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Annette Kaminsky Illustrierte Konsum- geschichte der DDR

Kaminsky, Annette - Illustrierte Konsumgeschichte Der DDR (3931426319)

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Annette Kaminsky

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Dr. Annette Kaminsky ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Stiftung zur Aufarbeitung derSED-Diktatur in Berlin

Publikationen u. a.: Kaufrausch (1998), Heimkehr 1948 (1998)

Landeszentrale für politische Bildung ThüringenBergstraße 499092 Erfurt1999ISBN 3-931426-31-9

3InhaltEinleitung ................................................................................................... 5

Von der „Rationengesellschaft“ zur „Konsumwende“ (1945–1953) ............................................................ 11Alltag im Mangel ............................................................................................. 12„Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig“ .......................................................... 12Währungsreform.............................................................................................. 14„So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben“ ........................................... 15Der „neue Kurs“ ............................................................................................... 18

Der „neue Kurs” unddie „Versorgung auf Weltniveau” (1953–1961) ............................... 23Überholen ohne einzuholen................................................................................ 24Die „richtige Lenkung des Warenstroms“............................................................... 27„Alles für das Land” .......................................................................................... 28„Moderne Menschen kaufen modern” .................................................................. 30

Die „guten sechziger Jahre“ – Konsolidierung im Schatten der Mauer ................................................ 37Frauen in die Produktion .................................................................................... 38Dienstleistungen und Modernisierung der Haushalte................................................ 40„Muttis kleine Helfer“ ........................................................................................ 41Die Ernährung – Ein Politikum ersten Ranges .......................................................... 43„Frau Mode“ und „Herr Geschmack“ – Die Bekleidung des sozialistischen Menschen ... 50Die sinnvolle Nutzung der Freizeit ....................................................................... 59„Gute Unterhaltung“.......................................................................................... 63Hilf Dir selbst................................................................................................... 67

Von der individuellen Bedürfnisbefriedigung zu den „sozialistischen Errungenschaften“......................................................... 71Das moderne und behagliche Heim..................................................................... 78Motorisierung ................................................................................................. 84

Das Jahrzehnt der Krisen – „Noch nie bereitete der Einkauf soviel Verdruß und Mühe wie in jüngster Zeit“.................................... 87Eine delikate Versorgungsstrategie ....................................................................... 90Schaufenster Berlin ........................................................................................... 95Ausländer als Sündenböcke ............................................................................... 96Epilog............................................................................................................ 97

Einleitung

61959 erschien in der DDR ein Buch mit demverheißungsvollen Titel „Unsere Welt vonmorgen“. In diesem Werk, das den Teilneh-mern an der Jugendweihe in der DDR alsGeschenk bei der offiziellen Feierstundeüberreicht wurde, waren die Vorstellungender SED-Führung über die sozialistische undspäterhin kommunistische Zukunft der DDRbeschrieben.1 Das Buch begann mit demAusflug eines US-Bürgers, der in der DDR imJahre 2000 staunend „eine konsequentdurchkonstruierte kommunistische Welt“, inder „eine unvorstellbare Fülle von Warenund Dienstleistungen zum allgemeinen Nut-zen zur Verfügung stand und in der alle Fra-gen vollkommen und vernünftig geregelt wa-ren“, kennenlernte. Der Amerikaner fandnicht nur technisch hochentwickelte Indu-strieanlagen und eine sozial gerechte Ge-sellschaftsordnung, die alle humanistischenWunschträume der Menschheitsgeschichteverwirklicht hatte. Er fand darüber hinausdas Konsum-Dorado schlechthin, in dem„großartige Warenhäuser; Musik nachWahl aus der Wand; ein untadeliges Ge-sundheitswesen; wunderbare Möglichkeitenfür Sport, Erholung, Bildung, unbürokrati-sche Verwaltungseinrichtungen, eine Justiz,die bereits zur psychotherapeutischen Be-handlung von Ausgefallenheiten übergegan-gen ist; eine die Welt umspannenende so-zialistische Brüderlichkeit“ herrschten. Diesefür den Amerikaner exotische Welt würdefür die DDR-Bürger bald Wirklichkeit sein,versprach das Buch. Ihnen wurden Groß-kaufhäuser verheißen, in denen die Musteraller verfügbaren Konsumartikel zur Ansichtbereitliegen würden. Der Kunde sollte sichseine Ware aussuchen und nach seinemeigenen Geschmack ändern lassen können.Wenn er nach seinem ausgedehnten Ein-kaufsbummel zu Hause ankam, wollte derTransportservice des Warenhauses ihm die

auf seine individuellen Bedürfnisse zuge-schnittenen Waren bereits geliefert und auf-gebaut haben. Die „Warenfülle von mor-gen“ wurde gepriesen als „eine Fülle vonlandwirtschaftlichen und industriellen Pro-dukten aller Art, von der Ente bis zur Hühn-erbrust in Aspik, von Ananas in Dosen biszum Futterreis, vom Jutesack bis zum Sei-denhemd, vom Fahrrad mit allen Schikanenbis zum Traumwagen (der groß oder kleinsein kann, aber immer ausgezeichnet pas-sen muß!), vom Sportflugzeug bis zum Stra-tokreuzer, vom Kinderfilm bis zum wissen-schaftlichen Buch, die schon in wenigenJahren auf uns als Verbraucher und Benutzerzugewatschelt, -gerollt, -gefahren und -ge-flogen kommt“. Solche Utopien mußten an-gesichts der realen Alltags- und Lebensbe-dingungen in der DDR, in denen Einkaufund Versorgung zu den eher unangeneh-men Seiten des täglichen Lebens zählten,etwas sehr Verlockendes haben. Als aberdas Jahr 1990, in dem die im Buch ver-heißenen Dinge Wirklichkeit geworden seinsollten, erreicht war, existierte die DDR nichtmehr.

Nach 1945 sahen sich die Menschen in al-len Teilen Deutschlands mit den gleichentäglichen Problemen des Nachkriegselendskonfrontiert: Tod, Hunger, Not und Zer-störungen unvorstellbaren Ausmaßes zeich-neten das Land. Allerdings zeigte sich schonbald nach Kriegsende, daß in den einzel-nen Besatzungszonen unterschiedliche poli-tische Entwicklungen vonstatten gingen, dieauch zu verschiedenen Versorgungs- undKonsumentwicklungen führten. In den westli-chen Besatzungszonen hielt nach derWährungsreform 1948 mit dem „Wirt-schaftswunder“ nach und nach der Wohl-stand Einzug. Die aus der sowjetischen Be-satzungszone entstandene DDR jedoch

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(Foto: Stadtarchiv Erfurt)Enttrümmerung, August 1946 in Erfurt.

konnte die Mangelversorgung bis zuletztnicht in den Griff bekommen. Sie hatte viel-mehr damit zu tun, die in den fünfziger Jah-ren vollmundig gegebenen Versprechen zurelativieren und den selbst beschworenenVergleich mit westdeutschem Lebens- undVersorgungsniveau wieder aus den Köpfenzu vertreiben und den Menschen ein „so-zialistisches“ Versorgungs- und Lebensni-veau nahezubringen. In diesem sollten we-niger die Erfüllung individueller Konsumwün-sche als vielmehr die kollektiven „sozialenErrungenschaften“ zählen. Aber das gelangtrotz aller ideologischen und propagandisti-schen Anstrengungen nicht. Die Menschen

in der DDR waren nicht bereit, von dem ih-nen Ende der fünfziger Jahre versprochenenTraum vom westdeutschen Lebensniveau ab-zurücken.

Dabei hatte die SED frühzeitig erkannt, daßdie Lösung der Versorgungsprobleme ihreMacht und ihren Anspruch, die führendeKraft im Lande zu sein, festigen würde. Im-mer wieder versuchte die Partei, das Le-bensniveau zu heben, einen größerenWohlstand zu erreichen, den Dienstlei-stungssektor auszubauen und die stetigwachsenden Konsumwünsche ihrer Bürgerzu befriedigen. So erscheint die Geschichte

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der DDR auch als Geschichte von konsum-politischen Ereignissen, die in direkter Ver-bindung zur politischen Geschichte stan-den. Auf den 17. Juni 1953, den Aufstand1956 in Ungarn, den Mauerbau 1961oder den Prager Frühling 1968, die politi-schen Krisen in Polen Ende der sechzigerund Ende der siebziger Jahre wurde mit Ent-scheidungen reagiert, die auf eine Verbes-serung der Versorgung der Bevölkerung mitKonsumgütern und auf eine Erhöhung derKaufkraft zielten. Viele DDR-Bürger verban-den politische Ereignisse und Jahrestage mitErwartungen an den eigenen Lebensstan-dard. Ihre Erfahrung bezeugte, daß vorsozialistischen Feiertagen, im Umfeld der

SED-Parteitage und insbesondere vor Wah-len das Angebot in den Konsumverkaufsstel-len, in Kaufhallen und Warenhäusern kurz-fristig besser wurde. Gleichzeitig nährtendiese Konsumschwankungen die Ängste vorkommenden Versorgungskrisen: „Wie solldas erst nächstes Jahr werden? Da gibt eskeine Wahlen und keinen 30. Jahrestag“,lauteten nur allzuoft die Klagen der DDR-Bür-ger.

Die SED-Führung kannte die Unzufriedenheitder Bevölkerung mit der Versorgungslageund fürchtete politische Konsequenzen. Seit dem Beginn der fünfziger Jahre be-schloß sie immer wieder Programme und

(Foto: Stadtarchiv Erfurt)Konsum-Kaufhaus in Erfurt 1953

9Kampagnen zur Verbesserung der Ver-sorgung. In der Bevölkerung wollte sich je-doch das Vertrauen in die Richtigkeit der Po-litik von Partei und Regierung nicht einstel-len. Für die Menschen war gerade der Alltag mit seinen Versorgungsfragen zeitauf-wendig und frustrierend. Sie kritisierten ne-ben dem unzureichenden Warenangebotmit seinen sichtbaren Lücken das lange„Schlangestehen“ und forderten immer wie-der, die Mangelwaren besser zu verteilen.

Schließlich entstand ein direkter Zusammen-hang zwischen dem mangelhaften Waren-angebot und der zunehmenden Unzufrie-denheit mit der Politik von SED und Regie-rung. Im November 1989 wurde offenbar,daß den Konsumproblemen und dem auf-gestauten Verbraucherfrust, gepaart mit ei-ner allgemeinen Unzufriedenheit mit den po-litischen und sozialen Verhältnissen, einegroße Sprengkraft innewohnte, die letztlichzum Untergang der DDR führte.

1945–1953Von der „Rationengesellschaft“

zur „Konsumwende“

12Alltag im Mangel

Als im Mai 1945 der Zweite Weltkrieg mitder Kapitulation Deutschlands zu Endeging, belief sich das Erbe des deutschenNationalsozialismus auf 55 Millionen Toteund unvorstellbare Zerstörungen.

Die Alliierten hatten bereits 1943 auf derKonferenz von Jalta Deutschland in Besat-zungszonen aufgeteilt und ihre Einfluß-sphären abgesteckt. In diesen Besatzungs-zonen sollte jeweils eine der Siegermächtedes Zweiten Weltkriegs die oberste Regie-rungsgewalt ausüben. Berlin, die zerstörteHauptstadt, sollte in vier Sektoren aufgeteiltwerden, ein Alliierter Kontrollrat die gesamt-deutschen Belange sicherstellen.

In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ),aus der 1949 die DDR hervorging, nahmdie Sowjetische Militäradministration(SMAD) am 9. Juni 1945 ihre Arbeit auf.Sie regelte nicht nur alle politischen und wirt-schaftlichen Fragen, wie die Zulassung derParteien, die Herstellung der öffentlichenOrdnung und die Inbetriebnahme der Fabri-ken und Verwaltungen, sondern sie warauch für die Versorgung der Bevölkerung inihrem Besatzungsgebiet zuständig.

