8
Tageszeitung junge Welt Mittwoch, 16. Mai 2012, Nr. 114 schule & uni Bachelor (not) welcome: Unter- nehmen bewerten selbst gewoll- tes Schmalspurstudium schlecht. Von Nicole Gohlke Seite 2 Rinks gleich Lechts: Die Totalita- rismustheorie in Schulbüchern und Unterrichtsfilmen. Interview mit Michael Csaszkóczy Seite 3 Mädchen für alles: Studentische Hilfskräfte geben sich in Umfra- gen genügsam. Von Ralf Wurzbacher Seite 6 Studenten im Knast: In der Türkei enden Bildungsproteste oft hin- ter schwedischen Gardinen.Von Nick Brauns Seite 8 junge W elt Die Tageszeitung D as Ansehen akademischer Titel in der Bildungsrepublik Deutschland hat seit Anfang letzten Jahres Federn ge- lassen: Elitäre Spitzenpolitiker oder deren Nachwuchs entpuppten sich als falsche Doktoren, die es mit dem Urheberrecht nicht so genau nahmen, die Plagiatsjäger nehmen dies- bezüglich sogar Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) ins einst Visier – und die freie Wirtschaft ist auf die von ihr einst selbst geforderten Bachelor-Abschlüsse neueren Umfragen zufolge gar nicht gut zu sprechen. Zynisch, aber nicht verwunderlich, meint die Hochschulexpertin der Partei Die Linke, Nicole Gohlke (S. 2). Der Rechtsanspruch auf ein anschließendes Masterstudium für alle Bachelor-Absolventen bleibt bundesweit eine der bildungspolitischen Kernforderungen. Statt dessen sehen sich Studierende, Schüler und Lehrkräfte zum Beispiel in Sachsen mit drastischen Sparplänen konfrontiert. Am 10. Mai demonstrierten in der Landeshauptstadt Dresden bis zu 4 000 unter anderem gegen die Streichung von 300 Stellen an Hochschulen. Währenddessen werden in Bayern und Niedersachsen nach wie vor Studiengebühren erhoben. Unter dem Motto »Ihr seid die Letzten, die noch zahlen«, riefen dort vor einem Jahr Studierende zum Protest auf. In Bayern sammelten die »Freien Wähler« nun erfolgreich Unter- schriften für ein Volksbegehren – allerdings nur für ein kostenfreies Erststudium, während die Piratenpartei weiterhin für die generelle Abschaffung von Studiengebühren eintritt und die Linkspartei aus- drücklich schon bei den Kinderkrippen mit der Gebührenfreiheit an- fangen und die Lernmittelfreiheit auch auf Arbeitshefte und Material für den Kunstunterricht ausweiten will. Abgeordnete dieser Partei wurden bekanntlich vom Verfassungs- schutz beobachtet – und da wären wir schon beim Thema »Extremis- mus«: Selbiger kommt in Schulbüchern und Unterrichtsfilmen mit düsterer Hintergrundmusik von links und rechts. (S. 3). Nicht alle Lehrer sind willens oder in der Lage, dies zu hinterfragen und die Kri- tikfähigkeit ihrer Schüler zu fördern. Über die Lehrerausbildung wird unter anderem in Berlin heftig debattiert – Eignungstests, wie von der Schulsenatorin der Hauptstadt vorgeschlagen, hält die Bildungsge- werkschaft GEW allerdings nicht für sinnvoll (S. 5) Was die Schule anscheinend nicht ausreichend vermittelt, sind Grundkenntnisse im Arbeitsrecht. So gibt es für die Berater in den »Campus-Offices« der DGB-Jugend viel zu tun, denn knapp zwei Drittel der Studierenden sind auf Nebenjobs angewiesen. Selbst dieje- nigen, die im Wissenschaftsbetrieb als »Mädchen für alles« arbeiten, werden meist lausig bezahlt, empfinden dies aber mehrheitlich nicht als bedrückend, da sie sich andere Vorteile von ihrer Tätigkeit erhoffen (S. 6 und 7). Der bisherige Höhepunkt der Bildungsstreik-Bewegung liegt nun auch schon rund drei Jahre zurück – ein Beteiligungsrekord wie im Sommer 2009, als weit über 200 000 Schülerinnen und Schü- ler, Studierende, Professoren, Lehrkräfte und Azubis auf die Straße gingen, ist bei der für November geplanten Aktionswoche zwar nicht zu erwarten, am Ball bleiben wollen die Aktiven aber auf jeden Fall (S. 2). In der Türkei geht unterdessen der neoliberale Umbau des Bil- dungswesens mit islamisch-konservativem Inhalt einher (S. 8) – nicht ohne Gegenwind, doch kritische Studierende trifft dort harte Repres- sion: Rund 7 500 sind von den Universitäten suspendiert, rund 700 sitzen sogar in Untersuchungs- oder Strafhaft. Kampf um Köpfe und Titel Der bisherige Höhepunkt der Bildungsstreikbewegung liegt drei Jahre zurück. Inzwischen meckert die Wirtschaft selbst über die Ergebnisse der von ihr forcierten Reformen. Von Claudia Wangerin ANDREAS PROST/DAPD

jw-2012-05-16-99

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: jw-2012-05-16-99

Tageszeitung junge Welt Mittwoch,16. Mai 2012, Nr. 114s c h u l e & u n i

Bachelor (not) welcome: Unter­nehmen bewerten selbst gewoll­tes Schmalspurstudium schlecht. Von Nicole Gohlke Seite 2

Rinks gleich Lechts: Die Totalita­rismustheorie in Schulbüchern und Unterrichtsfilmen. Interview mit Michael Csaszkóczy Seite 3

Mädchen für alles: Studentische Hilfskräfte geben sich in Umfra­gen genügsam. Von Ralf Wurzbacher Seite 6

Studenten im Knast: In der Türkei enden Bildungsproteste oft hin­ter schwedischen Gardinen. Von Nick Brauns Seite 8 jungeWelt

Die Tageszeitung

Das Ansehen akademischer Titel in der Bildungsrepublik Deutschland hat seit Anfang letzten Jahres Federn ge-lassen: Elitäre Spitzenpolitiker oder deren Nachwuchs entpuppten sich als falsche Doktoren, die es mit dem

Urheberrecht nicht so genau nahmen, die Plagiatsjäger nehmen dies-bezüglich sogar Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) ins einst Visier – und die freie Wirtschaft ist auf die von ihr einst selbst geforderten Bachelor-Abschlüsse neueren Umfragen zufolge gar nicht gut zu sprechen. Zynisch, aber nicht verwunderlich, meint die Hochschulexpertin der Partei Die Linke, Nicole Gohlke (S. 2). Der Rechtsanspruch auf ein anschließendes Masterstudium für alle Bachelor-Absolventen bleibt bundesweit eine der bildungspolitischen Kernforderungen. Statt dessen sehen sich Studierende, Schüler und Lehrkräfte zum Beispiel in Sachsen mit drastischen Sparplänen konfrontiert. Am 10. Mai demonstrierten in der Landeshauptstadt Dresden bis zu 4 000 unter anderem gegen die Streichung von 300 Stellen an Hochschulen.

Währenddessen werden in Bayern und Niedersachsen nach wie vor

Studiengebühren erhoben. Unter dem Motto »Ihr seid die Letzten, die noch zahlen«, riefen dort vor einem Jahr Studierende zum Protest auf. In Bayern sammelten die »Freien Wähler« nun erfolgreich Unter-schriften für ein Volksbegehren – allerdings nur für ein kostenfreies Erststudium, während die Piratenpartei weiterhin für die generelle Abschaffung von Studiengebühren eintritt und die Linkspartei aus-drücklich schon bei den Kinderkrippen mit der Gebührenfreiheit an-fangen und die Lernmittelfreiheit auch auf Arbeitshefte und Material für den Kunstunterricht ausweiten will.

Abgeordnete dieser Partei wurden bekanntlich vom Verfassungs-schutz beobachtet – und da wären wir schon beim Thema »Extremis-mus«: Selbiger kommt in Schulbüchern und Unterrichtsfilmen mit düsterer Hintergrundmusik von links und rechts. (S. 3). Nicht alle Lehrer sind willens oder in der Lage, dies zu hinterfragen und die Kri-tikfähigkeit ihrer Schüler zu fördern. Über die Lehrerausbildung wird unter anderem in Berlin heftig debattiert – Eignungstests, wie von der Schulsenatorin der Hauptstadt vorgeschlagen, hält die Bildungsge-werkschaft GEW allerdings nicht für sinnvoll (S. 5)

Was die Schule anscheinend nicht ausreichend vermittelt, sind Grundkenntnisse im Arbeitsrecht. So gibt es für die Berater in den »Campus-Offices« der DGB-Jugend viel zu tun, denn knapp zwei Drittel der Studierenden sind auf Nebenjobs angewiesen. Selbst dieje-nigen, die im Wissenschaftsbetrieb als »Mädchen für alles« arbeiten, werden meist lausig bezahlt, empfinden dies aber mehrheitlich nicht als bedrückend, da sie sich andere Vorteile von ihrer Tätigkeit erhoffen (S. 6 und 7). Der bisherige Höhepunkt der Bildungsstreik-Bewegung liegt nun auch schon rund drei Jahre zurück – ein Beteiligungsrekord wie im Sommer 2009, als weit über 200 000 Schülerinnen und Schü-ler, Studierende, Professoren, Lehrkräfte und Azubis auf die Straße gingen, ist bei der für November geplanten Aktionswoche zwar nicht zu erwarten, am Ball bleiben wollen die Aktiven aber auf jeden Fall (S. 2). In der Türkei geht unterdessen der neoliberale Umbau des Bil-dungswesens mit islamisch-konservativem Inhalt einher (S. 8) – nicht ohne Gegenwind, doch kritische Studierende trifft dort harte Repres-sion: Rund 7 500 sind von den Universitäten suspendiert, rund 700 sitzen sogar in Untersuchungs- oder Strafhaft.

