und für eine passende Ordnung und Führung sorgt, die einer ordentlichen demokratischen Willensbekundung des Volks un-bedingt vorausgehen muss. Da stellt sich schon die Frage, was das Volk in Ägypten auf die Straße getrieben hat. Der GegenStandpunkt liefert Aufklärung über den Volksaufstand, die Verhältnisse, ge-gen die er sich und wie er sich dagegen richtet, zu welchem wenig umstürzlerischen Ergebnis er es gebracht hat und welche Ansprüche das westliche Ausland an den ‚Demokratisierungsprozess‘ stellt.

Das Finanzkapital IV. Das internationale Finanzgeschäft und

die Konkurrenz der Nationen Fortsetzung und Schluss der Analyse des Finanzkapitals widmet sich der Internationalisie-rung des Finanzgeschäfts durch die Staatsgewalten, die auf dessen grenzüberschreitende Wachstumsleistungen für ihren jeweiligen Nationalreichtum aus sind. Behandelt werden: die Einrichtung eines grenzüberschreitenden finanzkapitalistischen Geschäftsverkehrs durch die Übereinkunft konkurrierender Staatsgewalten; der Austausch der nationalen Gelder; die Eigenheiten des internationalen Kredits und die darin eingeschlossenen zwischenstaatlichen Eigentumsfragen; die Bedeutung des Finanzkapitals für die Bilanz der Staaten, die sich dem Vergleich der kapitalistischen Leistungsfähigkeit ihres Landes aussetzen und um die Attrak-tion von Kapital und um die Kreditwürdigkeit ihres nationalen Geldes konkurrieren; die Scheidung der nationalen Gelder nach ihrer Weltgeldqualität; die aus dem globalen Speku-lationsgeschäft resultierenden Staatspleiten und Finanzkrisen und die ihnen gewidmete Krisenpolitik der Weltwirtschaftsmächte. Ein Schlusskapitel handelt vom Regime des Fi-nanzkapitals als Werk und Produktivkraft der Weltordnungsgewalt der USA. Inhaltsverzeichnis mit weiteren Artikeln: http://www.gegenstandpunkt.com/gs/11/1/gs111_inhalt.pdf

Für 15 € zu beziehen über den Buchhandel oder durch Bestellung an GegenStandpunkt Verlags Gesellschaft mbH, Kirchenstr. 88, 81675 München, Tel.: 089-2721604; Fax: 089-2721605; E-Mail: [email protected]

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»Je suis la voyelle / du mot voyou / Ich bin der Vokal des Wortes Gau-ner / Ich bin die Vokalin des Wortes Seh-Dich«

Page 21: jw-2011-03-17-99

junge Welt Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 2 1l i t e r a t u r

Manche Autoren muß man lange bitten, damit sie et-was schreiben. Dazu ge-hört Elfriede Jelinek gewiß

nicht. Der Bitte der Münchner Kammer-spiele, ein Stück zu Franz Schuberts Liederzyklus »Winterreise« zu schrei-ben, kam die ausgebildete Pianistin, Vielschreiberin und Übersetzerin gerne nach. Keine Sprecher hat ihr Text, in der Rowohlt-Ausgabe ist das Drama als 128 Seiten langer Fließtext abgedruckt. Und ein Fließtext ist es auch im engeren Sinne. Im ewigen Monolog, im Gedankenfluß, hangelt Jelinek sich von Wort zu Wort. »Endlich, jetzt ist endlich was los, und dann bin ich mich endlich los!« heißt es da. Jelinek fragt, ob da eine »Irre ist, oder läuft da eine Irre davon, in ihre eigene Irre hinein, als Irrläuferin, als ihr eigener Irr-sinn, ohne GPS.« Ein bißchen klingt das nach Poetry Slam, wie die Nobelpreis-trägerin sich da durchkalauert. Und doch kann man sie sich schwer auf der Bühne vorstellen, mit ihren rötlich geschminkten Augen, die immer wie krank aussehen, mit ihren angemalten Lippen im blassen Gesicht und ihrer über der Denkerstirn aufgetürmten Frisur.

Der kaum lesbare Text erscheint so, als ob die Bedeutungen sich ganz zufällig aus den Worten ergeben hätten, als ob die Er-zählung assoziativ vor sich hinplätschert. Dabei sind die Themen nicht zufällig und auch nicht neu. Auch bei Schuberts ro-mantischen Liedern fällt der Jelinek Fi-nanzkrise und Natascha Kampusch ein und die Geschichte ihres eigenen Vaters, der ins Heim abgeschoben wird, als er mehr und mehr dement wird. Das Zusam-menspiel von großen, gesellschaftlichen Themen und intimen, ganz persönlichen Erinnerungen hat Methode. Alles wird mit Bedeutung aufgeladen, wird zur Me-tapher.

