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Kurswechsel Freitag-Verleger Augstein verzichtet auf die vier Herausgeber. Interview mit Schriftstellerin Daniela Dahn Schlachthaus Griechen sollen weiter bluten: EU, IWF und Athener Regierung fordern weitere Kürzung des Mindestlohns Polizeiprozeß Ehemaliger jW-Redakteur soll Informan- ten verraten haben. Beweise gibt es nicht, nachgefragt wird nicht Todesstrafe »Handfeste Beweise«: Ägyptens gestürz- ter Diktator soll hingerichtet wer- den, fordert die Staatsanwaltschaft 2 6 5 Wulff wurschtelt weiter Das TV-Interview des Bundespräsidenten war alles andere als »Befreiungsschlag«. Von versprochener Transparenz keine Rede. Von Peter Wolter E s dauerte nicht einmal einen Tag, bis der Bundespräsident sein Versprechen gebrochen hatte: Noch am Mittwoch abend gelobte er in einem TV-Interview, »Transparenz« in seine Skandale zu bringen – und schon am Nachmittag darauf verweigerte er seine Zustim- mung zur Veröffentlichung des Wort- lauts seines Drohanrufs bei Kai Diek- mann, dem Chefredakteur von Bild. Verständlich, daß Christian Wulff Details lieber unter der Decke halten will. In dem Exklusivinterview, das er ZDF und ARD gewährte, hatte er noch behauptet, er habe mit seinem Anruf Bild dazu bringen wollen, die Veröffentlichung eines Berichts über seinen Hauskredit um einen Tag zu verschieben – keineswegs aber, um den Beitrag völlig zu unterbinden. Daß er allerdings genau das verlangt hatte, geht aus einer am nächsten Tag ver- öffentlichten Erklärung Diekmanns hervor. Der Bild-Chef bot auch an, als Beleg den Wortlaut der Nachricht zu veröffentlichen, die Wulff auf seiner Mailbox hinterlassen hatte. Dem war das aber offenbar zu transparent, er verweigerte seine Zustimmung. Augenscheinlich ermuntert von den Spitzen der Regierungsparteien CDU, CSU und FDP versucht Wulff, die Serie der Skandale auszusitzen. Auch wenn er einräumte, sein An- ruf bei Diekmann sei ein »schwerer Fehler« gewesen – mit seinem Ex- klusivinterview mit Bettina Schausten (ZDF) und Ulrich Deppendorf (ARD) hat er sich noch tiefer in die Nesseln gesetzt. Die meisten Medienkommen- tare zu seinem Auftritt fielen ätzend aus. Ein Vorwurf lautete, Wulff habe sich lediglich den »Staatssendern« gestellt, um allzu kritische Fragen zu vermeiden. »Das war ein Mitleid erheischender Auftritt, der unwürdig und peinlich war«, zitierte dapd den Berliner Politologieprofessor Klaus Schroeder. Die Oppositionsparteien forderten am Mittwoch die weitere Aufklärung der Skandale. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles stellte die Frage, wie der Bundespräsident künftig die nötige moralische Autorität aufbringen wol- le. Die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, Renate Künast, kritisierte, Wulff habe »nur über seine Gefühle geredet, aber keine der Fragen beant- wortet, die das Land beschäftigen«. Der stellvertretende Fraktionschef der Linkspartei, Ulrich Maurer, kommen- tierte, Wulff habe »seine Glaubwür- digkeit endgültig auf den Nullpunkt gebracht«. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) müsse »dem Präsidenten von ihren Gnaden jetzt klar machen, daß seine Amtszeit zu Ende ist«. Rückhalt bekam Wulff lediglich aus den Reihen der Regierungspar- teien. Unionspolitiker sprachen von »Vertrauen« in den Präsidenten. Auch FDP-Chef Philipp Rösler zeigte sich zufrieden, CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt lobte, daß Wulff sein Bedauern zum Ausdruck gebracht habe. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe forderte am Donnerstag unver- blümt den Schluß der Debatte, die Op- position treibe ein »schäbiges Spiel«. Das Wulff-Interview war jedenfalls ein klarer Publikumshit: Knapp 11,5 Millionen Zuschauer hatten sich das 20minütige Interview am Mittwoch abend angeschaut – mehr als jede an- dere Sendung an diesem Abend. Mit seinem Auftritt dürfte Wulff in der Bevölkerung allerdings noch unbe- liebter geworden sein: Während im ARD-»Deutschlandtrend« am Mon- tag noch 64 Prozent der Befragten dafür waren, daß Wulff im Amt bleibt, waren es am Mittwoch – vor der Sen- dung – nur noch 47 Prozent. u Siehe Kommentar auf Seite 8 Rente ab 67 entzweit SPD Exfinanzminister Peer Steinbrück fällt Parteifreunden in den Rücken. DGB will »knallharte Kriterien« N eben Union und FDP haben auch die Grünen und ein frü- herer Minister aus den Reihen der SPD deren Vorstoß abgelehnt, die Einführung der Rente ab 67 auszu- setzen. »Die Antwort auf den ma- thematischen Druck der Demographie kann nicht die ersatzlose Suspendie- rung der Rente mit 67 sein«, warnte Exfinanzminister Peer Streinbrück (SPD) gegenüber dem Tagesspiegel. Grünen- Chef Cem Özdemir sagte der Süddeutschen Zeitung, es führe kein Weg an der schrittweisen Anhebung des Rentenalters vorbei, die seit dem 1. Januar für die Geburtsjahrgänge ab 1947 gilt. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles hatte in der Rheinischen Post angekündigt, die SPD werde einen Ge- setzentwurf zur Aussetzung der Rente ab 67 einbringen, sie müsse solange gestoppt werden, bis mindestens 50 Prozent der 60- bis 64jährigen einer sozialversicherungspflichtigen Be- schäftigung nachgingen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) äußert sich ähnlich: »Es war ein schwerer Fehler, mit der Einfüh- rung der Rente mit 67 zu beginnen, oh- ne die Voraussetzungen dafür zu schaf- fen, daß die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tatsächlich länger arbei- ten können«, sagte DGB-Vostandsmit- glied Annelie Buntenbach am Don- nerstag in Berlin. »Wir brauchen keine wachsweichen Erklärungen, sondern knallharte Kriterien.« Die gesetzli- chen Maßstäbe für die Überprüfung der Zumutbarkeit der Rente ab 67 sei- en »viel zu unkonkret«, sagte Bunten- bach. »Unter den heutigen Bedingun- gen hätte die Koalition die Rente mit 67 stoppen müssen. Nur zehn Prozent der 63- und 64jährigen sind sozial- versicherungspflichtig in Vollzeitjobs beschäftigt, knapp 60 Prozent der über 60jährigen dagegen ohne Job.« Eine Quote sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung von 50 Prozent sei hier das absolute Minimum. Zudem müs- se die Erwerbsminderungsrente refor- miert werden, sonst sei die Rente ab 67 auszusetzen. Linkspartei-Chef Klaus Ernst fordert dagegen, sie gänzlich zu- rückzunehmen. Claudia Wangerin 4 198625 901300 50001 > junge Welt wird herausgegeben von 1 196 Ge- nossinnen und Genossen (Stand 21. Dezember 2011). Informationen: www.jungewelt.de/lpg junge W elt Die Tageszeitung www.jungewelt.de »Zurück zu Marx« Ohne revolutionäre Theorie keine re- volutionäre Praxis. Die Klassiker blei- ben für die politische Arbeit der Lin- ken wichtig. Ein Gespräch mit Hans Modrow vor der Rosa-Luxemburg- Konferenz Seite 3 Gegründet 1947 · Freitag, 6. Januar 2012 · Nr. 5 · 1,30 Euro · PVSt A11002 · Entgelt bezahlt 552 Häftlinge in Syrien freigelassen Damaskus. Die syrische Führung hat nach Angaben staatlicher Medien rund 552 im Zusammenhang mit den seit Monaten anhaltenden Protesten Festgenommene aus der Haft entlassen. Die freigelassenen Häftlinge seien in die Proteste ge- gen Staatschef Baschar Al-Assad verwickelt gewesen, hätten aber »kein Blut an den Händen«, berich- tete die amtliche Nachrichtenagen- tur Sana am Donnerstag. Bereits Ende Dezember hatte das syrische Staatsfernsehen berichtet, es seien 755 Häftlinge freigelassen worden. Die Freilassung politischer Gefan- gener ist einer der Schlüsselpunkte im Friedensplan der Arabischen Liga, mit dem der Konflikt in Syri- en beigelegt werden soll. (AFP/jW) Dreikönigstreffen: FDP im Rekordtief stuttgart. Zum Auftakt ihres tra- ditionellen Dreikönigstreffens am Donnerstag in Stuttgart ist die FDP mit einem neuen Umfrage- rekordtief konfrontiert. Im neuen ARD-»Deutschlandtrend« stürzt die Partei auf nur noch zwei Pro- zent der Wählerstimmen ab. Damit büßte die Partei im Vergleich zum Vormonat nochmals einen Punkt ein. Dies sei der schlechteste Wert, der jemals in der monatlichen ARD-Umfrage für die FDP ermit- telt wurde, teilte der Sender mit. Führende FDP-Politiker haben ihre kriselnde Partei unterdessen zu Geschlossenheit und Kampf- bereitschaft aufgerufen. »Es muß Schluß sein mit Selbstbeschäfti- gung«, sagte die stellvertretende Bundesvorsitzende Birgit Hombur- ger (Foto) am Donnerstag auf ei- nem Parteitag der baden-württem- bergischen FDP in Stuttgart zum Beginn des traditionellen Dreikö- nigstreffens. Der Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Rainer Brüderle, sagte in einem Grußwort, die Partei müsse Zustimmung zu- rückgewinnen. (dapd/jW) 8 Und nun, liebe Kinder, erzähle ich euch eine weitere Geschichte … RONALD WITTEK/DAPD

jw-2012-01-06-0

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KurswechselFreitag-Verleger Augstein verzichtet auf

die vier Herausgeber. Interview mit Schriftstellerin Daniela Dahn

SchlachthausGriechen sollen weiter bluten: EU, IWF

und Athener Regierung fordern weitere Kürzung des Mindestlohns

PolizeiprozeßEhemaliger jW-Redakteur soll Informan-

ten verraten haben. Beweise gibt es nicht, nachgefragt wird nicht

Todesstrafe»Handfeste Beweise«: Ägyptens gestürz-

ter Diktator soll hingerichtet wer-den, fordert die Staatsanwaltschaft2 65

Wulff wurschtelt weiterDas TV-Interview des Bundespräsidenten war alles andere als »Befreiungsschlag«. Von versprochener Transparenz keine Rede. Von Peter Wolter

Es dauerte nicht einmal einen Tag, bis der Bundespräsident sein Versprechen gebrochen

hatte: Noch am Mittwoch abend gelobte er in einem TV-Interview, »Transparenz« in seine Skandale zu bringen – und schon am Nachmittag darauf verweigerte er seine Zustim-mung zur Veröffentlichung des Wort-lauts seines Drohanrufs bei Kai Diek-mann, dem Chefredakteur von Bild.

Verständlich, daß Christian Wulff Details lieber unter der Decke halten will. In dem Exklusivinterview, das er ZDF und ARD gewährte, hatte er noch behauptet, er habe mit seinem Anruf Bild dazu bringen wollen, die Veröffentlichung eines Berichts über seinen Hauskredit um einen Tag zu verschieben – keineswegs aber, um den Beitrag völlig zu unterbinden. Daß er allerdings genau das verlangt hatte, geht aus einer am nächsten Tag ver-öffentlichten Erklärung Diekmanns hervor. Der Bild-Chef bot auch an, als Beleg den Wortlaut der Nachricht zu veröffentlichen, die Wulff auf seiner Mailbox hinterlassen hatte. Dem war das aber offenbar zu transparent, er verweigerte seine Zustimmung.

Augenscheinlich ermuntert von den Spitzen der Regierungsparteien CDU, CSU und FDP versucht Wulff, die Serie der Skandale auszusitzen. Auch wenn er einräumte, sein An-ruf bei Diekmann sei ein »schwerer Fehler« gewesen – mit seinem Ex-klusivinterview mit Bettina Schausten (ZDF) und Ulrich Deppendorf (ARD) hat er sich noch tiefer in die Nesseln gesetzt. Die meisten Medienkommen-tare zu seinem Auftritt fielen ätzend aus. Ein Vorwurf lautete, Wulff habe sich lediglich den »Staatssendern« gestellt, um allzu kritische Fragen

zu vermeiden. »Das war ein Mitleid erheischender Auftritt, der unwürdig und peinlich war«, zitierte dapd den Berliner Politologieprofessor Klaus Schroeder.

Die Oppositionsparteien forderten am Mittwoch die weitere Aufklärung der Skandale. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles stellte die Frage, wie der Bundespräsident künftig die nötige moralische Autorität aufbringen wol-le. Die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, Renate Künast, kritisierte, Wulff habe »nur über seine Gefühle geredet, aber keine der Fragen beant-wortet, die das Land beschäftigen«. Der stellvertretende Fraktionschef der

Linkspartei, Ulrich Maurer, kommen-tierte, Wulff habe »seine Glaubwür-digkeit endgültig auf den Nullpunkt gebracht«. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) müsse »dem Präsidenten von ihren Gnaden jetzt klar machen, daß seine Amtszeit zu Ende ist«.

Rückhalt bekam Wulff lediglich aus den Reihen der Regierungspar-teien. Unionspolitiker sprachen von »Vertrauen« in den Präsidenten. Auch FDP-Chef Philipp Rösler zeigte sich zufrieden, CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt lobte, daß Wulff sein Bedauern zum Ausdruck gebracht habe. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe forderte am Donnerstag unver-

blümt den Schluß der Debatte, die Op-position treibe ein »schäbiges Spiel«.

Das Wulff-Interview war jedenfalls ein klarer Publikumshit: Knapp 11,5 Millionen Zuschauer hatten sich das 20minütige Interview am Mittwoch abend angeschaut – mehr als jede an-dere Sendung an diesem Abend. Mit seinem Auftritt dürfte Wulff in der Bevölkerung allerdings noch unbe-liebter geworden sein: Während im ARD-»Deutschlandtrend« am Mon-tag noch 64 Prozent der Befragten dafür waren, daß Wulff im Amt bleibt, waren es am Mittwoch – vor der Sen-dung – nur noch 47 Prozent. u Siehe Kommentar auf Seite 8

Rente ab 67 entzweit SPD Exfinanzminister Peer Steinbrück fällt Parteifreunden in den Rücken. DGB will »knallharte Kriterien«

Neben Union und FDP haben auch die Grünen und ein frü-herer Minister aus den Reihen

der SPD deren Vorstoß abgelehnt, die Einführung der Rente ab 67 auszu-setzen. »Die Antwort auf den ma-thematischen Druck der Demographie kann nicht die ersatzlose Suspendie-rung der Rente mit 67 sein«, warnte Exfinanzminister Peer Streinbrück (SPD) gegenüber dem Tagesspiegel. Grünen- Chef Cem Özdemir sagte der Süddeutschen Zeitung, es führe kein Weg an der schrittweisen Anhebung

des Rentenalters vorbei, die seit dem 1. Januar für die Geburtsjahrgänge ab 1947 gilt.

SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles hatte in der Rheinischen Post angekündigt, die SPD werde einen Ge-setzentwurf zur Aussetzung der Rente ab 67 einbringen, sie müsse solange gestoppt werden, bis mindestens 50 Prozent der 60- bis 64jährigen einer sozialversicherungspflichtigen Be-schäftigung nachgingen.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) äußert sich ähnlich: »Es war

ein schwerer Fehler, mit der Einfüh-rung der Rente mit 67 zu beginnen, oh-ne die Voraussetzungen dafür zu schaf-fen, daß die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tatsächlich länger arbei-ten können«, sagte DGB-Vostandsmit-glied Annelie Buntenbach am Don-nerstag in Berlin. »Wir brauchen keine wachsweichen Erklärungen, sondern knallharte Kriterien.« Die gesetzli-chen Maßstäbe für die Überprüfung der Zumutbarkeit der Rente ab 67 sei-en »viel zu unkonkret«, sagte Bunten-bach. »Unter den heutigen Bedingun-

gen hätte die Koalition die Rente mit 67 stoppen müssen. Nur zehn Prozent der 63- und 64jährigen sind sozial-versicherungspflichtig in Vollzeitjobs beschäftigt, knapp 60 Prozent der über 60jährigen dagegen ohne Job.« Eine Quote sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung von 50 Prozent sei hier das absolute Minimum. Zudem müs-se die Erwerbsminderungsrente refor-miert werden, sonst sei die Rente ab 67 auszusetzen. Linkspartei-Chef Klaus Ernst fordert dagegen, sie gänzlich zu-rückzunehmen. Claudia Wangerin 4 198625 901300

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junge Welt wird herausgegeben von 1 196 Ge-nossinnen und Genossen (Stand 21. Dezember 2011). Informationen: www.jungewelt.de/lpg

junge WeltDie Tageszeitung

www.jungewelt.de

»Zurück zu Marx«Ohne revolutionäre Theorie keine re-

volutionäre Praxis. Die Klassiker blei-

ben für die politische Arbeit der Lin-

ken wichtig. Ein Gespräch mit Hans

Modrow vor der Rosa-Luxemburg-

Konferenz Seite 3

Gegründet 1947 · Freitag, 6. Januar 2012 · Nr. 5 · 1,30 Euro · PVSt A11002 · Entgelt bezahlt

552 Häftlinge in Syrien freigelassen Damaskus. Die syrische Führung hat nach Angaben staatlicher Medien rund 552 im Zusammenhang mit den seit Monaten anhaltenden Protesten Festgenommene aus der Haft entlassen. Die freigelassenen Häftlinge seien in die Proteste ge-gen Staatschef Baschar Al-Assad verwickelt gewesen, hätten aber »kein Blut an den Händen«, berich-tete die amtliche Nachrichtenagen-tur Sana am Donnerstag. Bereits Ende Dezember hatte das syrische Staatsfernsehen berichtet, es seien 755 Häftlinge freigelassen worden. Die Freilassung politischer Gefan-gener ist einer der Schlüsselpunkte im Friedensplan der Arabischen Liga, mit dem der Konflikt in Syri-en beigelegt werden soll. (AFP/jW)

Dreikönigstreffen: FDP im Rekordtief

stuttgart. Zum Auftakt ihres tra-ditionellen Dreikönigstreffens am Donnerstag in Stuttgart ist die FDP mit einem neuen Umfrage-rekordtief konfrontiert. Im neuen ARD-»Deutschlandtrend« stürzt die Partei auf nur noch zwei Pro-zent der Wählerstimmen ab. Damit büßte die Partei im Vergleich zum Vormonat nochmals einen Punkt ein. Dies sei der schlechteste Wert, der jemals in der monatlichen ARD-Umfrage für die FDP ermit-telt wurde, teilte der Sender mit.

Führende FDP-Politiker haben ihre kriselnde Partei unterdessen zu Geschlossenheit und Kampf-bereitschaft aufgerufen. »Es muß Schluß sein mit Selbstbeschäfti-gung«, sagte die stellvertretende Bundesvorsitzende Birgit Hombur-ger (Foto) am Donnerstag auf ei-nem Parteitag der baden-württem-bergischen FDP in Stuttgart zum Beginn des traditionellen Dreikö-nigstreffens. Der Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Rainer Brüderle, sagte in einem Grußwort, die Partei müsse Zustimmung zu-rückgewinnen. (dapd/jW)

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Und nun, liebe Kinder, erzähle ich euch eine weitere Geschichte …

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Freitag, 6. Januar 2012, Nr. 5 junge Welt2 p o l i t i k

»Gew i s s e S ympat h i e f ü r s o l c h e A k t i o n en«Zum Jahreswechsel haben Hacker im Internet mehrere ultrarechte Portale lahmgelegt. Ein Gespräch mit Robert Bahmann

EU droht mit Ölembargo gegen Iranteheran. Der Iran hat gelassen auf ein drohendes Ölembargo der Europä-ischen Union reagiert. »Der Iran ist immer gewappnet, um solchen feind-lichen Aktionen entgegenzutreten«, sagte Außenminister Ali Akbar Salehi am Donnerstag in einer im Fernsehen übertragenen Pressekonferenz mit sei-nem türkischen Kollegen Ahmet Da-vutoglu. Ein Diplomat in Brüssel sagte der Nachrichtenagentur AFP, es gebe im Grundsatz eine Einigung zur Ver-hängung eines Embargos, sollte sich »der Iran weiter der Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft verweigern«. Die EU-Außenminister könnten die Sanktion auf ihrem Tref-fen am 30. Januar beschließen. (AFP/jW)

Pakistan: Taliban ermorden Paramilitärs Peshawar. In den Stammesgebieten im Nordwesten Pakistans sind die Lei-chen von 16 entführten Mitgliedern

einer paramilitärischen Einheit gefun-den worden. Die vor fast zwei Wochen entführten Angehörigen des Grenz-korps seien erschossen in der Region Shawa in Nordwasiristan aufgefunden worden, sagte ein Kommandeur der Einheit am Donnerstag. Ein örtlicher Geheimdienstvertreter bestätigte die Angaben. Die pakistanischen Taliban (TTP) bekannten sich zur Entführung und Ermordung der Paramilitärs. (AFP/jW)

Sächsische Kommission verlangt AkteneinsichtDresDen. Die Parlamentarische Kon-trollkommission (PKK) des Sächsi-schen Landtags verlangt Einsicht in den geheimen Untersuchungsbericht des Bundesamtes für Verfassungs-schutz zur mutmaßlichen Zwickauer Terrorzelle. Der PKK-Vorsitzende Günther Schneider sagte am Donners-tag in Dresden: »Es kann nicht sein, daß die Kontrollkommission des Bun-destags den Bericht einsehen darf und wir nicht«. Die Bundesregierung habe

den Bericht am Montag zwar Innen-minister Markus Ulbig (CDU) zukom-men lassen, doch zugleich untersagt, ihn an die PKK weiterzuleiten.

Ulbig soll nun laut PKK-Beschluß beim Bundesinnenministerium auf ei-ne Freigabe dringen. Die Kontrollkom-mission beschäftigt sich mit Fehlern der Sicherheitsbehörden bei Ermitt-lungen zur Terrorzelle.

(dapd/jW)

Strom aus Österreich für BRD eingespeistBerlin. Nach der »Energiewende« kann die Stabilität der deutschen Stromver-sorgung in diesem Winter angeblich nur schwer aufrechterhalten werden. Der Netzbetreiber Tennet mußte be-reits am 8. und 9. Dezember erstmals auf Reservekraftwerke in Österreich zurückgreifen, wie ein Sprecher der Bundesnetzagentur am Donnerstag auf dapd-Anfrage sagte. Das Unter-nehmen sprach von einer Vorsichts-maßnahme. (dapd/jW)

NachrichteN

Mubarak wird auf einer Trage in den Gerichtssaal geschoben

Todesstrafe für Mubarak gefordertÄgypten: Staatsanwalt beruft sich auf »handfeste Beweise« gegen den Expräsidenten

Im Prozeß gegen den früheren ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak (83) hat die Staatsan-

waltschaft die Todesstrafe gefordert. Ankläger Mustafa Suleiman sagte am Ende seines Plädoyers am Donnerstag in Kairo, es lägen handfeste Beweise dafür vor, daß der »tyrannische Füh-rer« Mubarak für die tödlichen Schüs-se auf Demonstranten während des Umsturzes Anfang 2011 verantwort-lich gewesen sei. Der mitangeklag-te ehemalige Innenminister Habib Al-Adly habe »den Schießbefehl auf die Demonstranten nicht anordnen können, ohne von Mubarak entspre-chend instruiert« worden zu sein, sag-te Suleiman. Selbst wenn Mubarak den Schießbefehl nicht direkt erteilt haben sollte, sei er für den Tod der Demonstranten verantwortlich. 846 Menschen wurden bei dem Aufstand gegen den früheren Staatschef im Ja-nuar und Februar vergangenen Jahres getötet.

Es sei unmöglich, daß Mubarak als Staatschef nichts von den Vorgängen gewußt habe, führte Suleiman am letz-

ten Tag seines Plädoyers aus. Er müsse sich fragen lassen, warum er nicht ein-geschritten sei, um die Gewalt gegen die Protestierenden zu verhindern. Der Staatsanwalt sagte, das Vorgehen mit Schußwaffen gegen die Demonstran-ten am 28. Januar vergangenen Jahres, als Tausende Menschen auf der Kasr-Al-Nil-Brücke von Sicherheitskräften daran gehindert worden waren, auf den Tahrir-Platz zu gelangen, sei von Mubarak am Tag davor entschieden worden. Man habe mehr als 2 000 Zeu-gen gehört, darunter Demonstranten, Ärzte und Polizisten. Polizisten hätten ausgesagt, daß ihre Vorgesetzten ange-ordnet hätten, Maschinengewehre und Schrotflinten gegen die Demonstran-ten anzuwenden.

Neben Mubarak und Al-Adly sind sechs weitere Verantwortliche aus dem früheren Sicherheitsapparat an-geklagt. Mubarak befindet sich we-gen seines schlechten Gesundheitszu-standes in einem Militärkrankenhaus in Untersuchungshaft und wird auf einer Trage in den Gerichtssaal ge-bracht. Die beiden Söhne Mubaraks,

Gamal und Alaa, müssen sich wegen Vorwürfen der Korruption ebenfalls verantworten. Die Angeklagten, die den Prozeß in einem Käfig verfolgen, weisen die Vorwürfe zurück.

Mubarak, der am 11. Februar vergan-genen Jahres nach fast drei Jahrzehnten an der Macht wegen Massenprotesten sein Amt aufgeben mußte, steht seit August in Kairo vor Gericht. Neben der Gewalt gegen Regierungsgegner werden ihm und seinen Mitangeklag-ten Korruption und Amtsmißbrauch vorgeworfen. Die Forderung nach der Todesstrafe dürfte seine noch immer zahlreichen Anhänger schockieren. Vertreter von Menschenrechtsorgani-sationen lehnten die Todesstrafe be-reits ab. Ob ein solches Urteil fällt, hängt nicht zuletzt davon ab, ob das Innenministerium noch erforderliche Beweise vorlegt. Nach Auskunft der Staatsanwaltschaft hatten weder dieses Haus noch der Nationale Sicherheits-rat bei der Aufklärung kooperiert. Der Prozeß wird am kommenden Montag fortgesetzt.