Kampf um Köpfe und TitelDer bisherige Höhepunkt der Bildungsstreikbewegung liegt drei Jahre zurück. Inzwischen meckert die Wirtschaft selbst über die Ergebnisse der von ihr forcierten Reformen. Von Claudia Wangerin

AN

DR

EA

S P

RO

ST

/DA

PD

Page 2: jw-2012-05-16-99

Mittwoch, 16. Mai 2012, Nr. 114 junge Welt 2 s c h u l e & u n iO Fortsetzung von Seite eins

Jahrelang schrien die Unternehmer nach einer paßgenaueren Ausbildung von Hochschulabsolventen für die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes – ei-

ne Forderung, die als eines der Kernziele der Bologna-Reform den neoliberalen Sprach-schatz um ein weiteres unschönes Wort er-gänzt hat: »employability«, zu deutsch: Be-schäftigungsfähigkeit. Die Praxisnähe, so hieß es, müsse dringend ausgebaut werden. Damit bemühte man sogar noch eine Forde-rung der 68er-Studierendenbewegung. Die Bologna-Reform und die Zweiteilung des Studiums in den »praxisorientierten« Ba-chelor und den »wissenschaftlich orientier-ten« Master sollte die Lösung sein. Doch wie sieht es heute, dreizehn Jahre nach der Bologna-Erklärung aus – ist der Bachelor wirklich »welcome«?

Im Bologna-Bericht der Bundesregierung vom Januar 2012 lobt sich die Regierung dafür, inzwischen 85 Prozent der Studien-gänge auf Bachelor und Master umgestellt zu haben. Welche Chancen die Bachelor-Ab-solventen aber auf dem Arbeitsmarkt haben, spielt in dem Bericht eine untergeordnete Rolle. In Presseberichten und Stellungnah-men vernimmt man allerdings immer öfter, daß selbst die Unternehmen von den Bache-lor-Absolventen immer weniger begeistert sind. 60 Prozent der Firmen geben in einer Befragung des Instituts der Deutschen Wirt-schaft an, mit den Fähigkeiten der Bache-lor-Absolventen, sich in neue Fachgebiete einzuarbeiten, nicht zufrieden zu sein. Zwei Drittel gar sehen Probleme bei der Fähigkeit, vorhandenes Wissen auf neue Fragestellun-gen anzuwenden. Diese vernichtende Be-wertung der Unternehmen ist an Zynismus kaum zu überbieten – waren sie es doch selbst, die massiv auf die Reform der Studi-engänge drängten. Wirklich verwunderlich ist die Kritik allerdings nicht – schließlich ist die Umstellung auf die gestufte Studi-enstruktur mit dem Bachelor als erstem be-rufsqualifizierenden Abschluß faktisch die größte Bildungskürzung in der Geschich-te der Bundesrepublik. Die Studierenden

werden nun in sechs Semestern durch das Studium geschleust, wofür sie früher minde-stens neun Semester zur Verfügung hatten. Natürlich kann man sich in kürzerer Zeit weniger Dinge aneignen, weniger Themen durchdringen, weniger methodische Ansätze vergleichen. Natürlich gibt es in den modu-larisierten und auf den Erwerb von »credit points« ausgerichteten Studiengängen we-niger Möglichkeiten für interdisziplinäres Arbeiten oder kritische Aufbereitung des Erlernten. Studierende und Lehrende hatten diese Bildungskürzung und die Entwissen-schaftlichung ihrer akademischen Ausbil-dung als erste erkannt und oft genug in den letzten Jahren kritisiert, teilweise begleitet von heftigen Protesten. Das sogenannte »Bulimie-Lernen«, also das ebenso kurzfri-stige wie kurzatmige Auswendiglernen für Prüfungen statt nachhaltiger und kritischer Auseinandersetzung mit Studieninhalten, stand dabei besonders im Fokus.

Eine Studie des Hochschulinforma tions-systems (HIS) liefert zur Lage der Bache-lor-Absolventen noch ein paar interessante Fakten. Befragt wurden Bachelorabsolven-ten aus dem Jahr 2009 zu ihrer Situation am Arbeitsmarkt eineinhalb Jahre nach ih-rem Abschluß. 77 Prozent derjenigen mit Universitätsabschluß und 53 Prozent derer mit Fachhochschulabschluß haben nach dem Bachelor bereits ein Masterstudium angeschlossen. Als Gründe hierfür nannten 39 Prozent der FH- und 57 Prozent der Uniabsolventen »Geringes Vertrauen in die Berufschancen mit meinem ersten Studien-abschluß«. Tatsächlich müssen 36 Prozent bei der Jobsuche erfahren, daß ein anderer Abschluß gefordert wird. 38 Prozent der Uni-Absolventen finden sich in inadäqua-ten Jobs wieder, doppelt so viele wie bei den traditionellen Abschlüssen. Der größte Skandal liegt aber in der Bezahlung der Bachelorabsolventen – das mußte sogar die

Bundesregierung in ihrem Bologna-Bericht zugeben. Die Einkommen liegen durch-schnittlich um 7,3 Prozent (FH) und 20,3 Prozent (Universitäten) unter denen bei traditionellen Abschlüssen. Diesbezüglich haben die Unternehmen genau das erreicht, was sie wollten: Einen akademischen Ab-schluß, für den man weniger bezahlen muß. Die Chancen von Studierenden und Absol-venten können nur durch eine Rücknahme der Bildungskürzung verbessert werden. Die Hochschulen brauchen mehr Geld, um eine kritische und nachhaltige Bildung zu ermöglichen, und wir brauchen einen freien Zugang zum Master: Jeder Bachelorstudie-rende muß das Recht haben, ein Masterstu-dium anzuschließen. Solche Maßnahmen wären mit Sicherheit wirkungsvoller als weitere traurige PR-Kampagnen zur Ak-zeptanz des Bachelors, wie die Kampagne »Bachelor Welcome« der Deutschen Tele-kom und der Bundesregierung.

Faktisch größte Bildungskürzung Die schlechte Bewertung von Bachelor-Absolventen durch die Unternehmen ist zynisch, aber nicht verwunderlich. Von Nicole Gohlke

Nicole Gohlke ist hoch­schulpolitische Spre­cherin der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag und Kommu­nikationswissenschaft­lerin.

Etwa 60 Aktive aus 13 Städten, etwa zu gleichen Teilen Schüler und Studierende sowie eine Handvoll

Azubis, haben sich am ersten Maiwo-chenende in Nürnberg getroffen, um über eine Neuauflage der Bildungsstreik-Bewegung zu beraten. Im Ergebnis soll zu einer bundesweiten Aktionswoche im November aufgerufen werden. »Dabei geht es allerdings nicht darum, wie üblich große Demonstrationen in möglichst vie-len Städten an einem Tag zu organisieren,

sondern die Kämpfe in die Schulen, Unis und Betriebe zu tragen«, sagte ein Tü-binger Student, der für die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) an der Konferenz teilnahm. Neben Schüler- und Studierendeninitiativen, überwiegend aus den südlichen Bundesländern, waren auch die IG-Metall-Jugend und SPD-Nach-wuchsorganisation Jungsozialisten (Jusos) vertreten. Zur Vorbereitung der Aktionen im November soll es demnächst eine wei-tere Konferenz geben.

Bei der geplanten Aktionswoche wird es gemeinsame Inhalte, aber voraussicht-lich verschiedene Schwerpunkte geben: Zwei Länder – Bayern und Niedersach-sen – erheben zur Zeit noch Studienge-bühren. In Bayern konnten die »Freien Wähler« im April vermelden, daß sie die erforderlichen 25 000 Unterschriften für ein Volksbegehren für ein kostenfreies Erststudium gesammelt hatten. Diese werden nun vom Innenministerium ge-prüft.

Zu einem »Landesweiten Aktionstag Bildung« war zuletzt in Schleswig-Hol-stein aufgerufen worden: Zehn Tage vor der Landtagswahl am 6. Mai forderten rund 1 000 Schülerinnen und Schüler so-wie Studierende vor dem FDP-geführten Bildungsministerium und dem Landtag mehr Investitionen in die Bildung. Die Schülerinnen und Schüler waren dabei deutlich in der Überzahl. Sie kritisierten Lehrermangel, zu große Klassen und ma-rode Schulen. (jW)

schule & uni erscheint als Spezial der Tageszei­tung junge Welt im Verlag 8. Mai GmbH, Torstr. 6, 10199 Berlin. Redak­tion: Claudia Wangerin (V. i. S. d. P.); Anzeigen: Silke Schubert; Gestal­tung: Michael Sommer

Bundesweite Bildungsproteste für novemBer geplant

Zeitdiagnosen bei t r anscr ipt

www.tr anscr ipt-ver lag.de

Werner Rügemer

Rating-AgenturenEinblicke in die Kapitalmacht der Gegenwart

2012, 200 Seiten, kart., 18,80 E,ISBN 978-3-8376-1977-5

Wer steckt hinter den Rating-Agenturen, die die Welt in eine beispiellose Schuldenkrise gestürzt haben? Dieser gut recherchierte Band entlarvt erstmals, dass die größten Hedge- und Invest-mentfonds die Eigentümer der Rating-Agenturen sind. Die Schulden der Welt sind ihr Geschäft.

www.bildungsstreik.net

Siehe auch Seite 7

ANZEIGEN

AN

DR

EA

S P

RO

ST

/DA

PD

Unsere Bilderserie zeigt Studierende der Berliner Hochschule für Schauspielkunst (HfS) Ernst Busch bei Protestaktionen gegen die Einsparung eines geplanten Neubaus ihrer Ausbildungsstätte. In der zweiten Maiwoche si­cherte die SPD­Fraktion im Berliner Abgeordne­tenhaus der Schule 33 Millionen Euro für den Neubau oder die Sanie­rung ihrer bisherigen Räumlichkeiten zu.

Page 3: jw-2012-05-16-99

junge Welt Mittwoch, 16. Mai 2012, Nr. 114 3s c h u l e & u n i

Sie Sind seit mehreren Jahren aktiv gegen Neonazis, Rassis-mus und Krieg. Als

Lehrer haben Sie erfolgreich gegen ein Berufsverbot ge-klagt, dessen Grundlage der »Radikalenerlaß« von 1972 war. Heute unterrichten Sie Deutsch, Geschichte und Kunst. Welche Rolle spielt die Gleichsetzung von »Links- und Rechtsextremisten« in Schulbüchern und Lehrplä-nen?