„Zum Sterben zu viel,zum Leben zu wenig“

Die Menschen interessierte vor allem eineFrage: Woher konnten sie etwas zu essenbekommen? Nahrungsmittel und lebens-

wichtige Güter wie Kohlen und Brennstoffewaren bereits seit 1941 rationiert und wur-den per „Kartenbewirtschaftung“ an die Be-völkerung verteilt. Während dies anfänglichnur ausgewählte Güter betroffen hatte, gabes zu Kriegsende kaum noch eine Ware,die frei käuflich war. Die Karten waren in Le-bensmittel-, Kleider- und Brennstoffabschnitteunterteilt. Über Ankündigungen im Rundfunkund durch Anschläge an Litfaßsäulen undZeitungen erfuhren die Menschen, welcheKartenabschnitte aufgerufen waren, welcheWaren in den Läden ausgegeben wurden.Wer zu spät kam, stand oft vor leeren Re-galen und mußte ohne die fürs Überleben sowichtige Ration nach Hause gehen. Dennauch die Bewirtschaftung der Lebensmittelbedeutete nicht, daß jeder die ihm auf seineKarte zustehenden Nahrungsmittel erhielt.Diese konnten nur ausgegeben werden,wenn sie ihren Weg in die Städte gefundenhatten. Und das gestaltete sich durch diezerstörten Transportwege, die durch die vonder sowjetischen Besatzungsmacht betrie-bene Demontage des zweiten Schie-nengleises noch mehr beeinträchtigt wur-den, sowie fehlende Benzin- und Autob-rennstoffe schwierig. Auch kümmerten sichdie Landregionen, die zur Versorgung derStädte eingeteilt waren, zuerst um die Ver-sorgung der eigenen Bevölkerung und ka-men ihren Ablieferungspflichten nur zögerndnach. Der Verlust der deutschen Gebiete imOsten, aus denen vormals ein Großteil derGetreide- und Kartoffellieferungen gekom-men waren, verschärfte die Lage weiter.

Die Verteilung der knappen Lebensmittel er-folgte in der SBZ bis Ende 1945 nach demvon den Nationalsozialisten eingeführtenSystem. Ab 1. November 1945 setzte diesowjetische Besatzungsmacht ein neues Ver-teilungssystem in Kraft. Dieses sah eine Ver-

13sorgung nach dem Wohnort und dem so-zialen Status der Versorgten vor. Bewohnervon Großstädten wurden von nun an besserversorgt als Einwohner kleiner Orte oderLandbewohner, von denen man annahm,daß sie sich durch eigene Höfe und Gärtenteilweise selbst versorgen konnten.

Die Lebensmittelkarte wurde zum wichtig-sten Dokument der Nachkriegszeit. Ihr Ver-lust kam einer Katastrophe gleich. Verteiltwurden die Karten über „Hausbeauftragte“,die auch die anderen Meldenachweise wieMeldekarte und Arbeitsbescheinigung, diejeweils die Voraussetzung für den Erhalt ei-ner Lebensmittelkarte waren, regelmäßigkontrollierten, um unberechtigte Versorgerausfindig zu machen. Die Karten waren inder Regel in fünf Kategorien unterteilt. Diebegehrteste, weil am besten versorgte Kate-gorie war die I, die Schwerstarbeiter undFunktionäre erhielten. In die Kategorie IIwurden Schwerarbeiter, in die III Arbeiterund in die IV Angestellte eingestuft. Kinderund die „sonstige Bevölkerung“, zu der Rent-ner, Schwerbehinderte, nichterwerbstätigeoder – erwerbsfähige Personen sowie Mit-glieder nationalsozialistischer Organisatio-nen zählten, erhielten die Karten derGruppe V. In manchen Orten wurden dieKarten der Gruppe I und II zusammenge-legt. Erst 1947 wurde die „Sonstigen“-Karte, die die Bevölkerung als „Friedhofs-karte“ bezeichnete, in der gesamten SBZabgeschafft.

Die Versorgungssätze legte die SMAD fest.Sie galten einheitlich für die gesamte SBZ.Nach der Kapitulation 1945 standen denMenschen jeden Tag zwei Scheiben Brot,eine dünne Haferflockensuppe und mit einwenig Glück auch ein paar Kartoffeln zu. ImNovember 1945 erhielten die Versorger mit

Karte I beispielsweise 450 g Brot, 50 gFleisch, 31 g Fett, 40 g Nährmittel und 25g Zucker, während ein Versorger der „Son-stigen“-Gruppe lediglich 250 g Brot, 23 gFleisch, 7 g Fett, 15 g Nährmittel und 15 gZucker verbrauchen konnte. Im Winter1945 konnte ein Mensch durchschnittlich750 bis 1.200 Kilokalorien – das ist etwaein Drittel der normalen Kalorienmenge –pro Tag zu sich nehmen. Das war zum Ster-ben zu viel und zum Leben zu wenig. ImSommer 1946 erfolgte eine erste Anhe-bung der Rationen, die jedoch zum Winter1946 wieder rückgängig gemacht werdenmußte, weil der harte erste Nachkriegswin-ter und die Dürre im Sommer 1946 zu einerkatastrophal schlechten Ernte geführt hatten.Die Bodenreform, durch die im Frühjahr1946 leistungsfähige Großgrundbesitzbe-triebe in eine Vielzahl kleiner Parzellen für„Neubauern“ aufgegliedert worden waren,wirkte sich ebenfalls verheerend auf die Ver-sorgungssituation aus. Da den Neubauern,die zum großen Teil aus den ehemaligen„Ostgebieten“ vertrieben waren, oftmalslandwirtschaftliche Kenntnisse fehlten, san-ken die Hektarerträge dramatisch. Ihre Er-träge reichten anfänglich nur für die Eigen-versorgung der Neubauern und ihrer Fami-lien.

Noch 1947 lagen die Ernährungssätze derdeutschen Bevölkerung in allen Besatzungs-zonen bei lediglich 50 bis 70 Prozent desvom Völkerbund angegebenen Existenzmini-mums. 80 Prozent aller Kinder galten als un-terernährt. Kaum einer erreichte sein vollesLeistungsvermögen. Die Arbeitsleistung ei-nes deutschen Arbeiters wurde auf 60 Pro-zent des Vorkriegsstandes geschätzt.

Erst im Februar 1947 konnten die „Hunger-rationen“ endgültig angehoben werden und

14lagen nun amtlichen Angaben zufolge zwi-schen 1.500 und 2.200 Kilokalorien täg-lich. Allerdings kamen die auf den Kartenausgewiesenen Rationen noch immer nichtregelmäßig beim Verbraucher an. So streck-ten die Bäcker das Mehl mit Wasser, um aufdas geforderte Brotgewicht zu kommen. Dieauf den Karten angegebenen Mengen Fett,Fleisch oder Käse wurden nur teilweise odergar nicht „aufgerufen“.

Alles Genieß- und Verwertbare wurde zumNahrungsmittel. Ersatzstoffe hatten Konjunk-tur. Die Zeitungen waren voller Empfehlun-gen, wie das wenige geschickt gestrecktwerden konnte. Jede Hausfrau wurde zurÜberlebenskünstlerin. Auf Fensterbänken, inöffentlichen Parks, auf den Hausdächern,auf allen verfügbaren Flächen bauten dieMenschen Gemüse an. Neue Rezepte ent-standen. Aus Kartoffelschalen wurde Ku-chen gebacken. Sauerampfer, Löwenzahnund Brennessel gaben Salate ab. Rüben-blätter dienten als Spinatersatz. In den Zei-tungen wurden Kochrezepte für Mehlsup-pen aus Erbsen, Grünkern oder Mais abge-druckt, man empfahl Vogelmiere und Geiß-fußblätter als Gemüse und warb für Tortenaus Eicheln und Kaffeesatz.

Aber nicht nur beim Essen war Improvisationangesagt. Zum Waschen wurden Kastanienverwendet. War Kleidung einzufärben, sokonnte mit Efeublättern, Kartoffelschalen,Sauerampfer, roten Rüben oder Ochsen-galle gearbeitet werden. Aus Wehrmachts-uniformen wurden Mäntel geschneidert,Schuhe aus Autoreifen hergestellt. Wehr-machtsgeschirr lieferte die Materialien fürHaushaltsgegenstände. Viele Menschenhatten ihre Wohnungen und ihre Habe ver-loren. Die Menschen wurden in Massenun-terkünften und Lagern untergebracht, die in

allen verfügbaren Räumlichkeiten eingerich-tet waren: Kasernen, Schulen, Gasthäuser,Hotels, Sporthallen – jeder QuadratmeterWohnraum wurde mit obdachlosen Men-schen belegt. Man sprach nicht mehr vonden „eigenen vier Wänden“, sondern warfroh, wenn man nach den Bombardementsnoch drei Wände, die notdürftig ausgebes-sert wurden, sein Eigen nannte. In den Rui-nen richteten sich die Menschen ihre Be-hausungen notdürftig her.

Wer noch etwas zum Tauschen hatte,brachte seine wenigen Habseligkeiten aufden Schwarzmarkt, um hier zusätzlicheNahrungsmittel, Garn, Strümpfe oder Koh-len einzutauschen. Wer das Glück hatte,während der Bombardierungen aus denStädten aufs Land evakuiert worden zu sein,konnte jetzt seine Kontakte dorthin nutzen,um an Lebensmittel zu kommen. Die freienTage nutzten viele Städter, um aufs Land„Hamstern“ zu fahren. Noch brauchbareBekleidung, Möbel, Geschirr, Schmuck,Bücher – alles wurde gegen Lebensmitteleingetauscht. Frauen und Kinder „stoppel-ten“ im Herbst auf den abgeernteten Fel-dern, sobald diese freigegeben wordenwaren.

Währungsreform

Bis 1948 unterschied sich die Lebenssitua-tion in den westlichen und der östlichen Be-satzungszone kaum voneinander. Überallherrschten Mangel, Hunger und Not. Diessollte sich jedoch in den westlichen Besat-zungszonen mit der am 20. Juni 1948durchgeführten Währungsreform ändern.

15Das Angebot besserte sich schlagartig.Über Nacht warben allerorten volle Schau-fenster um zahlungskräftige Kunden und ver-hießen „Gute Ware für gutes Geld“. DemNachkriegswunschtraum von der Vorkriegs-realität war man im Westen mit derWährungsreform ein gutes Stück näher ge-kommen.

In der SBZ fand am 23. Juni 1948 ebenfallseine Währungsreform statt. Im Unterschiedzu den westlichen Besatzungszonen zoghier jedoch kein Wohlleben ein. Dafür hattedie sowjetische Besatzungsmacht, die diegrößten Kriegslasten und Zerstörungen zutragen hatte, keine materiellen Möglichkei-ten. In den ersten Wochen der Währungs-umstellung konnten nicht einmal neue Bank-noten ausgegeben werden, da es an Papiermangelte. Die alten Reichsmark-Noten wur-den lediglich mit einem Papieraufdruck ver-sehen, was ihnen die Bezeichnung „Klebe-mark“ einbrachte. Erst vier Wochen nachder offiziellen „Reform“, am 24. Juli, konntedieses Provisorium aufgehoben und durchneue Geldscheine auf Qualitätspapier er-setzt werden.

„So wie wir heute arbeiten, werden wirmorgen leben“

Nach den von Entbehrungen bestimmten er-sten Nachkriegsjahren, in denen die „Leib-und Magenfragen“ das alles bestimmendeThema waren, konnte Ende der vierzigerJahre wieder optimistischer in die Zukunft

geschaut werden. Diese würde laut WalterUlbricht „die Zeit der Erfolge“ sein, was vorallem in wirtschaftlicher Hinsicht zu verste-hen war.

Nachdem die Machthaber in der SBZ ab-gelehnt hatten, den Marshall-Plan einzu-führen, suchten sie für den Osten Deutsch-lands ein eigenes Konzept, um die Versor-gung der Bevölkerung zu verbessern unddarüber den eingeschlagenen wirtschafts-politischen Kurs zu rechtfertigen. Gleichzei-tig mußten sie den Reparationsforderungender Sowjetunion nachkommen. Vor allemmußte das Produktionsaufkommen der Wirt-schaft, das gerade einmal 56 Prozent desVorkriegsstandes erreichte, dringend erhöhtwerden. Unter dem Motto „Mehr produzie-ren, gerechter verteilen, besser leben” ver-suchte der II. Parteitag der SED 1947, dieMenschen für eine Steigerung der Produktionund eine höhere Arbeitsleistung zu gewin-nen. Flankiert wurde dieser Kurs durch densowjetischen Befehl Nr. 234, den die Bevöl-kerung auch als „Essensbefehl” bezeichnete.Er zielte darauf ab, das Lohnsystem an dieArbeitsleistung zu koppeln. Das hieß im En-deffekt Entlohnung nach dem Leistungsprin-zip. Wer mehr arbeitete, sollte besser ver-dienen. In der Praxis verfälschte die Ein-führung von Sondervergünstigungen je nachpolitischer oder wirtschaftlicher Bedeutungder jeweiligen Betriebe oder Industrie-zweige diese Regelung wieder.