Etwa die Geschichte von der Braut, die sich hübsch macht, um geheiratet zu werden, die hinter ihrem Schleier aber ihre unehelichen Kinder versteckt und die auf den Skandal um die österreichische Hypo Alpe Bank anspielt. Heiraten oder fusionieren, die Braut frisieren oder die Zahlen, Kinder verheimlichen oder finan-zielle Altlasten, es ist immer der gleiche Vorgang.

Die Literaturnobelpreisträgerin gibt sich wütend und engagiert, um an anderer Stelle ganz leise zu werden. »Ich wandere nicht mehr gerne. Das, was gewesen ist, auch das, was mich seit meiner Kindheit gequält hat, kommt jetzt an. Es ist lang ge-wandert, und nun ist es bei mir angekom-men«, läßt sie ihren altersmüden Vater sa-gen, und meint damit doch auch sich. Die literarische Vergangenheitsbewältigung mag manchem auf die Nerven gehen. Sprachlich gehören die Passagen zu den

besten. Passagen, in denen ein alter Mann darüber klagt, aus seinem Haus vertrieben zu werden und in einem »Einfamilienhaus mit dreißig Betten« zu landen, gefesselt an ein Bettgitter, damit er, der Wanderer, nicht immer davonläuft. Das sind Absur-ditäten, die er nicht fassen kann. »Ihr wart zu viele, ihr wart zwei«, kapituliert er vor der Übermacht von Frau und Tochter. Den »Fluß, der zurückfließt«, und den er sich so sehr wünscht, gibt es nicht.

Die lose Klammer, die Jelineks »Win-terreise« zusammenhält und mit der mu-

sikalischen Vorlage verbindet, ist ein Ge-fühl der Einsamkeit, der Heimatlosigkeit und des Verlassenseins. Das Bild, das ihr dafür am meisten einleuchtet und mit dem sie sich auseinandersetzt, seit der Fall bekannt wurde, ist das Verließ Ste-fanie Kampuschs, ist der weiße Kasten-wagen, der ein Mädchen von der Straße aufliest und für Jahre in ein Kellerloch verschleppt. In »Winterreise« lauscht Je-linek den Lästereien ihrer Landsleute. Nicht über den Täter wird gesprochen, sondern über das Opfer: »Der Ventilator

im Verließ wäre zu laut gewesen. Sonst noch Wünsche?«, schimpfen sie. Nei-disch sind sie auf das Mädchen, das alle bestaunen, als wäre es in einer fremden Welt gewesen, wo es doch nur im Keller saß. Sie lassen es wie eine prätentiöse Göre aussehen und wünschen sich insge-heim, sie würde verschwinden. Am be-sten dahin, wo sie herkam. Schlußstrich. Einer unter den Fall Kampusch, einer unter die Finanzkrise, einer unter die Nazi-Vergangenheit, einer unter Schu-berts Liederzyklus.

Ihr wart zu viele, ihr wart zweiElfriede Jelinek lauscht Schuberts »Winterreise« und belauscht die Österreicher. Unter ihren Roman schreibt sie »Ein Theaterstück«. Von André Weikard

Erinnern alleine reicht nicht …

Auch so könnte man die Auseinandersetzung in diesem Buch überschreiben.Denn offensichtlich verhindert die Erinnerungskultur um den Holocaust nicht, dass der Antisemitismus weiterlebtund neue Formen von Rassismus am Horizont aufscheinen. Etwa das Feindbild Islam. Immer wieder ergibt sich dieDiskussion, ob die heute feststellbare Islamfeindlichkeit mit dem Antisemitismus früherer Zeiten vergleichbar sei.Meist aufgeregt und unsachlich kochen die Polemiken hoch. Natürlich kann es bei einem Vergleich dieser beidenPhänomene nicht darum gehen, den Holocaust und die Verbrechen des Nationalsozialismus in irgendeiner Form mitheutigen islamfeindlichen Tendenzen zu vergleichen. Wenn man aber davon ausgeht, dass die grausame Vernichtungvon Juden während der Nazi-Zeit nicht ohne historisch-diskursive Vorläufer hätte stattfinden können, lohnt es sich,sowohl die lange Tradition des Antisemitismus vor der NS-Zeit zu analysieren als auch diesen – bereits relativ guterforschten – rassistischen Diskurs als Ausgangspunkt zu nutzen, heutige Diskurse über „Andere“ zu verstehen.Dieses Buch beginnt damit, systematisch Gemeinsamkeiten, als auch Spezifika von Antisemitismus undIslamophobie herauszuarbeiten.