Die in den Bildungsplänen for-mulierten Lernziele sind meist so allgemein gehalten, daß dort eher Themenfelder oder Schlüssel-kompetenzen genannt werden als konkrete Wissensvorgaben oder gar verpflichtende Geschichts-interpretationen. So plump und schematisch würde das wohl auch kaum funktionieren. Tatsächlich werden überall in den Bildungs-plänen Kritikfähigkeit und die Fähigkeit zum Perspektivwechsel als Ziele genannt. Darauf kann und muß man sich berufen. An-ders sieht es mit den Unterrichts-materialien aus, die etwa von den Schulbuchverlagen, der Bundes-zentrale für politische Bildung oder direkt von den Ministerien als Konkretisierung dieser Bil-dungsziele angeboten werden.

In Geschichtsbüchern finden sich zum Thema »Weimarer Re-publik« natürlich plakative Über-schriften wie »Der Republik droht Gefahr von den Linken und Rech-ten« – das bleibt hängen, selbst wenn der dann folgende Text differenziert und sachlich ist. Es gibt aber tatsächlich auch richtig üble Propaganda – wie die vom Familienministerium unter Frau Schröder geförderte »Extremismusbroschüre«.

Welche Spielräume haben Lehrerin-nen und Lehrer in dieser Frage – und wieviel Zeit steht für Diskussion mit den Schülern zur Verfügung?

Die Spielräume sind durchaus groß. Wel-che zusätzlichen Quellen ich als Lehrer in den Unterricht einführe, wieviel Platz ich der Diskussion einräume – all das steht weitgehend in meinem pädagogischen Ermessen. Allerdings gehört dazu die Be-reitschaft, auch Unterrichtsmaterialien und Schulbücher gegen den Strich zu bürsten und gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern kritisch zu hinterfragen – z. B. im Vergleich mit anderen Darstellungen. Das erfordert natürlich mehr Arbeit und den Willen, auch den gesellschaftlichen Main-stream zu hinterfragen.

Zeit für eine gründliche Vertiefung und kritische Diskussion der Unterrichtsinhalte ist in der Schule leider tatsächlich immer knapp bemessen – aber das ist nicht beson-ders spezifisch für diese Thematik.

Was haben Schülerinnen und Schüler in der Regel schon über die Thematik aufgeschnappt, bevor sie im Unter-

richt an der Reihe ist? Tatsächlich haben wir in der Schule eine Sisyphos-Arbeit zu leisten im Kampf gegen den Einfluß der Massenmedien – auch der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender übri-gens. Jugendliche, die in der Glotze ein Ge-schichtsbild à la Guido Knopp vorgesetzt bekommen, sind es gewohnt, daß düstere Geigenmusik einsetzt, wenn die »Bösen« auftauchen. Dann bleibt vom Faschismus tatsächlich kaum mehr hängen als: »Hit-ler war ein böser Mann«. Die realen Fa-schisten waren und sind nicht an düsterer Hintergrundmusik zu erkennen. Das ist eine Verzuckerung und Banalisierung ge-schichtlicher und politischer Inhalte, die mittlerweile auch in Unterrichtsfilmen Ein-zug gehalten hat. Ich erinnere mich an eine Geschichtsstunde in einer 9. Klasse. Da hatte ich mich über einen Unterrichtsfilm zum Thema Novemberrevolution fürchter-lich geärgert, auf die Schnelle aber keinen anderen gefunden. Also haben wir die Klas-se in zwei Hälften eingeteilt. Die eine sollte in die Rolle der Spartakisten schlüpfen, die andere in die der Mehrheits-SPD, und bei-de sollten »Halt!« rufen, wenn eine unbe-gründete Wertung über sie im Kommentar auftaucht. Irgendwann schrie einer aus der Spartakisten-Gruppe »Halt!«, obwohl gar nichts gesagt worden war. Als ich ihn frag-

te, was das denn nun solle, meinte er: »Hö-ren Sie doch mal auf die Musik, die gespielt wird, jedes Mal, wenn wir im Bild gezeigt werden!« Wir haben uns dann den ganzen Film noch einmal angeschaut, und er hatte tatsächlich recht. Mir war das schon gar nicht mehr aufgefallen. Wir sind an diesem Tag allesamt klüger nach Hause gegangen.

Was nennen Sie an erster Stelle, um den Unterschied zu erklären, wenn ein Schüler vom Hörensagen meint: »Kommunismus und Faschismus sind doch eh dasselbe«?

Ich würde zunächst einmal gar nichts er-klären, sondern ihn nach seinem Vorwissen fragen: »Was ist denn für dich Faschismus? Und was ist für dich das Wesentliche am Kommunismus? Welche Informationen hast du, und woher stammen sie?« Dann würde ich versuchen, mit ihm seine ursprüngliche Aussage auf ihre Tauglichkeit zu überprü-fen. Wir dürfen uns ja nicht vorstellen, daß Schülerinnen und Schüler uns einfach zu-hören und dann unsere Erklärungen nach-beten. Das ist eine Vorstellung von Bildung, die ich weder für erstrebenswert halte, noch

glaube ich, daß sie so funktioniert. Heraklit wird der Ausspruch zuge-schrieben: »Bildung ist nicht das Befüllen von Fässern, sondern das Entzünden von Flammen«. Ich möchte Jugendlichen nicht meine Meinung »vermitteln«, sondern sie zu eigenständigem Denken be-fähigen.Manche Lehrer präsentieren aber die »Totalitarismustheo-rie« als allgemein anerkannte Wahrheit. Dürfen Prüfungs-fragen so gestellt werden, daß es schlechtere Noten gibt, wenn dieser Theorie nicht inhaltlich zugestimmt wird? Nein, Noten gibt es – so frag-würdig sie ohnehin sind – nicht für Meinungen, sondern für die sprachliche und fachliche Fähig-keit, sich mit einem Thema aus-einanderzusetzen. Es kann aber sehr wohl darum gehen, Stellung zu beziehen und seine Einschät-zung fundiert zu begründen – ganz gleich, wie diese Einschätzung dann im einzelnen ausfällt. Wenn ein Lehrer erreicht hat, daß die von ihm unterrichteten Jugendlichen dazu in der Lage sind, kann er sich glücklich schätzen. Wirklich die Regel ist das wohl leider nicht.Manche Jugendliche sind von Eltern, Lehrern und der Ge-sellschaft frustriert. Sie suchen etwas, womit sie ältere Genera-tionen schockieren können, was heute gar nicht mehr so leicht ist. Besteht die Gefahr, daß es durch die Gleichsetzung von »Links- und Rechtsextremis-mus« für Unwissende tatsäch-

lich irgendwann beliebig wird, wem sie sich anschließen?

Ich glaube nicht, daß die Totalitarismus-doktrin bei Jugendlichen zur »self-fulfilling prophecy« wird oder daß es selbst für den beschränktesten Jugendlichen da etwas zu verwechseln gibt. Das hieße wirklich, den Totalitarismuspropagandisten auf den Leim zu gehen. Es ist auch bei Jugendlichen nicht gleichgültig, in welche Richtung sich ihr Ab-grenzungs- und Protestbedürfnis wendet. Die Interpretation des Antisemitismus als »So-zialismus der dummen Kerls« griff schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu kurz.

Wenn junge Menschen sich als links be-greifen, entscheiden sie sich heute für eine Außenseiterposition und ergreifen Partei für Entrechtete. Während Rechte trotz al-ler Protesthaltung das Gefühl haben, den Willen der schweigenden Mehrheit zu exe-kutieren und sich als etwas Besseres fühlen wollen. Das bedeutet nicht, daß ich auf rechte Jugendliche nicht auch pädagogisch einzugehen habe, aber ich muß mir klar darüber sein, was ihre Motivlagen sind. Interview: Claudia Wangerin

» D a ra u f ka n n u n d m u ß m a n s i c h b e r u fe n « Lehrer sollen auch Kritikfähigkeit vermitteln. Beim Thema »Extremismus« ist das Unterrichtsmaterial dazu kaum geeignet. Ein Gespräch mit Michael Csaszkóczy

Michael Csaszkóczy ist Realschullehrer für Deutsch, Geschichte und Kunst.

Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker!

AG in der Partei DIE LINKEKleine Alexanderstraße 28, 10178 BerlinTelefon: (030) 24 009-455, -456 E-Mail: [email protected]: www.cuba-si.org

Ins Workcamp nach KubaSeit 20 Jahren unterstützt die AG Cuba Sí das sozialistische Kuba mit der Kampagne „Milchfür Kubas Kinder“. Elf Projekte für eine nachhaltige Landwirtschaft haben wir bereits erfolg-reich abgeschlossen, vier Projekte realisieren wir derzeit. Für die Arbeiter/-innen der Projekte,für ihre Familien und die Menschen in der Region bedeutet diese Solidaritätsarbeit konkret: eine breite und bessere Versorgung mit Nahrungsmitteln, gute Arbeits- und Lebensbedingun-gen sowie den Ausbau der lokalen Infrastruktur.

Viermal pro Jahr organisiert Cuba Sí Workcamps auf diesen Milchprojekten – eine phantas -tische Gelegenheit, die kubanische Realität kennenzulernen, gemeinsam mit den Menschenzu arbeiten und zu leben. Ihr seht das, was Zeitungen und Reiseführer nicht verraten. Nebender Arbeit in der Landwirtschaft gibt es auch ein interessantes sozialpolitisches und touris -tisches Programm. Neugierig geworden? Ausführliche Infos gibt’s bei Cuba Sí!

VSA: Neue Synthese von Wissenschaft & Praxis!Johannes Angermüller/ Sonja Buckel/Margit Rodrian-Pfennig (Red.)Solidarische BildungCrossover: Experimente selbstorganisierter WissensproduktionHrsg. vom Institut Soli-darische Moderne336 Seiten | EUR 22.80ISBN 978-3-89965-498-1

- nüb nennIrotuA eiDdeln kritische Positio-

nen und konstruktive Lösungsansätze aus Wissen-schaft und Politik, den linken Spektren von SPD, Grünen und Linkspartei, NGOs, sozialen Bewe-gungen und Gewerkschaften.