Bereits 1947 war die Einführung der Plan-wirtschaft nach sowjetischem Vorbild in An-griff genommen worden. Mitte 1948 wurdeein erster Zweijahrplan aufgestellt, der bis1950 gelten sollte. Laut diesem Plan solltedie Arbeitsproduktivität um 30 Prozent ge-steigert und 80 Prozent der Produktivität desStandes von 1936 erreicht werden. Die

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(Foto: Verband der Konsumgenossenschaft-VdK eG, Fotoarchiv)Berlin 1949: Dieses Gedränge herrschte in Berlin, als die ersten HO-Geschäfte eröffnet wurden.(Originaltext ADN)

17SED rief nach sowjetischem Vorbild die „Ak-tivistenbewegung” ins Leben, deren Prota-gonisten als Vorkämpfer das Niveau der Ar-beitsproduktivität in die Höhe schraubenund dafür entsprechend besser entlohnt wer-den sollten. Adolf Hennecke, der im Rah-men dieser Bewegung sein Tagessoll imSteinkohlebergbau um 380 Prozent überer-füllte, wurde zur Galionsfigur dieser Bewe-gung. Den „Aktivisten” legte die SED mitdem Slogan „So wie wir heute arbeiten,werden wir morgen leben (und einkaufen)“auch ihre Vorstellungen über die künftige Le-bensgestaltung der Bürger in den Mund. Siepropagierten Konsumverzicht und vertröste-ten auf spätere, bessere Zeiten.

Den gewünschten Arbeitsleistungen mußtejedoch ein materieller Anreiz in Form vonWaren entsprechen. Im November 1948öffneten die „freien” Läden der staatlichenHandelsorganisation HO ihre Pforten. Dererste HO-Laden bot seine Waren in Berlin inder Frankfurter Allee, der späteren Stalin-allee, an. Hier konnten die Bürger erstmalsaußerhalb des Schwarzmarktes Produkte zufestgesetzten Preisen ohne Bezugssscheineoder Karten erwerben. Bis 1958 hatte dieHO das Monopol für den Verkauf bewirt-schafteter Waren inne. Nur sie konnte Man-gelwaren und hochwertige Nahrungsmittel,die sonst nur über Kartenzuteilungen erhält-lich waren, verkaufen.

(Foto: Verband der Konsumgenossenschaft-VdK eG, Fotoarchiv)Schaufenstergestaltung, Berlin 1951

18In der offiziellen Begründung für die Einrich-tung der HO-Läden hieß es, mit ihnen solleder Schwarzmarkt ausgetrocknet und derfreie Markt wiederbelebt werden. Die Be-völkerung sollte hier Waren zu nur unwe-sentlich geringeren Preisen als auf demSchwarzmarkt kaufen können. Die Preisesollten deshalb so hoch liegen, damit es fürSchwarzhändler nicht lukrativ wäre, sich inden freien Läden mit Waren einzudeckenund auf dem Schwarzmarkt weiterzuverkau-fen. Gleichzeitig sollten die Läden aberauch die durch die leistungsgerechte Entloh-nung in Umlauf gebrachten zusätzlichenGeldmittel, die nach Meinung der SED einewährungsgefährdende Höhe annehmenkönnten, wieder abschöpfen und verhin-dern, daß diese staatlichen Geldmittel wie-derum in die Taschen der Schwarzmarkt-händler flossen. Nicht zuletzt sollte die Ver-sorgung der Bevölkerung verbessert werden.Bei einem durchschnittlichen Monats-verdienst von etwa 300 Mark riefen die„freien“ Läden mit ihren Preisen jedoch nichtnur Freude hervor. Ein halbes Pfund Butterkostete 30 Mark, ein Kilogramm Zucker 35 Mark, ein Brötchen 80 Pfennige. EinPaar Damenstrümpfe war für 30 Mark zu ha-ben. Zwar wurde das Warenangebot ge-kauft, aber oft nur in Ermangelung andererBezugsquellen. Und so nahm es nicht wun-der, daß die Reaktionen der Menschen aufdiese Läden sehr unterschiedlich ausfielen.

Die neuen Läden sollten jedoch auch denGrundstein für den Handel auf staatlicherGrundlage bilden und perspektivisch dieMöglichkeit eröffnen, den privaten Handelvöllig abzuschaffen. Denn wie die Wirt-schaft sollte auch der Handel Volkseigentumund staatlich gelenkt sein. Ab 1952 wurdenzunehmend private Geschäfte durch unzu-reichende Warenzuteilungen an den Rand

des wirtschaftlichen Zusammenbruchs ge-bracht und konnten dann von der HO über-nommen werden.

Der „neue Kurs“

Auf dem II. Parteitag 1950 verabschiedetedie SED den Beschluß über den ersten Fünf-jahrplan, mit dessen Hilfe bis 1955 dieSchwerindustrie aufgebaut und eine indu-strielle Basis geschaffen werden sollte. Allezur Verfügung stehenden Mittel und Kräftesollten nun diesem Ziel untergeordnet wer-den. Großprojekte wie das Eisenhüttenkom-binat in Stalinstadt (später umbenannt in Ei-senhüttenstadt) oder der Ausbau der chemi-schen Werke in Buna und Leuna erhieltenVorrang und verschlangen die knappen Res-sourcen. Gleichzeitig faßte die SED auchPläne für eine weitere Verbesserung der Versorgung. Das Leben normalisierte sichweiter, auch die Rationierungen sollten bis 1953 abgeschafft werden. In den„freien Läden“ sanken die Preise, die auf Lebensmittelkarten erhältlichen Waren konn-ten nun in der Regel tatsächlich bezogenwerden.

Diese Entwicklung wurde 1952 abrupt zu-nichte gemacht, als die SED meinte, nun seidie Zeit gekommen, um in der DDR mit demAufbau des Sozialismus zu beginnen. DieBundesrepublik integrierte sich Anfang derfünfziger Jahre in das westliche Militärbünd-nis, und auch die DDR begann mit dem Auf-bau eigener Streitkräfte. Da die hierfür nöti-gen Ausgaben im laufenden Fünfjahrplannicht vorgesehen waren, konnte die Situa-tion nur zu Lasten der Konsumgüterproduk-

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(Foto: Verband der Konsumgenossenschaft-VdK eG, Fotoarchiv)1951: Erste schwimmende Verkaufsstelle des Konsums

tion und der Versorgung der Bevölkerunggelöst werden. Die Versorgungslage ver-schlechterte sich wieder: „Die Waffen fürunsere bewaffneten Streitkräfte müssen dietechnisch besten und wirksamsten sein. Wirwerden das auch ganz offen sagen. Daskostet aber Geld, – und was noch viel mehrist: – Material. Die paar Kapitalisten könnenwir nicht so besteuern, daß sie das tragenkönnen, also muß unsere Wirtschaft das tra-gen – unsere werktätigen Menschen.“2

Aber mit Einsparungen allerorten und stän-dig steigenden Steuern und Abgaben fürden Mittelstand ließen sich die Aufrüstungund die Schaffung einer schwerindustriellenBasis nicht bewerkstelligen, und so strich dieSED Subventionen, erhöhte die Preise unddie Arbeitsnormen. Der Unmut über die täg-lich erlebbare Hintanstellung der Konsumbe-

dürfnisse und die Politik der SED wuchs, sahman doch an den vollen Schaufenstern imWesten, daß es auch anders gehen konnte.

Damit nicht genug, verschärfte die SED-Führung den „Klassenkampf“ auf dem Landeund versuchte, die Bauern zum „freiwilligen“Beitritt in die Landwirtschaftlichen Produkti-onsgenossenschaften (LPG) zu zwingen. Daviele Bauern unter diesen Umständen ihreHöfe verließen und in den Westen gingen,traten weitere Produktions- und Ertragsein-bußen ein. Die angekündigte Aufhebungder Rationierungen mußte ausgesetzt wer-den. Tag für Tag waren in der Presse Aufrufezu erhöhter „Wachsamkeit“ und „Sparsam-keit“ zu lesen. Produktionsengpässe undPlanrückstände gerieten in den Ruch vonWirtschaftssabotage. Zu Beginn des Jahres

201953 befand sich die Staats- undParteiführung in einem kaum verhüllten kal-ten Kriegszustand – nach außen und gegendie eigene Bevölkerung.

Obwohl die SED die brisante Versorgungs-lage und den wachsenden Unmut in der Be-völkerung kannte, traf sie auf der 13. Ta-gung des Zentralkomitees im Mai 1953weitere folgenschwere Entscheidungen. So-zialleistungen wurden weiter abgebaut,Normen erhöht und Löhne und Gehälter defacto gesenkt. Die Sprengkraft, die eineweitere Verschlechterung der Lebensverhält-nisse besaß, vermochte sie indes nicht ein-zuschätzen. Dies erkannte aber offensicht-lich die sowjetische Führung. Anfang Junikritisierte sie die Politik der SED und wies siean, einen „neuen Kurs“ einzuschlagen, umdie politische Lage zu „gesunden“: „Die so-zial-wirtschaftlichen Maßnahmen, die in Ver-bindung damit durchgeführt werden, undzwar eine Beschleunigung der Entwicklungder schweren Industrie, die dabei auchkeine gesicherten Rohstoffquellen hat, einejähe Einschränkung der Privatinitiative, diedie Interessen einer breiten Schicht der nichtgroßen Eigentümer in Stadt und Land beein-trächtigt, und Entzug der Lebensmittelkartenfür alle Privatunternehmer und Freischaffen-den, besonders eine übereilte Schaffungder landwirtschaftlichen Produktionsgenos-senschaften ohne eine dafür notwendigeGrundlage auf dem Dorfe haben dazu ge-führt, daß auf dem Gebiet der Versorgungder Bevölkerung mit Industriewaren undNahrungsmitteln ernste Schwierigkeiten ent-standen, daß der Kurs der Mark stark gefal-len ist, daß eine große Anzahl der kleinenEigentümer wie Handwerker, Gewerbetrei-bende usw. ruiniert sind und haben bedeu-tende Schichten der Bevölkerung gegen diebestehende Macht gestimmt. Es ist soweit

gekommen, daß zur Zeit 500 Tausend Hek-tar Land verlassen und brachliegen, und diehaushälterischen deutschen Bauern, diesonst stark an ihrem Landstück hängen, be-gannen, massenhaft ihr Land und ihre Wirt-schaft zu verlassen und sich nach West-deutschland zu begeben.“3 Die Korrekturen,die die SED daraufhin vornahm, betrafenjedoch nicht die kurz zuvor beschlossenenNormerhöhungen. Dies brachte das Faßschließlich zum Überlaufen. Am 16. Junilegten die Bauarbeiter der Stalinallee die Arbeit nieder und zogen in einem Pro-testmarsch durch die Straßen Ostberlins.Der Aufstand der Arbeiter, der sich auf diegesamte DDR ausbreitete, wurde durch so-wjetische Panzer am 17. Juni niederge-schlagen.

Die SED hatte im Juni 1953 erleben müs-sen, daß den Konsum- und Versorgungspro-blemen eine „systemsprengende Kraft“ inne-wohnen konnte, wenn sie sich mit einer all-gemeinen Unzufriedenheit mit den politi-schen Verhältnissen paarte. Sie zog darauszweierlei Konsequenzen: Zum einen bautesie ihren Sicherheitsapparat aus, der künf-tige Unruhen bereits im Keim ersticken sollte.Zum anderen setzte sie den bereits vor demAufstand aus Moskau vorgegebenen„neuen Kurs“, der sich auch in einer „Kon-sumwende“ niederschlagen sollte, fort, umdie innenpolitische Lage zu entspannen.Dessen Ziel sollte es sein, hieß es in einemSED-Dokument, „[...] in der nächsten Zeiteine ernsthafte Verbesserung der wirtschaftli-chen Lage und der politischen Verhältnissein der Deutschen Demokratischen Republikzu erreichen und auf dieser Grundlage dieLebenshaltung der Arbeiterklasse und allerWerktätigen bedeutend zu heben“4. Ver-besserung der individuellen Konsumtion lau-tete die Devise nun wieder. Der seit 1950

21laufende Fünfjahrplan wurde geändert, umverstärkt Konsumgüter zu produzieren undKonsummöglichkeiten zu erweitern. Als je-doch der erste Fünfjahrplan zwei Jahre spä-ter, 1955, endete, konnte die SED-Führungnoch keine befriedigende Bilanz vorweisen:Der angestrebte Vorkriegsstand von 1936

war weder in der Arbeitsproduktivität nochbeim Lebensstandard erreicht worden. Dieerlassenen Programme und Kampagnen zurVerbesserung der Versorgung erschienen vorallem vor dem Hintergrund der Konsum-möglichkeiten in den Westzonen als unzu-reichend.