Antisemitismus und Islamophobie – ein Vergleich –Sabine Schiffer und Constantin WagnerHWK-Verlag260 Seiten, ISBN 978-3-937245-05-8, (D/A) € 24,80

Elfriede Jelinek: Winter-reise. Ein Theaterstück. Rowohlt Verlag, Ham-burg 2011, 128 Seiten, 14,95 Euro

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»Libertine sans Liberté / (Die) freizügig(e) ohne Freiheit / Freidenkerin ohne Freiheit«

Page 22: jw-2011-03-17-99

Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 junge Welt 2 2 l i t e r a t u r

Immer wieder Überraschungen: Mit gleich drei bemerkenswerten Kin-derbüchern wartet der Rostocker Hinstorff-Verlag in diesem Frühjahr

auf. Maja Bohns beeindruckt mit einer ebenso flott illustrierten wie mit überbor-dender Lust an Wort- und Lautmalerei aufgeschriebenen Suche nach der Antwort auf die Frage, wo denn »eigentlich das Gestern hin« sei. Die Wissensdurstige ist Loret-ta Koschke mit der großen, klugen Brille. Mit der Erklä-rung der Mutter, in der Nacht verwandle sich das Heute in das Gestern und schleiche sich dann still davon, will sie sich einfach nicht zufrieden geben. So macht sie sich auf den Weg und geht den gan-zen Tag Leuten auf die Ner-ven. Am Ende kann ihr weder die Eintagsfliege noch der Alien noch der dicke Dorf-sheriff helfen, sondern aus-gerechnet der alte Nachbar Zapf, der immer untätig auf der Treppe sitzt und an dem sie morgens noch geschäftig vorbeigelaufen ist. Der Zau-berer mit dem phantasiefran-zösischen Akzent dagegen bringt neben Üblichem wie rosa Kaninchen alles Mög-liche hervor – von »Ringel-würme mit Mundgerüch« bis »rosa Floh mit Muttermale«, aber eben nicht das Gestern. An manchen Stellen wird es etwas zu plapperig, aber im Großen und Ganzen ist die Geschichte mit den wun-derbar farbig akzentuierten Zeichnungen ein echter Philosophier spaß für Vorleserin und Zuhörerin, der Lust auf die bereits erschienenen und mit Preisen bedachten Bücher der Berliner Künstlerin macht.

Ganz anders kommt »Ein Mann, der weint« daher. Mathias Jeschke erzählt, wie beruhigend die Entdeckung von der Norm abweichenden Verhaltens für kleine Men-schen sein – und wie es vielleicht auch die zum Nachdenken bringen kann, die bis dato den seit Generationen überlieferten Blödsinn erzählt haben. »Männer weinen nicht« ist dabei einer der Klassiker unter den alten Stereotypen über geschlechts-spezifisches Verhalten. Zu seinem großen Erstaunen sieht ein kleiner Junge, dem solches erzählt worden ist, eben doch ei-nen Kerl, der Rotz und Wasser heult. Das verwirrt, aber erleichtert auch: Also darf

ich das bestimmt auch, ohne mich gleich als Weichei fühlen zu müssen. Wiebke Oeser hat das Erlebnis in zarten Pastell-tönen und mit klaren Strichen ins Bild gesetzt.

Im dritten Hinstorff-Bilderbuch erklärt Stefanie Urbach, was ein Anagramm ist

und gibt eine praktische Anleitung zum Selbermachen. Jens Bohnke liefert in far-bigem Linolschnittstil Anschauungsmate-rial vom Flugsaurier als Gaulfriseur, vom Sumatratiger, der gratis mauert, von der Kopflaus, die auch ein Skalp-Ufo sein könnte, und von all den anderen.

Im TresorWerke der norwegischen Bilderbuchkünst-lerin Kari Stai und ihres Landsmanns Mar-vin Halleraker bringt erneut der Berliner Onkel & Onkel-Verlag dem deutschspra-chigen Publikum nahe. Beide erzählen ungewöhnliche Geschichten und schaffen dazu ebenso ungewöhnliche Illustratio-nen. Freddy, der Held von Hallerakers zweitem auf Deutsch erschienenen Buch nach »Über den Dächern« (siehe jW vom 27.12.2010), ist mit seinen Tätowierungen ein lebendes Kunstwerk und läßt sich als

solches von einem reichen Sammler er-werben – in der Annahme, so würden ihn weiter ganz viele Menschen sehen und lieben. Womit er nicht gerechnet hat: Er wird zu den anderen Besitztümern des Käufers in den Tresor gesteckt. Die un-begrenzt zur Verfügung stehenden Cola-

Vorräte machen die Gefan-genschaft nicht erträglicher. Freddys Leiden werden ein-drücklich mit Kunstzitaten wie der dahinschmelzen-den Uhr von Dali, Edvard Munchs »Schrei« oder einer kubistischen Picasso-Figur dargestellt. Wie Freddy frei-kommt, sei hier noch nicht verraten.