Nicole Gohlke / Florian ButolloHochschule im KapitalismusUrsachen der neolibe-ralen Hochschulreform und GegenstrategienSozialismus-Supple-ment Mai 201264 Seiten | EUR 4.20Angesichts der Krisen-tendenz im Kapitalismus

ist die Hoffnung auf ein demokratisch organisiertes Bildungssystem zunehmend unrealistisch. Eine Option auf eine freie Bildung in einer freien Ge-sellschaft besteht heute nur, wenn die Grenzen des Kapitalismus überwunden werden.

www.vsa-verlag.de

VS

V

Supplement der Zeitschrift Sozialismus 5 / 2012

Hochschule im Kapitalismus

Nicole Gohlke / Florian Butollo

Ursachen der neoliberalen Hochschulreform und Gegenstrategien

Johannes Angermüller / Sonja Buckel /Margit Rodrian-Pfennig (Redaktion)

Solidarische BildungCrossover: Experimente selbstorganisierter Wissensproduktion

VS

V

Herausgegeben vom

ANZEIGEN

AN

DR

EA

S P

RO

ST

/DA

PD

Page 4: jw-2012-05-16-99

Mittwoch, 16. Mai 2012, Nr. 114 junge Welt 4 s c h u l e & u n iO Fortsetzung von Seite eins

Pfeile verschießen, die ein ande-rer geschnitzt hat: Ab alio amen-tatas hastas torquere. Während der Metzgersohn und Alt-Phi-

lologe Franz-Josef Strauß als bayerischer Ministerpräsident noch mit Latein-Zita-ten um sich warf, deren Sinn er vermut-lich auch verstand, dürfen wir uns ob des Bildungsstandes der Jung-Konservativen nicht mehr ganz so sicher sein. Freilich muß dies nicht unbedingt einen Karriere-knick nach sich ziehen. Schließlich hatte Strauß-Tochter Monika Hohlmeier be-wiesen, daß man es auch in einem hoch-selektiven Bildungsland wie Bayern mit viel Fleiß und eventuell nicht schlechten Beziehungen von der Hotelkauffrau zur Ministerin bringen kann. Schlechter hat es da im Guttenberg-Zeitalter die Sippe des Strauß-Ziehsohnes Edmund Stoiber erwischt: Dessen beiden Kindern wur-de das Plagiieren von Texten für ihre Doktorarbeit nachgewiesen. Die Tochter

Veronica Saß hat dagegen geklagt, wäh-rend bei dem CSU-Bezirksrat Dominic Stoiber inzwischen klar ist, daß er von einer 13 Jahre alten Hausarbeit eines da-maligen Drittsemesters abgekupfert hat.

Dieser offenkundige Verfall der Bil-dungsstandards betrifft aber nicht nur die CSU oder die Konservativen, die sich zur Zeit damit besonders hervortun, und nicht nur die politische Kaste generell: Es zeigt sich vielmehr, daß das soge-nannte Groß- und Bildungsbürgertum an Verhältnissen gescheitert ist, die es selbst installiert hat. Die Fälle Guttenberg und Stoiber sind nur Beispiele dafür, wie sehr Studieren unter der Bologna-Re-form, also der Einführung von Master- und Bachelorstudiengängen gelitten hat: Aufgrund der formalen Anforderungen erforschen Studierende in ihren extrem bürokratisierten Studiengängen keine in-teressante Themen, sondern versuchen nur noch, möglichst schnell die nötigen

Scheine und credits einzusammeln, um die Vorgaben innerhalb der Regelstudi-enzeit zu erfüllen.

In einem gewissen Sinn können einem Karrieristen wie Ex-Verteidigungsmi-nister Karl-Theodor zu Guttenberg leid tun, weil sie eben nicht mehr zehn Jahre für ihre Doktorarbeiten verwenden dür-fen, in welchen dann eventuell etwas In-teressantes zu entdecken wäre. Aufgrund des bürokratischen Drucks, der im Bil-dungssystem aufgebaut wurde, müssen sie schnell irgendeinen gutklingenden Mist herunterrotzen oder gar herunter-rotzen lassen. War im Hochschulbetrieb der BRD schon immer die Tendenz zu beobachten, daß der Stoff nicht hinter-fragt und kritisch angeeignet, sondern blind übernommen wird, ist man jetzt dazu übergegangen, ihn einfach abzu-kupfern.

Die Entwicklung des Wissenschafts-betriebes reflektiert stets den allgemei-

nen Gang der Gesellschaft: Während man in den 60er und 70er Jahren die Hoch-schulen über den zweiten Bildungsweg für Werktätige öffnete und eine Zeitlang kritische Wissenschaft ermöglichte, zieht man jetzt mit ihrer Ökonomisierung ei-ne ganze Generation von Blendern und Fachidioten heran, die nicht nur außer-halb ihres speziellen Gebietes echte Dep-pen sind. Dieser Entwicklung sind wie-derum auch die Politiker nicht abhold.

Spätestens seit der Ära Schröder ha-ben wir es mit einer Generation von Staatsschauspielern zu tun: So wie sich in der SPD massenhaft bestenfalls so-zialdemokratisch gefärbte Neoliberale tummeln, die wie in jeder anderen Partei auch mit Unterstützung der Lobbies und Medien Karriere machen wollen, gibt es in der scheinbar groß- und bildungsbür-gerlichen CSU Funktionsträger, die nur mehr als Bildungsmimen zu verstehen sind.

Die StaatsschauspielerDie Bildungselite ist auch nicht mehr, was sie einmal war. Der beste Beweis ist ihre bajuwarische Lobbypartei, in der man sich gerne mit fremden Federn schmückt. Von Reinhard Jellen

Reinhard Jellen, freier Journalist und DJ, lebt in der bayerischen Landes­hauptstadt München

Michael Schulze von Glaßer ist freier Jour­nalist, Politikwissen­schaftler und Autor des Buches »Soldaten im Klassenzimmer – Die Bundeswehr an Schu­len«, Neue Kleine Biblio­thek 181, ca. 180 SeitenEuro 12,90 [D]/Euro 13,30 [A]/SFr 18,90, ISBN 978­3­89438­492­0

Mit einer Mahnwache vor dem Landtag von Baden-Württem-berg in Stuttgart fand am

9. Mai die bundesweite Aktionswoche gegen militärische Forschung und Lehre an deutschen Hochschulen ihr Ende. Dort beschäftigten sich die Parlamentarier mit einem neuen Gesetz zur Weiterentwick-lung des Karlsruher Instituts für Tech-nologie (KIT). Gut ein Dutzend Demon-stranten forderte eine Zivilklausel, mit der die Uni zusichert, nur für friedliche und zivile Zwecke zu forschen – ohne Erfolg. Der Landtag votierte einstimmig für ein KIT-Gesetz ohne Zivilklausel. Von einem »Kniefall vor der Militärwirt-schaft« spricht Dr. Dietrich Schulze. Der langjährige wissenschaftliche Mitarbei-ter und spätere Betriebsratsvorsitzende des Forschungszentrums Karlsruhe, dem Vorgänger des heutigen KIT, ist in der bundesweiten »Initiative gegen Militär-forschung an Hochschulen« aktiv. »Die Landesregierung will keine Zivilklau-sel, weil die Rüstungsindustrie negative Signale gesendet hat«, so Schulze. Tat-sächlich hatten sich die heutigen Regie-

rungsparteien Grüne und SPD in ihrer Oppositionszeit 2009 für eine verpflich-tende Zivilklausel im KIT-Gesetz aus-gesprochen. Damals scheiterte ein An-trag an der schwarz-gelben Mehrheit im Landtag. Die Forderung nach einer ver-bindlichen Zivilklausel landete so in den Wahlprogrammen von Grünen und SPD. Jetzt wollen beide Parteien davon nichts mehr wissen. Trotz des Rückschlags kün-digt Schulze an: »Studierende, Gewerk-schafter und Friedensfreunde werden weiter gegen Militärforschung in Baden-Württemberg und überall kämpfen.«

Auch in anderen Städten fanden An-fang Mai Aktionen gegen Militärfor-schung statt. Bereits am internationalen Arbeiterkampftag am 1. Mai mischten sich einige Zivilklausel-Gruppen in die Ge-werkschaftsdemonstrationen, um für ihre Idee einer friedlichen und zivilen Univer-sität zu werben. In Göttingen diskutierten bei einer Veranstaltung im Rahmen der Aktionswoche knapp fünfzig Menschen über eine mögliche Zivilklausel an der Hochschule. Überraschend plädierte auch Uni-Präsidentin Ulrike Beisiegel da-

für – sie solle aber nicht bindend sein. Der Allgemeine Studierendenausschuß der Göttinger Georg-August-Universität hat dagegen eine Online-Petition für eine verpflichtende Zivilklausel gestartet. Auch in Halle, Bremen und Kassel wurde die

Debatte um Militärforschung in Gang ge-bracht: Studierende und Uni-Mitarbeiter in Kassel machten mit einer Kunstblut-Aktion auf dem Campus auf die Thematik

aufmerksam. An der Uni Gießen wollen Studierende nach einem gescheiterten Se-natsantrag im Frühjahr 2011 nun im Mai einen weiteren Versuch starten, um die Uni zur Offenlegung der an sie fließenden Drittmittel aus der Wirtschaft zu verpflich-ten. Damit soll zumindest Transparenz ge-schaffen werden. Aktuell ist nicht klar, ob in Gießen überhaupt militärisch geforscht wird – denn militärische Forschung fin-det fast immer im Geheimen statt; die Nutzbarkeit für kriegerische Zwecke ist in Teilbereichen oft nicht auf den ersten Blick erkennbar.

Zwar gab es in mindestens zehn Städten teils mehrere Aktionen und Veranstaltun-gen, die lokale Debatten um Militärfor-schung angestoßen haben, dennoch war die Beteiligung für eine bundesweite Ak-tionswoche gering: »Die aktiven Kräfte sind noch zu wenig«, resümiert Dietrich Schulze, der in in den verschiedenen Städ-ten teilgenommen hat. In Zukunft sollen Bündnisse, etwa mit der »Aktion Auf-schrei« gegen deutsche Rüstungsexporte eingegangen werden.