1953–1961Der „neue Kurs” und die

„Versorgung auf Weltniveau“

24Überholen ohne einzuholenWährend in der Bundesrepublik das „Wirt-schaftswunder” mit Ludwig Ehrhardts Ver-sprechen vom „Wohlstand für alle” Einzughielt, dachte man in der DDR über neue Pro-gramme zur Verbesserung der Versorgungnach. Für den zweiten Fünfjahrplan(1956–1960) wurde eine neue Direktivebeschlossen. Diese setzte auf die Moderni-sierung von Wirtschaft und Gesellschaftdurch die „wissenschaftlich-technische Revo-lution“. Wiederum versprach die SED Ver-besserungen in der Versorgung und beim Le-bensstandard. Die Konsumgüterproduktionsollte bis 1960 um 40 Prozent steigen und

eine Vielzahl hochwertiger Konsumgüter inden Handel kommen.

Die Bürger der DDR sollten nun täglich erle-ben, daß sie im besseren Teil Deutschlandslebten, und aus ihren Alltagserfahrungen ihrVertrauen in die Richtigkeit der Politik vonPartei und Regierung mehren. Die dem so-zialistischen System zugeschriebenen Vor-züge sollten durch spürbare Verbesserungenin der Versorgung und im täglichen Lebenfür jeden sichtbar gemacht werden. KeineWare des täglichen Bedarfs war zu nichtig,um nicht zum Thema auf den Sitzungen vonZentralkomitee und Politbüro zu werden.Mal war es der fehlende Würfelzucker, malFrauenkleidung in Übergrößen, mal Kinder-strümpfe, mal Butter oder Wurst. Die regel-mäßig auf den Sitzungen des Politbüros des

(Foto: Verband der Konsumgenossenschaft-VdK eG, Fotoarchiv)Verkaufsmesse 1956 in Mücheln. Einer Interessentin wird die Bedienung der elektrischen Backform erläutert

25ZK der SED beschlossenen „Maßnahmenzur Verbesserung der Versorgung“ wurdeneinerseits als gute Möglichkeiten gesehen,der Bevölkerung die Stabilisierung der Ver-sorgung – sei es durch außerplanmäßigeAuslagerungen aus der Staatsreserve, Strei-chung von Exporten in die Sowjetunion oderregionale Umverteilungen – vorzuführen. An-dererseits war zehn Jahre nach der DDR-Gründung für die Bevölkerung die Konsoli-dierung der DDR-Wirtschaft tatsächlich spür-bar. Der Ausbau der Konsumgüterindustriezeitigte erste Erfolge. Die Versorgung mit Le-bensmitteln war stabil. Der Lebensstandardder Bevölkerung stieg. Im Juni 1958 konntefür die letzten Waren die Rationierung ab-geschafft werden. Das halbe Pfund Butter ko-stete nun nur noch 2,50 Mark, eine Bock-wurst 80 Pfennig und ein Brötchen 5 Pfen-nige – Preise, die sich bis zum Ende derDDR nicht mehr ändern sollten und von derSED als große soziale Errungenschaften ge-feiert und nicht angetastet wurden.

Im Überschwang der durchaus positiven Ent-wicklung Ende der fünfziger Jahre verlor dieSED-Führung jedoch den Bezug zur Realität.1958 beschloß der V. Parteitag, daß es ander Zeit sei, nun den sozialistischen Aufbauzu vollenden. Dessen Kernstück sollte dieökonomische Hauptaufgabe sein, mit der„die Überlegenheit der sozialistischen Ge-sellschaftsordnung der Deutschen Demokra-tischen Republik gegenüber der Herrschaftder imperialistischen Kräfte im Bonner Staateindeutig bewiesen wird und infolgedessender Pro-Kopf-Verbrauch unserer Bevölkerungin den wichtigsten Lebensmitteln und Kon-sumgütern den Pro-Kopf-Verbrauch der Be-völkerung in Westdeutschland erreicht undübertrifft.”5

Der 1956 angelaufene Fünfjahrplan wurde

1959 durch den „Siebenjahrplan des Frie-dens, des Wohlstands und des Glücks“ er-setzt, der die „ökonomische Hauptaufgabe“bestätigte und eine komplexe und reichhal-tige Versorgung der Bevölkerung in Stadtund Land „auf Weltniveau“ bis 1961 ver-hieß. Laut Walter Ulbricht wollte man so „...die Überlegenheit des Sozialismus bewei-sen (...) nicht mit irgendwelchen Ge-brauchsgütern, mit Schund, mit Überplanbe-ständen, sondern mit Waren, die hohenGebrauchswert besitzen, die schön und ge-schmackvoll sind, die der arbeitendeMensch mit Freude kauft und benutzt.“6 Bis1961 sollte die Bundesrepublik im Pro-Kopf-Verbrauch an allen wichtigen Grundnah-rungsmitteln, vor allem Fleisch und Butter, so-wie bei der Ausstattung an ausgewähltenHaushaltgegenständen wie Kühlschränken,Waschmaschinen und Fernsehgeräten über-troffen werden. Das schien zum damaligenZeitpunkt durchaus realistisch. Denn in derAusstattung der Haushalte mit „hochwerti-gen Gütern” klaffte – zumindest statistisch –noch keine unüberwindliche Kluft. „Überho-len und einholen“ hieß der dazugehörigeSlogan, der später in „Überholen ohne ein-zuholen“ abgewandelt wurde. Mit dem„Prinzip der materiellen Interessiertheit“ ver-suchte die SED eine auf Befriedigung derKonsumbedürfnisse gerichtete Entwicklunganzustoßen, indem sie den Werktätigen beihoher Arbeitsleistung hohe Löhne und ver-besserte Konsummöglichkeiten verhieß.

Während man sich seit Mitte der fünfzigerJahre auf die „hochwertigen Konsumgüter“konzentriert hatte, stellten Handel und Käu-fer nun fest, daß darüber die „tausend klei-nen Dinge“ in Vergessenheit geraten waren.Es fehlte im ganzen Land an Dosenöffnern,Klammern, Schuhanziehern, Eierbechernund ähnlichem. Und so wurde 1958 das

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(Foto: Verband der Konsumgenossenschaft-VdK eG, Fotoarchiv)1000 kleine Dinge

„Programm der 1.000 kleinen Dinge (destäglichen Bedarfs)“ ausgerufen. Im Rahmendieses Produktionsprogramms wurden alleIndustriebetriebe verpflichtet, Konsumgüterherstellen. Im Funkwerk Köpenick solltenelektrische Kaffeemühlen, bei Bergmann-Borsig Trockenrasierapparate, im Elektro-Apparate-Werk (EAW) Treptow Boden-staubsauger und im Kabelwerk Heizkissensowie beim VEB Apparatebau Bratpfannenproduziert werden. Flankiert wurde diesesProgramm zur Herstellung der Dinge destäglichen Bedarfs durch das 1959 ausgeru-fene „Chemieprogramm”, das „Wohlstand,Schönheit, Glück” verhieß und die volkswirt-schaftlich breite Nutzung von Kunststoffenbeschloß. Unter dem Motto „plaste ... dasWunder der Chemie“ präsentierten Werbe-

schauen eine Vielzahl von Haushaltgegen-ständen aus den Kunststoffen Polystyrol, Me-ladur und Plast, die alsbald im Volksmundunter der Oberbezeichnung „Plaste“ firmier-ten. „Welche Hausfrau hat die Vorzüge die-ses praktischen Materials noch nicht er-kannt? Es ist geruch- und geschmackfrei, hy-gienisch, leicht und bruchfest, formschönund farbenfreudig. Plaste ist für Ihren Haus-halt kein Ersatz, sondern ein unentbehrlichervollwertiger Rohstoff“.7 Und tatsächlich er-kannten die Menschen bald die Vorzügeder neuen Materialien.

Das Arrangement vieler Menschen mit demStaat gegen Ende der fünfziger Jahre als Zu-stimmung deutend – die Flüchtlingszahlensanken 1959 mit 143.917 auf den tiefstenStand seit 1949 –, glaubte die Partei-führung, nun die letzten Reste der „kapitali-stischen Basis“ in der DDR beseitigen zukönnen und so wie es der V. Parteitag ge-fordert hatte, die sozialistische Umgestal-tung abschließen zu können. Damit würdesich, so hoffte die SED, der marxistischenTheorie von Basis und Überbau gemäß, diesozialistische Idee endlich auch im „Über-bau“, also im Denken und Handeln der Be-völkerung, durchsetzen. Sie sah nun die Zeitgekommen, die sozialistische Umgestaltungvon Landwirtschaft und privatem Handwerkvollenden zu können. Der privaten Wirt-schaft, dem Handwerk und Handel wurdenrigoros die Existenzmöglichkeiten beschnit-ten, ohne daß der staatliche Handel unddie Industrie in der Lage gewesen wären,deren Platz einzunehmen. Zwischen Privat-händlern und Produzenten existierten langfri-stige Stammverbindungen, in die der staat-liche Handel aufgrund seiner bürokratischenStrukturen und der durch die Planvorgabenbeförderten Schwerfälligkeit kaum einzu-dringen vermochte. Eine neue Wirtschafts-

27krise bahnte sich an. Und so erklärte manparadoxerweise die noch bestehenden250.000 privaten Handwerks- und Indu-striebetriebe und Geschäfte zu den Verursa-chern der Krise und machte die Opfer zuSchuldigen.

Die „richtige Lenkungdes Warenstroms“

Politisch motivierte Eingriffe in die Wirt-schaftspläne, fehlende Rohstoffe, Halbfertig-produkte und Materialien führten immer wie-der zu Produktionsstillständen und verschärf-ten die Situation weiter. Aber nicht nur Pro-duktionsprobleme spielten eine Rolle. Auchdas Handels- und Verkaufsstellensystem wiesgrundlegende Mängel auf und bedurftedringend einer Neuorganisation. Einerseitsreichte die Zahl der Verkaufsstellen in Stadtund Land nicht für die Versorgung der Be-völkerung aus. Andererseits machten sichder staatliche, der konsumgenossenschaftli-che und der private Handel die Waren, dienicht für eine flächendeckend gleichmäßigeVerteilung reichten, gegenseitig streitig:„Natürlich gibt es noch einige Waren, diewir Ihnen nicht jeden Tag anbieten können,das sind die berüchtigten ,Mangelwaren’,deren Zahl wir aber schon ganz schön be-schränkt haben. Das vorhandene Angebotwird aber auf die Vielzahl der Verkaufsstel-len zersplittert und dadurch zerkleinert, weildiese Waren überall in den Mindestsorti-mentslisten stehen“, hieß es zum Beispiel ineiner 1959 veröffentlichten „Werbeschriftfür den sozialistischen Handel”.8

Die Beschwerden und Eingaben über diemangelnde Versorgung mit Butter, Fleisch,Gemüse, Obst, Kosmetikartikeln, Ersatztei-len, Metallwaren, Geschirr, Tapeten, Werk-zeugen, Kinderbekleidung, sowie sonstigenIndustriewaren wie Autos, Kühlschränken,Fernsehgeräten, Waschmaschinen, Fahrrä-dern rissen nicht ab. Engpässe in der Ver-sorgung gehörten zur Tagesordnung. DieSchwierigkeiten, die Waren nachfragege-recht zu verteilen, führten in einigen Gebie-ten zeitweilig zu Überangeboten an Wa-ren, die andernorts gänzlich fehlten. Ein1959 veröffentlichter Erlebnisbericht schil-derte die Einkaufsmisere anschaulich: „Ichhabe mich schon manchmal darüber ge-wundert, daß ich in so vielen Verkaufsstellenschon fast instinktiv mit der Frage beginne:,Haben Sie dies ..., haben Sie jenes?‘ ImGrunde genommen ist es doch eine Selbst-verständlichkeit, daß ich zum Beispiel in ei-ner Spezialverkaufsstelle der HO oder desKonsums Sommerschuhe in guter Auswahlangeboten bekomme. (...) Haben wir unsdenn schon so daran gewöhnt, daß wir be-stimmte Waren nicht immer in den bekann-ten Verkaufsstellen vorfinden, sondern nurzeitweise? Die HO und der Konsum habensich doch schon in vieler Hinsicht zum Bes-seren verändert. Aber wenn wir heute nochimmer beim Einkauf mit einer solch skepti-schen Frage beginnen, dann ist doch ir-gend etwas faul, dann kommen doch diezweifellos vorhandenen Waren nicht aufdem richtigen Weg an den Kunden.“9

Die verantwortlichen Mitarbeiter des Han-dels waren sich durchaus bewußt, daß dieBeseitigung der Mängel in Ökonomie undHandelssystem eine generelle Lösung erfor-derte, die längere Zeit in Anspruch nehmenwürde. Für die gravierendsten Versorgungs-probleme mußte jedoch eine kurzfristige

28Lösung gefunden werden. Man hatte schonfrühzeitig erkannt, daß die Neuordnung desHandels in der DDR auf staatlicher Grund-lage mit der „richtigen Lenkung des Waren-stroms“ und der Ermittlung des tatsächlichenBedarfs der Bevölkerung an Waren standund fiel. Da man aus Marktbeobachtungenden Eindruck gewonnen hatte, daß dieWaren im Prinzip in ausreichender Mengeproduziert werden könnten und nur besserverteilt werden müßten, erhofften sich dieVerantwortlichen einen Ausweg in der punkt-genauen Verteilung.