Noch wesentlich bizarrer ist Kari Stais Geschichte von »Herzberg« mit der Blut-gruppe »Rhesus explosiv« und der kleinen Wanda, die ihre Hündin Ruth wiederbe-leben möchte. Tatsächlich bekommt Ruth schließlich ein neues Herz hinauf in den Himmel geschickt. Sie kehrt zwar nicht zu Ruth zurück auf die Erde, aber trotz-dem ist das Mädchen nicht mehr traurig, auch, weil sie neue Freunde gefunden hat. Gewöhnungsbedürftig. Und noch einmal um eini-ges teurer als das erste ins Deutsche übersetzte Buch der Autorin, »Jakob und Neinkob – was angesichts der ohnehin nicht wirklich

sozialverträglichen Bilderbuchpreise ein echter Wermutstropfen ist.

Wagemutiger HaseDeutlich vertrauter und gutenachtge-schichtentauglicher ist das neue Buch von Altmeister Helme Heine, der im April sei-nen 70. Geburtstag feiert. Der Erfinder der »Freunde« und des Kinderbuchhits »Na warte, sagte Schwarte« hat einen neuen Helden geschaffen: Den Hasen Toto, der auf Schatzsuche geht und dabei zwar nicht das erwartete Gold findet, aber dafür – nach einigen Reinfällen, harter Arbeit als Ostereierfärber und Briefträger sowie kreuzgefährlichen Abenteuern – wunder-bare Bekanntschaften macht und die Lie-be findet, also einen Schatz der anderen Art. Poetisch und voll von Pointen und hübschen kleinen Weisheiten.

Vertraute Figuren kommen auch aus

dem Oldenburger Lappan-Verlag: Nulli, der Hase, und Priesemut, der Frosch. Be-kannt sind sie seit vielen Jahren aus zahl-losen Geschichten. Auch die neue ist eine von wahrer, lebensrettender Freundschaft.

Dasselbe Haus hat zwei neue Wimmel-bücher mit spannenden Suchaufgaben herausgebracht, die Menschen jeden Al-ters faszinieren dürften. Es sind Geschich-ten um einen fiesen Professor, der ebenso miese wie profitable Geschäfte auf Kosten der Umwelt macht, und seine hochgemu-ten Bezwinger Lucas, Felix, Anna und Lilli, ersonnen und mit zahllosen Details ins Bild gesetzt von dem dänischen Duo Søren Tomas/Karsten Mungo Madsen. Auf jedem Doppelseitenpanorama mit ei-ner unüberschaubaren Menge an Comicfi-guren in Dschungel- oder Stadt- oder Fa-brikumgebung sind ausfindig zu machen: zehn Räuber, fünf geklonte Schweine, ein Zeitzünder, Professor M.s Ratte und der Prof selbst. Und immer noch etwas ande-res wie Benzinkanister, Schlangen oder Mülleimer. Sehr schwierig.

Ruhig und doch listig erzählt die schwedische Autorin Asa Lind von den Erlebnissen Ellika Tomsons in ihrem Mietshaus. Denn wer möchte nicht gern wissen, welche Geheimnisse sich hinter fremden Türen verbergen. Ellika soll ei-nen Schulaufsatz über Kolumbus schrei-ben, aber ihr Nachbar Karlsson bringt sie auf die Idee, ein eigenes Entdeckerbuch zu verfassen. Und tatsächlich stellt das Mädchen fest, daß es vieles gibt, was sie über die Leute aus ihrem Haus noch nicht wußte – und daß sie von manchen schon ganz vergessen hatte, daß es sie über-haupt gibt. Da ist zum Beispiel die noch nicht ganz leergeräumte Wohnung der kürzlich verstorbenen alten Elsa Collian-der, über die sie herausfindet, daß sie mal eine »Königin der Lüfte« war. Dann gibt es noch den einsamen Herrn Svensson, ein älteres, ständig streitendes Schwe-sternpaar, den abgedrehten Jungen Janus, den pedantischen Briefmarkensammler Alexander P. Koriander und die Familie Demeter unterm Dach. Wenn es noch ei-nes Beweises bedurft hätte, daß man nicht weit reisen muß, um die Welt zu verste-hen: Asa Lind liefert ihn mit den vielen Geschichten in ihrem Buch. Hinreißend Ellika-Ent deckerinnenbucheinträge wie dieser: »Hab gestern ein seltenes Tier entdeckt, das ein Rüsselkäfer war. Hab es eingefangen und wieder freigelassen, weil es bloß sterben wollte. Und das, obwohl der Käfig aus Glas war und eine Aussicht hatte. Aber das Tier wollte zum Mond fliegen.«

HerzensangelegenheitenKunst, Bemühtes, Bilderfluten und philosophischer Wortwitz in neuen Kinderbüchern. Von Jana Frielinghaus

Maja Bohn: Mama, wo ist eigentlich das Gestern hin? Hinstorff Verlag, Rostock 2011, 40 S., 14,95 Euro (ab 6)