Michael Schulze von Glaßer

Der lange Weg zur friedlichen UniIn der ersten Maiwoche fanden in mehreren Städten Aktionen gegen Militärforschung an deutschen Hochschulen statt

Natürlich mit Unterstützung des Bereichs Hochschul- und Studierendenarbeit der IG Metall Berlin-Brandenburg-Sachsen.

www.hochschulinformationsbuero.de

Toscana – nah am Meer

Wunderschöner Ökohof auf Hügel,groß, hell, herrlicher Blick,viele gute Bücher, Klavier,

Kinderparadiesz. B. kleines Häuschen für 240 Euro/Woche

Tel: 00 39/05 66/8 14 78www.toskana-biohof.de

ANZEIGE

ANZEIGE

Page 5: jw-2012-05-16-99

junge Welt Mittwoch, 16. Mai 2012, Nr. 114 5s c h u l e & u n i

Die Lehrer-ausbildung zu reformie-ren, hält die

Berliner Bildungssena-torin Sandra Scheeres (SPD) für dringend notwendig. Gedacht ist dabei an einen Eig-nungstest für Lehrer oder ein Praxisseme-ster. Wie sehen Sie das?

Einem Eignungstest stehen wir sehr kritisch gegen-über. Lehramtsanwärter müssen zunächst die Chan-ce erhalten, überhaupt in den Beruf einzusteigen. Sie sollten zu einem möglichst frühen Zeitpunkt während ihres Studiums Praxiser-fahrungen sammeln kön-nen, um zu erkennen, ob die pädagogische Ausbil-dung für sie das Richtige ist. All das ist allerdings im Bachelor bereits vorgese-hen. Von vornherein durch einen Eignungstest auszu-sortieren, halten wir nicht für sinnvoll. Praktika gibt es bereits. Das Praktika-Semester soll aber erst in der Master-Phase angesetzt werden. Was damit zu tun hat, daß der Bachelor nicht einzig auf den Lehrerbe-ruf ausgerichtet ist. Diese Offenheit für unterschied-liche Berufsfelder muß auf jeden Fall erhalten wer-den.

Die von der Bildungs-senatorin geplanten Tests, die Fähigkeiten von angehenden Lehrern im psy-chosozialen Bereich abfragen sol-len, bringen Ihrer Ansicht nach gar nichts?

Nein, eine solche Testerei halte ich nicht angemessen. Lehramtsanwärter müssen die Chance haben, im Studium etwas lernen zu können – dafür ist es da! Zu Beginn des Studiums muß es möglich sein, in den Beruf hinein zu schnuppern. Diskutiert werden muß aber auch, wie die zweite Phase des Referendariats aus-sehen soll.

Was sagen Sie zu dem Argument, daß Lehrer, die Kinderhasser seien, nicht auf Schüler losgelassen wer-den dürfen?

Wie wollen Sie das denn mit einem Test ausschließen? Wer sich trotz solch ungünstiger Einstellung für diesen Be-ruf entscheidet – und sei es nur, um eines der schwindenden unbefristeten

Beschäftigungsverhältnisse als Lehrer zu ergattern – ist sicher clever genug, bei einem solchen Test positiv abzuschnei-den. Dem wäre vorzuziehen, daß junge Menschen im Vorfeld einer Lehreraus-bildung nachweisen könnten, in Jugend- oder Sportorganisationen tätig gewesen zu sein – und sei es bei den Pfadfindern. Aber eine ehrenamtliche Tätigkeit sollte nicht zwangsweise zur Voraussetzung gemacht werden.

Die Berliner Schulsenatorin will bis zum Herbst 2013 Fakten schaffen...

Ja, aber soweit sind wir noch nicht! Zu-nächst tagt jetzt eine Kommission zur Lehrerausbildung mit Fachleuten aus verschiedenen Bundesländern, auch wir von der GEW sind beteiligt. Eines un-serer wichtigsten Anliegen ist dabei, im Zuge der Bildungsreform die gleiche Ausbildungszeit für alle zukünftigen Lehrer anstreben. Zur Zeit gibt es teil-

weise das nur einjährige Referendariat für Absolventen, die auch nur einen ein-jährigen »Master« durchlaufen haben. Ein zweijähriges Referendariat absol-vieren derweil Studienräte oder Lehr-amtsanwärter mit Staatsexamen. Ziel ist eine für alle gleiche »Master«-Phase von vier Semestern, inklusive Praxisphase, anschließend 18 Monate Referendariat.

Weiterhin hat Scheeres eingeführt, daß Schülerinnen und Schüler ihre Lehrkräfte online bewerten sollen, allerdings so, daß nur der jeweilige Lehrer das Ergebnis zu sehen be-kommt. Halten Sie das für sinnvoll?

Das ist ja wieder eine andere Baustelle.Nein, letztlich geht es auch dabei darum, ob Lehrer für ihren Beruf wirklich geeignet sind. Diesbezüg-lich scheint es Klärungsbedarf zu geben …

Möglicherweise ist all das im Gespräch,

weil viele ihr Studium abbrechen. Wir müssen mit der Bildungsreform an den Universitäten an-setzen: Würden alle, die ein Studium begonnen ha-ben, es auch beenden, hät-ten wir keinen derartigen Nachwuchsmangel. Wir sind aber dagegen, daß die erste Begegnung mit Schülern sehr spät stattfin-det – denn für diejenigen, die sich in der Berufspra-xis nicht zurechtfinden, muß es möglich sein, sich umzuorientieren. Vor al-lem gilt es aber auch, den Lehrerberuf attraktiver zu machen.Wie soll das Ihrer Mei-nung nach aussehen?Zum Beispiel muß es an Schulen in sozialen Brenn-punkten mehr Unterstüt-zung geben – vor allem mehr Zeit, nicht nur den Unterrichtsstoff zu bewäl-tigen, sondern auch die erforderliche Sozialarbeit zu leisten. Kinder, die aus Armutsverhältnissen kommen, müssen besser betreut werden als solche aus gut situierten Eltern-häusern, insofern gilt es, für sie kleinere Klassen einzurichten. Der GEW-Landesvorsit-zende in Hessen, Jochen Nagel, konstatiert als Hauptproblem, daß es nicht mehr genügend Lehramtsanwärter gibt, weshalb man in Hessen

bereits Leute ohne jede Lehreraus-bildung einstellen würde. Wie ist das in Berlin?

Auch hier gibt es Quereinsteiger, die einzig irgendeinen Hochschulabschluß haben müssen. Sie müssen sich aber zu einem berufsbegleitenden Referendari-at verpflichten. In Pädagogik, Didaktik und Methodik werden sie nachgeschult. Damit hat man bei der Berufsbildung angefangen, zum Beispiel im Fach Elek-trotechnik – mittlerweile gibt es aber ebenso Quereinsteiger in allgemeinbil-denden Schulen. Allerdings hat das mit-unter seine Berechtigung: Fachwissen ist in spezifischen Bereichen bisweilen mehr vonnöten als Pädagogik. Zudem ist auch in Berlin ist abzusehen, daß die Absolventen der Universität künftig nicht mehr ausreichen, um den Lehrer-bedarf an den Schulen zu decken. Interview: Gitta Düperthal

» E i n e s o l c h e Te s t e re i i s t n i c h t a n ge m e s s e n «Lehrerbildung auf dem Prüfstand: GEW lehnt Berliner Vorstoß für Eignungstests ab, befürwortet aber frühe Praxiserfahrung im Umgang mit Schülern. Ein Gespräch mit Sigrid Baumgart

Sigrid Baumgardt ist Vorsitzende der Ge­werkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Berlin

GegenStandpunkt 1-12Aus dem Inhalt:

Aufbruch ins pazifische Jahrhundert, Reset mit RusslandDie USA erneuern ihren globalen Führungsanspruch

Die Notwendigkeit eines ‚Change‘ auf dem Feld der Außenpolitik begründet Präsident Obama schon seit seinem Amtsantritt mit Verweis auf die problematische Lage der Vereinigten Staaten in der Welt, die das Land den Fehlern der Bush-Regierung zu verdanken habe: Deren Kriege hätten statt einer Neuordnung vielmehr unproduktive Frontstellungen in der Welt befördert und Gottes eigenem Land Lasten aufgeladen, an denen es in der größten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg schwer zu tragen habe. Vor allem aber hätten solche politischen Irrwege die USA abgelenkt von den eigentlichen Aufgaben echter globaler Führung. Die hält Obama selbstverständlich für angemessen und dringlich: The time for our leadership is now.Inzwischen hat er einigermaßen klargestellt, was das heißen soll: Die USA sind global präsent, beziehen also alle Problemlagen der Welt mit allem Recht, das ihnen ihre Macht gibt, auf sich. Sie sind mit ihren ökonomi-schen und politischen Ansprüchen und ihrer Militärgewalt in jeder Weltgegend der große, überlegene Nachbar aller Nationen, der denen Kooperationen anzubieten hat, in denen die jeweils ihre Inte-ressen verfolgen können – mit Blick auf und in Abstimmung mit den Vereinigten Staaten. Das heißt nichts anderes, als dass die USA die politischen Subjekte der Völkergemeinschaft in einem System von Ermächtigung und Beschränkung dauerhaft auf sich als die Führungsmacht bezieht, die Anrechte zuteilt und für eine entsprechende Geschäfts- und Gewalt-ordnung mit ihren allen überlegenen Gewaltmitteln einsteht. So der Führungsanspruch, den Obama verfolgt.In diesem Sinne eröffnet er mit dem programmatisch angekündigten erneuerten Auftritt der USA als pazi-fischer Macht der aufstrebenden Konkurrenzmacht China das Angebot wie die Zumutung, sich in ein ame-rikanisch gestiftetes System ökonomischer, politischer und strategischer Beziehungen einzuordnen, die so-wohl auf erweiterte wirtschaftliche Öffnung Chinas für US-Kapital wie auf die Schaffung einer pazifischen Wirtschaftszone nach US-Vorgaben und zugleich auf Chinas militärische, http://www.gegenstandpunkt.com/gs/11/3/gs113_inhalt.pdf

strategische und rüstungsdiplomatische Einhegung abzielen. Entsprechend verfährt Obama auch mit Russ-land – das wie China die Sicherheit seiner Interessen selbst garantieren kann und will. Es soll einsehen, dass der amerikanischer Raketenschirm, der Russlands Militärmacht entwerten soll, keinesfalls gegen Russland gerichtet ist, dass das russische Interesse an Sicherheit eigentlich bei der NATO und das an kapitalistischer Entwicklung in einer ameri-kanisch geregelten Weltmarktordnung in besten Händen wäre ...