Und so begannen Ökonomen am Fachinsti-tut für den Binnenhandel „sozialistische Han-delsforschung” zu betreiben, um Licht in dasDunkel des Kaufverhaltens der „sozialisti-schen Konsumenten” zu bringen. Der Bedarfan Grundnahrungsmitteln konnte zumindestansatzweise über den Pro-Kopf-Verbrauchermittelt werden. Doch bereits bei Genuß-mitteln, Alkoholika, Rauchwaren, Tee undKaffee waren die Planer mit ihrem Latein amEnde. Wie sollte in einer Gesellschaft, inder seit Jahren der Mangel verwaltet undverteilt wurde, ein realer Bedarf ermitteltwerden? Noch schwieriger war es bei Tex-tilien, die zusätzlich von Moden beeinflußtwurden. Kaum zu planen war auch dieNachfrage nach langlebigen und hochwer-tigen Konsumgütern wie Kühlschränken,Fernsehern und Waschmaschinen, da kaumErkenntnisse über die Kaufkraft, Bedarfshier-archien und Wohnverhältnisse vorlagen.

Aus diesem Grunde wurde 1961 in Leipzigdas „Institut für Bedarfsforschung” – ab1966 ‘Institut für Marktforschung’ – ins Le-ben gerufen, das bis 1990 die Konsumbe-fürchtungen und -erwartungen der DDR-Bür-ger untersuchte. In den ersten Jahren lautetedie Aufgabe, mit Hilfe der Bedarfsforschung

den Handel darin zu unterstützen, „die Wa-renproduktion mit den Bedürfnissen in Übe-reinstimmung zu bringen.“10 So fordertendie am 10. März 1961 vom Politbüro derSED beschlossenen „Maßnahmen zur Stör-freimachung unserer Wirtschaft“, sich an-bahnende Versorgungsmängel rechtzeitigzu erkennen, auf sie hinzuweisen sowieRichtlinien und Konzeptionen für ihre Ver-meidung zu erstellen. Bereits kurze Zeit spä-ter wurde die Aufgabe geändert. Nun ginges darum, den Bedarf mit der Produktion inÜbereinstimmung zu bringen. Dies bedeu-tete nichts weniger, als den Käufer dazu zubewegen, die Waren nach Verfügbarkeitund nicht nach Notwendigkeit zu kaufen.

„Alles für das Land“

Die Sicherung der Grundversorgung der ge-samten Bevölkerung blieb oberstes Gebot.Denn schließlich war die SED mit dem An-spruch angetreten, die Interessen des ge-samten werktätigen Volkes, insbesondereder Arbeiter und Bauern, zu vertreten. Ne-ben den Arbeitern in Industriezentren solltevor allem die Bevölkerung auf dem Land inden Genuß von Erleichterungen kommen.Mit dem Programm „Alles für das Land“sollte hier eine ebenso gute Versorgung wiein den Schwerpunktversorgungseinrichtun-gen und den Städten geschaffen werden.Damit hoffte die Partei, das in der Propa-ganda stetig beschworene „politische Bünd-nis aller Werktätigen“ durch das „Handels-bündnis zwischen Stadt und Land“ sinnfälligzu unterstreichen. „Die Stadt hilft dem Land“wurde in den fünfziger Jahren zum propa-gandistischen Leitbild des vermeintlich soli-

29darischen Zusammenlebens aller Bevölke-rungsschichten. Dies tat not, da auf demLande ein Großteil der etwa drei Millionenaus dem Osten in die SBZ Geflüchteten undVertriebenen angesiedelt worden war. Seitdie DDR im Frühjahr 1950 den Vertrag überdie deutsche Ostgrenze an Oder undNeiße anerkannt hatte, fühlten sich viele Ver-triebene, die bis dahin noch auf eine Rück-kehr in ihre alte Heimat gehofft hatten, verra-ten. Außerdem widersetzten sich die Bauernden seit 1952 verstärkten Kollektivierungs-bemühungen. Hier hatte es zwar noch keinenAufstand gegeben, aber von der Abwande-rungsbewegung nach Westen kündete diesteigende Zahl an verlassenen Höfen.

„Der Bauer muß bequemer kaufen können“,forderte die „Neue Zeit“ vom 15. Novem-ber 1958 und beschrieb die schlechte Ein-kaufssituation für Landbewohner. „Die Ge-nossenschaftsbäuerin, der Landarbeiter –viele Menschen auf dem Lande müssenheute noch oft in die nächste Kreisstadt fah-ren, um diese oder jene Artikel einzukau-fen.“ Landbewohner müßten im Durchschnittallein 30 Minuten Wegezeit einplanen, umzum nächstgelegenen Geschäft zu kom-men. Hinzu kämen weitere 50 Minuten, dieweniger durch das Einkaufen selbst alsdurch das vergebliche Laufen von Geschäftzu Geschäft entstanden. Auf 10 bis 20 Mi-nuten sollte die effektive Einkaufszeit verkürztwerden. Durch eine verbesserte Versorgunghoffte man, auch hier die Gemüter beruhi-gen zu können und die Landbevölkerungmehrheitlich in das „Bündnis aller Werktäti-gen“ zu binden.

Um eine „komplexe Landversorgung“, diedem Angebot in den Städten gleichensollte, zu schaffen, sah der Plan vor, bis1965 überall auf dem Lande sogenannte

„Großraumlandverkaufstellen“ zu errichten.Diese als moderne Dienstleistungszentrenangelegten Großprojekte sollten der Land-bevölkerung neben einem umfangreichenWarenangebot auch Wäschereien, Reini-gungen, verschiedene Reparaturangebotesowie Serviceeinrichtungen wie Friseur undKosmetik bieten. So wünschenswert dieseEinrichtungen für die Versorgung der Land-bevölkerung auch waren, wenige Jahre spä-ter zeigte sich, daß sie politisch zwar ge-wollt und unterstützt, aber nicht in dem an-gestrebten Maße zu realisieren waren. Beiden auf höchster politischer Ebene erfolgtenPlanungen hatte man sich um solche Klei-nigkeiten wie Baukapazitäten, Maschinenoder Waren wenig Gedanken gemacht.Darum sollten sich die verantwortlichen Mit-arbeiter beim Ministerium für Handel undVersorgung kümmern. Diese aber stelltenfest, daß es sowohl an der für die Errichtungder Projekte notwendigen Baukapazität –das betraf sowohl die Materialien und Ma-schinen als auch die Arbeitskräfte – alsbeispielsweise auch an den notwendigenWaschgeräten für den Dienstleistungsbe-trieb und den Waren zur späteren Ausstat-tung der Projekte fehlte. Bei der Bereitstel-lung der Baukapazitäten behalf man sich,indem Arbeitskräfte, Maschinen und Mate-rial von anderen Baustellen der DDR abge-zogen wurden, wo sie zwangsläufig fehltenund den Bauabschluß verzögerten. Aberkurze Zeit später ereilte die Versorgungspro-jekte das gleiche Schicksal; die Bauarbeiterwurden beim Bau der 1958 beschlossenen„Rinderoffenställe“ dringender gebrauchtund erneut abgezogen. Die Fertigstellungerreichten nur drei Pilotprojekte in Mock-rehna, Siedenbollentin und Manschnow.

Schon die Ausstattung der wenigen Vorzei-geobjekte bereitete Schwierigkeiten. Für sie

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(Foto: Verband der Konsumgenossenschaft-VdK eG, Fotoarchiv)Abholung bestellter Lebensmittel auf dem Land.

sollten Maschinen aus der BRD, die den an-gestrebten „Weltstand“ darstellten, impor-tiert werden. Dies scheiterte am Devisen-mangel. Ein Importversuch aus der CSSRwar nicht von Erfolg gekrönt, weil dieWaschautomaten nicht im Plan vorgesehenwaren. Um beispielsweise Siedenbollentinauszustatten, wurden die Maschinen auseiner anderen Region in der DDR umgeleitetund fehlten nun wiederum dort.

Auch bei der Versorgung der Objekte mitWaren zeigten sich bereits in der Phase derKonzipierung Schwierigkeiten. Wegen derbekanntermaßen dünnen Warendecke warbeschlossen worden, die Sortimente in denbereits bestehenden Landgeschäften nur miteiner begrenzten Anzahl Artikel und in be-grenzter Auswahl auszustatten. Dazu hießes in einem Bericht zum Standort Siedenbol-lentin: „Auf Grund eigener als auch interna-

tionaler Erfahrungen ist bekannt, daß diesesEinzugsgebiet nicht ausreicht, um ständigein volles Konfektionssortiment anzubieten.(...) Wir benötigen etwa 300 Quadratme-ter Fläche (mindestens) zusätzlich oder aberkönnten nur ein unvollkommenes – weder inder Breite noch in der Tiefe – den Bedarfs-wünschen der Bevölkerung entsprechendesSortiment anbieten. Das aber wäre politischunter dem Gesichtspunkt der Beweisführungunserer Überlegenheit gegenüber demWestzonenstaat falsch.“11 Später, so hoffteman, würde man die fehlenden Sortimentein das Vollsortiment aufnehmen können. DieHoffnung, diese Großprojekte eines Tagesflächendeckend auf dem Land errichten zukönnen, blieb jedoch unerfüllt. Außer denwenigen Beispielobjekten gelangte keinweiterer Bau zur Fertigstellung.

„Moderne Menschenkaufen modern”

Zu den Ende der fünfziger geschmiedetenPlänen zur Verbesserung der Versorgunggehörten weitere moderne Einkaufs- undHandelsformen. „Moderne Menschen kau-fen modern“ – und sozialistisch – lautete derhierfür kreiierte Slogan. Die Kunden mußtendabei auf eine völlig neue Einkaufswelt vor-bereitet werden. Die zugehörigen Stich-worte hießen Selbstbedienung, Einführungneuer Sortimente, Standardisierung und Ra-tionalisierung. Dahinter verbarg sich in derRegel der Versuch, das Wenige besser zuverteilen. Bemühungen, deren Begleiter-scheinungen keineswegs immer verbrau-cherfreundlich waren. Hinter Rationalisierun-

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(Foto: Verband der Konsumgenossenschaft-VdK eG, Fotoarchiv)

gen auf der Produktionsseite verbargen sichzumeist Sortimentsbereinigungen, die zu ei-ner abnehmenden Vielfalt im Warenange-bot führten. Die zunehmende Gleichförmig-keit, die mit dem „bereinigten“ Warenange-bot einherging, wurde mit dem Hinweisschöngeredet, daß sich der Käufer dadurcheine bessere Übersicht verschaffen könne.

Die Suche nach Wegen, um den Forderun-gen nach einer modernen Ansprüchengenügenden Versorgung für ausgewählte

Zielgruppen nachzukommen und die ge-spannte Versorgungslage nicht noch weiterzu belasten und zugleich die Mängel im be-stehenden Handelssystem zu kompensieren,ging weiter. Die Wirtschaftsplaner der DDRhatten sich bereits 1954 des Versandhan-dels erinnert, der zu Beginn der zwanzigerJahre in Deutschland Fuß gefaßt hatte undder mit dem Krieg zum Erliegen gekommenwar. Mit ihm sollten nun vom Verkaufsstel-lennetz weitgehend unabhängig Waren ge-zielt verteilt werden, bis überall im Land die

32modernen Versorgungsprojekte realisiertsein würden. Er sollte die bestehenden Ver-kaufsstellen und den ambulanten Konsum-landhandel mit dort nicht vertretenen Sorti-menten ergänzen.12 Darüber hinaus erhoffteman sich, über diese Versandform die fürden Ausbau des Handelsnetzes so dringendbenötigten Informationen über Markt- undKonsumverhalten zu erhalten. Denn die Käu-fer würden im Unterschied zu ihrem sonsti-gen Einkaufsverhalten, wo sie oft in mehrenGeschäften nach einer Ware fragten,schließlich aber nur in einem Geschäft kauf-ten, beim Versandhandel die Warentatsächlich nur in der gewünschten Mengebestellen. Laut Ankündigung im GesetzblattNr. 72 des Jahres 1954, in dem der ent-sprechende Beschluß des Ministerrats veröf-fentlicht wurde, sollten die Konsumgenos-

senschaften, die mit ihren Verkaufsstellen –kurz „Konsum“ genannt – vorrangig für dieVersorgung der Landbevölkerung zuständigwaren, den Versandhandel einrichten: Dafürwaren im Zuge der Aktion „Bereinigung desVerkaufsstellennetzes“ zwischen der HOund dem Konsum Läden getauscht worden,um einheitliche Handelsgebiete zu schaffen.Das hieß, der Konsum gab Verkaufsstellen inKreis- und Großstädten auf, um dafür HO-Läden auf dem Land übernehmen. Zusätz-lich sollte er auf dem Land neue Läden ein-richten, die gemeinsam mit den Land-großprojekten den Versandhandel schließ-lich wieder überflüssig machen sollten.Zwischen 1945 und 1963 entstanden so inOrten, die bisher keine Einkaufsmöglichkei-ten hatten, 960 Geschäfte und 240 Land-warenhäuser.