Karin Leukefeld

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Das Hackerkollektiv An-onymous hatte als Neu-jahrsgruß für Rechtsex-

treme auf Twitter zu Attacken aufgerufen. Daraufhin wurden Portale wie Altermedia Deutsch-land und das NPD-Parteiorgan Deutsche Stimme zeitweise lahmgelegt. Freut Sie das?

Ich persönlich sehe das recht zwie-gespalten. Es herrscht bei uns zwar eine gewisse Sympathie für solche Aktionen, aber das Ganze ist eben auch der Aufruf zu einer Straftat. Meiner Meinung nach kann man so-ziale Probleme nicht »technisch« lö-sen, egal auf welche Art und Weise.

Warum nicht?Meist beseitigen technische Lösun-gen nur die Symptome, aber nicht das eigentliche Problem. Ein Angriff auf die Internetpräsenz einer NPD-Seite ist ein symbolischer Akt, löst aber nicht das gesellschaftliche Problem. Auch besteht zusätzlich die Gefahr, daß man diesen Leuten die Möglich-keit gibt, sich in die Opferrolle zu begeben.

Man sollte auch eines bedenken: Wenn man diesen Seiten zu viel öf-fentliche Aufmerksamkeit schenkt, trägt man vielleicht auch noch zu ih-rer Popularisierung bei. Dennoch bie-ten solche Hackeraktionen die Mög-lichkeit, rechte Kommunikations-infrastruktur empfindlich zu stören.

Und was halten Sie von der ebenfalls von der Hacker-Com-munity ins Netz gestellten Ent-hüllungsseite Nazi-Leaks, auf der beispielsweise Spender der NPD mit Namen und Adressen aufgeführt sind oder eine ebenso vollständige Autorenliste des rechtsnationalen Blattes Junge Freiheit? Oder davon, daß Da-ten der Kunden des Nationalen Versandhauses dort einsehbar sind?

Das ist grob fahrlässig und verstößt auch gegen die Hackerethik. Dort heißt es klar: »Private Daten schüt-

zen, öffentliche Daten nützen«! Da-bei ist es unerheblich, wessen private Daten geschützt werden oder welche Gesinnung dieser oder jener hat. Hin-zu kommt, daß die Echtheit der Listen nur schwer nachzuweisen ist. Ganz zu schweigen von den Problemen, die für Leute entstehen, die aus welchen Gründen auch immer »aus Versehen« auf diese Listen gelangen.

Welches Motiv vermuten Sie hinter solchen Aktionen?

Über Motive läßt sich nur spekulie-ren. Das Problem dabei ist auch, daß Anonymous kein Kollektiv oder eine Gruppe ist, die geschlossen in eine Richtung marschiert. Schönstes Bei-spiel ist der Stratfor-Hack aus dem vergangenen Jahr: Es gab sowohl ein glaubhaftes Dementi als auch das Be-kenntnis eines anderen Teils von An-onymous zu der Aktion. Ich denke, man sollte Anonymous weniger als Gruppe, sondern mehr als gemein-samen Decknamen verstehen, der eben auch von jedem genutzt werden kann.

In welcher Weise werden diese Aktionen im »Chaos Computer Club« diskutiert?

Dem größten Teil der Antinazi-Aktio-nen gegenüber herrscht eine gewisse Sympathie. Aber sie hinterlassen auch einen faden Nachgeschmack: Wo wird die Grenze gezogen, und was für einer Art von Selbstjustiz ste-hen wir hier gegenüber?

Und was halten Sie von interna-tionalen Hackeraktionen, von denen beispielsweise Scientology und die Drogenmafia betroffen gewesen sein sollen?

Sie zeigen vor allem, daß ein neuer Raum entsteht, der als Druckmittel genutzt werden kann. Allerdings be-gibt man sich als Aktivist auch in Gefahren, die auf einmal sehr real werden könnnen.

Welche Rolle hat das Internet Ihrer Kenntnis nach im arabi-schen Frühling gehabt - ist es ein brauchbares Mittel von Wider-standskämpfern in Diktaturen?

Es hat eine sehr große Rolle bei der Dezentralisierung der Proteste ge-spielt – in diesem Bereich haben Ak-tivisten wie die Gruppe Telecomix großartige Arbeit geleistet. Sie stell-ten den Menschen Internetzugänge zur Verfügung, nachdem diese von der ägyptischen Regierung gesperrt worden waren.

Das Internet beschleunigt die Kommunikation und Gruppenbil-dung enorm. Und es eignet sich ideal zum Transport von symbolgeladenen Botschaften. Wie zum Beispiel das Bild des bis zum Bersten gefüllten Tahrir-Platzes in Kairo, auf dem der ägyptische Volksaufstand seinen An-fang nahm.

Interview: Gitta Düperthal

Motiv zur Aktion von Anonymous. – Robert Bahmann ist Aktivist des »Chaos Computer Clubs« (CCC)

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Unter dem Motto »Wir ver-ändern die Welt« findet am 14. Januar in Berlin

die von jW veranstaltete XVII. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz statt. »Sozialismus oder Barbarei – welche Rolle spielt Die Linke?« lautet die Fra-gestellung der Podiumsdiskussion. Sie haben im vergangenen Jahr in Mexico-City und London auf internationalen Konferenzen über Geschichte und Perspektive der Linken diskutiert. Beginnen wir mit dem Fazit, bevor wir ins Detail gehen: Was blieb als wichtigste Erkenntnis der beiden Tagungen diesseits und jenseits des Atlantik?

Daß tradierte Werte und Prinzipien der antikapitalischen Bewegungen wieder wichtig werden und die Bedeutung po-litischer Bildung und Qualifizierung zunehmend erkannt und auch bedient wird. Das eine korrespondiert mit dem anderen und wird als Basis für eine erfolgreiche politische Auseinanderset-zung gesehen.

In Mexico-City luden mehrere Institutionen – darunter auch das dortige Büro der Rosa-Luxem-burg-Stiftung – zu einer dreitägi-gen Konferenz, die sich mit dem gemeinsamen antifaschistischen Erbe beschäftigte. Tagung und Workshops fanden im Trotzki-Museum, d. h. im einstigen Wohn-haus des russischen Revolutio-närs, statt. Worum ging es?

Nun, bekanntlich gab es während des Zweiten Weltkrieges zwei Zentren, in denen sich deutsche Antifaschisten, mehrheitlich aus der KPD kommend, konzentrierten. Nachdem Prag und Pa-ris verloren gingen, waren das Moskau und Mexico-City. Jenseits des Atlantik entstand – noch vor Gründung des Na-tionalkomitees »Freies Deutschland« 1943 in der Sowjetunion – ein Bund »Freies Deutschland«. Den Kern bil-dete der Heinrich-Heine-Klub, der von Anna Seghers geleitet wurde. An der Spitze des Bundes stand der Spanien-kämpfer Ludwig Renn. Alles in allem lebten 1942/43 rund hundert deutsche Kommunisten in Mexiko, die Mehrheit jüdischer Herkunft, zumeist Intellek-tuelle – von Steffie Spira über Paul Merker und Alexander Abusch bis hin zu Walter Janka. Von dort gingen auch Impulse aus für den antifaschistischen Kampf in anderen lateinamerikani-schen Ländern, in denen seit den frühen 30er Jahren die Fünfte Kolonne der deutschen Nazipartei, die Auslandsor-ganisation der NSDAP, wühlte. Nach dem Krieg fanden die aus Europa ge-flüchteten Nazis dort Unterschlupf.

Und daran wurde erinnert?Ja, aber das greift zu kurz. Natürlich ging es zunächst darum, an diese Ver-gangenheit zu erinnern und Lücken zu schließen. Nüchtern wurde zum Bei-spiel festgestellt, daß die Geschichte der AO der NSDAP in Lateinamerika weit besser erforscht ist als die des Antifaschismus und der Emigranten. Es hat mich sehr bewegt, als ich sah, wie mit bescheidenen Mitteln, aber mit großem persönlichen Engagement die-ses Kapitel dargestellt wurde. Renata von Hanffstengel, Tochter eines deut-schen Exilanten und einer Mexikane-rin, würdigte mit einer sehr anschauli-chen Ausstellung Don Gilbert Bosques (1892–1995). Bosques war seinerzeit mexikanischer Generalkonsul in Frank-reich, der Order von seiner Regierung hatte, politische Flüchtlinge aus der besiegten spanischen Republik, Juden, Antifaschisten und anderen Verfolgten Visa zu erteilen. Seine Unterschrift ret-tete Zehntausenden das Leben. Später war Bosques Botschafter in Havanna. Diese sehr informative Ausstellung war leider nur vier Tage zu sehen. Die

Rosa-Luxemburg-Stiftung wird sich bemühen, sie nach Deutschland zu holen. Entscheidend jedoch bei dieser Zusammenkunft war der politische Meinungsaustausch, die Verständigung über dieses Kapitel gemeinsamer anti-faschistischer Vergangenheit.

Wer nahm denn an der Konferenz teil?

Rund hundert Personen, darunter vier Deutsche. Dr. Margrid Bircken von der Universität Potsdam, eine Seghers-Forscherin, sprach zum Thema Exil und Literatur, ich über Exil und Poli-tik. Mehrheitlich waren Studenten und Akademiker gekommen, die lebhaft diskutierten.

Nahm in dieser Neun-Millionen-Metropole die Öffentlichkeit über-haupt Notiz von dieser transatlan-tischen Runde?

Durchaus. Die Presse berichtete, wir gaben Interviews, und ich konnte mit den internationalen Sekretären zweier linker Parteien konferieren. Die Partido de la Revolución Democrática (PRD) und die Partido del Trabajo (PT) nah-men nicht offiziell an der Konferenz teil, aber sie suchten das Gespräch mit einem Vertreter der Partei Die Linke.

Was sind das für Parteien?Die PT, die Partei der Arbeit, ist 1990 entstanden und nach meinem Eindruck marxistisch orientiert, die PRD, die Partei der Demokratischen Revolution, würde ich als vorrangig sozialdemokra-tisch bezeichnen. Sie stellt die zweit-stärkste Fraktion im Parlament und pflegt auch Kontakte zur SPD. PT und PRD haben einen gemeinsamen Kan-didaten für die Präsidentschaftswahl in diesem Jahr, der nicht chancenlos ist.

Beides sind große Mitgliederparteien, die in Lateinamerika beachtliches Ge-wicht haben. Wir sollten die Kontakte intensivieren.

Am 24./25. November luden die Marx-Gedenkbibliothek (Marx Memorial Library), die sich in ei-nem hübschen Zweigeschosser in der Londoner Innenstadt befindet, und die Rosa-Luxemburg-Stiftung zu einer Konferenz zum Thema »Der Marxismus im 21. Jahrhun-dert«. Weshalb lud man Sie?

Ich habe langjährige Kontakte zur KP Großbritanniens, sprach beispielsweise vor sechs Jahren am Grabe von Marx, besuchte wiederholt ihre Gedenkbiblio-thek. Letztlich haben die DDR und die Sowjetunion seinerzeit die Einrichtung unterstützt, weshalb dem Trägerverein die Immobilie heute gehört. Dort be-findet sich auch das Archiv des und die Bibliothek zum spanischen Bürger-krieg. Da existiert doch eine traditionel-le Verbindung.

Der Parteivorsitzende Prof. John Foster referierte. Es sprachen Ku-baner, Russen, Inder und Chine-sen, auch Sie hielten einen Beitrag. Das schien ein anderer Ansatz als in Mexico.

Naja, diese Zusammenkunft hatte ja auch ein ganz anderes Thema. Es ging darum, ob die von Marx gelieferte Theorie noch von Nutzen für die Ge-genwart ist.

Und: Ist sie?Selbstverständlich. Darin waren sich alle Teilnehmer einig wie auch in der Überzeugung, daß mehr zu ihrer Ver-breitung getan werden müsse. Es bedarf grundsätzlich der politischen Schulung

nicht nur der Parteimitglieder. Erstaun-lich, was sich da in linken Parteien – von der deutschen einmal abgesehen – in vielen Ländern bereits tut. Die Partei-führungen haben begriffen, wie wichtig die Qualifikation für die aktive Politik ist. Ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Praxis. Dieser Satz von Engels war Konsens.

Wie groß war der Teilnehmer-kreis?

Nicht sehr groß, kein halbes Hundert Wissenschaftler und Politiker, durch-aus ein exklusiver Klub. Dafür war der Meinungsaustausch sehr lebhaft und anregend. Die Briten machten deutlich, daß es ihnen um einen internationalen Dialog geht, um eine Verständigung über die Aufgaben linker Parteien in Europa und in der Welt. Dabei ging es ihnen weniger um Tagespolitik, son-dern um strategische Orientierungen. Interessant fand nicht nur ich den Bei-trag von Prof. Cheng Enfu, dem Präsi-denten der Akademie für Marxismus in Peking, wenn man so will: der Chef der dortigen Parteihochschule. Er plädierte beispielsweise für den gleichberechtig-ten Zusammenschluß der Linkskräfte inklusive der Gewerkschaften weltweit und regte in diesem Kontext die Bil-dung eines neuen Weltgewerkschafts-bundes an. Mit Blick auf die Geschich-te meinte er, daß wir vermeiden sollten, Fehler zu wiederholen.

Zielte das auf uns?Nicht nur. Cheng Enfu übte durchaus Selbstkritik. In China wären nur noch 30 Prozent der Betriebe in Staatsbesitz, in Belorußland 70. Es entwickle sich in China ein Markt ohne Moral. Er be-nutzte den Begriff »moralische Krise«, für die er drei Gründe sah: Die Traditi-on der Korruption in China sei seit dem 18. Jahrhundert nahezu ungebrochen, die Rolle der örtlichen Machthaber, die sich an die »öffentlichen Regeln« kaum hielten, sei zu gewaltig, und drittens schließlich würde die Landwirtschaft immer weiter hinter der industriellen Entwicklung zurückbleiben, wobei die meisten Chinesen auf dem Lande leb-ten. Die damit einhergehende soziale Spaltung der Gesellschaft sei in hohem Maße unmoralisch.

Und was hat das mit Marx zu tun?Für ihn stand im Zentrum aller gesell-schaftlichen Bemühungen der Mensch. Zurück zu Marx, lautete darum der Appell von Cheng Enfu, und er ver-wies auf diesbezügliches Unwissen bei ihrem akademischen Nachwuchs. Ihm müsse – was offenkundig bisher nicht oder nur in unzureichendem Maße geschieht – der historische Materialis-mus vermittelt werden. Für die Gestal-tung einer besseren, einer gerechten Gesellschaft sei er unverzichtbar. Die Sowjetunion und ihr Gesellschaftsmo-dell seien letztlich an ihrer Abkehr vom Marxismus gescheitert.

Allein daran?Das sei das Grundproblem gewesen, sagte Cheng Enfu. Begonnen habe es mit dem XX. Parteitag 1956, der in der Kritik an Stalin überzogen habe, und daß man sich in der Folgezeit im-mer weniger an Marx orientierte und statt dessen imperiale, pragmatische Großmachtpolitik betrieben habe. Gor-batschows Politik hätte den Prozeß der Auflösung ungeheuer beschleunigt, wenn nicht sogar gewollt.

Interessant fand ich die Antwort auf meine Frage nach dem Platz von Mao in der heutigen chinesischen Gesellschaft. Seine Ideen wären lebendig, aber ne-ben Marx, Engels und Lenin sieht man keine weiteren Klassiker mehr. Es lag eine Statistik mit wissenschaftlichen Arbeiten über Marx, Engels, Lenin und Stalin vor. Hinter Stalin stand seit Jah-ren eine Null, 1990 wurde die letzte Publikation veröffentlicht. Das Gespräch führte Frank Schumann

junge Welt Freitag, 6. Januar 2012, Nr. 5 3s c h w e r p u n k t

Ab 11 Uhr Vorträge

»Wir verändern die Welt«Mit Beiträgen von:

Agostinho LopesMitglied des ZK und der Kommission für ökonomische Angele-genheiten der KP Portugals, Mitglied der Parlamentsfraktion des Linksbündnisses Coligação Democrática Unitária (Koalition Demokratische Einheit)

sAmi Ben ghAziMitglied der Direktion der Union de la jeunesse communiste de Tunisie (Union der Kommunistischen Jugend Tunesiens)

Grußbotschaft von

mumiA ABu-JAmAL Journalist und politischer Gefangener, USA

JohAnnA FernAndez Historikerin und Sprecherin des Verteidigungsteams von Mumia Abu-Jamal, USA

gerALdo gAspArin Mitglied der Bundesdirektion der Landlosenbewegung »Movi-mento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra« (MST) in Brasilien, Beiratsmitglied der Bundesschule »Escola Nacional Florestan Fernandes«

pedro noeL CArriLLo ALFonso Mitglied des Ressorts Internationale Beziehungen im ZK der KP Kubas

Moderation:

dr. seLtsAm

Ab 13 Uhr Parallelprogramm»Jugend aus dem schußfeld! strate gien gegen den einfluß der Bundeswehr im Bildungsbereich«Eine Veranstaltung der Jugendverbände Linksjugend ['solid], SDAJ, LandeschülerInnenvertretung NRW und GEW-Jugend (angefragt)

14.30 Uhr Kulturprogramm

»Farewell Karratsch«

roLF BeCKerSchauspieler

KAi degenhArdt Liedermacher

16 Uhr Kulturprogramm

solikonzert für die Cuban Five BotsChAFt von rené gonzáLez freigelassener kubanischer Kundschafter (Cuban Five)

pABLo miró Songwriter, Sänger, Gitarrist und Multiinstrumentalist der argentinischen Volksmusik. Seine Musik wird von verschiedenen argentinischen Rhythmen wie die Chaca-Rera, den Chamamé oder die Bahuala beeinflußt.

18 Uhr Podiumsdiskussion

»sozialismus oder Barbarei – Welche rolle spielt die Linke?«georg FüLBerth emeritierter Professor für Politikwissenschaft

JuttA ditFurth Publizistin, Buchautorin und Stadtverordnete von ÖkoLinX-ARL im Frankfurter Römer

dietmAr dAthJournalist, Autor

heinz BierBAumstellvertretender Vorsitzender der Partei Die Linke, Professor für Betriebswirtschaft an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes und Leiter des hochschulansässigen INFO-Instituts

Moderation:

ArnoLd sChöLzeL Chefredakteur junge Welt

20 Uhr Ausklangtrio pALmerALateinamerikanische Musik zum Mojito im Foyer

Konferenzsprachen: Englisch, Spanisch, Deutsch (Simultanübersetzung)Änderungen vorbehalten.

Informationen, Kartenverkauf und Reservierung: Aktionsbüro junge Welt, Telefon 0 30/53 63 55 10, www.rosa-luxemburg-konferenz.de. Kartenbestellungen, die bis zum 5. Januar 2012 eingehen, werden gegen eine zusätzliche Bearbei-tungsgebühr von 2 € zugesandt (nur mit Einzugser-mächtigung). Reservierte Karten können von 10 bis 12 Uhr an der Tageskasse abgeholt werden.

eine veranstaltung der tageszeitung junge Welt mit unterstützung von linken medien, gewerkschaften, soligruppen und initiativen.

www.rosa-luxemburg-konferenz.de

Rosa Luxemburg XVII. Internationale

Konferenz

samstag, 14. Januar urAniA-hAus, Berlin (An der urania 17, saalöffnung: 10 uhr)

»Zurück zu Marx«Ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Praxis: Klassiker bleiben für die politische Arbeit der Linken wichtig. Ein Gespräch mit Hans Modrow

Hans Modrow (geb. 1928) übte in der DDR verschiedene führende Funktionen in FDJ und SED aus. Vom 13. November 1989 bis zum 12. April 1990 war er Minister-präsident, später bis 1994 Abgeordneter des Bundestages und von 1999 bis 2004

Mitglied des Europaparlaments. Von 1990 bis 2007 war er Ehrenvorsitzender der PDS und ist seitdem Sprecher des Ältestenrats der Partei Die Linke.

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Es war Sigmar Gabriels dritter Besuch im früheren Salzberg-werk Asse II. Als 17-jähriger

Umweltschützer war er das erste Mal hier. Im April 2007 kam er als Bun-desumweltminister. Am Mittwoch abend kam er als SPD-Vorsitzender und Ankläger.

Der High-Tech-Bohrer vor Kammer sieben ist schon vor etlichen Wochen installiert worden. Doch er dreht sich nicht. Er darf sich noch nicht in die mehrere Meter dicke Wand fressen, hinter der vom 1967 bis 1978 tausen-de Fässer mit schwach radioaktivem Atommüll deponiert wurden. Mit der Probebohrung wollen die Experten des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) erkunden, ob die Fässer noch intakt sind – oder längst zerfressen von Salz, Feuchtigkeit und Strahlung.

Erst danach soll entschieden wer-den, ob und wie es weitergeht, mit der Bergung der Abfälle aus dem Atom-mülllager. Vor einem Jahr beantragte das BfS beim Niedersächsischen Um-weltministerium die Genehmigung für die Probebohrungen. Das Mini-sterium prüfte und prüfte und versah den Antrag schließlich mit mehr als 50 umfassenden Auflagen. So um-fassend, daß sich das BfS bis heute nicht in der Lage sieht, sie vollends abzuarbeiten – so konnte etwa die ge-forderte Stickstoff-Feuerlöschanlage für den unwahrscheinlichen Fall eines Brandes bislang nicht beschafft wer-den. Deshalb dreht sich der Bohrer noch nicht.

»Ganz mieses Spiel« Für Gabriel steht inzwischen fest: Niedersachsens Umweltminister Hans-Heinrich Sander (FDP) und Bundesumweltminister Norbert Rött-gen (CDU), der in Sachen Asse zwar

das letzte Wort hat, aber jede konkrete Aussage meidet wie der Teufel das Weihwasser, wollen die Bergung gar nicht. Sie verzögern das Verfahren, bis eine Räumung aus Zeitgründen nicht mehr möglich ist und das Bergwerk doch geflutet werden muß. Sander und Röttgen »warten ab, bis das, was man sich nicht öffentlich zu sagen traut, dann doch passiert«. Das Ganze sei, sagt Gabriel, »ein ganz mieses Spiel.«

Er erinnert daran, daß der Beschluß zur Räumung des vom Einstürzen und Vollaufen bedrohten Bergwerks vor zwei Jahren das Ergebnis eines wissenschaftlichen Vergleichs mehre-rer Varianten zur Schließung der Asse war. »Es wurde klar, daß nur so die

Langzeitsicherheit zu gewährleisten ist«, sagt der SPD-Chef. Niemand ha-be das damals in Zweifel gezogen.

Wenn es überhaupt noch was werden soll mit der Rückholung, müßten alle Beteiligten jetzt an einem Strang zie-hen, sagt Gabriel. »Das Verfahren zur Rückholung der radioaktiven Abfäl-le braucht den absoluten Willen aller, dieses größte Strahlenschutzproblem Europas in den Griff zu kriegen.«

Persönliche Verantwortung Der SPD-Vorsitzende schlägt vor, das Bundesumweltministerium, das Nie-dersächsische Umweltministerium und das Bundesamt für Strahlenschutz

(BfS) sollten umgehend eine »Task Force« bilden. An der Spitze müßten Entscheidungsträger wie Staatssekre-täre oder Abteilungsleiter stehen. Das Verfahren könne nur funktionieren, wenn die zuständigen Minister auch persönlich Verantwortung übernäh-men. Solange die Politiker nicht dazu bereit seien, könne man dies auch nicht von den Beschäftigten verlangen.

Die SPD sieht sich an der Seite der Bürger. Die Atomexpertin der Bundes-tagsfraktion, Ute Vogt, die mit Gabriel in den Schacht gefahren war, kündigt für die nächste Woche einen Antrag im Parlament an. »Darin fordern wir, daß sich die Bundesregierung klar zur Rückholung bekennt.«

Löcher graben für die Stadt, die so wenig Löcher hat. Bilder machen, sich bewerben, könn-

tet ihr nicht einfach sterben?« fragt die Rockgruppe E-egal in ihrem Song »Arbeitsamt«. Darin verarbeiten die Musiker ihre Erlebnisse mit dem Job-center Braunschweig.

Über ihre Erfahrungen im Umgang mit Fallmanagern, vermeintlichen Pflichtverstößen und Sanktionen dis-kutierten am Mittwoch abend in Ber-lin Einzelpersonen und Vertreter ver-schiedener Erwerbsloseninitiativen auf dem Plenum der »Berliner Kam-

pagne gegen Hartz IV«. Im Mittel-punkt der Informations- und Diskus-sionsveranstaltung, die vom Erwerbs-losenzentrum »BASTA!« gemeinsam mit der Berliner Kampagne organi-siert wurde, standen die sogenannte Eingliederungsvereinbarung und der dazugehörige Verwaltungsakt.

Laut Sozialgesetzbuch soll mit je-dem Arbeitslosengeld-II-Bezieher ei-ne Vereinbarung über Pflichten und Leistungen beider Seiten bei der Ar-beitssuche, konkrete Zielbestimmun-gen und die verfolgte Strategie ausge-handelt werden. Dem Abschluß sol-

len Verhandlungen und ein ausführ-liches Profiling, also die Anpassung der Anforderungen an die angestrebte Tätigkeit und der persönlichen Vor-aussetzungen des Bewerbers vorange-hen, um die »Integration in den ersten Arbeitsmarkt« zu ermöglichen.

Von individuell ausgearbeiteten Vereinbarungen, der Berücksichti-gung eigener Vorschläge und erfolg-reicher Hilfe bei der Suche nach einer würdevollen Tätigkeit hatten Betrof-fene und Aktivisten aus Beratungs-stellen nichts zu berichten. Vielmehr von Sanktionsdrohungen, unsinnig hohen Vorgaben für die Anzahl der vorzulegenden Bewerbungen und der Bombardierung mit meist fachfrem-den Weiterbildungsmaßnahmen.