Mathias Jeschke (Text)/ Wiebke Oeser (Ill.): Ein Mann, der weint. Hin-storff Verlag, Rostock 2011, 26 S., 14,95 Euro (ab 4)

Stefanie Urbach (Text)/ Jens Bohnke (Ill.): Flug-saurier = Gaulfriseur. Tierische Anagramme, Hinstorff-Verlag, Ro-stock 2011, 14,95 Euro (ab 6)

Marvin Halleraker: Fred-dy, Onkel & Onkel, Berlin 2011, 40 S., 14,95 Euro (ab 4)

Kari Stai: Ein Herz für Ruth, Onkel & Onkel, Berlin 2011, 32 S., 16,95 Euro (ab 5)

Helme Heine: Toto der Schatzsucher. Beltz und Gelberg, Weinheim 2010, 80 S., 12,95 (ab 5)

Asa Lind: Ellika Tomson und ihre Entdeckungen im blauen Haus. Beltz und Gelberg, Weinheim 2011, 136 S., 12,95 Euro (ab 8)

Matthias Sodtke: Alle Frösche fliegen hoooch!? Lappan Verlag, Olden-burg 2011, 40 S., 12,95 Euro (ab 4)

Søren Tomas/Karsten Mungo Madsen: Such Professor M. Eine Reise durch die Welt sowie Ei-ne Reise durch die Zeit, Lappan Verlag, Olden-burg 2011, je 32 S., jeweils 12,95 Euro

Ja, ich bestellevon der Bro schüre zur XVI. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz 2011 zum Preis von 3,60 € (zzgl. 1,50 € Versandkosten, ab einer Bestellung von 10 Broschüren entfallen die Versandkosten)

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Januar 2011

Mit allen Referaten und Grußbotschaften der Konferenz, der Podiumsdiskussion zum Nachlesen, einer Medienschau und Beiträgen zum Thema aus der jungen Welt. Broschüre für nur 3,60 Euro (zzgl. Versand kosten) erhältlich.

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Page 23: jw-2011-03-17-99

junge Welt Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 2 3l i t e r a t u r

Jedes Kochbuch sollte eine Mindestan-forderung erfüllen: Auch bei weniger Geübten Lust auf die Zubereitung guten Essens mit nachvollziehbaren

Rezepten wecken. Außerdem sollte auf die Verwendung allzu abseitiger Zutaten, die entweder kaum erhältlich oder irrsinnig teu-er sind, weitgehend verzichtet werden.

Damit fallen schon mal gefühlte 90 Pro-zent aller Neuerscheinungen dieses Genres durch. Doch auch beim Rest kann einem gelegentlich der Appetit vergehen. Das Ge-labere von irgendwelchen aufgeplusterten TV-Köchen oder anderweitig Prominenten korrespondiert oft mit recht willkürlich zusammengewürfelten Rezeptsammlun-gen, begleitet von lieb loser bis kitschiger Gestaltung. Natürlich geht es auch anders. Das beweisen nicht nur die hochpreisigen »Großen Bücher« der Edition Teubner, son-dern manchmal auch die Regional- oder Landesküchenführer, die vom Teubner-Mutterverlag Gräfe & Unzer auf den Markt gebracht werden. Das jüngst erschienene »Frankreich. Die Küche, die wir lieben« ist natürlich »nur« ein Kochbuch. Doch es ist auch eine Liebeserklärung an die französi-sche Lebensart, in der kulinarische Genüsse eine herausragende Rolle spielen. In dieser Kultur hat das kleine Picknick mit frischem Baguette, Käse und Rotwein einen ähnli-chen Stellenwert wie das aufwendig zele-brierte Fünf-Gänge-Menü mit Austern und Gänsestopfleber. Die meisten Franzosen speisen regio naler, saisonaler und qualitativ besser als ihre deutschen Nachbarn. Da-für sind sie auch bereit, einen deutlich hö-heren Teil ihres verfügbaren Einkommens auszugeben. Sie essen wesentlich weniger Fertig gerichte, verwenden mehr frische Zu-taten und würden in Deutschland alltägliche Scheußlichkeiten wie abgepacktes Fleisch oder Tütensoßen nicht mal mit der Kneif-zange anfassen. Sie verbringen wesentlich mehr Zeit mit Einkaufen – oft auf Märk-ten oder in Fachgeschäften –, Kochen und Essen. Und sie können von einem riesigen Angebot an Spitzenrestaurants, aber auch an preiswerten Bistros und einfachen Gast-höfen profitieren, die Speisen und Weine in hervorragender Qualität anbieten. Weit ver-breitet sind auch Fermes auberges – Land-gasthäuser und -pensionen, die hauptsäch-lich Produkte vom eigenen Hof verwenden.