(Foto: Stadtarchiv Erfurt)

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Kurze Zeit später änderten die Verantwort-lichen beim Ministerrat ihre Meinung. Nun-mehr sollte die staatliche HO den Versand-handel betreiben. Eine offizielle Erklärungfür diesen Wechsel gab es nicht.

Die staatlichen Läden wurden seit ihrerGründung bevorzugt mit Waren versorgt,um der Bevölkerung im täglichen Lebensichtbar das Bemühen der SED um dasWohl des Volkes vor Augen zu führen. Auchder mit großen politischen Hoffnungen ver-sehene und mit Waren bevorzugt versorgteVersandhandel sollte diese Botschaft vermit-teln. Der offiziellen Eröffnung des Versand-handels im Jahre 1956 ging eine zwei-jährige regionale Testphase in Kaufhäusernin den Bezirken Erfurt und Suhl, zwei vor al-lem ländlich strukturierte Bezirke, voraus. Zu-sätzlich machten „Sonderverkaufsveranstal-

(Foto: Verband der Konsumgenossenschaft-VdK eG, Fotoarchiv)

tungen“ in Dörfern ohne Einkaufsmöglich-keiten die Kunden auf die neue Einkaufsformaufmerksam. Dabei sollte ermittelt werden,in welchen Dimensionen der Versandhandelbedarfsdeckend aufgezogen werden undwelche Sortimente er bereitstellen müßte.Auch sollte festgestellt werden, wie die Kun-den die neue Einkaufsform annehmen wür-den. Das Mißtrauen gegenüber dem „blin-den“ Kauf sollte abgebaut werden. DieBevölkerung nutzte die Bestell- und Versand-angebote rege, und so stand der republik-weiten Einführung anläßlich des 1. Mai1956 nichts mehr im Wege. Ende der fünf-ziger Jahre stimmte auch der Versandhandelin der DDR in den politisch vorgegebenenOptimismus ein und titelte in seinem Kata-log: „Ich bin stolz darauf, der Katalog einessozialistischen Versandhauses zu sein. Aufmeinen Seiten wird jetzt schon überzeugendsichtbar: Die Arbeiter in der Industrie unddie Werktätigen in der Landwirtschaft schaf-fen es! Bis 1961 wird Westdeutschland imPro-Kopf-Verbrauch an Lebensmitteln undden wichtigsten Konsumgütern überholt.“13

Allerdings war man sich zu diesem Zeipunktschon durchaus bewußt, daß die Realitätanders aussah.

Die Handelskonferenz der SED mußte1959 feststellen: „Der gegenwärtige Standder Dienstleistungen entspricht nicht den Er-fordernissen unserer Werktätigen. Das be-zieht sich vor allem auf die Montage undReparatur von Rundfunk- und Fernseheinrich-tungen, auf das Waschen der Wäsche u.a.Solange das Ändern und Reinigen von Klei-dungsstücken, das Nähen und Anbringenvon Gardinen, Reparaturen von Strümpfennoch vier Wochen und länger dauert, sinddie Frauen gezwungen, selbst zur Nadel zugreifen, sich an das Waschbrett zu stellenund wertvolle Zeit zur Verrichtung dieser Ar-

35beiten aufzuwenden.“14 Resigniert kamman kurze Zeit später zu dem Schluß: „Vielebzw. die meisten Verkäufe kommen nur da-durch zustande, weil die Kundschaft resi-gniert; sie kauft, weil sie nicht daran glaubt,doch zu der Ware zu kommen, die sietatsächlich haben möchte.“15

Trotz der Versuche, die Bevölkerung zumsparsamen Kaufen zu erziehen und dieMangelwaren punktgenau zu verteilen,hatte sich die Versorgungslage nicht nach-haltig gebessert. Wegen der unzureichen-den wirtschaftlichen Basis, die durch wirt-schaftspolitische Fehlentscheidungen wiedie Vernichtung des privaten Handwerks,die krampfhafte Einholjagd mit der Bundes-republik, den Bau der „Rinder-offen-Ställe”oder die „Wurst-am-Stengel” Kampagnender fünfziger Jahre weiter verschärft wurden,konnte keine langfristig wirkende Versor-gungsstrategie etabliert werden. Neue Ver-sorgungsschwierigkeiten bei Butter undFleisch, den Prestigelebensmitteln, die dieÜberlegenheit über die Bundesrepublik be-weisen sollten, traten auf. Die Bevölkerungforderte, wieder „Kontrollabschnitte“ einzu-führen, um Hamsterkäufe zu unterbinden.1961 war die Situation schließlich wiederso angespannt, daß sich selbst Walter Ul-bricht zu mahnenden Worten veranlaßt sah

und seinen eifrigen Genossen befahl, dasTempo der Umgestaltung zu drosseln, denn:„Die paar privaten Geschäftsleute, die danoch sitzen, die gefährden den Sozialismusnicht, und die paar Fleischermeister, die ihrnoch habt, die gefährden den Sozialismusauch nicht. Und dann macht ihr einfacheine ganze Anzahl von Bäckerläden wiederauf, und sollen sie selber backen. Abersorgt dafür, daß die Bevölkerung Brotkriegt.”16

So einfach, wie sich Walter Ulbircht die Lö-sung der 1961 festgefahrenen innenpoliti-schen Lage vorstellte, war es jedoch nicht.Immer mehr Menschen entschlossen sichzum letzten Schritt und überquerten die noch durchlässigen Landesgrenzen genWesten, um hier ihr Glück zu suchen. Am13. August 1961 schließlich griff die DDR-Führung zum letzten ihr noch zur Verfügungstehenden Mittel. Sie riegelte die Grenze zu Westberlin ab und begann mit derErrichtung des „antifaschistischen Schutz-walls”. Dieser sollte laut Propaganda diedrohenden Angriffe der westdeutschen Impe-rialisten abhalten. Vor allem sollte er aber dieeigene Bevölkerung von einer Flucht in denWesten abhalten und in Ermangelung ande-rer Alternativen deren Loylität zur DDR er-zwingen.

Die „guten sechziger Jahre“ –Konsolidierung

im Schatten der Mauer

38Nach der Schließung der Grenze zu West-berlin im August 1961 setzte sich in derSED-Führung die Auffassung durch, daß dieZeit gekommen sei, die ausweglosen Bür-ger nun mit der ganzen Härte der staat-lichen Gewalt auf ihren Kurs bringen zu kön-nen. Nur wenige Monate später jedochordnete Walter Ulbricht einen „weichen“Kurs an. Er versprach den Menschen, nunwürde in der DDR ohne Störungen durchden imperialistischen Klassenfeind der So-zialismus in Ruhe und Frieden aufgebautwerden. Sie würden von jetzt an täglichspüren können, daß sie im besseren TeilDeutschlands lebten. Die Enteignung dernoch verbliebenen privaten Betriebe in Indu-strie und Bauwirtschaft wurde gestoppt, dadiese wesentlich zur Produktion von Kon-sumgütern und Dienstleistungen beitrugen.Die Wirtschaft der DDR sollte durch dasNeue Ökonomische System der Planungund Leitung auf einen modernen Stand ge-bracht werden. In Politik und Ideologie, inKultur und Kunst zogen liberale Zeiten ein.

Frauen indie Produktion

Um alle ökonomischen Reserven für den Auf-bau einer modernen Industrie zu mobilisie-ren, hatte die SED bereits in den fünfzigerJahren begonnen, die Arbeitskraft vonFrauen in ihre Überlegungen einzubezie-hen. Zu Beginn der sechziger Jahre startetedie SED eine neue Offensive. Im Dezember1961 veröffentlichte die SED ein Kommuni-qué mit dem Titel „Die Frauen – der Friedenund der Sozialismus”. Erst die „Mitarbeit am

Aufbau des Sozialismus“ würde ein sinnvol-les Leben der modernen Frau ermöglichenund darüber hinaus auch die bisher fehlen-den Waren in die Geschäfte bringen. „Bes-sere Qualitäten – größere Angebote imHandel durch die Mitarbeit der Frau in derProduktion“, verhieß ein Slogan.

Die Verwerfungen in der Bevölkerungsstruk-tur der DDR waren nicht nur kriegsbedingt.Zwar hatten zu Kriegsende immer mehrFrauen die Arbeitsplätze der an die Frontverschickten Männer eingenommen undhielten das Wirtschaftsleben auch nachdem Kriege weitgehend in Schwung. Aberals die Männer aus der Kriegsgefangen-schaft zurückkehrten, sollten sie die Postenwieder räumen.

In der DDR blieb das Arbeitskräfteproblemtrotz der Rückkehr der Männer aus Kriegund Gefangenschaft bestehen. Hier schlugdie millionenfache Abwanderung vieler jun-ger, arbeitsfähiger Menschen in die Bun-desrepublik negativ zu Buche. Der Mangelan Arbeitskräften sollte durch Hausfrauenausgeglichen werden. Um ihnen den Ein-stieg in die Berufstätigkeit zu erleichtern,hatte man bereits in den fünfziger Jahrenzahlreiche Programme aufgelegt. Einerseitssollte Hausarbeit durch die Nutzung vonDienstleistungseinrichtungen erleichtert wer-den, andererseits fanden vor allem Frauen,die für den Arbeitsprozeß gewonnen wur-den, hier ihr Betätigungsfeld. Sie übernah-men nun Arbeiten, die sie bis dahin alsHausarbeit für ihre Familien erledigt hatten,gegen Bezahlung für andere Haushalte.Auch die Werbung für Produkte aller Artsollte suggerieren, daß die Frauen ihreHausarbeit in kürzerer Zeit absolvieren, alsogut und gern berufstätig werden könnten.Textilien wurden nicht nur als geschmack-

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voll, sondern auch strapazierfähig und ga-rantiert knitter- und bügelfrei beschrieben. Inder Funktionsbeschreibung für Geräte wieWaschmaschinen, Nähmaschinen, Schnell-kochtöpfe, Kaffeemaschinen („16 Tassen innur 8 Minuten“) standen Zeit- und Arbeitser-sparnis im Mittelpunkt. Auch Schnellkochge-richte, Gefriergemüse, Fertiggerichte undDauerbackwaren würden mit den verschie-denen Möglichkeiten, die für den Einkaufaufgewendete Zeit zu verringern, zu einerspürbaren Entlastung führen. Diese Botschaf-ten richteten sich nicht nur an die Frauen.Den Männern sollte vor Augen geführt wer-den, daß die Berufstätigkeit der Frau (oderihrer Ehefrauen) für sie keine Einbuße anhäuslicher Bequemlichkeit bedeuten würde.Der Mann sollte die bügelfreien Hemden

tragen können, ihm sollte das im Schnell-kochtopf veredelte Essen oder mit der Multi-funktionsküchenmaschine zubereitete Mahlschmekken. Er mußte auch keine Beteiligungan der Hausarbeit fürchten, denn seine Frauhatte ja nun technische Helfer, die ihr dieHausarbeit erleichterten und diese quasizum Vergnügen machte. Für beide, Mannund Frau, sollte sich ein neues Lebens- undArbeitsgefühl herausbilden, das seinenDreh- und Angelpunkt im Zugewinn an freierZeit haben würde. Auch Jugendzeitschriftennahmen sich dieser Problematik an. Die Co-mic-Zeitschrift „Mosaik“ widmete bspw.dem Mitte der fünfziger Jahre in einergroßangelegten Werbeaktion vorgestelltenSchnellkochtopf ein ganzes Heft und erläu-terte die physikalischen Hintergründe seiner

(Foto: Verband der Konsumgenossenschaft-VdK eG, Fotoarchiv)

40Wirkungsweise. Hatte die Hausfrau erst die-sen Topf im Haus, war es bis zu ihrer Er-werbstätigkeit nicht mehr weit, lautete dieBotschaft. Denn laut offizieller Propagandasparte man bei der Zubereitung der Speisenso viel Zeit, daß diese sinnvoll für die Beruf-stätigkeit genutzt werden könne.