Wie nun sollen Betroffene auf ei-ne Eingliederungsvereinbarung rea-gieren? »Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder geht man offensiv in die Verhandlungen und versucht, das Bestmögliche für sich herauszuholen, oder man verweigert die Unterschrift«, erklärte ein Aktivist des »BASTA!« in seiner Einführung zum Thema. Es sei zwar schwierig, Wünsche nach bestimmten Weiterbil-dungsmaßnahmen oder genau festge-

legte Pflichten der Jobcenter festzu-schreiben, wirke aber der gängigen Praxis vieler Fallmanager entgegen, den Arbeitssuchenden standardisierte Knebelvereinbarungen aufzuzwin-gen. Weigert sich ein ALG-II-Bezie-her, den »Vertrag« zu unterschreiben, wird der durch einen Verwaltungsakt gültig. »Das hat zwar den Vorteil, daß der Betroffene Einspruch gegen den Verwaltungsakt einlegen kann. Bei vermeintlichen Pflichtverletzun-gen drohen aber sofort drakonische Strafen.« Der Einspruch habe keine aufschiebende Wirkung. Auf Antrag könne diese aber hergestellt werden.

Einig waren sich die Anwesenden bei der Bewertung dieses »arbeits-marktpolitischen Instruments«: »Aus meiner Sicht ist es ein Hebel, um Druck auf Erwerbslose auszuüben und sie zu disziplinieren«, so ein Teil-nehmer im Gespräch mit junge Welt. Einen praktischen Nutzen für die Mo-tivation bei der Suche nach einem Job kann er nicht erkennen. »Mich haben die ständige Angst vor Sanktionen und immer neue Schikanen seitens des Fallmanagers eher gelähmt.«

Florian Möllendorf

Freitag, 6. Januar 2012, Nr. 5 junge Welt4 p o l i t i kZitat des tages

Wulff ist der erste Bun-despräsident, der sich selbst begnadigt.

Heribert Prantl in der Süddeut-schen Zeitung am Donnerstag nach dem am Vorabend ausge-strahlten Fernsehinterview von Christian Wulff

Bahn und GDL wollen ZukunftstarifvertragFrankFurt/main. Die Deutsche Bahn (DB) und die Lokführerge-werkschaft GDL wollen auf den Lokführermangel reagieren und den Beruf attraktiver machen. Sie begannen am Donnerstag in Frankfurt am Main Verhand-lungen für einen sogenannten Zukunftstarifvertrag. »Zum Beispiel geht es darum, daß Mitarbeiter ein Berufsleben lang bei der DB tätig sein können, um lebenslanges Lernen, um Fra-gen, wie wir Übergänge von der Schule in den Beruf oder in ei-ner späteren Berufsphase besser ausgestalten«, sagte eine Bahn-Sprecherin. Der GDL-Bundes-vorsitzende Claus Weselsky sagte, es werde keine Streiks geben. Die Gewerkschaft strebt einen Abschluß bis April an. (dapd/jW)

Gewerkschaften kritisieren LufthansaBerlin. Der Plan der Deutschen Lufthansa, künftig Leiharbeits-kräfte in ihren Flugzeugkabinen einzusetzen, ist nach Einschät-zung von Gewerkschaften unzulässig. Ein Gutachten bestätige diese Position, teilten die »Unabhängige Flugbegleiter Organisation« (UFO) und die Vereinte Dienstleistungsgewerk-schaft (ver.di) am Donnerstag mit. Beide Organisationen hatten Gutachten in Auftrag gegeben, von denen eines bereits vorliegt. Das zweite soll Ende des Monats fertig gestellt sein. Die Exper-ten kommen nach Angaben der Gewerkschaften zu der Einschät-zung, daß Lufthansa weder in Berlin noch an anderen Standor-ten Leiharbeiter als Kabinenbe-satzung einsetzen darf. Deutsch-lands größte Airline hatte Ende 2011 angekündigt, am neuen Großflughafen in Berlin bei den 15 Maschinen, die sie dort statio-nieren will, aus Kostengründen keine Flugbegleiter des Konzerns mehr zu beschäftigen. (jW)

Antisemitischer Angriff in BerlinBerlin. Drei Jugendliche sind im Berliner Stadtteil Friedrichshain fremdenfeindlich angegriffen worden. Die 15- und 16jährigen waren in der Nacht zu Donners-tag am S-Bahnhof Frankfurter Allee unterwegs, als sie zunächst von drei Männern mit Steinen beworfen wurden, wie die Polizei mitteilte. Anschließend belei-digten die Angreifer im Alter von 34 und 36 Jahren ihre Opfer mit antisemitischen Parolen und schlugen einem Jugendlichen ins Gesicht. Die Polizei nahm die drei Erwachsenen fest. (dapd/jW)

Gabriel unterirdischIm Atommüllager Asse teilt der SPD-Chef kräftig aus: Bundesumweltminister Röttgen und Landesumweltminister Sander sabotierten die Rückholung der Abfälle. Von Max Eckart

Wie mit dem Fallmanager umgehen?Erwerbsloseninitiativen diskutieren über sogenannte Eingliederungsvereinbarung

Sigmar Gabriel (l.) am Mittwoch in der Asse – gemenisam mit BfS-Chef Wolfram König

Lesen Sie kommende Woche in junge Welt:

»Sozialismus oder Barbarei – welche Rolle spielt Die Linke?«Zwei Debattenbeiträge zur Vorbereitung der Konferenz auf den jW-Themaseiten

– Dienstag, 10.1.: Heinz Bierbaum, stellvertretender Vorsitzender der Partei Die Linke, MdL Saarland und Professor für Betriebswirtschaft

– Mittwoch, 11.1.: Georg Fülberth, Politikwissenschaftler und Publizist

Samstag, 14. Januar 2012 URANIA-HAUS, BerlinRosa Luxemburg

XVII. Internationale

Konferenz

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junge Welt Freitag, 6. Januar 2012, Nr. 5 5p o l i t i k

Der Vorwurf wiegt schwer: Ein früherer Redakteur der jungen Welt soll unter Mißachtung

des journalistisch gebotenen Quellen-schutzes die Identität eines Informan-ten aus der Berliner Polizei aufgedeckt haben. Der Beamte, Polizeiobermei-ster Nils D., steht seit Mittwoch we-gen Geheimnisverrats vor Gericht. Der heute 26jährige soll am 23. November 2009 die Bewohner eines besetzten Hauses in der Berliner Brunnenstraße vor der für den folgenden Tag geplan-ten Räumung gewarnt haben. »Mor-gen, am 24.11.09 wird euer Haus ge-räumt, ich bin Polizist und habe von der Räumung erfahren«, hieß es darin. Der anonyme Absender machte An-gaben über die Zahl der eingesetzten Beamten und forderte die Bewohner auf, sich auf die Räumung vorzuberei-ten. Er sei Polizist, solidarisiere sich aber mit der linken Szene. Die Haus-besetzer leiteten die obskure Mail am 2. Dezember, eine Woche nach der erfolgten Räumung, mit der Bitte um weitere Recherche an den jW-Redak-teur weiter. Die Besetzer verbreiteten den Nachrichteninhalt am selben Tag außerdem in einer Pressemitteilung und veröffentlichten ihn am 4. Dezem-ber auf ihrer Internetseite.

Der jW-Redakteur habe die Mail an die Polizei weitergeleitet und da-mit die Enttarnung des Informanten ermöglicht, berichteten am Mittwoch verschiedene Berliner Medien. »Sei-ne Quelle schützte er nicht«, behaup-tete die Berliner Zeitung. Belege für diesen – für einen Journalisten extrem rufschädigenden – Vorwurf nannte das Blatt nicht. Die Autorin hielt es auch nicht für nötig, eine Stellungnahme des Betroffenen einzuholen. »Wenn mir der Richter das so sagt, wird es wohl stimmen«, erklärte sie gestern auf jW-Nachfrage. Mit einem ähnlichen Tenor berichtete die Abendschau des RBB.

Der Kollege, der die junge Welt vor einem Jahr aus persönlichen Gründen verlassen hat, bestreitet, die Mail an

die Polizei weitergeleitet zu haben. Er habe am 2. Dezember bei deren Pres-sestelle telefonisch nachgefragt und aus dem Text der Nachricht zitiert. Die Mail selbst habe er der Polizei jedoch »selbstverständlich nicht« zur Kennt-nis gegeben.

Für diese Version spricht in der Tat einiges. So bemühten sich Beamte des Landeskriminalamtes noch Anfang 2011, über ein Jahr nach dem Vorfall, wiederholt telefonisch bei der jW-Redaktion um die Herausgabe dieser Mail – natürlich vergeblich. Warum die Ermittler dies getan haben sollten, wenn ihnen der Kollege diese bereits im Herbst 2009 weitergeleitet hatte, ist deren Geheimnis. Eine entsprechen-de Nachfrage bei der Pressestelle der Berliner Polizei blieb gestern unbe-antwortet. Auch zu der simplen Frage, ob die Polizei die Mail, aus der die

IP-Adresse des Angeklagten angeblich rekonstruiert wurde, tatsächlich von dem damaligen jW-Redakteur erhielt, hieß es unter Verweis auf das laufen-de Gerichtsverfahren nur lapidar: »Die Polizei Berlin kann Ihnen dazu keine Auskünfte erteilen.«

Die Verteidigerin des angeklagten Polizisten, eine Rechtsanwältin, die im Nebenjob als Dozentin bei der Fach-hochschule der Polizei in Brandenburg und Spandau arbeitet, konnte sich ge-stern auf jW-Nachfrage ebenfalls nicht erinnern, ob die Mail, aus der die Iden-tität des Angeklagten hervorgehen soll, die Absendeadresse des damaligen jW-Mitarbeiters trägt: »Dazu kann ich jetzt nichts sagen, weil mir die Akten im Moment nicht vorliegen.«

Weitere Ungereimtheiten waren be-reits in der Verhandlung am Mittwoch zur Sprache gekommen. So wurde of-

fenbar das E-Mail-Postfach der Haus-besetzer (wo die Nachricht seinerzeit einlief) durch die Polizei nicht be-schlagnahmt. Beamte sagten aus, man habe dafür »keine Notwendigkeit« ge-sehen. Auch bei der Durchsuchung des privaten Computers des Angeklagten wurde den Angaben zufolge keine Spur der Nachricht gefunden. Das klang vor anderthalb Jahren schon mal anders. Damals wurde der Beamte vom Dienst suspendiert. »Nach Angaben des Ver-waltungsgerichts wurde in einem Er-mittlungsverfahren eine Nachricht im privaten E-Mail-Ausgang des verdäch-tigten Polizisten gefunden, in der er die Bewohner des Hauses einen Tag vor der Räumung über den Einsatz und die Zahl der Einsatzkräfte informierte«, teilte die Nachrichtenagentur ddp am 15. Juli 2010 mit.u Siehe auch Seite 8

Freihändig beschuldigtEhemaliger jW-Redakteur soll einen Informanten an die Polizei verraten haben. Einen Beweis dafür gibt es bislang nicht, wohl aber Fakten, die dagegen sprechen. Von Jörn Boewe

Eine NPD-Verbotsdebatte ist mit der CSU nicht vorstellbar, ohne daß ein paar Spitzenpo-

litiker sich mindestens so vehement dafür einsetzen, im selben Atemzug der Linkspartei den Garaus zu ma-chen.

Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) hat sich nun aber skeptisch zu Plänen seiner Partei-freunde für einen Ausschluß der NPD und von der Parteienfinanzierung ge-äußert. Die Innenminister von Bund und Ländern hätten dies schon 2010 »verworfen«, sagte Friedrich der Leipziger Volkszeitung vom Donners-tag. Er glaube nicht, daß ein solcher Weg zur Einschränkung der NPD-Ar-beit leichter sei »als ein Weg über das Parteienverbot«. Friedrich verwies in diesem Zusammenhang darauf, daß er »auch der Verfassungsminister« sei. »Ich weiß schon, welche Anfor-derungen sich aus dem Urteil des Ver-fassungsgerichts für den Umgang mit Parteien ergeben«, sagte er der Leip-

ziger Volkszeitung. Es sei richtig, daß man »eine Partei nicht einfach so mir nichts dir nichts verbieten kann«. Ein Verbot könne es nur geben, »wenn der Nachweis der aktiven Bekämpfung des Grundgesetzes durch eine Par-tei geführt werden kann«. Rechtliche Bedenken gegen einen Ausschluß der NPD von der staatlichen Parteienfi-nanzierung hatten zuvor bereits Poli-tiker von SPD, FDP, Grünen und der Partei Die Linke geltend gemacht. Letztere sollte nach dem Dafürhalten von CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt ebenso finanziell ausge-trocknet werden wie die NPD.

Die CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt sagte am Donners-tag bei der CSU-Klausurtagung in Wildbad Kreuth, ihr seien die juri-stischen Bedenken gegen eine Ein-schränkung der Parteienfinanzierung bekannt und ebenfalls, daß Friedrich die Pläne mit Skepsis betrachte. Es müsse aber überlegt werden, »ob man dem Steuerzahler zumuten kann, daß

er Gelder ausgibt zur Finanzierung verfassungsfeindlicher Parteien«. Durch Änderung des Grundgesetz-artikels 21 zur staatlichen Parteien-finanzierung will Dobrindt ermögli-chen, im Fall eines Verbotsverfahrens oder bei vom Verfassungsschutz be-obachteten Parteien eine Auszahlung der Staatsmittel zu unterbinden.

Gerade am Verfassungsschutz und der Rolle seiner V-Leute in der rechts-extremen Partei war allerdings 2003 das erste Verbotsverfahren gegen die NPD gescheitert. Im Jahr 2009 ergab eine Studie des Freiburger Staats-rechtsprofessors Dietrich Murswiek, daß nahezu alle Verfassungsschutz-berichte der vergangenen Jahre ver-fassungswidrig gewesen seien, weil zwischen Verdachtsfällen und Fällen erwiesener Verfassungsfeindlichkeit nicht klar und deutlich unterschieden wurde. An dieser Praxis hat sich bis heute in den meisten Berichten dieser Art nichts geändert.

Wieder aufgekommen war die

Debatte um ein NPD-Verbot Ende letzten Jahres nach der Aufdeckung der rechten Terrorzelle »Nationalso-zialistischer Untergrund«, die nach bisherigen Ermittlungen für eine ras-sistische Mordserie und mindestens zwei Sprengstoffanschläge verant-wortlich ist. Zu ihren mutmaßlichen Unterstützern gehört auch ein frühe-rer NPD-Kader.

Der ehemalige Richter am Bun-desverfassungsgericht, Udo di Fabio, mahnt in der NPD-Verbotsdebatte zur Vorsicht. Die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden mit V-Leuten in der rechtsextremen Partei sei »ein prozessuales Risiko«, sagte er dem Tagesspiegel am Donnerstag. Der Ex-Richter warnte zudem, der Europä-ische Gerichtshof für Menschenrech-te könnte im Falle eines NPD-Verbots durch das Bundesverfassungsgericht zu einem anderen Urteil kommen. »Dies erhöht das Risiko für den Aus-gang des Verfahrens«, sagte di Fabio. Claudia Wangerin

Die Extremisten von Wildbad Kreuth Bundesinnenminister warnt CSU-Parteifreunde vor Ausschluß mißliebiger Parteien von staatlicher Finanzierung

Räumung des besetzten Hauses in der Berliner Brunnenstraße 183 (24. November 2009)

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Ja, ich bestellevon der roten Fahne zum Stückpreis von 5 € (zzgl. 3 € Versandkosten, bei der Abnahme ab 10 Fahnen entfallen die Versandkosten)

Größe: ca. 140 cm x 95 cmMaterial: Trevira mit eingenäh-ter Schlaufe. Preis: 5 Euro, zzgl. 3 Euro Versandkosten (bei Ab-nahme ab 10 Fahnen entfallen die Versandkosten). Erhältlich auch unter www.jungewelt-shop.de oder in der jW-Ladengalerie (Torstraße 6, 10119 Berlin, Öffnungszeiten: Montag bis Donnerstag 10–18 Uhr, Freitag 11–14 Uhr)

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Freitag, 6. Januar 2012, Nr. 5 junge Welt6 p o l i t i kMyanmar: Partei wieder zugelassennayPyiDaw. Die vor mehr als an-derthalb Jahren verbotene Partei der birmanischen Friedensno-belpreisträgerin Aung San Suu Kyi ist von den Behörden offizi-ell wieder zugelassen worden. Die Nationale Liga für Demo-kratie (NLD) nahm damit am Donnerstag die wichtigste Hür-de für ihre Teilnahme an den bevorstehenden Nachwahlen im April, wie NLD-Sprecher Nyan Win mitteilte. Die NLD war im Mai 2010 verboten worden, nachdem sie zu einem Boykott der ersten Wahlen seit 20 Jahren aufgerufen hatte. (AFP/jW)

Überfälle durch Milizen im Kongokinshasa. Mehr als zwei Dutzend Personen sind laut Militäran-gaben im Osten des Kongo Angriffen einer Miliz zum Opfer gefallen. Bei den Über-fällen zwischen dem 2. und 4. Januar habe es in der Provinz Süd-Kivu 26 Tote und 13 Ver-letzte gegeben, erklärte ein Militärsprecher am Mittwoch. In einem Interview mit einem Radiosender bezifferte ein Beamter vor Ort die Zahl der Toten auf bis zu 41. Zwei Ba-taillone der Streitkräfte hätten die Verfolgung der Angreifer aufgenommen, teilte der Mili-tärsprecher weiter mit. (dapd/jW)

Israel: Anklage gegen OlmertJerusalem. Der bereits durch mehrere Korruptionsaffären belastete frühere israelische Regierungschef Ehud Olmert ist am Donnerstag im Zusammen-hang mit einem Schmiergeldfall angeklagt worden. Auf Gesuch des Generalstaatsanwalts habe ein Gericht in Tel Aviv Anklage wegen Korruption erhoben, teilte die israelische Justiz mit. Olmert wird vorgeworfen, als Bürgermeister von Jerusalem in den 90er Jahren insgesamt rund 1,5 Millionen Schekel (heute gut 300 000 Euro) an Schmiergeld angenommen zu haben. Mit ihm angeklagt wurden nach Berichten israe-lischer Medien zwölf weitere Menschen, darunter Jerusalems Ex-Bürgermeister und Olmerts Nachfolger Uri Lupolianski sowie seine frühere Büroleiterin Schula Saken. (AFP/jW)

USA: Polizei erschießt SchuljungenBrownsville. Ein bewaffneter Achtklässler ist am Mittwoch in einer Mittelschule der texani-schen Stadt Brownsville von Po-lizisten erschossen worden. Der 15jährige trug ein Schrotgewehr bei sich. Er habe wiederholt Aufforderungen, das Gewehr zu senken, ignoriert. Schließlich hätten die Beamten das Feuer eröffnet. Die Sicherheitskräfte hätten drei Schüsse abgegeben, von denen mindestens zwei den Schüler trafen. (dapd/jW)

Trotz vernichtender Ergebnisse hält die Gläubigertroika aus EU, Europäischer Zentralbank

und Internationalem Währungsfonds unbeirrt an ihrer Austeritätspolitik fest. In einem erst am Dienstag der Öf-fentlichkeit bekanntgewordenen Brief an das griechische Arbeitsministerium wird die Ausdehnung der Lohnkür-zungen auch auf die private Wirtschaft gefordert. Konkret regt man die Strei-chung des 13. und 14. Monatsgehalts sowie die Senkung des Mindestlohnes um etwa 200 auf zum Überleben auch in Griechenland völlig unzureichende 550 Euro an. In Gesprächen mit den Vorsitzenden des griechischen Unter-nehmerverbandes (SEV), des Gewerk-schaftsdachverbandes in der privaten Wirtschaft (GSEE) sowie den beiden Handelsverbänden GSEVEE und ESEE versuchte Ministerpräsident Loukas Papadimos am Mittwoch, die-se Forderungen durchzusetzen. Ohne die Zustimmung zu weiteren Lohnkür-

zungen werde Griechenland die zur Deckung der Auslandsschulden benö-tigten neuen Kredite nicht erhalten, so der Premier. Dies könne in einen unkontrollierten Staatsbankrott und dem Rausschmiß Griechenlands aus der Euro-Zone enden, malte Papadi-mos das mittlerweile sattsam bekannte Schreckgespenst an die Wand.

Dabei hat die längst nicht mehr nur in Griechenland angewandte brutale Umverteilungspolitik zu Lasten der Lohnabhängigen und kleinen Selb-ständigen verheerende Folgen für die Betroffenen. Etwa drei Millionen Griechen mußten bereits 2010 ihr Le-ben mit einem Einkommen unter oder dicht an der Armutsgrenze von jährlich etwa 7 100 Euro fristen, teilte das Sta-tistikamt Anfang des Jahres mit. 2011 dürfte sich diese Zahl drastisch er-höht haben. Die mit den sogenannten Sparmaßnahmen angeblich angestreb-te Konsolidierung der Staatsfinanzen dagegen wurde nicht erreicht. Trotz

weiterer Milliardenkürzungen wird das Haushaltsdefizit für 2011 wenn überhaupt nur knapp unter den 10,5 Prozent des Vorjahres und Lichtjahre entfernt von den geplanten 7,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen.

Angesichts der durch den Einbruch der Inlandskaufkraft verursachten an-haltenden Rezession auf den Märkten ist sogar der griechische Unternehmer-verband gegen eine direkte Senkung des Mindestlohns. Gleichzeitig forder-te Dimitris Daskalopoulos aber eine Senkung der Arbeitskosten durch ge-ringere Unternehmensbeiträge zur So-zialversicherung. Da dies vom Staat, also durch Steuereinnahmen vor allem aus den Taschen der Lohnabhängigen, ausgeglichen werden müßte, handelt es sich beim Vorschlag des Unternehmer-verbandes allerdings um eine indirekte Lohnkürzung. Die beiden Handelsver-bände GSEVEE und ESEE schlagen eine Sondersteuer von 0,1 Prozent auf Unternehmensgewinne zum Ausgleich

dieser Verluste vor. »Der Mindestlohn des armen Arbei-

ters ist unverhandelbar«, erklärte da-gegen Giannis Panagopoulos. Gleich-zeitig wies der GSEE-Vorsitzende auch die Erpressung mit dem drohenden Verlust des Euro zurück. »Wenn wir um den Bankrott des Landes zu ver-meiden nicht einmal den Mindestlohn von 750 Euro Brutto halten können, dann lohnt es sich nicht, in der Euro-Zone zu verbleiben.« Die Kommuni-stische Partei Griechenlands warf dem Gewerkschaftsdachverband vor, bei der »Schlachtung von Löhnen, Rechten und Sozialversicherung« mitzumachen. »Sie tun so, als würden sie der Troika Widerstand leisten«, heißt es in einer am Mittwoch veröffentlichten Presse-erklärung, »während sie gleichzeitig bereit sind, zur Wettbewerbsfähigkeit des Kapitals beizutragen, für die das auf lange Dauer ausgelegte Schlacht-haus unter dem Vorwand von Krise und Schulden gebaut wurde«.

Griechisches SchlachthausTroika und Papadimos fordern weitere Kürzung des Mindestlohns. Von Heike Schrader, Athen

Seit August 2011 läuft in Portu-gal das Programm zum Verkauf staatlichen Eigentums an aus-

ländisches Kapital auf Geheiß der Troi-ka aus EU-Kommission, Internationa-lem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank. Zuerst traf es die Banco Português de Negócios (BPN), deren Schulden die portugiesischen Steuer-zahler nach ihrer Verstaatlichung im Jahr 2008 Milliarden gekostet hatten. Sie wurde für 40 Millionen Euro an die angolanische BIC veräußert. Ende De-zember gingen die staatlichen Anteile eines der größten europäischen Ener-gieversorger, EDP, für rund 2,7 Milliar-den Euro an die chinesische Three Gor-ges Corporation. Zuvor hatte Angela Merkel noch heftig bei Premier Passos Coelho für das Angebot des deutschen Energieriesen E.on geworben, das am Ende aus dem Rennen schied.

Die nächsten Unternehmen auf der Privatisierungsliste sind die Flugge-sellschaft TAP, der Fernsehsender RTP,

die Eisenbahngesellschaft CP sowie der kleinere Energieversorger REN.

Die portugiesische KP spricht von einem »Schlag gegen die nationale Souveränität«: »Das aktuelle Privati-sierungsprogramm ist eine echte Plün-derung des Landes. Es reiht sich ein in die Zerstörung unseres produktiven Apparates, die kolossale Höhe der Zin-sen auf die öffentlichen Schulden und die ständige Kapitalflucht. Es bedeutet die Aufgabe von strategischen Unter-nehmen und Sektoren, wie Energie, öffentliche Verkehrsmittel, Wasser, Post, Versicherungen oder wichtige staatliche Infrastrukturen. Was fremde Hilfe genannt wird, ist in Wirklichkeit organisierter Diebstahl«, an dem sich die sozialdemokratische PS, die libe-ralkonservative PSD und die rechts-konservative CDS-PP aktiv beteiligen würden, hieß es in einer Stellungnah-me.

Große Empörung rufen auch die Pläne hervor, den Beschäftigten vier

Feier- und drei Urlaubstage zu strei-chen. Eine Gesetzesvorlage, die eine Verlängerung der Arbeitszeit von 2,5 Stunden pro Woche ohne zusätzliche Vergütung vorsieht, gibt es bereits. In der Praxis hieße das, daß die Portu-giesen künftig einen Monat im Jahr gratis arbeiten sollen. Der nationale Gewerkschaftsverband CGTP verur-teilt dieses Vorhaben als einen »feigen Angriff auf das Leben der Familien«, durch das die Regierung »Zwangsar-beit« etablieren wolle und mehr Armut und Misere schaffe. Es sei ein »krimi-neller Vorschlag«, der es den großen Unternehmen erlaube, »Arbeitsplätze zu vernichten« und gleichzeitig zu ei-ner »Erhöhung der Profite auf Kosten von wachsender Arbeitslosigkeit und Ausbeutung« beitrage.

Indessen gab die Regierung neue mit der Troika vereinbarte Maßnah-men bekannt, die weitere Kürzungen, vor allem im Gesundheitswesen und im öffentlichen Dienst, zur Folge ha-

ben werden. Demgegenüber steht der anhaltende

Protest der portugiesischen Bevölke-rung, der sich auch nach dem erfolg-reichen Generalstreik vom 24. Novem-ber fortsetzt. Über die Weihnachtstage mußten aufgrund eines Streiks bei der staatlichen Eisenbahngesellschaft über 2700 Züge gestrichen werden, Anfang Januar wird es erneute Arbeitsnieder-legungen geben. Auch die Angestell-ten der öffentlichen Verkehrsmittel haben neue Streiks angekündigt. Sie protestieren gegen Lohn- und Perso-nalkürzungen, gegen die stückweise Privatisierung des Transportwesens sowie die Erhöhung der Ticketpreise und die Streichung von Fahrplänen.