Kubas jüngster „Aufbruch zum Sozialismus“Staatlich organisierter Drittweltkapitalismus

Die kubanische Führung hat weitreichende Reformen beschlossen. Förderung devisenbringender Wirtschafts-zweige und Attraktion auswärtigen Kapitals; Verpflichtung der staatlichen Betriebe auf gewinnorientierte Pro-duktionsmaßstäbe; Entlassung von mindestens einer Million der Staatsbediensteten; erhebliche Ausweitung der privaten Kleinwirtschaft und Förderung privat wirtschaftender Bauern; baldige Abschaffung der Reste der staatlich garantierten Grundversorgung. Die Regierung begründet ihren Maßnahmenkatalog mit dem Verweis auf die katastrophale Haushaltslage des Landes, die schmerzhafte Korrekturen unvermeidlich mache. Sie verspricht aber zugleich, mit diesen Maßnahmen „den Sozialismus zu erhalten, ihn zu stärken und wahrhaftig unwiderruflich zu machen.“ (Raúl Castro)Der GegenStandpunkt nimmt die Reformen zum Anlass einer kritischen Würdigung des aktuellen Endpunkts sowie der generellen Absichten, Schranken, Widersprüche und negativen Fortschritte von 50 Jahren kubani-schem „Sozialismus“ – mit einem Nachwort zur Kuba-Freund- und Feindschaft einst und heute.

***

Für 15 € zu beziehen über den Buchhandel oder durch Bestellung an GegenStandpunkt Verlags Gesellschaft mbH, Kirchenstr. 88, 81675 München, Tel.: 0 89-2 72 16 04; Fax: 0 89-2 72 16 05; E-Mail: [email protected]

ANZEIGE

AN

DR

EA

S P

RO

ST

/DA

PD

Page 6: jw-2012-05-16-99

Mittwoch, 16. Mai 2012, Nr. 114 junge Welt 6 s c h u l e & u n i

Im Hochschulbetrieb sind sie »Mäd-chen für alles«. Studentische Mitar-beiter recherchieren, fotokopieren, archivieren, redigieren. Sie betreu-

en ihre Kommilitonen, leiten Tutorien, halten Prüfungsaufsicht, bereiten Ta-gungen vor, transkribieren Interviews, sammeln und werten Daten aus, gehen Dozenten im Labor zur Hand und halten technische Geräte in Schuß. Ohne sie läuft gar nichts mehr auf dem Campus. Der ganze Lehr-, Forschungs- und Ver-waltungsapparat ginge auf der Stelle in die Knie, würden nicht Tag für Tag mas-senhaft Studierende als Lückenbüßer ei-nes Hochschulwesens auf Sparflamme herhalten.

Dabei wird vor allem bei ihnen selbst »gespart«. Studentische Hilfskräfte und Beschäftigte arbeiten ganz überwiegend unter prekären Bedingungen. Sie ver-dienen lausig wenig, sind oft nur ein paar Stunden im Einsatz, haben prak-tisch keine Rechte und lernen bei all dem in der Regel nichts dazu. Nach Ansicht von Alexander Lenger, Stefan Priebe und Christian Schneickert sind sie zumeist nichts anderes als »schlechter bezahlte Dienstboten«. Die drei in Freiburg und Berlin tätigen Soziologen haben für die Gewerkschaft Erziehung und Wissen-schaft (GEW) einen Bericht zur Lage von studentischen Mitarbeitern an deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtun-gen erstellt, womit – wie es heißt – erst-mals »umfassende Informationen zum Profil, zu den Beschäftigungsverhält-

nissen und Arbeitsbedingungen« dieser Personengruppe vorliegen. Im Rahmen der durch die Max-Traeger-Stiftung ge-förderten Untersuchung wurden knapp 4 000 Betroffene befragt und bereits vor-handene Daten und Studien ausgewertet.

Für Aufsehen sorgt zunächst eine Zahl: Demnach sind an Deutschlands Hoch-schulen und Forschungsinstituten bis zu 400 000 studentische Mitarbeiter tätig. Damit hat fast jeder fünfte der gegen-wärtig über 2,1 Millionen Studierenden einen Job im Wissenschaftsbetrieb inne. Die Autoren unterscheiden dabei zwi-schen studentischen und wissenschaft-lichen Hilfskräften einerseits und stu-dentischen Beschäftigten andererseits. Erstere werden als einfache Studenten oder solche mit Hochschulabschluß zur Unterstützung von Forschung und Lehre eingesetzt; letztere erfüllen Infrastruk-turaufgaben in Bibliothek, Verwaltung oder Technik.

Die Trennung ist nicht beliebig, son-dern vom Gesetzgeber gewollt. Hilfskräf-te dürfen nach geltender Rechtsprechung nur in Bereichen mit direkter Anbindung an Forschung und Lehre agieren. Als Kompensation für ihre dürftige Entloh-nung sollen sie durch ihr Tun wenig-stens eine Zusatzqualifikation erlangen, die ihnen im späteren beruflichen Wer-degang zugute kommen kann. Hiermit würden die »prekären Arbeitsverhältnis-se und vergleichsweise niedrigen Löhne gerechtfertigt«, schreiben die Autoren. Keine Aufgaben dürfen ihnen dagegen im administrativen Bereich – wie et-wa im Verwaltungsapparat – übertragen werden, weil da die »Ausbildungskom-ponente« fehlt. Wer dort eingesetzt wird, muß laut Bundesarbeitsgericht als stu-dentischer Beschäftigter nach dem Ta-rifvertrag des öffentlichen Dienstes der Länder (TV-L) entlohnt werden.

Der Praxistest ergibt freilich ein an-deres Bild. Nach Auswertung der For-scher verdingt sich die große Mehrheit der studentischen Mitarbeiter als billi-ge Hilfskraft, ganz gleich, für welche Aufgaben sie abgestellt sind. Tatsächlich hätten nur wenig mehr als 60 Prozent »überwiegend« Kontakt zu Forschung und Lehre. Arbeitsrechtlich keinen Deut besser stehen jedoch auch die restlichen knapp 40 Prozent da. Obwohl in die Ad-

ministration eingebunden, werden auch sie zum großen Teil mit Dumpinglöhnen außer Tarif abgespeist. Eine Vielzahl der Beschäftigungsverhältnisse widerspre-che den gesetzlichen Vorgaben, »sie be-inhalten weder eine wissenschaftliche Qualifizierungskomponente noch eine tarifliche Vertragsgestaltung«, konstatie-ren die Wissenschaftler.

Das Beispeil zeigt, daß und wie es anders geht. Dort existiert bereits seit 1986 ein mit Beschäftigtenvertretern ausgehandelter Tarifvertrag für studenti-sche Mitarbeiter – mit festgeschriebenen Rechten und verbindlicher Vergütung. Diese liegt mit einem Stundensatz von durchschnittlich 10,87 Euro bis zu bis zu 30 Prozent über den in anderen Bundes-ländern üblichen Löhnen. Ein tarifliches Vertragswerk gibt es daneben nur noch in Hessen, das wie die Hauptstadt aus der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) ausgestiegen ist. Hier werden im Mittel 9,46 Euro für studentische Mitarbeiter gezahlt.

Die restlichen Bundesländer unterlie-gen einer TdL-Richtlinie, die Höchstsät-ze von 8,60 Euro für einfache Studenten und 13,61 Euro für solche mit abgeschlos-senem Studium vorsieht. Bei 31 Stunden, die studentische Mitarbeiter im Schnitt pro Monat arbeiten, springt damit ein Monatsverdienst zwischen 270 bis 420 Euro heraus – nichts, wovon sich leben ließe. Viele Hochschulen halten sich laut der Studie aber nicht einmal an die dürf-tigen TdL-Vorgaben. Thüringen zahlt im Schnitt kümmerliche 7,58 Euro, mitunter sogar nur fünf Euro. Selbst so reiche Län-der wie Bayern und Baden-Württemberg geizen: mit einem Durchschnittssatz von 8,60 Euro bzw. 8,57 Euro. Geprüft auf Kriterien wie Entlohnung, Vertragslauf-zeiten und -umfang, rechtliche Stellung und Arbeitszeiten schafft es Bayern in einem von den Forschern erstellten Ran-king nur auf den vorletzten Platz, unter-boten nur noch von Thüringen.

Verwundern muß allerdings, daß stu-dentische Mitarbeiter trotz ihrer ungün-stigen Lage laut Studie eine »sehr zufrie-dene ArbeitnehmerInnengruppe« sind. So gaben 90 Prozent der Befragten an, eher oder sogar sehr zufrieden mit ihrer Gesamtsituation zu sein. Ursächlich sind nach Ansicht der Forscher jedoch weni-

ger die unmittelbaren Beschäftigungs-verhältnisse als vielmehr »komplemen-täre Vorteile für das Studium«. Dazu gehörten eine »bessere Integration und Sozialisation in die Hochschule bzw. den Fachbereich«, ein »engeres Verhältnis zum Hochschulpersonal, die Praxisnähe zum akademischen Betrieb sowie der intensive Einblick in den Alltag und Ab-lauf von Arbeitsprozessen der universi-tären Forschung und Lehre«. Angesichts dieser erhofften Vorteile arrangieren sich die Betroffenen scheinbar mit dem Um-stand, als billige Arbeitskraft und ohne echten Qualifikationsmehrwert miß-braucht zu werden.

Den Autoren bereitet das Sorge, »da hier vor allem junge und hochqualifi-zierte Personen an Arbeitsverhältnisse gewöhnt werden, die nachhaltige Folgen für die Ansprüche an die Arbeitsbedin-gungen im gesamten weiteren Karrie-reverlauf haben«. Hier zeichne sich ein »strukturelles Problem des deutschen Bildungswesens« ab, das »spezifische Anforderungen an hochschulpolitische und gewerkschaftliche Politik« stelle.

Prekär und froh Studentische Mitarbeiter an deutschen Hochschulen werden mehrheitlich als billige Arbeitskräfte mißbraucht. Unglücklich sind sie dabei jedoch nicht. Von Ralf Wurzbacher

Bundeswehr und NATO raus aus Afghanistan – NATO abschaffen – Rüstungsproduktion und -exporte verbieten! Ausbau der öffentlichen Da-seinsvorsorge, mehr Geld für Gesund-heit, Pflege und Bildung! Für Frieden, Abrüstung und soziale Gerechtigkeit!