Dienstleistungen undModernisierung derHaushalte

Um Frauen tatsächlich dauerhaft für denProduktionsprozeß zu rekrutieren und ihnendie versprochenen Erleichterungen zu ge-

währen, mußte zumindest ein Teil der Haus-arbeit in den öffentlichen Sektor verlagertwerden. Der Ausbau der Versorgung der Be-völkerung mit Dienstleistungen in den fünfzi-ger Jahren entsprach dem Idealbild einermodernen Industriegesellschaft, das sich dieDDR gesetzt hatte. Aber auch hier galt wie-der wie schon auf anderen Gebieten, daßdie Pläne zwar gut ausgedacht, aber inner-halb der bestehenden ökonomischen Mög-lichkeiten kaum umzusetzen waren. Der Ein-kauf per morgendlicher Bestellung undabendlicher Lieferung überforderte die Lä-den. Auch das schwankende Angebot er-schwerte die Bestellkäufe. Die versprocheneÜbernahme aller mit Textilreinigung undWäsche verbundenen Arbeiten in den öf-fentlichen Sektor scheiterte an den fehlen-den Maschinen und Bauten. Lediglich Ber-lin, die Bezirksstädte und ausgewählte Land-und Industriezentren konnten ihren Bürgern

(Foto: Verband der Konsumgenossenschaft-VdK eG, Fotoarchiv)Vorführung von Haushaltsgeräten.

41solche Erleichterungen tatsächlich bieten.Die hier erbrachten Leistungen waren je-doch so hoch subventioniert, daß sie jederHaushalt in Anspruch nehmen konnte unddas auch tat. Die Folge hiervon wiederumwar, daß die Einrichtungen permanent über-lastet waren. Außerhalb Berlins – das durchseine Hauptstadt- und Schaufensterfunktionauf allen Gebieten bevorzugt versorgtwurde und über überdurchschnittlich vieleDienstleistungseinrichtungen verfügte –mußte man oft mehrere Wochen auf die ger-einigte und gebügelte Wäsche warten.Hinzu kam, daß die Maschinen durch lan-gen Gebrauch die Wäsche übermäßigstark verschlissen. Auch die Versuche, Näh-und Stopfarbeiten aus der privaten Hausar-beit auszulagern und so für Erleichterungenzu sorgen, hatten nicht die gewünschten Er-folge. Frauen arbeiteten zwar zu einem ho-hen Prozentsatz in der Produktion mit, die ih-nen versprochenen Erleichterungen im Haus-halt schlugen jedoch nicht nachhaltig zuBuche. Für sie bedeutete die Berufstätigkeiteine erhebliche Mehrbelastung, da dieHausarbeit nun zusätzlich in den Abend-stunden erledigt werden mußte.

„Muttis kleine Helfer“

Hier hatte auch die in den fünfziger Jahrenbegonnene Kampagne für die Mechanisie-rung und Modernisierung der Haushaltedurch technische Hausgeräte nicht die ge-wünschten Erleichterungen gebracht. Die imHandel angebotenen Haushaltgeräte unter-teilten sich im Prinzip in zwei Gruppen. Esgab ein als „lebenswichtig“ erachtetesGrundsortiment, zu dem Herde, Warmwas-

serbereiter und Hausrat aller Art gehörte.Für viele Haushalte bedeutete Anfang dersechziger Jahre der Erwerb eines Warm-wasserbereiters oder eines Herdes eineweit größere Verbesserung als der Kauf ei-nes Kühlschranks. Auch standen wenigerdie elektrisch betriebenen Hausgeräte imMittelpunkt der Angebote. Eine Vielzahl anKleingeräten, die per Muskelkraft mecha-nisch zu bedienen waren, bestimmten dasAngebot. Gleichwohl stellten diese eine Er-leichterung der Arbeit etwa beim Fleisch-hacken, Kaffeebohnen zerkleinern oder Fuß-bodenfegen dar. Hervorstechendes Bedien-element aller Geräte war eine Kurbel.Während in der Bundesrepublik bereits1957 ein Waschvollautomat erworbenwerden konnte, warb der DDR-Handel

Werbung für „Her-old“ Waschmaschine 1957

421957 in seinem damaligen Prestigeprojekt„Versandhandel” noch mit einer Waschma-schine namens „Her-Old“. In diesemWaschtopf mußte die Wäsche mittels einerper Hand zu drehenden Stange gerührt undso in Wallung versetzt werden. Die hierfürkreiierte Werbung „Hausfrauen! Fort mitdem Waschbrett, fort mit der Schinderei!“wirkte geradezu hilflos. Aber selbst „Her-Old“ war nicht ständig im Angebot. Die Bi-lanz war: „Trotz der erzielten Fortschrittekann das ermittelte Niveau in seiner Ge-samtheit noch nicht voll befriedigen. Es ent-spricht nur ungenügend den Anforderungenzur Verringerung und Erleichterung derHausarbeit. Es fördert ungenügend eine sin-volle und erholsame Freizeitgestaltung.“17

Immerhin half auch dieser Waschtopf alsWasch„maschine” den ostdeutschen Einhol-versuchen. Zumindest in der Statistik sorgteer dafür, daß die Ausstattung mit Waschma-schinen in Ost und West nicht allzuweit aus-einanderklaffte.

Getreu ihrem Auftrag, für die Mechanisie-rung der Haushalte, die Erleichterung derHausarbeit und die Freisetzung von Hausar-beitszeit für Produktionszeit unter den Haus-frauen zu werben, hatte die Werbung dieKunden Ende der fünfziger Jahre auf dieneuen Geräte vorbereitet und deren Kaufin-teresse geweckt. Durch die allgemeine He-bung des Lebensniveaus und durch denhöheren Ausstattungsgrad der Haushalteerschienen nun mehr und mehr vormalige„Luxusgüter“ erschwinglich.

Aber der Handel mußte passen: Die moder-nen Haushalthelfer waren nur sporadisch zukaufen. „Die örtlichen Besonderheiten wur-den oft ungenügend beachtet. So warenbei den zentralen Werbemaßnahmen fürKüchenmaschinen und Hähnchen in einigen

Bezirken überhaupt keine Bestände vorhan-den, und die Nachfrage der Bevölkerungkonnte bereits ohne Werbemaßnahmennicht befriedigt werden“18, mußte anläßlichder zentralen Werbeaktion „Technik imHaushalt“ 1961 eingeräumt werden. DieWerbung erhielt nun den Auftrag, techni-sche Geräte, solange sie Mangelware blie-ben, nicht mehr publik zu machen. Sie solltevielmehr für solche Waren werben, die auf„Halde“ produziert waren und zu Ladenhü-tern zu werden drohten. „Die Werbemaß-nahmen wurden unzureichend mit den Plan-zielen abgestimmt. Sie beruhten in der Re-gel nicht auf einer ausreichenden Analyseder konkreten politischen und ökonomischenBedingungen. So wurden zum Beispiel ei-nerseits Bedürfnisse geweckt, für deren Be-friedigung gegenwärtig die volkswirtschaft-lichen Möglichkeiten noch nicht vorhandensind. Andererseits wurde der Bedarf oft un-genügend auf reichlich vorhandene Warengelenkt“, befand etwa eine Analyse derWerbetätigkeit aus dem Jahre 1962 undregte an, die Überlegenheit des sozialisti-schen Gesellschaftsystems nunmehr „an-hand des konkreten Warenangebots“ nach-zuweisen.19

Immerhin hatten Mitte der sechziger Jahredie kurbellosen, nun tatsächlich elektrischbetriebenen, kleinen Haushalthelfer die An-gebotspalette erobert. Ob Küchenmaschi-nen „Unisette“ oder „Komet“, ob Kaf-feemühle, Fleischwolf oder Entsafter – nunfunktionierte alles elektrisch. Das Angebothatte sich beträchtlich erweitert. Staubsau-ger und Bügelmaschinen gehörten zu denfest in den Haushalten etablierten elektri-schen Haushaltgeräten, bei denen ein star-ker Zuwachs zu verzeichnen war. 1966 ver-fügten bereits 80 Prozent der Haushalteüber einen Staubsauger und ein Bügeleisen.

43Bei diesen Haushaltgeräten war in kurzerZeit ein guter Versorgungsgrad erreicht,während bei den „Luxus“- und Prestigewa-ren davon vorerst noch keine Rede seinkonnte. Trotz aller Schwankungen stabili-sierte sich das Angebot bis Ende der sech-ziger Jahre bei technischen Hausgeräten.31 Prozent aller Haushalte nannten 1969eine Schleuder und 57 Prozent eine Wasch-maschine ihr eigen. Auch bei Kühlschrän-ken, die jahrelang zu den Bestsellern aufden Mangelwarenlisten gehört hatten, warein ähnlicher Ausstattungsgrad erreicht wor-den. Hatten 1964 nur 16 Prozent der Haus-halte über ein solches Gerät verfügt, warenes 1966 bereits 30 Prozent. Dieser wurdejedoch in über 60 Prozent noch mit Eis-blöcken und nicht elektrisch gekühlt.20 DenKunden, die in den vergangenen Jahren ver-geblich versucht hatten, einen Kühlschrankzu kaufen, mußte die nun für Kühlschränkeverstärkt einsetzende Werbung wie Hohnvorkommen. Obwohl Kühlschränke zu denArtikeln gezählt hatten, bei denen dieNachfrage das Angebot überstieg, wandtesich die Werbung wie folgt an die Kunden:„Haben Sie schon einmal überlegt, wievielZeit Sie sparen könnten, wenn Sie nur ein-mal wöchentlich einkaufen brauchten undwenn Ihnen auch bei 30 °C keine Lebens-mittel verderben würden? Machen Sie dieProbe aufs Exempel, überrechnen Sie nureinmal die Zeit, die Sie einsparen, dennZeit ist nicht nur Geld – gewonnene Zeit istGelegenheit für Hobby, Bildung, Erholungund vieles mehr.“ Bis 1969 erhöhte sich derAnteil der Kühlschrankbesitzer auf über60 Prozent. Allerdings mußten durchschnitt-lich zwei Monatsgehälter (also 1350,–Mark) für das Modell Kristall 140 bezahltwerden.

Die Ernährung – Ein Politikum erstenRangesTrotz aller Rückschläge und Einschränkun-gen ihrer in den fünfziger Jahren vollmundigverkündeten Pläne konnte die SED zu Be-ginn der sechziger Jahre auf wenigstens ei-nem Gebiet durchweg Erfolge vermelden.Die Ernährungssituation hatte sich stabili-siert, Grundnahrungsmittel konnten in ausrei-chender Menge gekauft werden. Und eswar tatsächlich gelungen, den Pro-Kopf-Ver-brauch der Bundesrepublik an Butter undFett zu übertreffen. Daß dies zu Lasten derVersorgung mit Käse und anderen Milcher-zeugnissen geschehen war, trübte die Er-folgsstatistik nicht.

Allerdings sah man sich nun völlig überra-schend mit anderen Problemen konfrontiert.So verständlich die Sehnsucht der Men-schen nach gutem Essen nach den langenJahren des Hungers und der Rationierungauch war, die nun auftretenden gesundheit-lichen Probleme hatte niemand bedacht.Die DDR lag beim Verbrauch von Nah-rungsmitteln vorn. Die Bevölkerung hattesich bereits 1960 erfolgreich an die Welt-spitze gegessen. Sie nahm pro Tag durch-schnittlich 33 Prozent mehr Kalorien – daswaren etwa 1.000 Kilokalorien – zu sich,als energetisch notwendig war. Mahnenderklärten die Ernährungsforscher, die DDRhabe nicht mit den Problemen der Unter-,sondern der Überernährung zu kämpfen; je-der vierte Erwachsene in der DDR sei über-gewichtig. Die Bevölkerung nahm die über-schüssigen Nährstoffe vor allem in Form vonverdeckten Fetten in hochwertigen und fett-

44reichen Nahrungsmitteln wie Fleisch, Zucker-erzeugnissen, Kuchen, Alkohol und Süßwa-ren zu sich. Hier trotzte sie erfolgreich allenVersuchen, eine gesunde Lebens- undErnährungsweise anzunehmen.