Für die nächsten Wochen sind wei-tere Ausstände und andere Protestak-tionen geplant, an denen sich Lehrer, Studenten, Streit- und Sicherheits-kräfte sowie Arbeiter des öffentlichen Dienstes und der Industrie beteiligen sollen. Ana Kühn Paz

Plünderung und ZwangsarbeitPortugal: Weitere Privatisierungen und Kürzungen. Gewerkschaften kündigen neue Streiks an

aNschlagsserie gegeN schiiteN im irak

BagDaD. Bei einer erneuten Serie von An-schlägen sind im Irak am Donnerstag mehr als 70 Menschen getötet worden. In der Hauptstadt Bagdad kamen bei mehreren Bombenexplosionen in vorwiegend von Schiiten bewohnten Stadtteilen minde-stens 27 Menschen ums Leben.

Laut Behörden wurden in dem Stadtteil Kadhimija (Foto) mindestens 15 Menschen bei der Explosion von zwei Autobomben getötet und knapp 60 weitere verletzt. Im Viertel Sadr City kamen durch eine Explo-sion nahe einer Gruppe von Tagelöhnern mindestens zwölf Menschen ums Leben und 20 weitere wurden verletzt. Wenig später explodierten zwei Bomben unweit des Krankenhauses, in das einige der Opfer gebracht worden waren; mindestens zwei Menschen starben, 15 wurden verletzt. Bei einem Selbstmordanschlag auf Pilger in Batha bei Nassirija im Süden des Landes wurden nach Angaben der Gesundheitsbe-hörden der Provinz Dhi Kar 45 Menschen getötet, es gab mehr als 60 Verletzte.

(AFP/jW) AP

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junge Welt Freitag, 6. Januar 2012, Nr. 5 7p o l i t i k

Griechisches SchlachthausTroika und Papadimos fordern weitere Kürzung des Mindestlohns. Von Heike Schrader, Athen

Justiz für alleBoliviens Präsident Evo Morales vereidigt per Stimmzettel gewählte Richter. Von Benjamin Beutler

Der Ort für die offizielle Vereidi-gung der 56 Richter hätte nicht besser ausgesucht sein können.

Ausgerechnet im pompösen Kolonial-gebäude des Obersten Gerichtshofes wagte Boliviens Justiz diese Woche den Neuanfang. »Die Rechtsprechung ist nicht für Leute mit Geld und Einfluß, das war früher«, richtete sich Staatschef Evo Morales in seiner Rede am Diens-tag an die anwesenden Juristen, viele von ihnen Frauen sowie Aymara und Quechua, die indigene Mehrheit des Andenlandes. »Was Bolivien braucht, ist eine unabhängige und transparente Rechtsprechung, auch ihre Langsam-keit und Diskriminierung muß aufhö-ren«, so der eindrückliche Appell des ersten indigenen Präsidenten des An-denlandes. »Die Justiz des kolonialen Staates, die sich den Parteien unterord-net und als korrupt bezichtigt wird, ist vorbei«, erklärte Morales. Zum ersten Mal in der modernen Geschichte der Demokratie hatten im Oktober letzten Jahres vier Millionen wahlberechtigte Bolivianer die Möglichkeit, direkt über die höchsten Richter abzustimmen. Das von der regierenden »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) mit Zweidrittel-mehrheit kontrollierte Parlament hatte eine Vorauswahl getroffen, auf meter-langen Stimmzettel standen in 23 866 Abstimmungslokalen 115 Kandidaten zur Wahl.

Von den künftigen Vorsitzenden

von Verfassungsgericht, Oberstem Ge-richtshof, Verwaltungsgericht sowie Land- und Umwelttribunalen erwarte Morales niemanden, der ihn »verteidigt oder beschützt«, ging der Regierungs-chef auf nicht verstummende Vorwürfe der Opposition ein. »Das ganze ist Be-trug«, schimpfte Rubén Costas, Präfekt im Tiefland-Departamento Santa Cruz, Hochburg der europäisch-stämmigen Oligarchie von Großgrundbesitzern und Unternehmertum. »Die Richter ha-ben keinerlei Legitimität«, urteilte der wegen Verstrickungen in ein Mordkom-plott gegen Morales vor der Staatsan-waltschaft flüchtige Präfekt die Amts-einführung als »demokratische Farce« ab. Tatsächlich nutzten viele Wähler die Wahlen im Oktober als Gelegenheit, ihren Unmut über die Zentralregierung in La Paz durch ungültige Stimmabga-be oder Wahlenthaltung zum Ausdruck zu bringen. Dafür hatten Privatmedien und rechte Opposition massiv die Wer-betrommel gerührt. Die Richterwahl sollte zur »ersten Wahlniederlage« der Morales-Administration stilisiert wer-den.

Doch das Märchen von parteigesteu-erten Richtern ohne Legitimität ist an den Haaren herbeigezogen. Während in der Mehrheit der Staatenwelt das höchste Justizpersonal direkt vom Prä-sidenten, dem Parlament oder gar wie in Deutschland von einer Parlaments-kommission bestimmt wird, so wurden

in Bolivien einzig die Kandidaten zur Richterwahl vorausgewählt. Parteimit-gliedschaft war ein Ausschlußkrite-rium.

19 von 26 vorsitzenden Richtern sind nun Frauen und Indigene. Ein in Bolivien nie gewesenes Zeichen von »Vielfalt und Ergebnis der Revolution«, so Morales. Bestes Beispiel ist Cristi-na Mamani. Die neue Präsidentin des Verwaltungsgerichtes und Aymara aus La Paz erhielt Stimmten von fast einer halben Million Wählern.

Im Vergleich mit der Situation vor einigen Jahren werden die Verände-rungen deutlich. Noch während der Verfassungsgebenden Versammlung im romantischen Theater der »weißen Stadt« Sucre, wo seit 2006 ebenfalls vom Volk gewählte Mitglieder eine neue Magna Charta ausarbeiteten, hat-ten Gegner der »Neugründung Boli-viens« Hetzjagden auf dunkelhäutige Delegierte veranstaltet. Später gingen Bilder entblößter Bauern um die Welt. Unter Beschimpfungen auf dem Haupt-platz der Stadt zusammengetrieben, wurden sie mit Benzin übergossen; der MAS-Anhängerschaft Beschuldigten drohte der Mob mit Verbrennung, mit Holzkreuzen in den Händen mußten sie Morales abschwören. Damit soll nun endgültig Schluß sein. Die am Dienstag vereidigten Männer und Frauen werden bis 2017 ihre Ämter an den Gerichten ausüben.

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JESSICA RINALDI / REUTERS

AP/PABLO MARTINEZ MONSIVAIS

Verfassungsschutz:

Kein Hinweis auf Verbindungen zu

rechter Terrorzelle

Heinz-Jürgen Voß: Geschlecht – Wider die Natürlichkeit Schmetterling Verlag, 2. Auflage 2011, 180 S.Heinz-Jürgen Voß bereitet aktuelle Ergebnisse der Biologie anschaulich auf und zeigt, wie diese in Richtung vieler Geschlechter weisen. Indem er an Gedanken der Entwicklung anknüpft, rückt er den Menschen selbst in den Mittelpunkt, wo bisher die Kategorie und Institution »Geschlecht« fetischisiert wurden. Von hier aus ergeben sich gesellschaftskriti-sche Forderungen im Anschluß an Karl Marx.

Michael Schwandt: Kritische Theorie – Eine EinführungSchmetterling Verlag, 2009, 240 S.Michael Schwandt liefert eine knappe Einführung in die Kritische Theorie und unternimmt den Versuch einer Bilanz – das Dilemma politischen Engage-ments in der Gegenwart immer im Blick. Wie soll, wie kann sich politisch verhalten, wer diese Welt aus tiefstem Herzen ändern will, aber erkennen muß, daß die Chancen dazu verschwindend gering sind?

Prämie 1 Prämie 2

Álvaro Uribe, der frühere kolum-bianische Staatschef, ist zum möglicherweise wichtigsten

Gegner seines Amtsnachfolgers Juan Manuel Santos geworden. Obwohl dieser als Verteidigungsminister un-ter Uribe dessen rechte Hand gewesen war und beide bis heute derselben Par-tei – »Partido de la U« – angehören, greift Uribe mittlerweile offen die Re-gierungspolitik an und schürt zugleich Konflikte mit den Nachbarstaaten. Kurz vor Weihnachten etwa verbreitete er im Internetdienst Twitter: »Solidari-tät mit dem demokratischen Venezuela. Ich bin kein Berater, ich bin Kämpfer für die Freiheit, die von der Diktatur unterdrückt wird.«

Zuvor hatte Uribe in Bogotá Leopol-do López empfangen, einen der bekann-testen Politiker der venezolanischen Opposition und möglichen Herausfor-derer von Präsident Hugo Chávez bei den Wahlen am 7. Oktober. Schon im November hatte er sich in der kolumbia-nischen Hauptstadt mit einer anderen Gruppe von Oppositionellen aus dem Nachbarland getroffen, darunter der Oberbürgermeister von Caracas, Anto-nio Ledezma, und der Chef des Fern-sehsenders Globovisión, Antonio Ravel. Dabei forderte er, die venezolanischen Regierungsgegner müßten gegen das kurz darauf stattfindende Treffen zwi-schen den beiden amtierenden Staats-chefs auftreten: »Warum veröffentlichen Sie in den Tagen vor dem Besuch nicht ein Manifest mit der Aussage: Präsi-dent Santos, wir sind enttäuscht, daß sie mehr Wert auf 800 Millionen Dollar oder 400 Millionen Dollar legen als auf

die demokratischen Werte.« Santos war es nach seinem Amtsan-

tritt im August 2010 gemeinsam mit seinem venezolanischen Amtskollegen Chávez gelungen, die Beziehungen zwischen den Nachbarländern zu nor-malisieren, während unter Uribe beide Staaten mehrfach am Rande eines Krie-ges gegeneinander gestanden hatten. Hintergrund dafür war die angebliche Unterstützung der kolumbianischen FARC-Guerilla durch Venezuela und Ecuador. Während Santos etwa gegen-über Journalisten mehrfach erklärt hat, daß es keine Lager der Guerilla in Ve-nezuela gibt, beharrt Uribe auf dieser Legende, die er selbst kurz vor dem Ende seiner Amtszeit mit der patheti-schen Präsentation angeblicher Beweise auf die Spitze getrieben hatte. Und auch Ecuador bezichtigt er weiterhin der Hilfe für die Aufständischen. Mitte Dezember forderte dessen Präsident Rafael Correa daraufhin Uribe heraus, sich gemeinsam einem Test zu stellen. »Ich unterziehe mich allen Lügendetektoren um zu se-hen, ob ich irgendwas mit den FARC zu tun habe, wenn Álvaro Uribe dasselbe tut, um zu beweisen, daß er nichts mit den Paramilitärs zu tun hat«, erklärte Correa – pikanterweise zu einem Zeit-punkt, als direkt neben ihm Santos stand, der sich zu einem offiziellen Besuch im Nachbarland aufgehalten hatte.

Die Einmischung Uribes ging so-gar der venezolanischen Opposition zu weit. Ramón Guillermo Aveledo, Exekutivsekretär des Bündnisses der Regierungsgegner »Tisch der demo-kratischen Einheit« (MUD), bat den Expräsidenten öffentlich, »uns nicht zu

benutzen, um indirekt Opposition ge-gen die gegenwärtige kolumbianische Administration zu machen«. Trotzdem ließ sich Leopoldo López von Uribe ei-ne Audienz gewähren und lobte dessen Regierungspolitik: »Wenn wir ein Land als Beispiel für Erfolge im Bereich der Sicherheit nehmen können, dann ist dies Kolumbien mit Expräsident Uribe«.

Völlig anderes bewertet etwa Am-nesty International die Bilanz Uribes. In ihrem Jahresbericht 2011 wirft die Organisation dessen Regierung etwa eine »feindselige Haltung gegenüber Menschenrechtsverteidigern« vor. Auch 2010, in den letzten Amtsmona-ten Uribes, seien vor allem von der Ar-mee außergerichtliche Hinrichtungen durchgeführt worden, »wenn auch in geringerer Zahl als in den Vorjahren«. Die von Amnesty in diesem Bericht vorsichtig geäußerte Hoffnung auf ei-ne Besserung der Lage unter Santos hat sich jedoch zerschlagen. Eine in-ternationalen Delegation, die Anfang Dezember Kolumbien bereiste, hat der Nachrichtenagentur IPS zufolge eher eine Verschärfung der Menschenrechts-verletzungen festgestellt. »In Kolum-bien findet ein Völkermord statt«, zitierte die Agentur Mirta Acuña de Baravalle, ein Gründungsmitglied der argentinischen Menschenrechtsorgani-sation der Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo. Die Zahl der Morde an Umweltschützern und Menschen, die für die Rückgabe ihrer von Paramilitärs besetzten Ländereien kämpften, sei ge-stiegen. Auch mehrten sich neue Fälle von »Verschwindenlassen«, stellte die Delegation fest. André Scheer

Uribe macht weiterKolumbiens Expräsident agitiert gegen seinen Nachfolger

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Freitag, 6. Januar 2012, Nr. 5 junge Welt 8 a n s i c h t e n

Jan van Aken, Abgeordneter der Bun-destagsfraktion Die Linke, kritisierte am Donnerstag die Pläne der EU, alle Ölimporte aus dem Iran zu stoppen:Ein Ölembargo gegen den Iran wä-re blanke Unvernunft. Der Verweis der EU auf den jüngsten Bericht der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA ist verlogen, denn er enthält keinen einzigen stichhaltigen Beleg für ein iranisches militärisches Atom-programm in den Jahren seit 2003. Die fortdauernde Ausweitung von Sanktionen zeigt hingegen den feh-lenden Willen der EU, konstruktive diplomatische Lösungen zu suchen und sorgt nur für eine weitere Verhär-tung der Positionen.

Natürlich muß der Iran endlich wie-der mit den UN-Inspektoren kooperie-ren und ihnen vollen Zugang zu allen Anlagen gewähren. Mit einem Ölem-

bargo der EU wird dies aber nicht er-reicht. Und ähnlich wie im Falle Iraks droht die immerwährende Eskalation in einem militärischen Konflikt zu en-den. Es kann nicht sein, daß die EU weiterhin die Gespräche verweigert, um die die iranische Führung gebeten hat. Die Bundesregierung muß sich jetzt dafür einsetzen, daß der Dialog mit dem Iran wieder aufgenommen wird, und entsprechend Druck auf die anderen EU-Staaten ausüben.

Diana Golze, kinder- und jugendpo-litische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag, kommentierte am Donnerstag die vorab veröffentlichten Ergebnisse aus dem Familienreport 2011 der Bundesregierung:Wenn die Nachfrage nach Krippenplät-zen vom Geldbeutel der Eltern abhän-gig ist, läuft etwas grundlegend schief

in diesem Land. Daß die Bundesregie-rung dem nicht nur tatenlos zusieht, sondern den Trend, daß arme Eltern ih-re Kinder nicht in die Kita geben, mit einer beschönigend Betreuungsgeld genannten Kinderbetreuungsfernhalte-prämie noch verstärkt, ist ein Skandal. Eltern, die ein geringeres Einkommen haben, schicken ihre Kinder nur halb so oft in eine Einrichtung der Frühför-derung wie Eltern, deren Einkommen über dem Durchschnittsverdienst liegt. Neben der Höhe der Kitagebühren sind die dort zusätzlich anfallenden Kosten für Verpflegung, Ausflüge und Grup-penkasse ein Grund für das Fernblei-ben von der Betreuung und Bildung in Kindertagesstätten. Das zeigt einmal mehr, daß die soziale Lage der Eltern entscheidend ist für das Wohlbefinden, die Förderung sowie die Zukunfts- und Bildungschancen der Kinder.

abgeschriebeN

Bisher waren Sie gemein-sam mit György Dalos, Frithjof Schmidt und

Friedrich Herausgeberin der Wochenzeitung Freitag. Verleger Jakob Augstein will künftig auf dieses Gremium verzichten – wa-rum?

Vorab: Ich will auch künftig für den Freitag nur das Beste. Aber eine Zei-tung, die die Wikileaks-Enthüller Brad-ley Manning und Julian Assange als Helden feiert, muß natürlich selbst in-nerredaktionelle Vorgänge, nach denen Journalisten fragen, transparent halten.

Also: Jakob Augstein hat uns Her-ausgeber in einem ausführlichen Brief wissen lassen, daß der Freitag nach einer Zeit des Überganges, für deren Begleitung er uns ausdrücklich dankt, nun eine normale Zeitung geworden ist, für die sich das Institut der Heraus-geber überlebt hat.

Immerhin hat der Freitag respek-table Wurzeln – seine Vorgänger waren die pazifistische Deutsche Volkszeitung, die antifaschisti-sche Die Tat (beide BRD) und der Sonntag (DDR). Kappt Jakob Augstein jetzt diese Wurzeln?

Diesen Wurzeln, aber auch dem alten Freitag gegenüber, hat sich Jakob Aug-stein von Anfang an nicht sonderlich verpflichtet gefühlt, er wollte das Blatt zu einer neuen Identität führen, was als Geldgeber sein Recht ist. Und was z. T. auch nötig war – die neue online-Aus-gabe, die Blogger-Community sowie ein zeitgemäßeres Layout haben der Zeitung gut getan. Dennoch empfand ich eine gewisse Herablassung gegen-über den Vorgängern. Noch in seinem Abschiedsbrief an uns hält es der Ver-leger für nötig, dem alten Freitag nur den »Charakter eines Projekts« zuzu-billigen, während der neue endlich den einer Zeitung habe.

Gut, daß einstige Herausgeber wie Günter Gaus und Wolfgang Ullmann das nicht mehr hören müssen. Heribert Prantl schrieb 2004, also lange vor der Ära Augstein, in der Süddeutschen Zeitung: »Der Freitag ist heute die ge-

scheiteste deutsche Wochenzeitung – klein, aber unverwechselbar souverän, bisweilen angenehm anachronistisch.« Ein vergleichbares Lob aus so kom-petentem Munde habe ich leider lan-ge nicht mehr gehört. Der Freitag hat an intellektueller Substanz verloren. Darüber, was diese Wochenzeitung unverwechselbar macht, gingen die Auffassungen zwischen mir und Jakob Augstein zunehmend auseinander.

Welchen Einfluß hatten die Her-ausgeber auf die redaktionelle Gestaltung des Blatts?

Die Herausgeberschaft war ehrenamt-lich, in die tägliche Arbeit wollten und sollten wir nicht eingreifen. Die Her-ausgeber standen mit ihren Namen, mit den Büchern, Texten oder Aktivitäten die sie ausmachen, für die linke Plu-ralität der Zeitung. Insofern haben wir schon für uns in Anspruch genommen, Mitsprache zu fordern, wenn es um das Profil der Zeitung ging. Außerdem sind Herausgeber eine Art Scharnier zwischen Verleger und Redaktion. Bei Konflikten sah ich meinen Platz bei denen, die abgesetzt, entlassen oder – was selten war, aber vorkam – aus po-litischen Gründen nicht gedruckt wur-den. Da kommt bei Verantwortlichen auch nicht immer Freude auf.

Gab es Reibereien in der Zusam-menarbeit?

Reibereien sind ja kein Makel – ein kritisches Korrektiv zu sein, gehört zu den Aufgaben von Herausgebern. Innerhalb der Redaktion ist es auf eine beinahe irrationale Weise nicht gelun-gen, die Kluft zwischen alter und neu-er Belegschaft zu überwinden. Beide Seiten beäugen sich bis heute miß-trauisch.

Von der alten Mannschaft ist so-wieso nicht mehr viel übrig. In der Chefredaktion und unter den Ressort-leitern gibt es niemanden mehr, der aus dem Osten kommt. Auch insofern ist der Freitag eine normale Zeitung geworden. Vielleicht gerade deshalb war Jakob Augstein von Anfang an der Meinung, daß das Brückenschlagen zwischen Ost und West kein Kernthe-ma im Freitag mehr sein müsse. Ich ha-be das für einen Fehler gehalten, weil es bis heute weder der Realität in der Redaktion noch im Lande entspricht. Und weil der Freitag ohne Not ein Al-leinstellungsmerkmal aufgegeben hat. Er ist nach eigenem Selbstverständnis auf dem Weg von einer linken zu ei-ner linksliberalen Wochenzeitung, was immer das heißen mag. Das schließt nicht aus, daß es immer wieder großar-tige Nummern oder zumindest hervor-ragende einzelne Texte gibt.

Hat Jakob Augstein das Gespräch mit Ihnen allen gesucht, bevor er seine Entscheidung verkündete?

Nein. Die Herausgeber haben im No-vember das Gespräch mit ihm gesucht, um nachzufragen, ob wir überhaupt noch gebraucht würden. Wir fanden uns zu wenig einbezogen in die Veränderun-gen, die sich abzeichnen. Wir haben un-sere weitere Mitarbeit davon abhängig gemacht, daß sich die Kommunikation verbessert. Zehn Tage später kam für alle Herausgeber der blaue Brief.

In gewisser Weise ist das nur konse-quent. Ich war immer beeindruckt, mit wieviel Engagement Jakob Augstein den Freitag zu seiner Sache gemacht hat. Er trägt das finanzielle Risiko al-lein, vertritt sein Blatt in Talkshows und Veranstaltungen, hat viele Kon-takte und ist auch als pointierter Autor eine Bereicherung.

Warum soll er sich da reinreden las-sen? Sein Bedarf an Beratung hält sich in Grenzen. Das sage ich nicht ohne Bedauern. Die Presselandschaft ist im Umbruch und ich wünsche dem Frei-tag sehr, daß er seinen Platz finden möge. Interview: Peter Wolter

»Der F re i tag hat i n te l lek tue l l an Sub stan z ve r lo ren« Kurswechsel: Verleger Augstein verzichtet auf die vier Herausgeber und richtet das Blatt »linksliberal« aus. Ein Gespräch mit Daniela Dahn

Die mediale Aufregung um die Wulff-Groteske ist künstlich. Der Herr fuhr

mit Springers Verblödungsmaschine gern nach oben, zurück nach unten will er von der nicht gebracht wer-den.

Vom tatsächlich stattfindenden und täglich weitergetriebenen Staatsskandal lenkt die Wulff-Chose hervorragend ab. Am Mittwoch wa-ren zwei Monate vergangen, seitdem zwei neofaschistische Mörder tot in einem Wohnwagen in Eise nach auf-gefunden wurden und in Zwickau eine Wohnung in die Luft flog. Es gibt einige Untersuchungshäftlinge, angeblich sind mehrere hundert Er-mittler des Bundeskriminalamtes tä-tig – auf politischer Ebene herrscht scheinbare Ruhe, tatsächlich geht man dort längst zum Gegenangriff über. Motto: Von den zehn Ermorde-ten und den Verletzten der braunen Terroranschläge nicht reden, dafür um so mehr von der Bekämpfung alles dessen, was sich politisch links in diesem Land engagiert – siehe die Ausfälle von CDU und CSU zur Beschränkung der staatlichen Finan-zen für die Linkspartei. Exempla-risch ist auch dies: Da verlangt am Donnerstag die Parlamentarische Kontrollkommission (PKK) des sächsischen Landtages Einsicht in den geheimen Untersuchungsbericht des Bundesamtes für Verfassungs-schutz zur Zwickauer Terrorzelle. Der Bericht liegt dem Spiegel nach eigenen Angaben seit der Woche vor Weihnachten vor, die Zeitschrift zitierte daraus ausführlich. Die Bundesregierung, so meldet dapd, habe das Papier zwar dem sächsi-

schen CDU-Innenminister Markus Ulbig am Montag zukommen lassen, »doch zugleich untersagt, ihn an die PKK weiterzureichen«. Der PKK-Vorsitzende Günther Schneider bezeichnete das als »nicht nachvollziehbare Behinderung der Arbeit der Kommission«. Das ist sehr höflich ausgedrückt. Tatsäch-lich geht es darum, daß nicht mehr als die Spitze des Eisbergs – die Verflechtung von Geheimdiensten und neofaschistischen Organisa-tionen – sichtbar werden soll. Der Bundesinnenminister weigert sich seit dem 4. November, überhaupt so etwas wie Aufklärung zuzulassen, die Koalition und die SPD lehnen einen Untersuchungsausschuß des Bundestages ab. In Sachsen, wo Innen- und Justizminister im Fall der hunderttausendfachen Handy-abfrage im Februar 2011 als Lügner überführt wurden, dem Bundesland, in dem Justiz und organisierte poli-tische Kriminalität offenbar in schö-ner Symbiose leben, ist nicht mehr zu erwarten.

In der Zeitung Unsere Zeit macht jetzt der Freisinger Rechts-anwalt Thomas Stadler darauf aufmerksam, daß im Hinblick auf den Verfassungsschutz die Gefahr eines Staats im Staate besteht »oder neudeutsch eines Deep States«. Als rechtswidrig erkanntes Handeln des Geheimdienstes werde politisch we-der kontrolliert noch unterbunden, im Gegenteil. Wo Verfassung und Rechtsstaat notorisch so außer Kraft gesetzt werden, ist der Fall Wulff eine – allerdings dazugehörige – Randerscheinung eines Staates, der täglich mehr zum Skandal wird.