Inge Höger, MdBAbrüstungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag

www.inge-hoeger.dewww.freiheit-durch-sozialismus.de

Alexander Lenger, Chri­stian Schneickert und Stefan Priebe: »Studen­tische MitarbeiterIn­nen – Zur Situation und Lage von studentischen Hilfskräften und studen­tischen Beschäftigten an deutschen Hochschulen und Forschungseinrich­tungen«. Im Internet: www.gew.de/Binaries/Binary88494/Studenti­sche_MitarbeiterInnen_online.pdf

ANZEIGE

ANZEIGE

AN

DR

EA

S P

RO

ST

/DA

PD

Page 7: jw-2012-05-16-99

junge Welt Mittwoch, 16. Mai 2012, Nr. 114 7s c h u l e & u n i

Das BAföG reicht hinten und vorne nicht, oder man be-kommt gar keins und muß sich allein durchschlagen.

Oder Papa zahlt die Miete, und der Rest vom Geld muß irgendwo anders herkom-men. Nach der letzten Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks von 2010 erhalten zwar 87 Prozent der Studieren-den Unterstützung aus dem Elternhaus, dennoch müssen knapp zwei Drittel al-ler Hochschüler arbeiten gehen, und nur 23 Prozent beziehen überhaupt BAföG. Welche Rechte sie im Job haben, wissen die wenigsten.

Die Bedeutung des Nebenverdiensts zeigen weitere Angaben der Sozialerhe-bung. Die Eltern zahlten im Beobach-tungszeitraum 2009 durchschnittlich 445 Euro im Monat, das BAföG-Amt 430 Eu-ro und der Arbeitgeber 323 Euro. Wo das Amt einspringt, ist der Elternbeitrag na-turgemäß gering, denn die Berechtigung für die staatliche »Förderung« bemißt sich in der Regel an deren Einkommen. Die monatlichen Gesamteinkünfte der Studierenden betrugen 2009 im Durch-schnitt 812 Euro, wobei ein Fünftel von ihnen mit weniger als 600 Euro auskom-men mußte, und 17 Prozent über 1 000 Euro ausgeben konnten.

Die Nebenjobs sind meist schlecht be-zahlt, weil sie keine fachliche Qualifikati-on erfordern. Weniger als ein Viertel der deutschen Studenten hatte 2009 vor dem Hochschulstudium eine Berufsausbildung absolviert. Nur weil der Unternehmer kei-ne Krankenkassenbeiträge abführen muß (bei Ferienjobs auch keine Rentenbei-

träge) und einen geringen Stundenlohn zahlt, bedeutet das aber nicht, daß das Arbeitsrecht keine Anwendung fände.

Um für Aufklärung zu sorgen und bei Konflikten Rechtshilfe anzubieten, hat die Gewerkschaftsjugend in über 30 Städten Beratungsstellen eingerichtet, in weiteren 20 Kommunen gibt es Offerten anderer gewerkschaftlicher Einrichtungen. Die

DGB-Campus-Offices und Hochschulin-formationsbüros (HIB) werden von der Jugendorganisation der Gewerkschaft betrieben, sind auf dem Unigelände zu finden und haben regelmäßige Öffnungs-zeiten. Die arbeits- und sozialrechtliche Erstberatung wird meist von Studieren-den selbst organisiert. Für eine anwaltli-che Vertretung ist der gewerkschaftliche Rechtsschutz zuständig, der allerdings nur Mitgliedern gewährt wird. Die Bei-träge der Einzelgewerkschaften belaufen sich für Studenten auf wenige Euro im Monat.

Aus der Praxis berichten Berater, daß oft die grundlegendsten Kenntnisse feh-len – das gilt für arbeitende Hochschüler wie für ihre Chefs. So haben die studen-tischen Beschäftigten einen gesetzlichen Urlaubsanspruch von vier Wochen pro Jahr, der bereits nach sechsmonatiger Tätigkeit im jeweiligen Betrieb gilt. Bei einem kürzeren Angestelltenverhältnis sind es zwei Tage für jeden absolvierten Monat. Während des Urlaubs muß der Unternehmer das volle Gehalt weiterzah-len. Für Teilzeitstellen wird der Anspruch anteilig berechnet. Auch die Lohnfortzah-lung im Krankheitsfall gilt für Studieren-de uneingeschränkt. Wer sich ordnungs-gemäß krankmeldet, muß also nicht nach-arbeiten, sondern bekommt bis zu sechs Wochen lang jeden Fehltag ausbezahlt. Danach ist die Krankenkasse zuständig.

Heuern und feuern gibt es bei Stu-denten genauso wenig wie bei anderen Angestellten. Eine Kündigung muß frist-gerecht ausgesprochen und in Textform zugestellt werden. Wenn es in der Firma einen Betriebsrat gibt, muß der zuerst gehört werden. Die Kündigung muß auf Nachfrage begründet werden und ist vor dem Arbeitsgericht anfechtbar. Womög-lich besteht ein Recht auf eine angemes-sene Abfindung.

Außerdem haben studentische Be-schäftigte einen Rechtsanspruch auf ein qualifiziertes Arbeitszeugnis. Dabei sind die Fallstricke der Zeugnissprache zu be-achten. Auch hier bieten die DGB-Cam-pus-Offices Beratung an oder verweisen an Gewerkschaftsexperten. Zudem helfen sie dabei zu ermitteln, ob Niedriglöhne sittenwidrig sind, also 30 Prozent unter dem ortsüblichen Branchenlohn liegen.

Dann, oder bei Überfälligkeit des Ge-halts, gilt es, eine Nachzahlung anzumah-nen, wobei Verfallsklauseln zu beachten sind, die im Arbeitsvertrag selbst oder per Verweis im Tarifvertrag verankert sein können.

Kein rechtsfreier Raum Auch im Nebenjob gelten arbeitsrechtliche Mindeststandards. DGB-Jugend bietet in mehreren Städten Beratung für Studierende an. Von Mirko Knoche

Mirko Knoche ist Diplomvolkswirt, freier Journalist und regelmä­ßiger Autor der jungen Welt.

www.dgb­jugend.de/studium

Bödekerstraße 75 • 30161 Hannover Tel. 0511 – 807 61 94 • Fax 0511 – 62 47 30

[email protected] • www.offizin-verlag.de

Kritische Beiträge zur Bildungswissenschaft Band 6

Klaus Ahlheim / Johannes Schillo (Hg.)

Mit Beiträgen von Klaus Ahlheim, Paul Ciupke,Jürgen Eierdanz, Benno Hafeneger, Alexander Lahner,Dirk Lange, Manfred Pappenberger, Johannes Schillo

zwischenFormierung und

Aufklärung

PolitischeBildung

Klaus Ahlheim / Johannes Schillo (Hg.)

Politische Bildung zwischen Formierung und AufklärungISBN 978-3-930345-96-0, 187 Seiten, 13,80 Euro, 20,70 sFr

Das gemeinsame Interesse der Autoren ist es, gegen Formierungs-tendenzen der Bildungsarbeit, die auf Anpassung und Einordnung insGegebene setzen, Position zu beziehen. Sie repräsentieren kritischeStimmen des fachlichen Diskurses. Behandelt werden u.a. bildungs-politische Tendenzen (Deutscher Qualifikationsrahmen), politik-didaktische Standortbestimmungen, förderungspolitische Eingriffe(Extremismusklausel) oder das Vordringen fragwürdiger Bildungsakteure(Bundeswehr, Verfassungsschutz).

Rolf Pohl / Joachim Perels (Hg.)

Normalität der NS-Täter? Eine kritische Auseinandersetzung

ISBN 978-3-930345-71-7, 179 S., 14,80 Euro, 22,20 sFr

»Pohl/Perels haben in verdichteter Form ein Buch herausgegeben, das wirklichNeues enthält und von großer Leidenschaft für einen kritischen Umgang mitder Vergangenheit geprägt ist ... eine Kampfansage an apologetische Tenden-zen auch in der Wissenschaft.« (ND 29.3.2011)

Utz Anhalt / Steffen Holz

Das Verhörzentrum Wincklerbad der britischen Besatzungsmacht

in Bad Nenndorf 1945 bis 1947

DasverboteneDorf

Utz Anhalt / Steffen Holz

Das verbotene Dorf Das Verhörzentrum Wincklerbad der britischen Besatzungsmacht in Bad Nenndorf 1945 – 1947

ISBN 978-3-930345-90-8, 191 Seiten, 9,80 Euro, 14,70 sFr

»... erzählt ›Das verbotene Dorf‹ die erschütternde Geschichte Bad Nenndorfs.Dabei zeigt sich: Aufarbeitung und Aufklärung sind essentiell im Umgang mitder NS-Geschichte und insbesondere im Einsatz gegen Rechtsextremismus«(Bündnis für Toleranz 12/2011)

Kritische Beiträge zur Bildungswissenschaft Band 5

Klaus Ahlheim

Empirische Analysen undpädagogische Reflexionen

Sarrazin und der

ExtremismusderMitte

Klaus Ahlheim

Sarrazin und der Extremismus der MitteEmpirische Analysen und pädagogische Reflexionen

ISBN 978-3-930345-93-9, 155 Seiten, 13,80 Euro, 20,70 sFr

»Ahlheim stellt seine Auseinandersetzung mit dem Bestseller von Sarrazin inden Kontext der Nationalstolz- und Patriotismusdebatten seit dem Jahr 2000und zieht zur Erläuterung der breiten Resonanz, die die deutschnationalenThesen dieser Schrift gefunden haben, empirische Analysen über fremden-feindliche und rechtsextreme Einstellungen in der deutschen Bevölkerungheran.« (Erwachsenenbildung 4/2011)

Lesen gegen Rechts

Tel.: (02 21) 44 85 45 | www.papyrossa.de | [email protected]

P a p y R o s s a V e r l a g | Luxemburger Str. 202 | 50937 Köln

Guido Speckmann /

Gerd Wiegel: Faschismus

Markus Bernhardt:

Das braune Netz

Naziterror – Hintergründe, Verharmloser, Förderer

117 Seiten – 9,90 Euro

127 Seiten – 9,90 Euro

131 Seiten – 9,90 Euro

Während offizielle Stellen das Zusammenwirken von Nazis und

Geheimdiensten – unbeirrt vom Terror des »NSU« – verharmlo-

sen, leuchtet Markus Bernhardt Hintergründe aus. Zu diesen

gehört eine staatliche Extremismustheorie, die die Rechten be-

günstigt und wirksamen Antifaschismus kriminalisiert.