Es gibt kein »Geheimnis« der französi-schen Küche. Es ist die Vorliebe für regio-nale, authentische, qualitativ hochwertige Produkte und die Detailversessenheit bei der Zubereitung sowie der kundige Um-gang mit Kräutern und Gewürzen, die diese Eßkultur so faszinierend machen. Keine Kartoffel verkommt hier zur »Sättigungs-beilage«, kein Stück Fisch oder Fleisch wird mit absurden Panaden verunziert. Und

vielleicht am wichtigsten: Gutes Essen (und Trinken) ist in Frankreich nicht das snobi-stische Vergnügen einer kleinen Elite, son-dern zentraler Bestandteil der Volkskultur.

Die zwar deutschstämmige, aber er-kenn bar frankophile Autorin Tanja Dusy hat für ihre kleine Rundreise durch diese Genußwelt ein originelles Ordnungssystem gefunden. Es beginnt im Bistro, wo aller-lei kleine Köstlichkeiten wie Artischocken-Oliven-Tapenade, Apfel-Blutwurst-Taschen oder verschiedene Zwiebelkuchenvarianten serviert werden. Es folgt Le Marché, also der Gang über den Wochenmarkt und die Verarbeitung des dort zu findenden frischen Gemüses zu raffinierten Suppen, Terrinen, Auf läufen und Salaten. Auch ein Abstecher zum Hafen (Le Port) darf nicht fehlen, um sich mit diversen Muschelarten, Krusten-tieren und Fischen zu beschäftigen. Hier

wird die ganze Palette von rustikal bis edel, von der gegrillten Sardine bis zu Langusten mit Tomatenbutter, geboten. Die nächste Station ist die Boucherie, also die Metzge-rei, deren Erzeugnisse die Grundlage für Klassiker wie Bœuf Bourguignon, Coq au Vin oder Kalbsfrikassee mit Morcheln bil-den. Nachgekocht aber hat der Autor die Rognons à la moutarde (Nieren in Senf-sauce). Ergebnis: Dieses Buch ist aufgrund seiner großartigen Bebilderung und der liebevollen Milieuschilderungen nicht nur ausgesprochen appetitanregend, sondern auch unbeschränkt praxistauglich, wie wei-tere Versuche bestätigten. Und wer um Nie-ren bislang einen Bogen gemacht hat, sollte sich diesen Genuß nicht entgehen lassen.

Da wir uns in Frankreich befinden, stat-tet die Autorin natürlich auch noch der Fro-magerie und der Pâtisserie einen Besuch ab.

Schließlich kann man mit Käse wesentlich mehr anstellen, als ihn einfach nur im Ur-zustand zu essen. Bei den süßen Leckerlis zum Ende des Menüs wird dann noch mal aus dem Vollen geschöpft, d. h. daran erin-nert, wie vielfältig Frankreich ist. Sei es die Melonensuppe mit Champagner, die ge-dünstete Birne mit Sabayon, das Lavendel-Honig-Parfait oder die Elsässer Mirabellen-tarte – stets wird der spezielle kulinarische Charakter einer Region erkennbar.

Wenn man dieses Buch in die Hand nimmt, möchte man es stundenlang nicht mehr weglegen. Zu faszinierend sind die Fotos und die Rezepte. Schnell wird man versucht sein, seinen Küchenkompaß gen Westen bzw. Südwesten auszurichten. Und sich wünschen, möglichst bald eine kleine oder große Frankreich-Reise an-zutreten.

Tanja Dusy: Frankreich. Die Küche, die wir lie-ben. Gräfe und Unzer Verlag, München 2011, 288 Seiten, 29,99 Euro

Wohin der Küchenkompaß zeigt»Frankreich. Die Küche, die wir lieben« ist nicht nur ein Kochbuch, sondern eine Liebeserklärung an die französische Lebensart. Von Rainer Balcerowiak

Aus dem kubanischen Spanisch von Hans-Joachim Hartstein736 Seiten, Leinen, € 28.90 / sFr 42.90

»Wer diesen mitreißenden, faszinierenden, ernüch tern den Roman gelesen hat, versteht das 20. Jahr hundert besser. Unweigerlich verfällt man diesem Werk.« Heraldo de Aragón

Aus dem kubanischen Spanisch

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»J’ai le mal de taire et mes ailes en réclament encore / Ich habe die Schweigekrankheit und meine Flügel / meine eifrigen Bemühungen schreien davon noch / Fordern noch mehr«

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Donnerstag, 17. März 2011, Nr. 64 junge Welt 2 4 l i t e r a t u r

Die Kulturmaschinen in Leipzig!Auf dem Messegelände und in der Stadt.