StaatsskandalreaktioNeN auf NeoNaZiterror

InformantenverratgegeNddarstelluNg

Ohne Quellenangabe be-hauptet Julia Haak in der Berliner Zeitung (Mittwoch-

ausgabe), ein Journalist der Tageszei-tung junge Welt habe im Zusammen-hang mit der Räumung eines besetz-ten Hauses in der Brunnenstraße im November 2009 eine E-Mail eines Informanten an die Pressestelle der Polizei weitergeleitet, »um zu ergrün-den, was es damit wohl auf sich habe. Seine Quelle schützte er nicht.« Ähn-lich der Tenor von Norbert Siegmund in der rbb-Abendschau. Konrad Litschko wiederum gibt in der taz (»Seltsame Mail an linkes Projekt«) Aussagen eines Polizeiermittlers vor Gericht wieder: »Die E-Mail sei ihnen erst nach der Räumung in die Hände geraten, als ein Journalist der jungen Welt bei der Pressestelle dazu Nachfragen stellte.«

Uns besonders »eng verbundene« Internetportale spitzen zum Verrats-vorwurf zu: »junge Welt brachte Po-lizei auf Spur eines Informanten«, schlagzeilte etwa Patrick Gensing in »publikative.org«. Die junge Welt firmiert bei ihm als »linksdogma-tische Zeitung«. Benjamin Krüger vom BAK Shalom der Linksjugend weiß auf Facebook schließlich: »Offenbar hat die junge Welt einen Informanten an die Polizei verraten. Unglaublich.«

Keiner hat bei dieser Zeitung oder dem fraglichen Kollegen vor der Veröffentlichung nachgefragt. Tatsache ist: Die junge Welt gibt kei-ne Informationen an Behörden wei-ter. Nachfragen seitens der Polizei oder anderer Stellen müssen an die Chefredaktion oder die Geschäfts-führung weitergeleitet werden. Mit-arbeitern, die gegen diese eklatanten Grundsätze journalistischer Arbeit verstoßen, wird fristlos gekündigt.

Eben diese Grundsätze wurden beachtet. Das versicherte am Don-nerstag der Kollege, der seit mehr als einem Jahr nicht mehr bei junge Welt arbeitet, auf unsere Nachfrage. Im übrigen verweisen wir darauf: Nach dem Publikmachen der E-Mail durch das Projekt »Brunnen 183« im Internet und dem jW-Bericht am 3. Dezember 2009 (»Großeinsatz nach Plan oder Panne? Vor der Räu-mung des alternativen Wohnprojekts Brunnenstraße 183 in Berlin erhiel-ten die Bewohner dubiose Warnun-gen. Polizei kündigt Prüfung an«) hatte das Berliner Landeskriminal-amt die Redaktion über Monate mit Anfragen belästigt und bedrängt, das fragliche Schreiben herauszurücken, was in jedem einzelnen Fall mit Ver-weis auf die genannten journalisti-schen Grundsätze abgelehnt wurde. Redaktion junge Welt und Verlag 8. Mai

u Von Arnold Schölzel

Die Schriftstel-lerin Daniela Dahn war bis zum Jahres-wechsel Mit-

herausgeberin der Wochenzei-

tung Freitag

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junge Welt Freitag, 6. Januar 2012, Nr. 5 9k a p i t a l & a r b e i tZinslast für Anleihen Frankreichs gestiegenParis. Frankreichs Regierung hat am Donnerstag Staatsanleihen im Wert von 7,96 Milliarden Euro am Markt plaziert. Aller-dings mußte der Staat bei der Auktion etwas höhere Zinsen als bei der letzten derartigen Ausgabe zahlen. Um Frankreich 4,02 Milliarden Euro über einen Zeitraum von zehn Jahren zu lei-hen, verlangten Anleger Zinsen von 3,29 Prozent. Im Dezember waren es noch 3,18 Prozent. Die meisten der am Donnerstag ab-gesetzten Anleihen hatten eine zehnjährige Laufzeit. Die Nach-frage übertraf das Angebot, fiel aber weit geringer aus als bei der letzten Auktion im Dezember. Wegen Sorgen, die europäische Finanzkrise könnte sich auf wichtige Länder wie Frankreich ausweiten, hatten Investoren die Auktion genau beobachtet. (AFP/jW)

Chinas verringert ExportüberschußPeking. Der Außenhandelsüber-schuß des »Exportweltmeisters China ist nach Angaben der Führung in Peking im vergange-nen Jahr zurückgegangen. Die Differenz zwischen Aus- und Einfuhren habe 2011 »ungefähr 160 Milliarden Dollar« (123 Milliarden Euro) betragen, sagte Handelsminister Chen Deming am Donnerstag laut der offiziel-len Nachrichtenagentur Xinhua. 2010 hatte der Überschuß offizi-ell bei umgerechnet 183,1 Milli-arden US-Dollar gelegen.

Das Handelsplus der Volks-republik ist seit Jahren Ziel heftiger Kritik der Geschäfts-partner Chinas, vor allem der USA. Die halten die chinesische Währung für unterbewertet, was Exporte begünstigt. Am Diens-tag besucht US-Finanzminister Timothy Geithner Peking; er trifft auch Regierungschef Wen Jiabao.

In ihrem aktuellen Fünfjah-resplan bis 2015 hat sich die chinesische Führung das Ziel gesetzt, die Inlandsnachfrage zu stärken und so unabhängiger von den Exporten in die – zur Zeit zum Teil schwächelnden alten Industriestaaten – zu werden. Der Umfang des Handels mit dem Ausland soll aber dennoch weiter kräftig wachsen. (AFP/jW)

Société Générale kappt 1 600 JobsParis. Die französische Groß-bank Société Générale will knapp 1 600 Arbeitsplätze streichen. Das Finanzinstitut hatte zuletzt mehrfach zum Teil schwere Rückschläge einzu-stecken. Zu Beginn der Finanz-krise kam die Bank 2008 in die Schlagzeilen, weil der An-gestellte Jérôme Kerviel über Nacht fünf Milliarden Euro in riskanten Geschäften verlor. Auch bei griechischen Anleihen und der US-amerikanischen Im-mobilienkrise verlor die Société Générale. Zuletzt kündigte sie an, für 2011 keine Dividende auszahlen zu können. Kündi-gungen will die Bank nicht aus-sprechen. (dapd/jW)

Rußland wird in den kommen-den Jahren Frankreich und so-gar Deutschland in der Wirt-

schaftsleistung überholen. Das jeden-falls sagten die Experten des britischen Thinktanks Centre for Economics and Business Research (CEBR) im De-zember voraus. Dabei gehen sie von den gewaltigen natürlichen Ressourcen aus, über die der größte Flächenstaat der Erde verfügt. Und sie rechnen sie mit dem als Abbild für Wohlstand ei-ner Gesellschaft eher unzureichenden Bruttoinlandsprodukt (BIP), also einer Kategorie, die auf Volumina, nicht auf qualitative oder gar soziale Indikatoren setzt.

Hält der aktuelle Trend an, wird das russische BIP in diesem Jahr wohl um die vier Prozent zulegen. Basis dieser Prognose ist ein Faßpreis (ein Barrel/Faß sind 159 Liter) für das Ural-Erdöl von umgerechnet 109 US-Dollar. Doch die zu erwartenden Einnahmen aus den Ölausfuhren zeigen zugleich – und er-neut – die Achillesferse der russischen Volkswirtschaft: die Abhängigkeit vom Verkauf der fossilen Energieträger.

Daher herrscht bei Rußlands Wirt-schaftsbossen auch kaum Zuversicht, wie die Nachrichtenagentur RIA-Nowosti zum Jahreswechsel in einer Korrespondenz anmerkte. Experten rechneten demzufolge mit Instabilität und einer neuen Krisenwelle. Die russi-schen Behörden bekräftigten dies noch mit Aussagen, wonach sie auf eine Ver-schlechterung der makroökonomischen Bedingungen eingestellt seien und Maßnahmen zur Wirtschaftsstabilität planten.

Die 2011 durchgehend exorbitant hohen Preise für Erdöl haben immer-hin dafür gesorgt, daß die Schatztruhen der Russischen Föderation weiter gut gefüllt sind. Der Staat erwirtschaftete einen Haushaltsüberschuß. Der vom früheren Finanzminister Alexej Kudrin initiierte Reservefonds schwoll auf ein Volumen von 1,8 Billionen Rubel (et-wa 56 Milliarden US-Dollar) an, dabei hätte er 2011 abgeschafft werden sollen. Statt dessen mußte der seit elf Jahren amtierende Finanzminister nach einem Streit mit Staatspräsident Dmitri Med-wedew im September den Hut nehmen. Die Behörden registrierten die nied-rigste Inflationsrate in der Geschichte der Föderation (6,2 statt der prognosti-zierten 7,5 Prozent), der Etatüberschuß

lag rund einem Prozent vom BIP (das 2011 nominal bei umgerechnet etwa 1,3 Billionen US-Dollar betrug).

Doch auf dauerhaft hohe Ölpreise will keiner der Verantwortlichen in Moskau alles setzen. Zu groß scheint die Gefahr von Rezession in Westeur-opa (Euro-Krise) und den USA, die die gesamte Weltwirtschaft beeinträchtigen dürfte. Befürchtet wird bei den wirt-schaftslenkenden Behörden zudem ein nur schwacher Anstieg der ausländi-schen Investitionen in Rußland. Ihnen zufolge sollten sie um rund sechs Pro-zent zulegen. Auch die Industriepro-duktion wächst nicht im vorgesehenen Maße, und wird eine Zunahme der Ka-pitalflucht auf 80 Milliarden Dollar im Jahr 2012 befürchtet.

Rußlands geplanter Vormarsch bei den Schlüsseltechnologien stockt. Die Weltraum- und Raketenforschung hat sich 2011 nicht mit Ruhm bekleckert, die Abwanderung von Fachleuten der Branche in den Westen scheint anzuhal-ten. Auch die frühere Paradedisziplin der russischen Industrie, die Rüstungs-wirtschaft, ist offenbar in einem deso-laten Zustand. Nach Angaben von Me-dien weigern sich die Streitkräfte sogar,

einheimische Technik anzuschaffen, da sie unzuverlässig und nicht auf neue-stem Stand sei. Premierminister Wladi-mir Putin machte kurzentschlossen den bisherigen Botschafter bei der NATO, Dmitri Rogosin, zum zuständigen Vi-zepremier, der die Waffenindustrie auf Vordermann bringen soll.

Ähnlich subjektivistisch scheint die gesamte Industriepolitik des Kreml konzipiert. Doch mit dem Wechsel von Personen in Führungspositionen und öffentlichkeitswirksamem Wunschden-ken ist da nur wenig zu erreichen. Ur-sprünglich wollten sich die Behörden aus der Wirtschaftsverwaltung zurück-ziehen. Am Ende haben zwar mehrere Minister und Mitarbeiter des allmäch-tigen Präsidialamtes die Aufsichtsräte einiger Konzerne und staatlicher Ban-ken verlassen, so RIA-Nowosti, andere Fortschritte auf diesem Gebiet seien jedoch nicht sichtbar. Immerhin wurde das bisherige Steuerprivileg des größ-ten russischen Konzerns aufgebrochen: Künftig muß Gasprom (neben anderen Gasförderern) etwa 150 Milliarden Ru-bel mehr Abgaben bezahlen.

Außerdem soll kräftig weiter Tafel-silber verkauft werden, nach Möglich-

keit nicht an die vom Staat eingesetzten Manager wie in den Jelzin-Jahren. Im August veröffentlichte Moskau eine er-weiterte Liste der bis 2017 zu privatisie-renden Unternehmen. Laut diesem Do-kument sollte der Staat sechs aus den Top Ten der größten Konzerne bis da-hin verlassen. In einzelnen Fällen will er wenigstens die sogenannte goldene Aktie behalten, die das Kontrollrecht sichert. In anderen Unternehmen soll dagegen die Privatisierung beschleunigt werden. Insgesamt sollen RIA-Nowosti zufolge bis 2017 Aktiva in Höhe von sechs Billionen Rubel veräußert wer-den.

Rußlands Führung setzt weiterhin auf die wirtschaftliche Integration mit früheren Unionsrepubliken. 17 multi-laterale Verträge im Rahmen des ein-heitlichen Wirtschaftsraums traten ab 1. Januar in Kraft, die im Dezember von den Präsidenten Rußlands, der Belarus und Kasachstans unterzeichnet worden waren. Dadurch soll der freie Verkehr von Waren, Finanzmitteln und Arbeits-kräften zwischen den drei Ländern möglich werden.

(Quellen: RIA-Nowosti, Reuters)

Kassieren und hoffenRußlands Wirtschaft startet trotz zu erwartender Petrodollarschwemme mit wenig Zuversicht ins Jahr. Nach wie vor lahmt Modernisierung der industriellen Basis. Von Dieter Schubert

Sorgen um die Paradebranche: Rußlands Premier Wladimir Putin auf einer Waffenausstellung in Moskau 2011

Ein bißchen WirtschaftskriegChinesische Airlines wollen EU-Emissionshandel boykottieren. EU-Kommission zeigt sich hartnäckig

Chinas Fluggesellschaften wol-len den seit Jahresbeginn auf die Luftfahrt ausgeweiteten

EU-Emissionshandel (ETS) boykot-tieren. »China wird mit der Europä-ischen Union beim ETS natürlich nicht kooperieren«, sagte der Vizechef des Luftfahrtverbandes CATA, Chai Haibo, am Donnerstag in Peking. Die EU plant aber noch keine konkreten Schritte gegen die Volksrepublik, da die ETS-Zertifikate erst 2013 vorgelegt werden müssen.

Der CATA-Verband sei »eindeutig gegen die unlautere Praxis der EU, die Fluggesellschaften einseitig in das ETS zu zwingen«, sagte Chai. Er wieder-

holte die Drohung, China arbeite an »Gegenmaßnahmen«. CATA vertritt die wichtigsten dortigen Airlines, dar-unter die großen vier: Air China, China Southern Airlines, China Eastern Airli-nes und Hainan Airlines.

Staatliche chinesische Medien hat-ten schon mehrfach berichtet, die Re-gierung in Peking wolle gegen den EU-Emissionshandel vorgehen. Sie werfen dem System vor, es »verstößt gegen nationale Souveränität, verletzt interna-tionale Luftfahrt-Abkommen und wird zu einem Handelskrieg führen«.

Die EU hält verbal tapfer dagegen und beharrte am Donnerstag auf ihrer Position. »Wir verändern unser Gesetz

nicht und weichen nicht zurück«, sagte ein Sprecher von Klimakommissarin Connie Hedegaard in Brüssel. Konkre-te Gegenmaßnahmen hat China aber zunächst nicht zu erwarten. Erst am 30. April nächsten Jahres müssen die Airlines ihre Zertifikate für die 2012 zurückgelegten Flüge vorweisen – wann sie die Zertifikate kaufen, deren Preis vom Markt abhängt, bleibt ihre Entscheidung. Der EU-Emissionshan-del läuft bereits seit 2005. Seit 1. Janu-ar 2012 ist die Luftfahrt in das System einbezogen.

Fluggesellschaften aus Nordameri-ka hatten bereits gegen ihre Einbezie-hung in den Emissionshandel geklagt,

waren damit aber kurz vor Weihnach-ten vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gescheitert. Strittig ist unter anderem, ob der ETS die Emissionen des gesamten Fluges betrifft, also bei-spielsweise auch im chinesischen oder im US-Luftraum oder über dem Meer, solange nur ein Start- oder Landeort in der EU liegt. Dabei sollen alle be-troffenen Fluggesellschaften zunächst nur 15 Prozent der Verschmutzungs-rechte bezahlen, den Rest erhalten sie umsonst. Widerspenstigen Airlines drohen Geldstrafen oder sogar ein Flugverbot für die EU. Das sei aber nur eine »letzte Möglichkeit«, betonte Hedegaards Sprecher. (AFP/jW)

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Freitag, 6. Januar 2012, Nr. 5 junge Welt 1 0 t h e m a

»Das Jahr 1942 (…) umfaßte eine solche Menge an Momenten der schwierigsten Lage, aus denen es, wie es schien, keinen Ausweg gab und aus de-nen sich dennoch einer fand, eine solche Menge an entscheidenden Veränderungen in der Front-lage – mal dramatische, mal für uns glückliche –, daß all das damals Erlebte bis heute in der Erin-nerung als eine pausenlose innere Anspannung zurückbleibt (…). Wenn man versucht, sich an das Wichtigste zu erinnern, so sind ›Stalingrad‹ und ›Standhalten‹ die in der Seele verankerten wich-tigsten Worte des Jahres 1942.« Der sowjetische Schriftsteller Konstantin Simonow (1915–1979) nach dem Sieg

Die Naziwehrmacht, obwohl im Jahr 1941 nach monatelangem Vor-marsch erschöpft, in ununterbro-chenen Kämpfen auch materiell geschwächt und personell zuneh-

mend dezimiert, überstand die schwere Niederla-ge des Winters und beantwortete sie nach durch-greifender Vorbereitung von Front und Heimat mit einer Großoffensive in Richtung Stalingrad, Noworossijsk und zu den Pässen des Kaukasus, annähernd eine halbe Million Quadratkilometer erobernd. Wehrmacht und Hitler-Regime hielten sich nach wie vor für unüberwindlich, der Roten Armee und den »minderwertigen Ostmenschen« überlegen und wähnten die endgültige Unterwer-fung der Sowjetmacht nahe.

Die deutsche Offensive Der Naziführung, der Generalität, der Rüstungs-wirtschaft und dem faschistischen Terrorapparat war es bis zum Sommer 1942 gelungen, Millio-nen deutsche und ausländische Arbeitskräfte für erhebliche Anstrengungen in der Rüstungswirt-schaft einzusetzen und neu ausgehobene Solda-ten und verbündete Divisionen in wachsender Zahl für eine große Offensive im Süden der Front zu mobilisieren. Von einer dauerhaften Schwä-chung der Roten Armee überzeugt, spannten die Deutschen ihre Ziele weiter denn je: zum Öl des Kaukasus, zum Schwarzen Meer, zur unteren Wolga, nach Baku, zum Nahen Osten und zum

Persischen Golf, womöglich nach Indien, wo man sich mit den Japanern treffen zu können glaubte.

Im September war keines dieser Ziele erreicht. Der Marsch nach Stalingrad geriet ins Stocken. In der Stadt selbst erwies sich der Widerstand als unüberwindlich. Jedes Haus, jede Ruine wurde umkämpft; jeder Meter kostete Blut. Die Wolga und die Flußübergänge blieben unter sowjetischer Kontrolle, ebenso wie die Ostküste des Schwarzen Meeres. Am Kaukasus lahmte der deutsche Vor-marsch. Kein Gebirgspaß geriet in deutsche Hand. Um den Übergang nach Tuapse und um die dort völlig zerstörten Erdölfelder von Maikop dauerte der Kampf Wochen und Monate, bis in der Regen-zeit die Wege unpassierbar wurden. Unablässige sowjetische Angriffe waren währenddessen in der Mitte der Front (Rshew/Wjasma; Woronesh) und im Norden (Leningrad) abzuwehren.

Dem deutschen Vormarsch in Nordafrika setz-ten überlegene britische Truppen 200 Kilometer vor Kairo bei El Alamein ein endgültiges Ende. Ende Oktober begannen ihre Offensive und der Rückzug des deutsch-italienischen Afrikakorps über Hunderte von Kilometern. Während dieser Zeit landeten US-Amerikaner und Briten mit gro-ßer Truppenmacht bei Casablanca, Oran und Al-gier (7./8. November) und nahmen ungehindert durch die anfängliche Vichy-französische Gegen-wehr Kurs auf Tunis und Libyen. Damit drohte die Invasion Europas von Süden her.

Krise der WehrmachtführungAn der Ostfront stellte sich das Ergebnis des bisherigen Kampfes auf beiden Seiten außeror-dentlich widersprüchlich dar. Die Rote Armee hatte die unmittelbare Gefahr für Moskau gebannt und behielt die eroberten Räume in einem weiten Umkreis westlich und südlich der Stadt fest in der Hand. Hitlers Vorgabe, Leningrad Mitte Septem-ber 1942 zu nehmen und zu »vernichten«, wurde schon Ende August durch eine sowjetische Ent-satzoperation durchkreuzt.

Die deutsche Sommeroffensive, lange Zeit von der sowjetischen Führung nicht als Hauptopera-tion erkannt, war bis zum Herbst über tausend Ki-lometer südwärts vorangekommen und bedrohte

ein gewaltiges Gebiet zwischen Wolga, Kaukasus-vorgebirge und Taman-Halbinsel.

Als sie aber im September nicht mehr aussichts-reich vorankam und sich überall, besonders in Richtung Stalingrad, aber auch am Kaukasus fest-lief, erwies sie sich in ihren wesentlichen Zielen als verfehlt. Die Rote Armee zu »vernichten«, sie »in großen Paketen abzuwürgen« (Hitler) und an die große Erdölausbeute zu gelangen, glückte während der Sommer- und Herbstmonate nirgends, und die Zahlen sowjetischer Kriegsgefangener, die auf dem langen Zug nach Süden gemacht wurden, blieben im Vergleich zu denen des Vorjahrs um vieles ge-ringer. Die deutschen Kräfte, auf riesigem Areal zersplittert eingesetzt, erschöpften sich dagegen, immer stärker von Versorgungsschwierigkeiten heimgesucht.

Mordkrieg – RaubkriegIm Jahr 1942, als die deutschen Eroberungen sich ausweiteten und schließlich Stalingrad und den Kaukasus erreichten, stieg die Zahl der Mordopfer der Wehrmacht, der SS und der Polizeiorgane auf ihren Höhepunkt. Nicht einmal die Zahl der syste-matisch und auf Befehl umgebrachten Menschen ist exakt bekannt. Viele Hunderttausende wurden getötet, insbesondere– Juden (Männer, Frauen und Kinder)– Partisanen, Partisanen-»Helfer«, Partisanen-

»Verdächtige« (Männer, Frauen und Kinder)– Kriegsgefangene– Politische Kommissare der Roten Armee– Staats- und Parteifunktionäre in Verwaltung,

Wirtschaft und Intelligenzberufen und andere »Reichsfeinde«

– Städter (Leningrad, Stalingrad, Charkow), die man dem Verhungern aussetzte

– Roma– Krankenhausinsassen, darunter Geisteskranke.Der Krieg im Osten war zugleich ein gigantischer Raubzug, und als solcher wurde er seit Beginn von den zentralen staatlichen Stellen, von der Wehr-macht und von der privaten Wirtschaft verstanden. Im Jahre 1942 setzten sich die Vierjahresplanor-ganisation, die Kontinentale Öl AG, die Montan- und Elektrokonzerne, die Großbanken und der Großhandel bereits überall fest und drängten auf

die Privatisierung der sowjetischen Betriebe und Rohstoffquellen. Auch kleinere Betriebe in großer Zahl suchten sich profitable Objekte zu sichern. Zum Zuge kamen einstweilen nur großindustri-elle Vorhaben unter staatlicher Kontrolle, etwa das »Iwan-Munitionsprogramm« und das Treu-handschaftsprogramm der Montankonzerne in der »Berg- und Hüttenwerksgesellschaft Ost«.

Aus den Reichtümern des Riesenlandes sollten, so jedenfalls der Plan, zuvörderst die gesamten Kriegskosten bestritten werden.

Der Aufklärungsdienst der Wehrmacht, der der Blindheit der obersten Führung verhaftet war, ver-mochte zu keiner Zeit zu erkennen, daß die Rü-stungs- und militärische Kraft der Sowjetunion sich in beispiellos kurzer Zeit von den Verlusten des Jah-res 1941 und auch von der Erschöpfung der eigenen Winteroffensive 1941/42 erholte. Die sowjetischen Verluste bei der Erzeugung von Rohstoffen (Stein-kohle über 75 Prozent; Stahl 13,5 Prozent, Erdöl 22 Prozent) waren groß, sehr spürbar die Einbrüche in der Zivil- und Nahrungsmittelproduktion. Trotz-dem sind die wichtigsten Großwaffen während des Jahres 1942 in Mengen produziert worden, die die deutsche Aufklärung sich nicht vorstellen konnte und die nur durch die Hingabe der Männer und Frauen des ganzen Landes an die Sache der Landes-verteidigung zu erklären sind (siehe Tabelle).

Strategie der Roten ArmeeDiese Grundlage ermöglichte es der sowjetischen Führung, über eine wirkungsvolle Abwehr und über eine offensive Strategie auf längere Sicht nachzu-denken. Freilich hielt Stalin lange an seiner Be-fürchtung fest, der deutsche Hauptangriff sei gegen die Mitte der Front, d. h. gegen Moskau gerichtet. Aber die Realität der harten Sommermonate und die Verluste an Donez und Don, später vor Stalin-grad und am Fuße des Kaukasus brachten die stra-tegischen Ansichten der führenden Generalstäbler demgegenüber unausweichlich zur Geltung.

Die Rückzüge und Verluste der Roten Armee über Monate hin waren höchst schmerzlich, aber großmaßstäbige Vernichtungsschlachten wie im Jahr 1941 kamen nicht mehr vor. Die deutschen Befehlshaber sprachen schon seit Juli unzufrieden von »Luftstößen« gegen den weichenden Feind, be-

Welthistorische Wende»Barbarossa«: Das Entscheidungsjahr 1942. Teil II (und Schluß): Stalingrad und die Antihitlerkoalition. Von Dietrich Eichholtz

Konzentrierter Offensivschlag gegen die faschistische Wehrmacht: Rotarmisten in Stalingrad, Herbst 1942

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sonders südlich des Don, spürten aber andererseits in Richtung Stalingrad die immer unnachgiebigere Verteidigung.

Nicht wissenschaftlich aufgearbeitet ist das of-fensichtliche Ausweichen größerer sowjetischer Einheiten vor der Heeresgruppe A bis gegen Ende des Sommers, zumal offiziell der drakonische »Be-fehl Nr. 227« Stalins vom 28. Juli 1942 existierte: »Keinen Schritt zurück!« Dieser Befehl forderte kategorisch, jeden Fußbreit Boden um jeden Preis zu halten und bedrohte Feiglinge als Verräter der Heimat mit Erschießen. Zur gleichen Zeit wurden neue Tapferkeitsorden gestiftet und Truppenfahnen verliehen. Seit dem 9. Oktober 1942 gab es zwar noch politische Kommissare, aber die militärische Einzelleitung verblieb bei den Kommandeuren.

Immerhin galt es im Generalstab seit Juli 1942, damals unter B. M Schaposhnikow, als unumstöß-lich, daß Noworossijsk, Stalingrad und der Kauka-sus dem Feind nicht überlassen werden würden. Diesem Grundsatz diente, wenn wahrscheinlich auch nicht als von oberster Stelle bestätigte Strate-gie, die kräfte- und blutschonende Kampfesweise der folgenden Monate im Süden, ebenso wie – in anderem Zusammenhang und unabhängig von ope-rativen Überlegungen – der Befehl 227.