David Salomon:

Demokratie

»Demokratie« – liberale Nebelkerze oder realer Einfluss der Sub-

alternen auf ihre gesellschaftlichen Existenzbedingungen? Aus-

gehend von diesem Gegensatz führt David Salomon in Begriff

und Geschichte der Demokratie ein. Er verweist auf die Dialektik

von Demokratie und Sozialismus und bilanziert bisherige Versu-

che, sie zu erkämpfen.

Guido Speckmann und Gerd Wiegel entfalten Begriff und Ge-

schichte des Faschismus in drei Schritten: Zuerst stellen sie die

wichtigsten Analysen vor. Sodann überprüfen sie deren Tragfä-

higkeit anhand der faschistischen Bewegungen und Regime in

Deutschland und Italien. Abschließend fragen sie nach den fa-

schistischen Potenzialen der Gegenwart.

ANZEIGE

ANZEIGE

ST

EF

FI

LO

OS

/DA

PD

Page 8: jw-2012-05-16-99

Mittwoch, 16. Mai 2012, Nr. 114 junge Welt 8 s c h u l e & u n i

Wir werden eine religiöse Generation erziehen«, hatte der türkische Mi-nisterpräsident Recep

Tayyip Erdogan als Ziel seiner islamisch-konservativen Regierung angegeben. Für die Anhänger des türkischen Republik-gründers Mustafa Kemal Atatürk stand einst der Bildungssektor im Mittelpunkt der Anstrengung, aus der Türkei ein mo-dernes, westliches Land jenseits von reli-giösem Aberglauben und feudaler Rück-ständigkeit zu machen. Dabei ist es den Kemalisten in den Jahrzehnten seit Grün-dung der Republik im Jahr 1923 nicht ge-lungen, mit ihrer autoritär-laizistischen Erziehungsdiktatur die Volksfrömmig-keit zu überwinden. Entsprechend setzt heute die AKP-Regierung nach der er-folgreichen Ausschaltung ihrer kemali-stischen Gegner im Staatsapparat auf die Unterwerfung des Bildungssektors.

Prügel im ParlamentDabei bedient sie sich nach Meinung der kemalistischen Opposition auch faschi-stischer Methoden. Oppositionsrechte wurden beschnitten, kemalistische Abge-ordnete im Bildungsausschuß des Par-laments mit körperlicher Gewalt an der Abstimmung gehindert, als die AKP im März eine Schulreform durchpeitsche. Ei-ne landesweite Großkundgebung der Bil-dungsgewerkschaft in Ankara wurde ver-boten und die protestierenden Lehrer mit Panzerwagen und Gasgranaten auseinan-dergetrieben. Durch die Reform werden die islamischen Imam-Hatip-Schulen mit

Geschlechtertrennung, religiöser Beklei-dung und einem Schwerpunkt auf Koran- und Arabischunterricht den laizistischen Gymnasien gleichgestellt. Da die letzten Jahre der Schulpflicht nun im Fernstudi-um absolviert werden können, befürchtet die Opposition eine Zunahme von Kin-derarbeit und Verheiratung minderjähri-ger Mädchen. Während die Masse der Jugendlichen so unter religiöser Knute zu gehorsamen und frühzeitig für den neoli-beralen Arbeitsmarkt verfügbaren Kräf-ten herangezogen werden soll, schicken die Eliten ihre Kinder auf Privatschulen der islamisch-nationalistischen Fethul-lah-Gülen-Gemeinde, die allerdings eine hochwertige naturwissenschaftliche Aus-bildung bieten.

»Beweismittel« für TerrorWiderstand gegen die AKP-Politik wird von staatlicher Seite schnell als »Terro-rismus« diffamiert. So befinden sich rund 700 Studenten aus politischen Gründen in Untersuchungs- oder Strafhaft. Unter dem Motto »Hände weg von meinem Stu-denten« haben Mitte April Hochschul-dozenten mit Freiluftseminaren vor dem Tekirdag F-Typ-Gefängnis protestiert. Symbolisch war vor dem von schwerbe-waffneten Militärpolizisten gesicherten Gefängniseingang eine Schultafel aufge-stellt. »Wir sind hier wegen unserer gefan-genen Studenten«, erklärte Professorin Beyza Üstün von der technischen Yildiz Universität Istanbul. »Das hier ist nicht ihr Platz, sie gehören ins Klassenzim-mer.« Den meisten inhaftierten Studenten

wird nach dem Antiterrorgesetz Mitglied-schaft in einer verbotenen Organisation oder Propaganda vorgeworfen. Gewalt-taten, die über das Werfen von Eiern hin-ausgehen, werden dabei kaum einem von ihnen unterstellt. Als »Beweismittel« für Terrorismus akzeptiert die Justiz schon das Zeigen von Bildern der getöteten 68-er Studentenführer Mahir Cayan und De-niz Gezmis, aber auch von Che Guervara, das Tragen eines Palästinensertuches, den Besitz marxistischer Klassiker oder die Teilnahme an Demonstrationen. So ver-urteilte ein Gericht in Malatya Anfang Februar sechs Studenten zu Haftstrafen zwischen acht und 13 Jahren. Als Beweis ihrer angeblichen Mitgliedschaft in der verbotenen marxistisch-leninistischen Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) wurde die Teilnahme an Demonstrationen zum 1. Mai und dem internationalen Frauentag am 8. März sowie der Verkauf von Tickets für ein Konzert der beliebten linken Band Grup Yorum gewertet.

Subversive Muttersprache Die überwiegende Mehrheit der in Un-tersuchungshaft sitzenden Studenten sind Kurden. Wie rund 7 000 anderen kurdischen politischen Gefangenen ein-schließlich mehrerer Abgeordneter und Bürgermeister wird ihnen Mitgliedschaft in einem Dachverband der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorge-worfen. Vielfach hatten sich die bei lan-desweiten Razzien verhafteten Studenten zuvor an Kampagnen für kurdischsprachi-

gen Unterricht beteiligt, was als Beweis ihrer PKK-Unterstützung gewertet wird.

Im Mittelpunkt studentischer Prote-ste steht seit Jahrzehnten der nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 eingeführte Hochschulrat YÖK, der die Universitäten der Kontrolle von Staatsbü-rokraten unterstellt. Hatten die verbote-nen Vorgängerparteien der im Jahr 2002 an die Macht gekommenen islamisch-konservative AK-Partei noch in den 90er Jahren mit den studentischen Protesten gegen den YÖK sympathisiert, so wurden inzwischen zwar die kemalistischen Bü-rokraten durch islamische Kader ersetzt. Doch wie schon der kemalistisch besetz-te YÖK ist auch der nunmehr islamisch dominierte Hochschulrat eine treibende Kraft beim neoliberalen Umbau des Uni-versitätssektors. Und die aus dem Jahr 1985 stammenden und noch in den 90er Jahren vor allem gegen islamische Studie-rende eingesetzten Disziplinarverordnun-gen dienen heute zur Ausschaltung von AKP-Kritikern an den Unis.

Vielfältige Repression7 500 Studierende sind zur Zeit aus un-terschiedlichen Gründen von den Uni-versitäten suspendiert. 76 kurdische Studierende wurden kürzlich von der Universität Bingöl entfernt, weil sie außerhalb des Universitätsgeländes an einer Gedenkkundgebung für einen er-mordeten Kommilitonen teilgenommen hatten. Die Vielzahl von Gründen, die zum Ausschluß vom Studium führen können, hat der sozialistische Abgeord-nete Levent Tüzel aus Istanbul in einer parlamentarischen Anfrage zusammen-gefaßt: »Wie viele Studenten wurden in den vergangenen Zwei Jahren von ihren Universitäten entfernt wegen Nichtbe-folgen der Regeln des Hochschulrats oder des Rektors, wegen Protesten gegen die Bildungspolitik der Regierung, den Bildungsetat, die Beförderungsmittel so-wie Wohnheim- und Mensakosten, we-gen der Teilnahme an Demonstrationen oder sonstigen Versammlungen, weil sie Mineralwasser, Gebäck oder andere Nahrungsmittel mit in den Unterricht gebracht haben, wegen Verteidigung ih-res Rechts auf muttersprachlichen Un-terricht, wegen Pfeifens, Halay-Tanzens, weil sie laute Musik in einer Gruppe hörten, wegen des Tragens von Pusis (Palästinensertücher), wegen Verteilung der politischen Zeitung Evrensel, wegen Stehens auf einem Tisch am Campus, um Ankündigungen zu machen, wegen Plakatierens oder Flugblattverteilens, wegen der Organisation von Treffen, Konzerten, Podiumsdiskussionen, Film-präsentationen und Lesereihen.«

Studenten hinter Gittern Der neoliberale Umbau des Bildungswesens geht in der Türkei mit islamisch-konservativem Inhalt einher. Kritische Studenten werden suspendiert oder gleich inhaftiert. Von Nick Brauns

Nick Brauns ist promo­vierter Historiker. Als Journalist und Autor befaßt er sich seit meh­reren Jahren mit der Türkei und dem mitt­leren Osten, wohin er auch zahlreiche Reisen unternahm.

Ja, ich bestelle

20 Expl. 50 Expl. 100 Expl. (abweichende Bestellmengen auf Anfrage)

der Ausgabe vom 16. Mai 2012. Ich übernehme die Transportkosten­pauschale von 5,00 Euro. Bezahlung erfolgt auf Rechnung.

Mehr Material auf Anfrage beim Aktionsbüro.

Name

Vorname

Straße

PLZ/Ort

Telefon

E­Mail

Unterschrift

Coupon einsenden oder faxen an:

Verlag 8. Mai GmbH, Torstraße 6, 10119 Berlin, Fax: 0 30/53 63 55-44

Bestellungen auch unter: [email protected] oder 0 30/53 63 55­10.

jW- S p ez i a l n a c h b e s t e l le n u nd ve r t e i le n !

s c h u le & un iW i s s e n we i t e rge b en !

AN

DR

EA

S P

RO

ST

/DA

PD