Donnerstag, den 17.03.201112:00 Werner Seppmann - Krise ohne Widerstand und Die verleugnete KlasseOrt: Die Bühne, Halle 5, Stand A30015:00 Leander Sukov stellt Robert Steigerwalds Buch Marxis-musprobleme - Konstruierte und Wirkliche vorOrt: Die Bühne, Halle 5, Stand A30017:30 Alban Nikolai Herbst - Die Fenster von Sainte-Chapelle - Ein Blogroman als BuchOrt: Leipzig liest Forum, Halle 5, Stand E600

20:00 „Bücher und Eierlikör“ - Die Kulturmaschinen präsentieren ihr FrühjahrsprogrammVon „Calvinos Hotel“ bis „Die Fenster von Saint Chapelle“Mit Alban Nikolai Herbst, Peter H. Gogolin, Walter Famler, Peter Abraham, Hans Bäck, Georg Gerry Tremmel und anderen.Ort: Café Anton Hannes, Beethovenstraße 17 04107 Leipzig

Freitag, den 18.03.201117:00 Standparty der linken Verlage auf der Bühne Halle 5, Stand A300Mit Autoren, Verlagsleuten, Freundinnen und Freunden aus (mindestens) 11 Verlagen. Bei Wein, Bier und Wostok.

19:30 Georg Gerry Tremmel - Madame ButterflyJohn Luther Longs (1861-1927) Novelle, die Grundlage für Puccinis gleichnamige Oper war, das erste Mal in deutscher Übersetzung.Ort: opus 61, Böttchergäßchen 1, 04109 Leipzig21:00 Peter H. Gogolin - Calvinos HotelEine Familiengeschichte zwischen Deutschland und Italien, zwischen dem zweiten Weltkrieg und dem Bosnienkrieg - die Verstrickung der Gegenwart in der VergangenheitOrt: Apothekenmuseum, Thomaskirchhof 12, 04109 Leipzig,Samstag, den 19.03.201114:30 Heinrich von der Haar - Kinderarbeit in DeutschlandOrt: Die Bühne, Halle 5, Stand A30016:30 Peter H. Gogolin - Calvinos Hotel - Die Verstrickung von Vergangenheit und Gegenwart Halle 5, Stand A30017:00 Peter H. Gogolin - Calvinos HotelOrt: Leipzig liest Forum Halle 5, Stand E600

Sonntag, den 20.03.201111:00 Peter Abraham - Als ich das Spielen verlernteAutobiografie der jungen JahreOrt: Die Bühne, Halle 5, Stand A30014:00 Wolfgang Fehse - Karneval in XOrt: Sachbuchforum Halle 5, Stand A21016:00 Karl Wolfgang Barthel - Mann ohne MaskeOrt: Die Bühne, Halle 5, Stand A30016:30 Hans Bäck - Lautsprecher in den BäumenWie ein Stahlwerk privatisiert wird - Ein Stück RealitätOrt: Leipzig liest Forum Halle 5, Stand E600

[email protected] 497 83 690

Leipziger BuchmesseHalle 5 - Stand A 219

Sozialwohnungskind und Schul-abbrecherin, Schuhverkäuferin und rechtskräftig wegen Sach-beschädigung Verurteilte: Das

Leben der 1956 in Paris als Tochter eines Tunesiers und einer Normannin geborenen Miss.Tic verlief nicht immer ge-radlinig. Sie bevorzugt es, ihr Werk und nicht ihre Biographie für sie sprechen zu lassen. Seit 1985 sprüht sie verfüh-rerisch-verwegene Frau-enbilder auf Mauern und Hauswände. Der öffentliche Raum ist ihre Galerie, was Miss.Tic nicht davon abhält, in Galerien in Paris, London, Miami und Singapur auszustellen. Ihre Bilder sind Scha-blonen-Graffiti, die sie mit Wortspielen kombi-niert. Eines zeigt eine herausfordernd blicken-de Schwarzhaarige in Kleid und Turnschuhen vor einem Hintergrund aus Presseschnipseln. Links von ihr steht in einem zum Trademark gewordenen Schriftzug: »Vivre avec des espoirs / Vivre avec désespoir«. Eine Verschiebung und ein Konsonant weni-ger machen den Unter-schied zwischen »Leben mit Hoffnun-gen« und »Leben mit Verzweiflung«. Oder ist es kein Unterschied, sondern eine Gleichzeitigkeit? Miss.Tic sagt, sie »habe keine Botschaft, keine Le-bensregeln an andere weiterzugeben«. Statt dessen bekennt sie freimütig: »Ich mag, was stört«. Einigen Feministin-nen sind ihre Arbeiten »zu sexy und zu glamourös«. Dagegen gab ihr Chri-stine Boutin, konservative Ministerin für Wohnungs- und Städtebau in der Regierung des Mubarak-Touristen Fran-çois Fillon, grünes Licht, in Lyon zum Thema Stadtentwicklung zu sprayen. Boutin sah sich eines Tages mit dem Slogan konfrontiert: »Viertel erfinden, die nicht hochbewacht / keine Hochsi-cherheitstrakte sind.« So direkt sind

ihre anderen Textbilder selten. Miss.Tic bezieht sich auf Arthur Rimbauds mehrdeutiges Sonett »Vokale« und läßt eine funkeläugige Frau sagen, sie sei »der Vokal des Wortes Gauner«. Neben einem Paar in heftigster Umarmung:

»Hört auf / Aufhören, alles zu schluk-ken / in euch reinzustopfen.« Hingegen, während eine Figur aus dem Bild läuft: »Was mich von mir entfernt / trennt mich von den anderen.«

Wo die Stadt mit Sinneseindrücken, mit Werbung, Sounds und Bildern, er-schlägt, wirken Miss.Tics grafische In-terventionen minimalistisch: Sie sind in Schwarzweiß gehalten, haben etwas von expressionistischen Holzschnitten. Ihre Schablonentechnik kommt aus dem politisch-militärischen Bereich: Der Pa-riser Künstler Blek Le Rat, auf den sie sich bezieht, machte aus einer Kind-heitserinnerung – er hatte auf einer Ita-lienreise mit seinen Eltern kleine Scha-blonengraffiti vom Kopf Mussolinis mit Helm gesehen – Kunst im öffentlichen

Raum und sprühte Ratten, Panzer und Bananen. Aus einer staatlichen Propa-gandatechnik wurde Subversion. Der Akt der Umwertung wurde vom Punk aufgegriffen. 1977, noch vor ihrer er-sten Plattenveröffentlichung, überzogen

Mitglieder der anarchi-stischen Band Crass die Londoner Innenstadt mit einer wahren Graffi-tioffensive. Slogans wie »Fight War Not Wars«, »Stuff Your Sexist Shit« und »Wealth Is A Ghet-to« waren die ersten ih-rer Art in England. Eine Auswahl der Sprühvor-lagen schaffte es sogar auf das Cover des Al-bums »Stations Of The Crass« als Anspielung auf das von ihnen be-vorzugt verzierte Lon-doner U-Bahnnetz. Im letzten Golfkrieg grün-deten Thurston Moore (Sonic Youth) und der Designer Chris Habib »Protest Records«. Das Label bot neben kosten-losen Musikdownloads auch kostenlose Scha-blonen an: »Bush ’n’ Bones« war da zu lesen. Ob Miss.Tic englischen Punk oder New Yorker Noise hört, ist nicht bekannt. Aber in ihrer Kunst geht es ebenso

darum, den Alltag und seine Routinen zu unterbrechen, im Zweifelsfall einen anderen Blickwinkel als den gegebenen einzunehmen. Parteitauglich ist sie nicht und lebt dafür vom Geist des Dada, des Surrealismus und des Situationismus: »Miss.Tic Prési dente«. Ihr Programm: »Grenzen überschreiten. Langeweile desorganisieren. Leidenschaften für sich erfinden. Klischees dekonstruie-ren.« Miss.Tics Kunst weist noch ein-mal (es kann nicht oft genug gesagt werden) darauf hin, daß Veränderung mit Wahrnehmung und Selbstwahrneh-mung beginnt. Am Anfang steht die Irritation. Oder mit André Breton, der im Katalogvorwort zur XI. Internationa-len Ausstellung des Surrealismus unter dem Charles Fourier entlehnten Titel

»Die völlige Abweichung« im Dezem-ber 1965 / Januar 1966 Picasso zitier-te: »Was mich interessiert, ist, etwas herzustellen, was man Spagatbeziehun-gen nennen könnte, sehr unerwartete Beziehungen zwischen den Dingen, von denen ich sprechen will. In dieser Schwierigkeit steckt ein Reiz, und in diesem Reiz ist eine Spannung, die für mich viel wichtiger ist als das stabile Gleichgewicht der Harmonie, das mich überhaupt nicht interessiert. Die Rea-lität muß in jedem Sinne des Wortes durchstochen werden. Ich will den Geist in eine Richtung locken, an die er nicht gewöhnt ist, ihn wachrütteln.«

Jorinde Reznikoff und KP Flügel (Hrsg.): Bomb It, Miss. Tic! Mit der Graffiti-Künstlerin in Paris. Edition Nautilus, Hamburg 2011, 96 Seiten, 9, 90 Euro. Sämtliche Illustrationen dieser Beilage sind mit freund-licher Genehmigung des Verlags dem Band ent-nommen.

In ordnungswidriger Situation»Ich mag, was stört«: Jorinde Reznikoff und KP Flügel haben die Pariser Kunstaktivistin Miss.Tic porträtiert. Von Robert Mießner

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literatur erscheint in der Tageszeitung junge Welt im Verlag 8. Mai GmbH, Torstraße 6, 10119 Berlin.Redaktion: Conny Lösch (V. i. S. d. P.), Anzeigen: Silke Schubert Gestaltung: Michael Sommer

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