»Uranus« – Der PlanAm 12. September 1942 beschloß die Moskauer Führung den Plan, bei Stalingrad eine umfassende Offensive vorzubereiten, die das Gesetz des Han-delns für die Zukunft in die Hand der Roten Armee legen sollte. Stalin faßte mit seinen engsten Mitar-beitern im Hauptquartier, G. K. Shukow und A. M. Wassilewski, einen Beschluß darüber, für dessen Ausführung er die Verantwortung den beiden Gene-ralstäblern übertrug.

Die komplizierten Umstände des Zustandekom-mens des mit dem Tarnnamen »Uranus« versehe-nen Plans sollen hier erörtert werden, ohne daß auf sowjetischer bzw. russischer Seite eine verläß-liche Dokumentation vorliegt. Vordem hatte das Moskauer Hauptquartier eine Strategie verfolgt, die hauptsächlich die noch während der Winterof-fensive 1941/42 errungenen Erfolge im weiteren Umkreis von Moskau sichern und, wo immer mög-lich, erweitern sollte. Dieses Ziel wurde nur teil-weise erreicht, band aber doch, auch noch während des Sommers und Herbstes, erhebliche deutsche Kräfte.

Der enorme Raumgewinn der deutschen Offen-sive seit Juni in Richtung Südost und die blutigen Verluste auf sowjetischer Seite beunruhigten die sowjetische Führung tief. Das im Sommer verkün-dete Axiom (Schaposchnikow), daß der Kaukasus, die Schwarzmeerküste, Stalingrad und die untere Wolga nicht aufgegeben würden, schien in Gefahr.

Zugleich wurde dem sowjetischen Oberkom-mando klar, daß der Widerstand der Roten Armee der Wehrmacht zunehmend größte Schwierigkeiten bereitete und dem deutschen Vormarsch inzwi-schen weitgehend ein Ende machte. Wichtig war wohl auch, daß früher oder später mit entlasten-den Aktionen der westlichen Alliierten, wenigstens aber mit Hilfslieferungen von Waffen und Rohstof-fen zu rechnen war.

Unabhängig davon machte die Sammlung der Kräfte des Hinterlandes, besonders der nicht anders als heroisch zu nennende Kampf um die Fortschritte der Rüstungsproduktion im Ural und in Westsibiri-en, das wirtschaftliche und politische Potential des Riesenlandes sichtbar. Lieferte die Panzerindustrie der UdSSR 1940 etwa 2 800 und 1941 6 600 Pan-zer, so verfügte die Rote Armee 1942 über 24 000. Während die Flugzeugindustrie 1941 rund 15 740 Flugzeuge hergestellt hatte, waren es 1942 weit über 20 000. Hinzu kam die Massenproduktion von Geschützen und Granatwerfern.

Damit schienen der Moskauer Führung wichtige Bedingungen gegeben, ihre militärische Strategie zu ändern und dem Feind an der für ihn empfind-lichsten Stelle einen konzentrierten Offensivschlag zu versetzen. Die Grundidee für diesen Plan, die offenbar von Shukow als seinem Stellvertreter und Wassilewski als Chef des Generalstabs stammte, wurde von Stalin gebilligt. Die beiden erhielten Ge-neralvollmacht für seine Ausführung. Stalin hatte Ende August Wassilewski und wenig später Shu-kow nach Stalingrad geschickt, da er die unmittel-bare Gefahr voraussah, die die vorrückenden deut-schen Truppen für die Stadt bedeuteten. Mit beiden beriet er am 12. September in Moskau. Er bot Ver-stärkungen an: Panzer, Geschütze, Luftstreitkräfte. Die Generalstäbler gaben zu bedenken, daß die

Krise nachhaltig gelöst werden müsse und eine großräumige Gegenoffensive verlange, die die ge-samte strategische Lage im Süden zu verändern in der Lage sei. Genauere Berechnungen konnten sie noch nicht vorlegen; »doch war uns klar«, schrieb später Shukow, »daß die Hauptschläge gegen die Flanken der gegnerischen Stalingrader Gruppie-rung geführt werden mußten, die von rumänischen Truppen gedeckt wurden«. Die Kräfte und Mittel

hierfür könnten nicht früher als Mitte November einsatzbereit sein.

Eben am 12. September beriet sich auch Hitler mit Generaloberst Friedrich Paulus (6. Armee) und Generaloberst Maximilian v. Weichs (Heeresgrup-pe B) über die Lage in Stalingrad und über die Plä-ne nach Eroberung der Stadt. Hitler verstand sehr wohl die Gefahr aus der Don-Flanke, verbreitete sich aber lieber über Zukunftsaussichten, besonders über das weitere Vordringen von Stalingrad nach Norden und den beabsichtigten Vorstoß auf Astra-chan im Süden, und hörte gern die Versicherung v. Weichs’, in den nächsten vierzehn Tagen werde die ganze Aktion abgeschlossen werden können.

Gerade in den kommenden Tagen und Wochen nahmen die Kämpfe in und um Stalingrad eine beispiellose, der deutschen Führung bisher unbe-kannte Härte an. Im Generalstab stellte man »das allmähliche Ausbrennen der Angriffstruppe« fest (Halder, 20.9.). Allein vom 21. August bis zu 16. Oktober meldete die 6. Armee Verluste von 1 068 Offizieren und 39 000 Mann. Auf sowjetischer Sei-te trugen in diesen Wochen die berühmte 62. (W. I. Tschuikow) und Teile der 65. Armee (M. S. Schu-milow), ferner die 16. Luftarmee die Hauptlast der Kämpfe, verstärkt durch einige Reserven, die über die Wolga kamen.

Nördlich des Don und jenseits der Wolga wurde die Offensive unter größter Geheimhaltung vorbe-reitet. Neue Fronten wurden für den Angriff ein-geteilt, deren Führung die Generale N. F. Watutin, A. I. Jeremenko und K. K. Rokossowski übernah-men. Die genauere Einweisung aller beteiligten Befehlshaber unter der Verantwortung von Shukow und Wassilewski fand erst von Anfang November an statt. Der Transport von Mannschaften und Ma-

terial über Don und Wolga an den Brückenköpfen und anderen Übersetzstellen geschah erst jetzt und nur nachts. Am 19. November 1942 begann die unvergeßliche Operation der Einkesselung Stalin-grads und die Vernichtung der 6. deutschen Armee.

Neue BündnispolitikDas Cannae der deutschen Wehrmacht bei Stalin-grad wiederholte sich in dieser grandiosen, welt-historischen Form nicht mehr. Es legte den eigent-lichen Grundstein für die deutsche Niederlage im Zweiten Weltkrieg. Der internationale Widerhall des sowjetischen Sieges war ungeheuer. Begeiste-rung empfanden alle antifaschistischen Kräfte der Welt.

Die Großtaten der Sowjetarmee bei Stalingrad und während der folgenden Offensive bis Februar/März 1943 veränderten wesentlich auch die Bezie-hungen innerhalb der Antihitlerkoalition. Die west-lichen Alliierten, deren politische und militärische Stäbe im Jahre 1941 und noch später der UdSSR wenig Siegeschancen eingeräumt hatten, began-nen, ihr Urteil zu revidieren. Die führenden Kreise um Churchill und Roosevelt, soweit darunter nicht kurzsichtige Antikommunisten waren, erkannten die vernichtende Niederlage der Wehrmacht als

bisher größten Erfolg der Antihitlerkräfte und als grundlegend für die weitere Bekämpfung der fa-schistischen Pest.

Freilich lernten sie begreifen, daß ihr bisheriges Bündniskonzept untauglich geworden war. Die un-tergeordnete – und möglichst erschöpfende – Rol-le, die sie der UdSSR 1941/42 zugedacht hatten, war bei derartigen sowjetischen Erfolgen, deren Wirkungen in die ganze Welt ausstrahlten, ohne Aussicht auf Realisierung. Die spätere europäische Friedensordnung würde bestimmen, wer den Feind besiege. »Wenn Rußland den Krieg allein gewinnt, so wird es auch am Friedenstisch allein dominie-ren.« (New York Post, 10.2.1943).

Diese Kreise befaßten sich in den fortlaufenden Beratungen und Überlegungen der folgenden Mo-nate jetzt nicht mehr vordergründig mit Forderun-gen an die Sowjetunion für die Nachkriegsordnung – Räumung Ostpolens, Abtretung der baltischen Länder, Nichteinmischung in Südosteuropa. Es ging jetzt mehr und mehr um konkrete Bündnis-verhandlungen, um Abmachungen vor allem über Hilfslieferungen von Waffen und Gütern und über entlastende militärische Operationen der West-mächte in Europa, besonders in Westeuropa.

Casablanca (14.–26. Januar 1943)Die sowjetische Führung begriff sehr gut, daß die Westalliierten keine Eile damit hatten, Blut und Kosten für eine Festlandsinvasion in Westeuropa zu riskieren, solange ihnen die Sowjetunion die Hauptlast des opferreichen Kampfes abnahm. Die offiziellen Verhandlungen darüber in Casa blanca vom 14. bis 26. Januar 1943 blieben intern, wie andere derartige Besprechungen, das heißt ohne Teilnahme der UdSSR.

Noch Ende 1942 hatten sich Großbritannien und die USA mit Vorschlägen vorgedrängt, starke britische Flugzeugverbände der Sowjetunion als »Hilfe« in den Kaukasus zu schicken, und sand-ten bereits eine Erkundungskommission dorthin (Dezember). Die USA schlugen eine direkte US-Flugroute von Alaska nach Sibirien vor, wollten ferner gegen die japanische Gefahr (!) 100 ihrer schweren Bomber im sowjetischen Fernostgebiet stationieren. Stalin lehnte all diese durchsichtigen Angebote ab, was gewisse renommierte Historiker noch heute nicht verstehen wollen.

Nach Casablanca kamen Churchill und Roose-velt mit ihren führenden Militärs. In Stalins Augen war der wichtigste zu beschließende Punkt die Ent-lastung der Sowjetunion noch im Frühjahr/Sommer 1943 durch eine Invasion in Westeuropa. Später, erst im Mai, eröffnete man dem Sowjetführer, vor Frühjahr 1944 werde keine ausreichende Kräfte-konzentration für eine solche Operation zu schaffen sein. Dafür wurden Tunesien und im Juni 1943 Sizilien besetzt. Churchills Lieblingsplan, den die äußerste US-Reaktion unterstützte, nämlich eine westalliierte Invasion in Südosteuropa einzuleiten, wiesen die US-Militärs immerhin ab.

Im Abschlußmemorandum von Casablanca stand außer diesem für die im schwersten Kampf stehende UdSSR enttäuschenden Beschluß auch die Absichtserklärung, die seit letzten Sommer stark verminderten Hilfeleistungen für die Sowjet-union über den Atlantik zu verstärken. Als neu begrüßte es die Sowjetregierung, daß sich in naher Zukunft die US-Bomberflotten an den britischen Angriffen auf deutsche Städte mit Tagesbombarde-ments gegen industrielle und strategisch wichtige Ziele beteiligen wollten.

Von den Verlautbarungen der Konferenz, ob nun später umgesetzt oder nicht, drang wenig ins öf-fentliche Gedächtnis. Noch heutzutage aber wird Roosevelts vom State Department vorbereitete Formel von der »bedingungslosen Kapitulation« Deutschlands, Italiens und Japans (unconditional surrender) als Ziel der drei Alliierten zitiert, die er auf der Pressekonferenz am 24. 1. 1943 bekanntgab. Nicht überall im westalliierten Lager mag man mit dieser Losung uneingeschränkt zufrieden gewesen sein. Aber die Führung der UdSSR konnte darin eine gewisse Sicherung gegen mögliche appease-mentpolitische Bestrebungen erblicken.

u Teil I erschien in der gestrigen Ausgabeu An den Untergang der 6. deutschen Armee in Stalingrad vor 70 Jahren wird im November an dieser Stelle erinnert werdenu Weitere Beiträge von Dietrich Eichholtz finden sich in der jW-Broschüre »›Barbarossa‹. Raubkrieg im Osten« (Berlin 2011, 5,80 Euro, im jW-Shop erhältlich)

junge Welt Freitag, 6. Januar 2012, Nr. 5 1 1t h e m a

tabelle u sowjetische rüstuNgsproduktioN 1942Nach sowjetischen Nachkriegsangaben

Deutsche Schätzungen (Fremde Heere Ost)

Flugzeuge 21 232 7 200

Panzer 24 464 10 880

Geschütze 30 000 – 33 000 (ohne Pak) 7 800

Sowjetische Rüstungsproduktion unter Kriegsbedingungen: Frauen, Jugendliche und Alte nehmen in den Fabriken die Plätze der an der Front kämpfenden Arbeiter ein

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Als ich letztens in dieser Zei-tung Hector Berlioz’ Musik beschrieb (jW vom 17.12.), ge-

brauchte ich als Attribut für zwei sei-ner Werke die ironische Wendung, sie seien »seltsam heilig«. Nachdem ich die Neuaufnahme der »Grande Messe des Morts« gehört habe, dirigiert von Paul McCreesh, nehme ich die Ironie in aller Form zurück. Sollte die Linke irgendwann hegemonial genug sein, die uns von den Herrschenden geklau-ten, mit Dreck gefüllten Worte zu re-sozialisieren und zu reanimieren – ich wäre für die sofortige Übernahme des »Heiligen« ins Volksvermögen. Denn das Heilige leitet sich vom Heil ab als von etwas Unversehrtem, Besonderem, das den Urahnen kollektive Identifika-tion ermöglichte. Es wurde erst viel später von selbsternannten »heiligen« Vätern usurpiert, die das Heilige in jüngster Zeit bis zur Heiligsprechung klerikaler Francofaschisten verhunz-ten. Wir lassen ihnen großzügig die Scheinheiligkeit.

Was das Heilige mit uns macht, et-wa im »Sanctus« der Totenmesse: Es schließt das Herz auf, kindergroß und himmelweit. Heinrich Heine nannte es, nachdem er Berlioz’ Musik gehört hatte, die »Unermeßlichkeit«. Schon materiell: 108 Streicher entfalten sich im Raum; für ein gigantisches Baß-fundament sorgen acht Fagotte, vier Posaunen, verteilt auf vier Blechbla-sensembles; der Chor zählt 200 Keh-len. Der riesige Abstand, aus dem hier »letzte Fragen« verhandelt werden, wird zu Klang in sehr tiefen Posaunen und gleichzeitig sehr hohen Flöten, in »Dies irae«, »Offertoire« und anders-wo. Wie ernst das alles ist und wie schön, hört man in den oft herrlich lan-gen Fermaten, auch Stille ist Musik!

Veranstaltungen wie das Jüngste Gericht im »Tuba mirum« sind als Sakralszenarien nicht auf die christ-liche Bilderwelt beschränkt. Mit ih-nen reagiert(e) der religiöse Teil der Menschheit auf ein Diesseits, mit dem auch der nichtreligiöse Teil massive Probleme hat. Der moralische Impe-rativ, der da mit dem heiligen Donner von 16 Pauken und Trommeln, dazu Trompeten und Posaunen zu ungeheu-

rem Klang und großem Genuß wird, ließe sich übersetzen. Als Evokation eines Weltgerichts, heute würde man von einem internationalen Gerichts-hof sprechen, einer Art Über-UNO echter Völkergerechtigkeit: Verdammt sind die, die da Krieg führen gegen die Menschheit! Das Heilige und der Ruhm im »Sanctus«, im Wortlaut des Messetextes Gott in der Höhe zuge-dacht, lassen sich nutzbringend hören

als Lobgesang auf den Ruhm des Men-schen hier unten in der Tiefe, als Hohe-lied von Engelscharen kämpferischer Antizipation, als Klang gewordener Traum von einer besseren Welt.

Dabei war Berlioz kein Parteisoldat. Er konzipierte sein Requiem als Auf-tragswerk des französischen Staates für die Opfer der Julirevolution von 1830. Es wurde Ende 1837 im Rahmen eines Staatstraueraktes zu Ehren eines

Generals im Invalidendom uraufge-führt. Berlioz’ war Katholik und Agno-stiker. Die einzige Religion, der er sich verpflichtet fühlte, war die Musik, wie er sie verstand. Und er verstand sie aus großer innerer Kraft als etwas zutiefst Eigenes, er war unabhängig. Ein zutiefst mediokres Juste Millieu hat ihn mit Zurücksetzungen und Miß-erfolgen schwer dafür büßen lassen. Rußland und Deutschland lagen ihm zu Füßen. Liszt erkannte Berlioz in seiner Bedeutung, Wagner fürchtete ihn als Konkurrenten, Paganini kniete öffentlich vor ihm. Doch Berlioz kam von Paris nicht los. Er starb verbittert, ungetröstet.

In der Neueinspielung der Toten-messe dirigiert mit Paul McCreesh ein vormaliger Spezialist für Musik der Renaissance die über 400 Mitwir-kenden auf beeindruckend adäquat er-scheinende Weise im Kosmos Berlioz. Das Zusammenspiel von Chören und Orchester eröffnet Klang und Nach-klang der Riesenräume, für die der Franzose diese Musik erdachte. Der historisch informierte Klangsensoriker McCreesh inszeniert mit Gespür und Können. Berlioz hat in seiner Toten-messe die von ihm als Maß aller Dinge bewunderte Idee der Chorsymphonie Beethovens auf eine Höhe geführt, die selbst Gustav Mahler 70 Jahre später nicht mehr erreichte. Bei Mahler dau-erte es sehr lange, bis das Publikum wußte, was es an ihm hat. Bei Berlioz dauert es länger.

u Berlioz: Grande Messe des Morts – Murray/Gabieli Players & Consort/Wroclaw Philharmoniker/Chetham’s School of Music Brass Ensemble/Paul McCreesh (Signum Records/Note 1)

Freitag, 6. Januar 2012, Nr. 5 junge Welt 1 2 f e u i l l e t o nEs war MordDie nächsten Tage im Radio

Seit 1969 löste Erik Ode als Kommissar Keller in der

westdeutschen Fernsehserie »Der Kommissar« manch rät-selhaften Fall. Zur selben Zeit tat sich die bundesdeutsche Ge-sellschaft mit der Aufarbeitung der Naziverbrechen mehr als schwer. Mörder lebten unbehel-ligt, viele in Amt und Würden. In dieser Zeit muß die sechs-jährige Aga mit ihrer Familie aus Polen über Israel in eben jenes »Land der Mörder« emi-grieren. Wer die Mörder sind, bleibt Aga unklar. Also vertraut sie sich dem zuständigen Ex-perten an, Komissar Keller.

Das Radiostück »Mörder« von Agnieszka Lessmann (DLF 2011) nimmt die Per-spektive eines bei der Suche nach Antworten auf sich allein gestellten Kindes ein. Die tatkräftige Hilfe des Kult-ermittlers und die unbefangene Herangehensweise der Ich-Erzählerin stehen im Kontrast zur Schwere des Themas. Das Hörspiel des Monats Oktober 2011 läuft am Samstag, 20.05 Uhr, im DLF.

Eine Stunde später beginnt auf NDR Info »Was dein Na-me verbirgt«, Teil eins (WDR 2011). Die spanische Vorlage dieses Hörspiels über unauf-geklärte Kriegsverbrechen stammt von Clara Sánchez. Zwei Freunde, die Mauthausen überlebt haben, und seitdem untergetauchte Naziverbrecher jagen, brechen aus diesem Grund ins spanische Dianium auf, wo sie mit der jungen Sandra als Lockvogel einem abartigen Treiben auf die Spur kommen (2. Teil am 14.1.).

In »Flashback«von Anja Herrenbrück stößt Staatsan-wältin Jorinde Peters bei der Befragung eines Psychiatrie-In-sassen auf einen unaufgeklär-ten Mord (Ursendung am Mo., 21.33 Uhr, Dkultur). Gegen das Abpumpen von Grundwasser hatte sich zur fraglichen Zeit eine Graswurzelbewegung gegründet. Die Staatsanwältin bemerkt - hoppladihopp - ihre eigene Verwicklung in den Fall.

Zum Glück hat auch Eu-gen Egner den Freunden des Radios wieder ein Hörspiel geschenkt. »Zu jung für eine eigene Hose« ist Baumanns Telefonstimme, deshalb muß er sie mit zwei Mädchen teilen – eines spielt Zitter, das andere Ukulele. Als die Telefonstimme unter Vormund-schaft kommt, kann er nicht mehr telefonieren. Also auf zum Versuchsmond, wo die Wissenschaftler wohnen, die seine Stimme vom Vormund gekauft haben. (Ursendung Mo., 23.05 Uhr, WDR3/ Di., 23 Uhr 1Live).

Und schließlich hat Klaus Buhlert im Auftrag von SWR und DLF aus der »Ulysses«-Übersetzung von Hans Woll-schläger ein Hörspiel gemacht. Es ist 1 200 Minuten lang. Der erste von 13 Teilen heißt »Telemachos« (Di., 20.10 Uhr, DLF).

Rafik Will

Der riesige AbstandAnrufung einer Art Über-UNO: Berlioz’ Totenmesse neu eingespielt. Von Stefan Siegert

Wenn Sie schon immer wissen wollten, wer sich hinter dem Herrn D. ver-

birgt, dann haben Sie am 16.12. die Gelegenheit, das herauszufinden. Ab 20 Uhr werden der Autor und Gerhard Müller von Radio multicult.fm dem Herrn D. ihre Stimme leihen – und ein bißchen etwas erzählen über die Entstehungsgeschichte dieser kleinen Figur mit dem Regenschirm. Der Au-tor verspricht einen unterhaltsamen Abend …« Der Autor ist, gewisserma-ßen: der Herr D.

Eigentlich ist der Herr D. ja erkäl-tet, darum trägt er einen dicken Schal. »Vorschußlorbeeren machen mich auch nicht ruhiger«, lächelt der Herr D., als er unter Applaus seinen Platz einnimmt. Da niemand ihn vorgestellt oder die Lesung eröffnet hat, ahnt das Publikum nun zumindest: Das ist der Herr D.

Auch der Herr D. möchte seine knapp fünfzig Gäste weder begrüßen noch anschauen, und frei sprechen mag der Herr D. ebenfalls nicht. Aus der Übung sei er, sagt der Herr D., die letzte Lesung liege zehn Jahre zurück. So liest denn der Herr D. eine Art Re-de über Vorder- und Hintergründe sei-nes Schaffens ab, während seine linke Hand beharrlich im Gesicht herum-nestelt, vorzugsweise vor dem Mund.

Aber das stört den Herrn D. nicht.Eigentlich ist der Herr D. gar kein

Beamter aus Bonn, der vor zwanzig Jahren in die neue alte Hauptstadt versetzt wurde. In Wirklichkeit wur-de der Herr D. in Bochum geboren, wuchs in Darmstadt und im Odenwald auf und zog aus freien Stücken nach Berlin. – Vor 1989, darauf legt der Herr D. wert, der heute im weiteren Schatten von Schinkels Nationaldenk-mal wohnt. Insofern rechnet er sich zu den »Altneukreuzbergern«, was ihn über die von ihm »Neukreuzberger« Genannten erhebt, die erst nach 1989 herkamen. Das heißt, nach Berlin. Denn eigentlich hat der Herr D. selbst bis 1999 im Wedding gelebt.

Noch eigentlicher ist der Herr D. gar nicht der Herr D. Tatsächlich heißt der Herr D. Herr K. und schrieb Artikel für, zum Beispiel, die Ost-West-Wochenzeitung Freitag, wo man ihn – für einen Ossi gehalten habe! Da lacht der Westen und der Osten wun-dert sich. Dann habe die Frankfurter Rundschau ihn angerufen; er möge helfen, die neuen »Berlin-Seiten« zu füllen, die jede überregionale Zeitung Mitte der 1990er Jahre meinte, füllen zu müssen. Weil die Weltliteratur schon einen Herrn K. kannte (»Je-mand mußte Josef K. verleumdet ha-ben …), wurde Herr K. zu Herrn D.

Im Jahre 1999 gründete der Herr D. sein eigenes Lokalblatt im halben A 4-Hochformat, die Kreuzberger Chro-nik. Er hege, sinniert der Herr D., eine gewisse Scheu vor dem literarischen Ich, weshalb man es in der Kreuzberger Chronik kaum finde. Obwohl es doch so viele Möglichkeiten eröffne. – Der Herr D. und die erklärte Bescheiden-heit. Der Herr K. weiß natürlich, daß ein literarisches Ich ihn vor urbi et orbi, vor allem aber vor Staatsanwalt et An-zeigenkunden haftbar macht, wohin-gegen die Dritte Person im Zweifel als Literatur durchgeht. Das braucht die Leser seines Herrn D. gar nicht zu in-teressieren. Der Herr D. ist zuständig, aber nicht verantwortlich, es sei denn, fürs Schmunzeln auf allen Seiten. »Das klingt auch heiter und verletzt nicht«, mit Loriot gesprochen.

Der Herr D. ist dabei mitnichten apolitisch. Stets steht der Herr D. auf seiten der Kleinen Leute, ganz wie es sich ziemt in einem Bezirk, wo ein alternativer Verleger seine alternativen Inserenten öffentlich für ihre Solidari-tät mit seinem Inseratenblatt belobigt. Der Herr K. läßt an dieser Volksnähe auch keine Zweifel etwa dadurch aufkommen, daß er dem literarischen Herrn D. betreffend den Verkauf von Häusern und die Verdrängung von Altmietern zu erwähnen verböte, die

Investoren kämen aus Israel. Diese Texte hat der Herr K. für die Lesung beim Berliner Büchertisch am Meh-ringdamm 51 aber nicht ausgewählt.

Der Herr D. überläßt das Wort alsbald Gerhard Müller, auf den er ge-stoßen sei, als dieser ihn eines Tages anrief, um mitzuteilen, morgen werde er eine Stunde mit Texten von Herrn D. senden, er könne ja »mal reinhö-ren«. Und der Herr M. als Rundfunk-profi lese ja so viel besser vor als er selbst. – Hier irrt der Herr D. Zunächst versetzt der Herr M. das Publikum mit dem Abspielen seiner Interpretatio-nen des Herrn D. via Lautsprecher in allgemeines Peinlichberührtsein. Da-nach beweist er live, wie sicher man Anekdoten, die von der Beiläufigkeit der Szenen und Dialoge leben, in 150 Prozent Betonung ersticken kann.

Dem Herrn D. resp. dem Herrn K. kann’s gleich sein. Er verbringt den Großteil der Lesung aus seinem Buch sowieso an der Bar, mithin im Rücken der Zuhörer, und nach einem Auftritt zu dritt mit einer Dame, die auch bloß niemand vorgestellt hat, fällt dem Herrn D. lediglich noch ein: »Das war’s.«u Hans W. Korfmann: Der Herr D. Die Erlebnisse eines Neukreuzber-gers. Außenseiter-Verlag, Berlin 2011, 116 Seiten, 10 Euro

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Ein zutiefst mediokres Juste Millieu hat ihn schwer büßen lassen (Berlioz)

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Mit den Mitteln der Fotogra-fie aufklären und anklagen? Stellung beziehen in Zeiten

der Armut, der Arbeitslosigkeit, der Obdachlosigkeit? Sie als »Dynamit und Sprengpatronen im Kampf der Seelen« einsetzen, wie Kurt Tucholsky es in der Weltbühne propagier-te, ihre dokumentarische Kraft sprechen lassen?

Diesen Anforderungen wurde Eva Besnyö (1910–2003) sehr gerecht. 1933 machte sie Auf-nahmen vom Budapester Elends-viertel Kiserdö. Auch Fotografi-en wie »Ein Arbeitsloser im Jor-daan«, »Vor der Börse, Amster-dam 1932« und »Pfandhaus M. Cosman« sind einer sozialkriti-schen Bildsprache verpflichtet, dabei aber eher poetisch denn kämpferisch. Ist Fotografie sozi-alkritische Dokumentation oder Kunst? Im Idealfall beides. Ge-genwärtig wird Besnyö in Berlin in einer großen Retrospektive ausgestellt.

Am Anfang ihrer Laufbahn als Fotografin, so Eva Besnyö in ei-nem Interview, war ihr die Form wichtiger als das Thema. Auf-gewachsen in einer bürgerlich-jüdischen Familie in Budapest, macht sie die Gesellenprüfung beim angesehenen Budapester Porträt- und Werbeatelier Jószef Pécsi und verläßt 1930 das vom faschistischen »Reichsverwe-ser« Miklós Horty beherrschte Ungarn. Wie ihre ungarischen Künstlerkollegen László Mo-holy-Nagy, György Kepes und Robert Capa zieht sie zunächst nach Berlin, vor der Nazizeit die Metro-pole des Umbruchs und der Experi-mentierfreude. »Ich kam nach Berlin, und da ging das Licht an«, sagte sie später. Hier entdeckt Besnyö die Fil-me der russischen Avantgarde, erlebt das revolutionäre Theater eines Erwin Piscator und besucht die Marxistische Arbeiterschule. Diese Eindrücke ver-arbeitet sie zu ihrer ganz persönlichen Fototechnik. »Zu Beginn fotografierte ich Menschen. Manchmal schlafend. Aber sie waren immer dem formalen

Prinzip untergeordnet und hatten kei-ne Bedeutung als Individuen.« Klare Linien, feine Strukturen, ungewöhn-liche Blickpunkte, steile Aufsichten, reichste Stufungen der Lichtführung und der grauen Werte, kühne Diagona-len werden zum Ausdruck eines neuen

Sehens. »In Ungarn lag die Diagonale in der Luft, in Berlin ging sie durch mich hindurch.«

Vom Betrachter verlangen diese Fo-tos eine aktive Wahrnehmungshaltung, da sich die abgebildete Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar erschließt. Das Credo des neuen Sehens lautet, »dem Bekannten neuartige Ansichten abzu-gewinnen«. Besnyö spielt mit unge-wöhnlichen Perspektiven, wie der der irritierenden Wirkung des Schattens eines Eisengitters oder einem som-merlichen Kiesbett. Fast menschen-

leere Straßen bannt sie in surrealer Wirkung ins Bild oder zeigt Menschen in Rückenansichten, wie den Koksar-beiter oder bei der Aufnahme zweier Mädchen, die sich Schutz suchend um-fassen. Das »Deutsche Stadion« im Grunewald präsentiert auf fast kubi-

stische Art. Oder sie zeigt Flächen und Linien gleich den Konstruktivisten, den Zeitgenossen moderner Ingenieu-re, wie bei der Gleisanlage oder dem Bahnhof. Beeindruckende Ergebnis-se ihrer Berliner Zeit, die zwei Jahre währte. Früh erkennt sie den Rassen-wahn der Nazis und zieht nach Amster-dam, wo sie 1934 mit ihrer ersten Ein-zelausstellung öffentliches Aufsehen erregt. Schnell gehört sie zu den tonan-gebenden Fotografen der Niederlande und auch zum Freundeskreis um die expressionistische Malerin und Wi-

derstandskämpferin Charley Toorop. Als die Nazis das Land besetzen, un-terstützt Besnyö den Widerstand und sorgt u.a. für die Herstellung illegaler Dokumente.

Nach der Bombardierung Rotter-dams durch die Wehrmacht ist Eva

Besnyö mit ihrer Kamera un-terwegs und überwältigt von der ästhetischen Wirkung der Trümmerszenarien. Dutzende von Aufnahmen vermitteln eine Bildästhetik, die vom Leid der Betroffenen abstrahiert und oh-ne Menschen auskommt. Rück-blickend distanziert sie sich von diesem Ruinen-Zyklus und spricht vom »Todesstoß ihrer ästhetischen Fotografie«. Auch über ihre Architekturfotografi-en, übrigens sehr erfolgreichen Auftragsarbeiten, hat sie später bemerkt, daß sie ihr schwerfie-len, denn »ich mußte die Archi-tektur immer ohne Menschen aufnehmen«.

In den 70er Jahren wird sie zur Aktivistin der niederländischen Frauenbewegung »Dolle Mina« und dokumentiert mit ihrer Lei-ca deren Aktionen, da war ihr »das Thema viel wichtiger als die Form«. Von der Zeitschrift Op-zij erhält sie den Annie-Romein-Preis für »ihren besonderen Bei-trag zur Geschichtsschreibung der (…) feministischen Bewegung«, die »durch Worte nicht so hätte wiedergegeben werden können«. Als sie 89 Jahre alt ist, wird sie von der Deutschen Gesellschaft für Photographie für »humanisti-

schen Fotorealismus« mit dem Erich-Salomon-Preis geehrt.

Daß diese außergewöhnliche Foto-grafin in einer Gesamtschau von 120 Vintage Prints gewürdigt wird, ist das Verdienst des »Verborgenen Muse-ums« und der Kuratorinnen Marion Beckers und Elisabeth Moortgat. Ein Bildband dokumentiert Eva Besnyös Leben und Wirken in eindrucksvoller Weise.

u bis 27.2., Berlinische Galerie, Alte Jakobstraße 124–128, Berlin

junge Welt Freitag, 6. Januar 2012, Nr. 5 1 3f e u i l l e t o nRauch-Haus reparierenDurch den Brandanschlag

vom 25. Dezember ist es im Berliner Georg-von-Rauch-Haus, bekannt durch ein klas-sisches Ton-Steine-Scherben-Lied, zu erheblichen Schäden gekommen, die das Leben der über 35 Bewohner enorm schwierig machen. Seither ist bei diversen Aktionstagen schon manches repariert wor-den, aber es gibt immer noch jede Menge zu tun. Zu diesem Zweck findet am nächsten Mitt-woch, den 11. Januar, im SO 36 eine Benefizgala statt, die ge-samten Eintrittgsgelder gehen an das Rauch-Haus. Mit dabei sind diverse Veteranen wie Jingo De Lunch, die 1987 im Rauch-Haus-Keller ihr berühm-tes erstes Tape aufnahmen oder The Bottrops, aber auch Projek-te wie Kumpelbasis (»auherhalb Berlins eigentlich nur bei Plat-tensammlern und Potsdam-Ba-belsbergern bekannt«) oder Fr. Mansmann mit »ausgefuchstem Stumpfpunk auf den Pfaden von Knochenfabrik, Cotzbrocken und Matthias Reim«, bzw. die Kreuberger Riot-Grrrl-Band The Brunettez mit dem schönen Lied »Cola Pur« und andere. (jW)

Louvre islamisieren

Der Pariser Louvre ist auf der Suche nach Mäzenen,

die seine neue Abteilung für islamische Kunst mitfinanzieren sollen. Die Arbeiten sollten bis Sommer beendet sein, erläuterte der Präsident des Museums, Henri Loyrette am Mittwoch. Zur Finanzierung fehlten noch rund zehn Millionen Euro. Die Gesamtkosten für die neue Abteilung bezifferte er auf 98,5 Millionen Euro. Der französi-sche Staat beteiligt sich mit 31 Millionen Euro. Mehrere arabi-sche Staaten steuern 26 Millio-nen Euro bei. 30 Millionen Euro kamen von Spendern, darunter die Stiftung des saudiarabischen Prinzen Al-Walid ben Talal mit 17 Millionen Euro. (AFP/jW)

Stück ein Rück: Berliner Koksarbeiter, 1931, fotografiert von Eva Besnyö

Kühne DiagonalenDas neue Sehen der Eva Besnyö: Eine Retrospektive zeigt in Berlin unter anderem Avantgarde-Fotografie der 1930er Jahre. Von Christina Puschak

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Sonnabend/Sonntag, 7./8. Januar 2012, Nr. 6 junge Welt 1 4 r a t & w t a t

ferNseheN

Nachschlag Die lange Welle hinterm Kiel | Mi., 20.15, ARD

Vorschlag

VeraNstaltuNgeN

u Die Adresse für Termine: [email protected]

Der Bundespräsident setzt alles auf eine Karte: »Der große Kater«

Über den TodespaßHeute vier Western hintereinander bei 3sat! Diebe, Lügner, Helden – irgendwie rechnet man jederzeit mit dem Auftritt von Christian Wulff als Schurke. Egal: der hier ausgewählte ist mit James Ste-wart, der ehrlichsten Haut überhaupt. Später kann man noch John Wayne beim Sterben und Dean Martin beim Trinken zusehen. u 3sat, 18.40 Uhr

Der große KaterKein Vertrauen in diesen Film, aber da es um Politik geht, soll er angezeigt sein: Der Schweizer Bundespräsident, »Kater« genannt, befindet sich auf dem Höhepunkt seiner politischen Laufbahn. Doch nun geht es bergab: Die Umfra-gewerte sind im Keller, seine Ehe ist am Zerbrechen, und sein kleiner Sohn liegt im Sterben. Als Kater durch seinen früheren Freund »Pfiff« Stotzer in eine Intrige verwickelt wird, entdeckt er sei-

ne Spielernatur wieder und setzt alles auf eine Karte. Mit Bruno Ganz (Kater), Ulrich Tukur und Christiane Paul.u Arte, 20.15 Uhr

BergblutDas hier schon eher: Augsburg, An-fang des 19. Jahrhunderts: Die bayeri-sche Arzttochter Katharina heiratet den armen Südtiroler Bauernsohn Franz. Als der einen französischen Soldaten erschlägt, muß das Paar Deutschland verlassen und flieht nach Tirol. Doch auf dem Bergbauernhof im Passeiertal erwartet Katharina ein hartes Leben. Hinzu kommt, daß das junge Paar bald in die Wirren des Volksaufstands um Andreas »Taliban« Hofer gerät. Wie sagt der Österreicher? Gewaltig!u Bayern, 20.15

Der umstrittene Präsident: Das Protokoll einer AffäreNein, umstritten ist er nicht, nicht mehr. Er hat als Präsi fertig. Er kann ja was Neues starten, mit Gutti, di Lorenzo und

Henkel: Die »Total Freien Wähler« zum Beispiel. Oder alte Leute um ihre Er-sparnisse prellen wie Maschmeyer. So egal. u NDR, 21.15

UrvilleEine Reise durch ein zuvor unbekanntes Land – Frankreich

Urville scheint die ideale Stadt zu sein. Auf einer Insel im Mittelmeer gelegen, sieht man von der Côte d’Azur aus ih-re Skyline aufragen. In Urville gibt es keine Unterschiede zwischen den Men-schen. Ethnische Konflikte sind unbe-kannt, Gefängnisse überflüssig. Überall herrscht Solidarität, denn die ist Unter-richtsfach an den Schulen. Nun ist, man ahnt es bereits, diese Stadt Urville eine Fiktion. Erfunden wurde sie von Gilles Tréhin, einem Autisten. Doch gibt es in der Realität gleich drei Orte namens Ur-ville in Frankreich. Und diese drei Orte besucht Filmemacherin Angela Christ-lieb. Sie lässt ihre Bewohner zu Wort kommen und stellt deren Realität der Fiktion von Gilles Tréhin gegenüber. u Arte, 22.35

Solidaritätsmenü für Kuba und die junge Welt. Die Einnahmen werden aufgeteilt und gespendet. Heute, 6.1., 18 Uhr, Stadt-teilladen Komm e.V., Eckhaus Mittlere Kanalstr. / Untere Seitenstr. direkt am Jamnitzerplatz, Nürnberg. Organisiert vom CDR#1 in Nürnberg

»FAU – wie funktioniert das?« Was macht eine syndikalistische Gewerkschaft über-haupt aus? Einführung 6.1., 19 Uhr, FAU-Lo-kal, Lottumstr. 11, Berlin. Info: www.fau.org

Herzlichen Glückwunsch – der Infoladen Wilhelmsburg feiert seinen 4. Geburtstag. Geboten werden linke Lektüre, Cock-tails und Kuchen. 6.1., 19 Uhr, Fährstr. 10, 21107 Hamburg. Info: http://infoladen- wilhelmsburg.nadir.org

Diskussionsrunde über die Perspektiven und Aufgaben in der Gewerkschaftsarbeit im Stahlbereich mit Gewerkschaftsvertre-tern aus verschiedenen Betrieben. Freitag, 6.1., 18 Uhr, Jugend-und Kulturverein, Kaiser-Wilhelm- Str. 284, Duisburg

Break the silence – start the fight! Demon-stration und Mahnwache im Gedenken an Oury Jalloh, der am 7. Januar 2005 in einer Polizeizelle verbrannte. Samstag, 7.1., ab 13 Uhr, Hauptbahnhof Dessau, Fritz-Hesse-Str, 47. Info: http://initiativeouryjalloh.wordpress.com

Bremen: Kundgebung in Erinnerung an Layé Condé, Oury Jalloh und viele weitere Opfer rassistischer Polizeigewalt. Nicht nur Oury Jalloh starb am 7. Januar, sondern auch der ursprünglich aus Sierra Leone stammende Flüchtling Laye Condé. Kund-gebung mit Video-Projektion, Samstag, 7.1., 16.30 Uhr, Sielwallkreuzung. Info: http://thecaravan.org

Herausgeberin: Linke Presse Verlags- Förderungs- und Beteiligungsgenossenschaft junge Welt e. G. (Infos unter www.jungewelt.de/lpg). Die überregionale Tageszeitung junge Welt erscheint in der Verlag 8. Mai GmbH. Adresse von Genossenschaft, Verlag und Redaktion: Torstraße 6, 10119 Berlin. Geschäftsführung: Dietmar Koschmieder. Chefredaktion: Arnold Schölzel (V. i. S. d. P.), Rüdiger Göbel (stellv.). Redaktion (Ressortleitung, Durchwahl): Innenpolitik: Jörn Boewe (-27); Wirtschaft: Klaus Fi-scher (-20); Außenpolitik: André Scheer (-70); Interview/Reportage: Peter Wolter (-35); Feuilleton und Sport: Christof Meueler (-12); Thema: Stefan Huth (-65); Bildredaktion: Sabine Koschmieder-Peters (-40); Layout: (-45); Internet: Peter Steiniger (-32); Verlagsleiter: Andreas Hüllinghorst (-49); Marketing/Kommunikation: Katja Klüßendorf, Nora Krause (-10); Aktionsbüro: Carsten Töpfer (-10); Archiv: Stefan Nitzsche (-37); Schreibbüro/Sekretariat: Eveline Pfeil (-0); Aufnahme: (-88); Herstellungsleitung: Roland Dörre (-45); Anzeigen: Silke Schubert (-38); Leserpost: (-0); Vertrieb/Aboservice: Jonas Pohle (-82). Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Fotos übernimmt die Redak-tion keine Verantwortung. Abon ne ments, Adreßänderungen und Reklamationen: Verlag 8. Mai GmbH, Torstraße 6, 10119 Berlin, Tel.: 030/53 63 55-81/82, Fax: -48. E-Mail: [email protected]

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Völker hört die Signale! Am Infostand des BüSGM auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt am 14.01.2012 in der Urania signiert unser Preisträger und Ehrenmitglied, der Schauspieler Rolf Becker, um ca. 15.30 Uhr die von ihm besprochene CD mit dem »Kommunisti-schen Manifest«, die gegen eine Spende von 10 Euro erhältlich ist.

Gedenk- und Protestdemonstration für die verstorbenen kurdischen Zivilisten und gegen den Krieg gegen das kurdische Volk! Treffpunkt: Duisburg HBF, Samstag, 7.1., 13 Uhr! Aufrufer: DIDF, RAJD, SOL NRW, ÖDH Freiheit und Solidarität, Die Linke Duisburg, MLPD Duisburg, ADHF, YDG, AGIF, ATIF, Anadolu Federasyonu Duisburg, YEKKOM, Linksjugend [solid] Duisburg

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jW- L e s e r i n i

Obama wirft Iran

Anschlagsplanung vor

W . Nach der Aufdeckung

angeblicher Anschlagspläne auf

den saudiarabischen Botschafter

in Washington hat US-Präsident

Barack Obama am Donnerstag ira-

nische Funktionäre »auf den höch-

sten Ebenen« der Regierung für die

Pläne verantwortlich gemacht. Er

sagte jedoch nicht, ob er davon aus-

gehe, daß auch der geistliche Füh-

rer Ayatollah Ali Khamenei oder

Präsident Mahmud Ahmadined-

schad eingeweiht gewesen seien.

Am Mittwoch hatte sich die ameri-

kanische UN-Botschafterin Susan

Rice mit Vertretern der iranischen

Mission bei den Vereinten Natio-

nen getroffen. Dies galt als unge-

wöhnlicher Schritt, da Washington

und Teheran keine diplomatischen

Beziehungen unterhalten. (dapd/jW)

Deutsche Bank

unter Druck

F /M . Die Deutsche Bank

und sieben weitere Großbanken

in Europa und in den USA sehen

sich unter Druck. Wie in Frankfurt/

Main am Freitag bekannt wurde,

droht die Ratingagentur Fitch mit

der Herabstufung ihrer Kreditwür-

digkeit, was für die Banken die Ko-

sten der Refinanzierung verteuern

würde. Zuvor hatte Fitch bereits

die Einstufungen von vier Institu-

ten, darunter der Landesbank Ber-

lin und der Schweizer Großbank

UBS, herabgesetzt.

Fitch, eine der drei bestimmen-

den Ratingagenturen, hat neben

der Deutschen Bank auch die

britische Barclays Bank, die fran-

zösischen Institute BNP Paribas

und Société General, die Credit

Suisse sowie die US-Banken Bank

of America, Morgan Stanley und

Goldman Sachs ins Visier genom-

men. Alle diese Banken seien unter

Beobachtung für eine mögliche

Herabstufung gestellt worden.

�(dapd/jW)

AusstandStreiks in 200 Betrieben Österreichs:

Metaller kämpfen um Lohnab-

schlüsse über der InflationsrateAusverkäuferPolitiker versuchen wie Vampire, die

Proteste gegen die Wall Street

auszusaugen. Von Mumia Abu-JamalAbräumerAktivisten von »Occupy Wall Street«

säubern Park, um gegen drohende

Räumung zu protestierenAufbruch»Wir hoffen, daß wir täglich mehr wer-

den.« Interview mit Colin Below

von »Occupy Frankfurt«26

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Besetzt die Banken!Weltweit Proteste wegen Finanzkrise. In Deutschland wollen sich auch Parteien beteiligen, die sie

mit zu verantworten haben. Dagegen fordert Linke-Vize Wagenknecht: »Occupy Deutsche Bank«

Indignez-vous! – Empört Euch!«

hat der ehemalige französische

Widerstandskämpfer und Spit-

zendiplomat Stéphane Hessel sein

vor einem Jahr veröffentlichtes Ma-

nifest genannt. In zornigem Stil, für

alle verständlich, positioniert sich

der 93jährige darin gegen neoliberale

Finanzexzesse und für den Pazifis-

mus. Von Millionen weltweit wurde

das Bändchen gelesen – und verstan-

den. Sein Nachfolgewerk »Engagez-

vous! (Engagiert Euch!) wird dieser

Tage in die Tat umgesetzt: In mehr

als 900 Städten in 78 Ländern sollen

an diesem »15. Oktober« Protestak-

tionen gegen die Macht der Banken

und Konzerne, für Arbeitsplätze und

ein menschenwürdiges Leben statt-

finden. Laut der Bewegung »Occupy

Frankfurt« (Besetzt Frankfurt) sind

an diesem Samstag auch in mehr als

50 deutschen Städten Demonstratio-

nen und Kundgebungen geplant. Das

globalisierungskritische Netzwerk

ATTAC und Die Linke machen mit

mobil. In Berlin sind Proteste am Ro-

ten Rathaus und vor dem Kanzleramt

angekündigt. Vor der Europäischen

Zentralbank (EZB) in Frankfurt am

Main soll ein Zeltcamp errichtet wer-

den. Vorbild sind die Teilnehmer der

Bewegung »Occupy Wall Street«, die

seit Mitte September den Finanzdi-

strikt New Yorks belagern. Eine für

Freitag angekündigte Räumung des

dortigen Protestcamps wurde von den

Behörden »auf einen späteren Zeit-

punkt« verschoben.

Niemand konnte am Freitag ein-

schätzen, ob der Funke auch in

Deutschland zünden wird, ob ein paar

Dutzend, Hunderte oder nicht doch

mehrere tausend auf die Straße gehen

werden. Kampagnensprecher Wolfram

Siener gab sich zuversichtlich: »Die

kleinen Gruppen und Netzwerke kom-

men jetzt alle zusammen und begreifen

sich als Teil des großen Ganzen.«

Dreist: Ausgerechnet die Parteien,

die die Liberalisierung der Finanz-

märkte in den vergangenen Jahren vor-

angetrieben und mit ihrer Politik die

Reichen noch reicher gemacht haben,

versuchen sich der Protestbewegung

ebenfalls anzuschließen. Der Grünen-

Finanzexperte Gerhard Schick kün-

digte via Handelsblatt online an, er

werde an den Demonstrationen in

Frankfurt am Main teilnehmen und

hoffe, daß das möglichst viele Men-

schen täten. Denn nicht nur in den

USA sehe sich die breite Mehrheit der

Menschen inzwischen von der wirt-

schaftlichen Entwicklung abgehängt,

während wenige ihren Reichtum stark

hätten vergrößern können. Der Vize-

chef der SPD im Bundestag, Axel

Schäfer, behauptete, der Kampf für

mehr Teilhabe und die Kontrolle wirt-

schaftlicher Macht gehörten schon

immer zum sozialdemokratischen

Markenkern. »Deshalb wollen wir die

entstehende Bewegung stärken und

voranbringen.« Zur Erinnerung: Es

war die von Gerhard Schröder an-

geführte SPD-Grünen-Bundesregie-

rung, die beispielsweise die hochspe-

kulativen Hedgefonds zugelassen hat.

Als Die Linke 2005 forderte, dies

wieder zurückzunehmen, wurde das

von allen anderen Fraktionen im Bun-

destag abgelehnt.

Auch der finanzpolitische Sprecher

der Unionsbundestagsfraktion, Klaus-

Peter Flosbach, äußert Verständnis für

die Proteste. Handelsblatt online zu-

folgte sagte der CDU-Politiker: »Die

Steuerzahler lassen Dampf ab, wenn

Banken erneut auf ihre Kosten ge-

rettet werden müssen. Das ist nach-

vollziehbar.« Erneute Krisen dürf-

ten nicht mehr auf dem Rücken der

Steuerzahler ausgetragen werden. Zur

Erinnerung: Es war die Union, die

gerade den 211 Milliarden Euro teuren

Rettungsschirm mit SPD, FDP und

Grünen für die Kanzlerin im Bundes-

tag abgesegnet hat.

Der Bundesgeschäftsführer der

Linken, Werner Dreibus, kündigte ei-

ne Beteiligung seiner Partei an. »Die

Menschen haben die Nase voll davon,

daß für die Banken immer Geld da ist,

und für sie nie.« Er sagte voraus: »Die

Proteste werden weiter zunehmen,

weil die Politik nichts unternimmt,

um die Finanzmärkte an die Kette

zu legen.« Linke-Vizevorsitzende

Sahra Wagenknecht brachte es auf

die Handlungsformel: »Occupy Deut-

sche Bank, Occupy Commerzbank«.

Deutschland brauche eine Bewegung,

die klar fordere, »daß Schluß ist mit

der Ausbeutung der Gemeinwesen

durch diese Finanzmafia, durch die

Zocker, durch die oberen Zehntau-

send«, so Wagenknecht. »Wir wollen

endlich selbst über unsere Geschicke

bestimmen, und dafür müssen tatsäch-

lich auch ökonomische Bedingungen

verändert werden, gerade im Bereich

des Eigentums bei großen Banken,

aber auch bei großen Konzernen.«

Derzeit herrsche »eine Art kapitali-

stischer Sozialismus für die Banken«,

sagte die Linke-Vize in der ZDF-Sen-

dung Maybrit Illner am Donnerstag

abend mit Blick auf die »irrsinnigen

Rettungsschirme«. Wagenknechts

Kurzanalyse: »Der Kapitalismus zer-

stört Freiheit und Demokratie. Statt

der Politik regieren die Banken. Wir

brauchen eine neue Wirtschaftsord-

nung.« Der Protest sei überfällig. Die

Linke werde gebraucht, »um solche

Fragen zu diskutieren und Menschen

zu ermutigen, auf die Straßen zu ge-

hen«. Sie selbst will sich den Demon-

strationen in Berlin anschließen und

dafür eigens die Vorstandssitzung, auf

dem der Erfurter Programmparteitag

vorbereitet wird, unterbrechen.

Rüdiger Göbel

junge Welt wird herausgegeben von 1 168 Ge-

nossinnen und Genossen (Stand�12.�Oktober�2011).

Informationen: www.jungewelt.de/lpg

junge WeltDie Tageszeitung

www.jungewelt.de

Zur GeschichteOliver Stone befragt Tariq Ali – über das mehrfa-

che Scheitern des Kapitalismus, den »Krieg gegen

den Terror« und die neueste Hoffähigkeit von

Folter. Außerdem: Schwarzer Kanal zur weltpoli-

tischen Räuberpistole aus Washington

Wochenende

Gegründet 1947 · Sonnabend/Sonntag, 15./16. Oktober 2011 · Nr. 240 · 1,70 Euro · PVSt A11002 · Entgelt bezahlt

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»Arbeitsplätze, Gerechtigkeit und Bildung«: New Yorker Demonstranten am Freitag nach erfolgreicher Verteidigung des Protestcamps an der Wall Street

Gründungszusammenkunft: Samstag, 7.1.2012, 11 Uhr, heck-art Chemnitz, Müh-lenstraße 2 (früher Fritz-Heckert-Haus, Nähe Mercure-Hotel Kongreß). Alle Interessenten aus Chemnitz und Sachsen sind herzlich eingeladen. Wir freuen uns über jeden, der mitmachen will.

Ch emn i t z

Samstag, 14. Januar 2012 URANIA-HAUS, Berlin (An der Urania 17, Saalöffnung 10 Uhr)

Informationen und Kartenreservierung unter www.rosa-luxemburg-konferenz.de oder über Aktionsbüro junge Welt, Telefon 0 30/53 63 55 10.

Achtung: Reservierungen sind nur noch bis 12.1.2012 möglich. Danach sind Karten nur noch am Tag der Veranstaltung an der Kasse der Urania erhältlich. Reservierte Karten können von 10 bis 12 Uhr an der Tageskasse abgeholt werden (Podiumsdiskussionskarten bis 18 Uhr). Hinweis: Die Podiumsdiskussion wird in das Foyer übertragen. Keine Platzgarantie für den Humboldt-Saal.

Rosa Luxemburg XVII. Internationale

Konferenz

Geschichte als BlödeleiVeronica Ferres hat wieder gehalten, was sie verspricht: Geschichte als Blö-delei, peinliche Dialoge, ein Billigfilm. Mit von der Partie sind auch Christiane Hörbiger als Witwe eines Nazimörders aus dem Sudetenland und Mario Adorf. Letzterer spielt einen älteren Tschechen, der in seiner Jugend zum Ende des Zwei-ten Weltkrieges mit seiner Einheit die faschistischen Banditen stellt, aburteilen und hinrichten läßt. 50 Jahre später trifft die Witwe Margarete den Tschechen Martin, der sich ihr als »Mörder ihres Mannes« darstellt, bei einer Schiffsreise in Indonesien und will ihn umbringen. Die frohe Botschaft des Films: Wer ein Mörder ist, »hängt ganz vom Blickwin-kel ab«. Margarete und Martin sprechen sich aus und gehen gemeinsam in den Freitod. Die 90 Minuten hätte man auch sinnvoll verbringen können. (ulis)

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Weniger Lehrstellen für junge FrauenBerlin. Vom Aufschwung am Ausbildungsmarkt haben nach Angaben der IG Metall nur männliche Jugendliche profi-tiert. Während die Zahl der mit ihnen abgeschlossenen Aus-bildungsverträge 2011 um vier Prozent gestiegen sei, habe es bei jungen Frauen einen Rück-gang um 1,2 Prozent gegeben, heißt es in einer am Donnerstag veröffentlichten Ausbildungsbi-lanz der Gewerkschaft. Damit habe sich ein langjähriger Trend fortgesetzt. Insgesamt seien im vergangenen Jahr 570 100 neue Ausbildungsverträge abge-schlossen worden, 1,8 Prozent mehr als ein Jahr zuvor.

yvonne Ploetz, frauenpo-litische Sprecherin der Links-fraktion im Bundestag, verwies zudem auf die Erkenntnisse des Ausbildungsreports der DGB-Jugend 2011. Danach be-kommen weibliche Lehrlinge weniger Ausbildungsvergütung. Zugleich leisten sie deutlich häufiger Überstunden, bekom-men diese aber weitaus seltener vergütet oder mit Freizeit aus-geglichen. Des weiteren stehen ihnen weniger Urlaubstage zur Verfügung. (jW)

Burkaverbot: Sechs Strafen verhängtParis. Seit dem Inkrafttreten des Verschleierungsverbots im April sind in Frankreich nach Anga-ben von Innenminister Claude Guéant sechs Frauen wegen Verstößen dagegen zu Strafzah-lungen verurteilt worden. Keine der Frauen sei zur Teilnahme an einem Bürgerschaftskurs ge-zwungen worden, sagte Guéant der Zeitung Le Monde in einem am Montag veröffentlichten In-terview. Guéant zufolge hat die Polizei insgesamt 237 Verstöße gegen das Gesetz verzeichnet. Der Minister äußerte Erstaunen darüber, daß fast ein Viertel der Frauen, die der Polizei aufge-fallen waren, Konvertitinnen gewesen seien. (dapd/jW)

Ältere Frauen arbeiten längerhamBurg. Ältere Frauen arbeiten einem Medienbericht zufolge mittlerweile deutlich länger als noch vor zehn Jahren. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Frauen im Alter von 60 bis 65 Jahren habe sich seit dem Jahr 2000 mehr als verdreifacht, berichtete die Fi-nancial Times Deutschland am Dienstag unter Berufung auf Statistiken der Bundesagentur für Arbeit. Demnach erhöhte sich ihre Zahl von damals etwa 150 000 auf rund 515 000 im März 2011. Viele arbeiteten je-doch in Teilzeit.

Auch bei den Männern in der Altersgruppe legte die Beschäf-tigung zu, allerdings deutlich langsamer. Der besonders starke Anstieg bei den Frauen ist demnach auf die Anhebung ihres gesetzlichen Rentenein-trittsalters von 60 auf 65 Jahre zurückzuführen.

(AFP/jW)

junge Welt Freitag, 6. Januar 2012, Nr. 5 1 5f e m i n i s m u s

Kampf um SchulbesuchMädchen im Norden Pakistans begehren gegen Ausschluß von Bildung auf. Nationaler Friedenspreis an junge Aktivistin verliehen. Von Thomas Berger

Mich hat die Wut in die Frie-densbewegung geführt – mehr noch die Wut als die

Angst. Ich möcht aber lieber von Zorn sprechen (…) Wut macht blind (…) Zorn hilft, den Gegner zu identifizie-ren und die Kräfte zu sammeln«. Aufs Trefflichste beschreibt dieses aus ihrem Buch »Nicaragua. Eine lange Liebe« entnommene Zitat die Haltung, die das Leben Erika Dannebergs bestimmte.

Am 9. Januar 1922 als Tochter klein-bürgerlicher, deutschnationaler Eltern in Wien geboren, wird sie früh – und in Opposition zu ihrer Familie – zur Antifaschistin. Sie weigert sich, auf die jüngeren Geschwister im von den Eltern gewünschten Sinn einzuwirken. »Als Hitler kam, war ich (…) überzeugt davon, daß mit ihm der Krieg kom-men würde. Darüber hatte ich Streit mit meinem geliebten Vater, der an Hitlers Friedenswillen glaubte«, erinnert sie sich später. Mit jüdischen Mitschüle-rinnen solidarisiert sie sich, wo immer möglich. Im Bewußtsein, auf der Sei-te des Rechts und gegen das Unrecht zu stehen, distanziert sie sich von den Eltern und zieht in eine Wohngemein-schaft.

Nach einer Buchhandelslehre nimmt

Erika Danneberg 1943 in Wien ein Ger-manistikstudium auf. 1944 muß sie es abbrechen, da die Universität ihr In-skriptionsverbot erteilt. Sie unternimmt alles in ihrer Macht stehende, Verfolg-te und Ausgestoßene zu unterstützen, auch auf das Risiko hin, sich selbst zu gefährden. Ihre Arbeit als Lektorin und Übersetzerin hilft ihr, ihren Lebensun-terhalt zu finanzieren. Nach dem Krieg setzt sie ihr Germanistikstudium fort, ergänzt es um das Fach Psychologie und schließt es 1951 mit einer Promoti-on über die Auswirkungen des Krieges auf Jugendliche ab.

1949 tritt sie zum jüdischen Glauben über und heiratet den aus dem Exil in Italien und Palästina zurückgekehrten Wiener Schriftsteller Hermann Hakel. Bereits 1958 wird ihre Ehe wieder ge-schieden. Sie muß sich eingestehen, daß die Beziehung zu stark von dem Gedanken getragen war, »an einem Überlebenden der Naziverfolgung die Schuld meines Vaters und seiner Leute gutzumachen.« Auch, um ihre geschei-terte Ehe aufzuarbeiten, beginnt sie eine Psychoanalyse bei Tea Genner-Erdheim (1906–1977), die dann ihre Lehranalyti-kerin wird. Genner-Erdheim bestärkt Danneberg in ihrer Tendenz, sich so-

wohl aus Frau als auch als Analyti-kerin den herrschenden Konventionen zu widersetzen. Nach dem Abschluß ihrer Ausbildung tritt Erika Danneberg der Wiener Psychoanalytischen Verei-nigung bei, zu deren Vorstand sie von 1974 bis 1978 gehört.

Neben dem politischen Engagement und der Liebe zur Literatur bestimmt ihre Arbeit als Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin ihr Leben. Psycho-logie und Psychotherapie sind ihr stets ein Mittel, anderen eigene Gefühle be-wußt zu machen und dafür Verantwor-tung zu übernehmen. Sie lehnt es ab, mit Hilfe der Psychologie Unentschuld-bares zu rechtfertigen. Und angesichts sozialer Mißstände beläßt sie es nicht bei der Analyse gesellschaftspolitischer Bedingungen. Von sich und von ande-ren fordert sie, aktiv zu werden. Fol-gerichtig engagiert sie sich in der Frie-dens- und Antiatomkraftbewegung.

1970 tritt Erika Danneberg der KPÖ bei, deren aktives und streitbares Mit-glied sie bis zu ihrem Tod bleibt. Sie reist nach Kuba und 1984 erstmals nach Nicaragua zu ihrer Kollegin und Freun-din Marie Langer, um dort Solidaritäts-arbeit zu leisten, gemäß der Devise, »daß mein Leben, in Teilnahme oder

Verweigerung, Teil dieser Kämpfe ist – ob’s mir nun paßt oder nicht.« Sie arbeitet im Psychosozialen Dienst der Sandinistischen Regierung, publiziert psychologische Fachliteratur ebenso wie gesellschaftskritische Werke. 1995 erscheint die von ihr als »Lebenschro-nik« bezeichnete und Marie Langer gewidmete Biographie unter dem für sie programmatischen Titel »Wie leistet man Widerstand?«. Zu entnehmen ist ihrem Werk, daß niemand guten Ge-wissens Zuschauer bleiben kann, der erkennt, daß es nach einem Krieg nicht vorbei ist mit dem Krieg, sondern daß dieses Geschwür weiter wuchert an an-deren Orten der Welt: »Unsterblich duf-ten die Linden … /Geliebtes Gedicht meiner Jugend. /Die Verse stimmen nicht mehr:/ Die Welt, samt den Linden, ist sterblich. /Endgültiger geworden ist seither /Nicht nur der eigene Tod. /Aber entschlossener auch der Wille /Zu ret-ten das Leben der Erde«.

Erika Danneberg war eine leiden-schaftliche und kämpferische Frau, die ihre Hoffnung auf eine andere, mensch-lichere Welt nicht aufgab, für die Soli-darität keine Phrase war, sondern ge-lebte Praxis.

Christiana Puschak

Als »Schweiz Pakistans« war das für Wintersporttourismus be-rühmte Swat-Tal einst bekannt.

Das war, bevor die pakistanischen Taliban einige Jahre nach der Jahrtau-sendwende den zur nördlichen Provinz Khyber-Pakhtunkhwa gehörenden Landstrich unter ihren Einfluß brachten und sich Gefechte mit der Zentralre-gierung lieferten, unter dem vor allem die Zivilbevölkerung zu leiden hatte. Doch auch allgemein haben sich in der nordwestlichen Provinz an der Grenze zu Afghanistan jahrhundertealte Tra-ditionen besonders stark erhalten. Die Analphabetenrate unter Frauen ist in ganz Pakistan besonders hoch.

Die Taliban verboten den Mädchen den Schulbesuch und zwangen Anfang 2009 auch Ziauddin yousafzai, die von ihm betriebene private Mädchenschule in Wat zu schließen. Davon war auch yousafzais Tochter Malala, damals 11, betroffen. Doch inzwischen hat sich die Lage in Swat wieder verbessert: Die Taliban sind seit einer Offensive der Armee wieder zurückgedrängt, Schu-len neu- oder wiedereröffnet worden. Und die heute fast 14jährige Malala ist am 20. Dezember von Premiermini-ster Syed yusuf Raza Gilani persönlich mit dem Nationalen Friedenspreis aus-gezeichnet worden, der künftig sogar nach ihr benannt wird und als »Natio-nal Malala Peace Price« an Jugendliche mit besonderen Verdiensten verliehen werden soll. Der Regierungschef wür-digte damit Malalas unablässiges Enga-gement für das Grundrecht auf Bildung für Mädchen. Sie leistet seit Jahren bei Mitschülerinnen und ihren Familien Überzeugungsarbeit, wie wichtig der Schulbesuch auch für Töchter ist. Wäh-rend der Taliban-Zeit schrieb sie unter Pseudonym eine Art Internettagebuch über die massiven Einschränkungen im

Alltagsleben der Swat-Bevölkerung für den Urdu-Service der britischen BBC. Auch den Preis nahm sie nicht einfach demütig vom zweitmächtigsten Mann im Staat in Empfang, sondern nötigte Gilani die Zusicherung ab, in ihrer Hei-matregion einen IT-Campus speziell für Mädchen einzurichten.

Der Premier würdigte Malalas Mut und Hartnäckigkeit. Allerdings kann das Lob nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Zentralregierung – ganz gleich, wer gerade in Islamabad am Ruder saß – nie ernsthaft gegen die Diskriminie-rung von Mädchen und Frauen vor-gegangen ist. Zwar sind verschiedene Gesetze erlassen worden, es mangelt

jedoch in vielen Regionen an ihrer Durchsetzung. Wer gegen vorgezeich-nete Rollenmodelle aufbegehrt, hat es schwer. Das zeigt auch das Beispiel von Maria Toor Pakay, 1990 in Swats Nach-barregion Südwasiristan geboren und heute Pakistans berühmteste Tennis-spielerin. Wäre ihre Familie seinerzeit nicht mit ihr in die Großstadt Quetta übergesiedelt, wäre aus ihrer Karriere kaum etwas geworden.

Nicht abwandern, sondern vor Ort et-was bewegen – das ist Malalas Ansatz. Die junge Pakistanerin gehörte auch zu den fünf Nominierten für den Interna-tionalen Kinder-Friedenspreis, der im November in Südafrika verliehen wur-

de. In der Preisverleihung in Is lamabad kündigte sie an, sie wolle 2012 noch stärker als bisher in ganz Khyber-Pakh-tunkhwa ihre Botschaft verbreiten. Wo bestenfalls jede fünfte bis zehnte Frau lesen und schreiben kann (die Zahlen in den Statistiken schwanken stark), gibt es noch reichlich zu tun: Landesweit sind nach UNESCO-Angaben lediglich 40 000 der 163 000 Grundschulen für Mädchen zugänglich, davon gerade einmal 8 000 in der Nordwest-Provinz. Bei den Mittel- und Oberschulen ver-hält es sich ähnlich. Und für Mädchen, die einen höheren Abschluß anstreben, gibt es nur 250 Colleges, die sie auf-nehmen.

Noch eine Minderheit: Schülerinnen in Qutbal, Pakistan, Oktober 2009

Widerstand als LebensaufgabeZum 90. Geburtstag der österreichischen Psychoanalytikerin und Schriftstellerin Erika Danneberg (1922–2007)

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Montag : po l i t i s ches buch | D iens tag : bet r ieb & gewerkscha f t | M i t twoch : ant i fa | Donners tag : w i s senscha f t & umwel t | Fre i tag : f emin i smus | Samstag : ges c h i c h t e

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Freitag, 6. Januar 2012, Nr. 5 junge Welt 1 6 s p o r tfussball

Camorra Calciorom. Die italienischen Justizbe-hörden ermitteln im Wett- und Manipulationsskandal der Serie A nun auch gegen die Camorra. Die Staatsanwaltschaft Neapel untersucht nach Angaben der römischen Tageszeitung La Repubblica auch drei Begeg-nungen des SSC Neapel. Er-mittlungen laufen zudem gegen einen früheren neapolitanischen Torwart, der mittlerweile in der vierten Liga spielt. Im Rahmen der Antimafiaermittlungen wa-ren im September acht Mafiosi festgenommen worden. Sie sol-len mehrere Spiele in unteren Ligen manipuliert haben. Die Behörden untersuchten zwei Wettannahmestellen im Raum Neapel, die bereits der Geldwä-sche verdächtigt werden. (sid/jW)

Servus, Marcos sao Paulo. Torhüter Marcos aus dem brasilianischen Welt-meisterteam von 2002, das im Finale Deutschland mit 2:0 bezwungen hatte, verkündete sein Karriereende. Der 38jäh-rige bestritt am 18. September 2011 nach zwei Jahrzehnten beim SE Palmeiras sein letztes Pflichtspiel für den Erstligisten aus Sao Paulo und entschloß sich nun vor der Ende Januar beginnenden Saison zum Rück-tritt. In seiner Titelsammlung stehen zwei brasilianische Meisterschaften (1993, 1994), ein Pokalsieg (1998) und der Gewinn des südamerikanischen Libertadores-Cups (1999). Von den 23 Weltmeistern von 2002 stehen nur noch neun Akteure, darunter Lucio, Ronaldinho und Kaka, bei Klubs unter Vertrag. (sid/jW)

eishockey

Unsinn gestorbenFüssen. Der ehemalige Bun-destrainer Xaver Unsinn starb am Mittwoch in Füssen nach schwerer Krankheit im Alter von 82 Jahren. Unsinn, ein Mann mit Pepita-Hut, betreute die BRD-Nationalmannschaft in drei Phasen (1964, 1975 bis 1977, 1981 bis 1990) bei ins-gesamt 221 Länderspielen und gewann mit der Auswahl des Deutschen Eishockey-Bundes (DEB) beim größten Erfolg 1976 in Innsbruck sensationell Olympiabronze. (sid/jW)

soNstiges

Rockstar PetkovichamBurg. Tennisspielerin An-drea Petkovic wäre gern ein Rockstar. Während einer Tur-niervorbereitung müsse sie »sehr diszipliniert leben, auf die richtige Ernährung achten und auf regelmäßigen Schlaf«, klagte Petkovic gegenüber dem Zeit-Magazin. »Ich darf keine Süßigkeiten essen, keinen Alko-hol trinken und muß sechs bis acht Stunden täglich trainieren. Wenn ich in diesem Disziplin-wahn gefangen bin, wünsche ich mir manchmal, statt dessen ein Rockerleben zu führen – zu essen und zu trinken, was ich will, mir die Nächte um die Oh-ren zu schlagen und bis nach-mittags zu schlafen.« (ots/jW)

Voltaire oder Folter?Marco Reus spielt wieder für Borussia Dortmund. Wer aber hat den Deal ermöglicht? Eine Investigation. Von Wiglaf Droste

Der 5. Januar 2012 ist der Tag der Literatur, der Musik und der Güte: der Tag, an dem Um-

berto Eco, Maurizio Pollini und Uli Hoeneß 80, 70 und 60 Jahre alt wurden. Der 5. Januar 2012 ist aber auch der Tag des Dortmunder Fußballs: In allen Me-dien wurde verkündet, daß Marco Reus ab Sommer 2012 wieder für Borussia Dortmund arbeiten wird, jenen Verein, in dem er bereits als Jugendlicher spiel-te, bis er wegen angeblich schwächli-cher Konstitution zu Rot Weiß Ahlen getan wurde, von wo aus er später zu Borussia Mönchengladbach wechselte.

17,5 Millionen Euro Ablöse kostet die Rückkehr des gebürtigen Dortmun-ders Reus zum BVB; genausoviel hät-ten auch Clubs aus München, Madrid und London zahlen müssen, deren Of-ferten Reus jedoch ausschlug. Da Bo-russia Dortmund aber ein zur Vernunft gekommener Sparverein ist, liegt die Frage in der Luft: Wo kommen die Pie-selotten her? Wer hat die Kohle gege-ben, die Asche, die Knete, die Patte?

Kai Diekmann, Chefredakteur von Bild, hat am 5. Januar 2012 in seinem Blatt »wahrhaftige Aufklärung« ver-langt. Das steht dem naß frisierten Nachfahren Voltaires gut an; wann immer ich in Rheinsberg hörte, wie man das ortsansässige »Café Voltaire« dort ausspricht – »Kaffe Folter« –, ha-be ich immer, sofort und ausschließ-

lich an Kai Diekmann gedacht. Und lege deshalb auch die Karten auf den Tisch.

Wahr ist, daß der Berliner Verlagsty-coon Klaus Bittermann, Dortmund-Fan von Kindesbeinen an, die Summe für Reus zur Verfügung stellte. Dies war ihm unter anderem deshalb möglich, weil der diamantene Tiamat-Verleger zwei seiner Autoren, den Dortmunder Dichter Fritz Eckenga und mich, zu einer Stundung der Honorare für das Geschäftsjahr 2011 überreden konnte. Die Unsummen, die Eckenga und ich bei Klaus Bittermann einspielten, bil-den den Grundstock für die Ablöse-summe; den Rest schießt der Verleger aus seiner Privatschatulle zu. Um uns juristisch abzusichern, hat ein von uns beauftragter Bundespräsident die De-tails des Geschäfts auf die Mailbox von Kai Diekmann gesprochen, was eine »wahrhaftige Aufklärung« aller unge-klärten Fragen im Sinne der Erpresser-freiheit jederzeit garantiert.

So sieht es aus in Deutschland: Tia-mat regiert, der Präsident spurt, Kai Diekmann kontrolliert den Wahrheits-gehalt, und den Rest regeln Fritz Ek-kenga und ich vom Hinterzimmer aus. Gegebenenfalls notwendige Polizeiein-sätze lassen wir von unserem Lieblings-hardliner F.W. Bernstein erledigen.

Und jetzt freuen wir uns auf Marco Reus in Schwarz-gelb.

Jürgen Müller ist Landstallmeister des Brandenburgischen Haupt- und Landgestüts in Neustadt/Dosse.

Eingerichtet wurde dieses Gestüt 1788 durch Preußenkönig Friedrich Wilhelm II., Jürgen Müller arbeitet hier seit dem 15. August 1979. Er gehört längst zum festen Inventar. Am Donnerstag beant-wortete er vor Ort die Frage, ob Reiter eigentlich aus Aberglauben Hufeisen über ihre Schultern werfen oder nur von links bzw. rechts aufs Pferd steigen würden, mit einem Grinsen und einem lässigen Achselzucken: »Nicht, daß ich wüßte …«

Die Frage hatte einen Anlaß. Am Donnerstag begann das 13. Neustädter CSI-Turnier (CSI steht hier nicht für »Crime Scene Investigation«, sondern für »Concours de Saut International«). Seit der Premiere 2000 hat sich die Veranstaltung im Brandenburgischen

gemausert, zum von Reitern und Zu-schauern gleichermaßen geschätzten Jahresauftakt. Aus 14 Ländern kommen diesmal die Teilnehmer, 320 Pferde ha-ben sie gemeldet – darunter viel talen-tierter Vierbeiner-Nachwuchs, der in Neustadt eine Reihe von Möglichkei-ten hat, sich an Wettkampfatmosphäre mit Publikum zu gewöhnen. Bis zum-Sonntag werden in 26 nationalen und internationalen Springen Preisgelder in Höhe von rund 71 000 Euro vergeben. Am lukrativsten sind der Preis der Deut-schen Kreditbank (15 000 Euro werden am Samstag an Sieger und Platzierte verteilt) und der Große Preis der Braue-rei Lübzer (Sonntag, 23 000 Euro). Letz-terer gilt als Höhepunkt des Turniers. Zwölfmal wurde der Große Preis in der Turniergeschichte vergeben, und zwar an insgesamt zehn Reiter. Sören von Rönne (Neuendeich/2000 und 2004) so-

wie Lars Nieberg (Homberg/2002 und 2005) gelang das Kunststück, doppelt zu gewinnen. Zwei Frauen gehören zur Zehner-Schar. 2007 gewann Katharina Offel, die als gebürtige Deutsche für die Ukraine startet, 2010 folgte Janne-Friederike Meyer (Schenefeld), die 2011 mit der deutschen Equipe Welt- und Eu-ropameisterin wurde.

Meyer ist die prominenteste Tur-nierteilnehmerin 2012. Ihr männliches Pendant wäre wohl Carsten-Otto Nagel (Wedel). Dazu gesellen sich mehr als ein Dutzend deutscher Reiter aus der ersten Reihe und ausreichend internatio-nale Klasse, zum Beispiel die Schwei-zer Beat Mändli (Weltcup-Sieger 2007) und Niklaus Schurtenberger (Olympia-Teamdritter 2008), der Ukrainer Björn Nagel (WM-Teamvierter 2006), die dä-nischen Schwestern Tina und Charlotte Lund, die Iren

Die Graf von Lindenau-Halle wird wie in den Vorjahren proppevoll sein. Seit Jahren wird die Kapazitätsober-grenze der Sportstätte, um die 12 000 Zuschauer, fast durchweg erreicht. »Das Turnier ist in der Betriebsge-schichte nicht mehr wegzudenken«, sagt Landstallmeister Müller. »Neu-stadt ist Tradition, Neustadt ist My-thos – das CSI trägt dem Rechnung, und die Region lebt von dem Turnier.« Sein Partner, der Hamburger Veranstal-ter Herbert Ulonska, wirkt mit seiner hanseatischen Nüchternheit vielleicht umso glaubwürdiger. »Das CSI paßt genau in die Landschaft. Egal, wie vie-le Sterne das Ereignis auch hat, die Reiter kommen gerne hierher – und sie kommen immer wieder.« Klassifiziert ist die Veranstaltung als Zwei-Sterne-S-Turnier, also eher ein kleines bis mittle-res in der höchsten Kategorie.

Paßt in die LandschaftTradition, Mythos – Neustadt! Ein Springreitturnier in Brandenburg. Von Klaus Weise

Klaus Bittermann macht’s möglich: Erst kommt der Ball zu Reus und der dann zum BVB

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