Seit Beginn der sechziger Jahren sollten dieFolgen der „deutsch-deutschen Freßwelle“der fünfziger Jahre bekämpft werden. Hatteman zunächst voller Stolz vor allem die fürGrundnahrungsmittel wie Fleisch und Butterverauslagten Geldmittel des Haushaltsbud-gets und die hiervon konsumierten Mengengezählt, verschob sich mit dem Bekanntwer-den der gesundheitsschädlichen Folgen die-ser fettreichen und einseitigen Ernährung dieZielrichtung. Nun sollte die Bevölkerungüber die gesundheitsschädigenden Folgen

aufgeklärt und wieder davon abgebrachtwerden. Vorgefertigte Nahrungsmittel wieTütensuppen, Dosengerichte und Feinfrost-kost, die eine solche volkserzieherischeErnährungslinie darstellten, sollten forcierthergestellt und beworben werden. Der wirt-schaftliche Hintergrund dieser Bestrebun-gen war die Erkenntnis, daß einerseits Land-wirtschaft und Nahrungsgüterindustrie in der DDR nicht in der Lage waren, das ver-sprochene Versorgungsniveau tatsächlichauch zu liefern, und andererseits die durchdie fettreiche Nahrung verursachten Pro-bleme mit Übergewicht und Fettsucht – dieals Merkmal aller hochindustrialisiertenStaaten galten – durch krankheitsbedingtenAusfall zu volkswirtschaftlichen Verlustenführten.

(Foto: Verband der Konsumgenossenschaft-VdK eG, Fotoarchiv)

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(Foto: Verband der Konsumgenossenschaft-VdK eG, Fotoarchiv)

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Die „Schul- und Betriebsspeisung“ war alsein soziales Angebot der DDR an ihre Bür-ger in den fünfziger Jahren eingeführt wor-den. Sie sollte den Arbeitsalltag erleichternund Frauen von ihrer häuslichen Küchen-tätigkeit freistellen und für die Produktion ver-fügbar machen. In den sechziger Jahren be-sann man sich darauf, die Verköstigung inBetriebskantinen und Schulspeisung zu nut-zen, um gezielt auf die Ernährung großerBevölkerungsteile Einfluß zu nehmen, indemhier nach gesunden Rezepten des Ernäh-rungsphysiologischen Instituts Potsdam-Reh-brücke zubereitetes Essen ausgeteilt wurde.Da das Angebot der kollektiven Verkösti-gung von großen Teilen der Bevölkerung ak-zeptiert wurde – etwa 70 Prozent der Kin-der in Vorschul- und Schuleinrichtungen so-

wie etwa 40 Prozent der berufstätigen Er-wachsenen nahmen an dieser Form der Ver-sorgung teil –, hätte theoretisch an einemGroßteil der Wochentage die gesundeErnährung der Bevölkerung gesichert seinkönnen.

Jedoch zeigte sich auch hier wieder, daßnicht die Pläne, sondern die unberechen-baren Wirtschaftsstrukturen in der DDR das Sagen hatten. Ernährungsphysiologischwertvolle Nahrungsmittel wie Obst, Ge-müse oder Fisch fehlten in den Geschäf-ten ebenso wie in den Großküchen. Ange-sichts der fehlenden Sortimente und Ver-sorgungskontinuitäten konnte keine dauer-hafte Änderung im Eßverhalten erreicht wer-den.

(Foto: Verband der Konsumgenossenschaft-VdK eG, Fotoarchiv)

47Versuche, verstärkt Eier in die tägliche Nah-rung aufzunehmen, zeitigten hingegen Er-folge. Anfang der sechziger Jahre hatte dieDDR eine beispiellose Kampagne zur Popu-larisierung von Hühnereiern und „Broilern“begonnen, da der Legehennenbestanddurch Fehlplanungen zu stark angewachsenwar. Nun sollte über gezielte Kaufkampa-gnen diese Überproduktion abgebaut wer-den. „Nimm ein Ei mehr“ oder „Den Tag miteinem Ei beginnen“ prangte in jeder Kauf-halle von großen Werbeplakaten. Aller-dings schoß man wieder über das Ziel hin-aus. Der Eierverbrauch der Bevölkerung ver-dreifachte sich zwischen 1955 und 1985,denn die Bevölkerung nahm die Aufforde-rung „Den Tag mit einem Ei beginnen“ ernst.Die Folgen waren auch hier wieder gesund-heitsschädlich. Die Aufnahme von Eiweißund schädlichem Cholesterin lag um etwazehn Prozent über dem ernährungsphysiolo-gisch empfohlenen Wert.

Um die gesunde Ernährung zu propagieren,wurden alle Werbemöglichkeiten genutzt.Der „Fischkoch“ brachte den Verbrauchernvia Fernsehen wirksam die Zubereitung vonFischgerichten nahe und trug zur wachsen-den Beliebtheit vom bis dahin stiefmütterlichbehandelten Fisch bei. Auch die Werbungfür Haushaltgeräte wurde genutzt, um dieKunden auf eine gesunde Ernährung einzu-schwören. So wurden Kochtöpfe und Pfan-nen vorgestellt, die, mit einer Spezialbe-schichtung versehen, Bratfett überflüssigmachten, Gartöpfe kombiniert mit Gemüse-rezepten sollten die Akezptanz von Suppenerhöhen helfen und den Prestigewert als„Arme-Leute-Essen“ verschrieener Eintöpfeverbessern. Die Versorgung mit gesundenBrotsorten sollte ebenso Abhilfe schaffen.Die Werbung wandte sich aber nicht nur alt-bekannten Produkten zu, sondern sorgte vor

allem dafür, daß die Bürger sich mit Anfangder siebziger Jahre neuentwickelten Produk-ten mit dem Aufdruck „optimierte Nahrung“,„ON“, anfreundeten und ihre Vorbehalteabbauten. Im Zuge der Einführung von so-genannten „Ersatzstoffen“ auf chemischerGrundlage, die die nicht oder nur unzurei-chend vorhandenen natürlichen Rohstoffe er-setzen sollten, war man Anfang der sechzi-ger Jahre nicht nur auf dem Textilsektor dazuübergegangen, neue Produkte zu ent-wickeln. So kamen jetzt zahlreiche aufpflanzlicher Basis entwickelte Margarinenmit geringem Fettgehalt auf den Markt undwurden ebenso angepriesen wie fettarmeKäsesorten oder dietätische Lebensmittel.

Die Versorgung mit Obst und Gemüse, diebei einer gesunden Ernährung eine wichtigeRolle spielen und den Werktätigen zu „Ge-sundheit und Schaffenskraft“ verhelfen sollte,erwies sich als anhaltend schwierig. Nichtnur, daß es saisonbedingte Schwankungenin der Versorgung gab, auch die vom Han-del bereitgestellten Mengen und das Sorti-ment reichten nicht aus. Man bemühte sichzwar, durch die Mobilisierung aller einhei-mischen Obst- und Gemüsereserven – etwader Kleingartenbesitzer – sowie durch dieWirtschaftsbeziehungen zu anderen Län-dern des Rats für gegenseitige Wirtschafts-hilfe (RGW) eine erhöhte Einfuhr von neuenObst- und Gemüsesorten zu verstärken unddiese unter der Rubrik „Bei Freunden zuGast“ populär zu machen. Aber auch dieswar nur in den ohnehin an Obst undGemüse reichen wärmeren Jahreszeitenmöglich. Die Abgabe von Obst undGemüse durch private Kleingärtner schufzwar Abhilfe, verschärfte aber auch wiederandere Probleme. Anfang der sechzigerJahre gehörte das Einkochen noch zu denTätigkeiten im Haushalt, die die SED im

48Laufe der Zeit und zur Erleichterung derHausarbeit abschaffen wollte. Vorgefertigteund haltbare Lebensmittel, zu denen Obst-und Gemüsekonserven gehörten, sollten ver-stärkt in den Handel gebracht werden. DasEinkochen sollte so binnen kurzem nur nochals Hobby von besonders engagiertenKleingärtnern betrieben werden. Da sich je-doch das Angebot nicht dauerhaft stabili-sierte, gewann das Einkochen im Gegen-satz zu den Prognosen eine immer größereBedeutung. In den Sommermonaten ver-schlechterte sich dadurch die Versorgungmit Zucker und Geliermasse.

Bereits Anfang der sechziger Jahre war manauch auf die Bedeutung von Südfrüchten fürdie gesunde und volkswirtschaftlich empfeh-lenswerte Ernährung gestoßen: „Nebendem großen politischen Effekt einer bedarfs-gerechten Versorgung mit Südfrüchten be-steht sein wesentlichster versorgungspoliti-scher Erfolg darin, daß dadurch die dispo-nible Kaufkraft geringer wird, eine Ent-lastung der Nachfrage in vielen Ver-brauchskomplexen eintritt und im Ergebnisdessen eine größere Kontinuität der Zirkula-tionsprozesse und eine generelle Stabilisie-rung der Versorgungslage erreicht wird.“21

Der ständig steigende Nahrungsmittelver-brauch zog sich jedoch wie eine rote Liniedurch die Geschichte der DDR. Die Bevöl-kerung verteidigte hier ihre Weltspitzenposi-tion und baute sie bis in die siebziger Jahrenoch aus. Trotz der auf anderen Gebietenerreichten Umstellungen in den Lebensge-wohnheiten änderte sich an den Ernäh-rungsgewohnheiten wenig. Dies hatte meh-rere Gründe. Die Generation, die denNachkriegshunger noch in lebhafter Erinne-rung hatte, setzte sich andere Ernährungs-ziele. Für sie galten reichhaltige, fett- und

fleischreiche Speisen als Zeichen von Wohl-stand. Auch der Verzehr von Teigwarenorientierte sich an den Erfahrungen derMangelzeit. Vor allem mit weißen Mehlsor-ten gebackene Brote, Kuchen und Torten so-wie Fleisch und Wurst spielten in den Er-nährungsgewohnheiten eine Rolle. Mit derEinführung der fünf-Tage-Arbeitswoche unddem erhöhten Wert von Freizeit kamen wei-tere „Dickmacher“ hinzu. Die Bevölkerungmachte es sich nun in ihren freien Stundenmit allerlei Näschereien und Gebäck vordem Fernseher oder im trauten Heim ge-mütlich – und nahm dabei unaufhörlich weiterzu.

Auf technische Konsumgüter mußte oft langeJahre gewartet und das Geld über einenlangen Zeitraum angespart werden. Diesevoraussehbar langen Wartezeiten vergrö-ßerten den monatlich frei verfügbaren Be-trag, der wiederum vor allem für Lebensmit-tel verausgabt wurde, denn wenn manschon nicht kaufen konnte, was man wollte,wollte man wenigstens gut essen. Fleisch-und Wurstwaren gehörten zu den Prestige-lebensmitteln. Mit steigendem Einkommenstieg auch der Fleischverbrauch an. Eine Fa-milie in der DDR nahm an fünf Tagen in derWoche eine Fleischmahlzeit zu sich. Dadas Angebot an Käse und Quarkspeisen oftungenügend und unkontinuierlich war undalternative Nahrungsmittel fehlten, wurdebesonders abends auf das hochkalorige„Wurstbrot“ nicht verzichtet. Der Verbrauchvon Fleisch verdoppelte sich zwischen 1955und 1989 von 45 kg auf 100,2 kg pro Per-son und Jahr. Der Verbrauch von Fisch hin-gegen stieg im gleichen Zeitraum nur leichtvon 6,7 kg auf 7,6 kg an.22

Die Politiker waren sich der Vielschichtigkeitder Problematik sehr wohl bewußt: „Die Un-

49kontinuität im Angebot von Nahrungsmittelnhemmt die sozialistische Bewußtseinsbil-dung und untergräbt das Vertrauen der Be-völkerung in ihren Staat. Da Nahrungsmitteltäglich konsumiert werden, und sie über einDrittel der Ausgaben für Waren ausmachen,sind sie bei breiten Kreisen der Werktätigenzum ersten Kriterium für die Bewertung desLebenstandards geworden. Die Gewährlei-stung eines niveauvollen, kontinuierlichenAngebots ist somit nicht ausschließlich eineVersorgungsfrage sondern ein Politikum er-sten Ranges. Die Unkontinuität des Ange-bots von Nahrungsmitteln erhöht den Zeit-aufwand für den Einkauf und reduziert die

Möglichkeiten zur Verringerung desselben.Sie widerspricht damit den Bemühungen,den Freizeitfonds der werktätigen Frauen zuerhöhen und sie von nichterforderlichenTätigkeiten zu befreien. [...] Die Unkonti-nuität des Angebots an Nahrungsmitteln un-terstützt die einseitige, ernährungswissen-schaftlich falsche Ernährung stimuliert gleich-zeitig die Erhöhung des Gebrauchs von Ge-nußmitteln. Damit steht sie im Widerspruchzu den Anstrengungen um Durchsetzung ei-ner richtigen und gesunden Ernährung.“23

Doch eine Lösung wurde unter den Bedin-gungen der sozialistischen Planwirtschaftnicht gefunden.

Tabelle: Verbrauch an ausgewählten Nahrungsmitteln in der DDR zwischen 1955 und 1989

Nahrungsmittel 1955 1960 1970 1980 1989

Fleischerzeugnisse (kg) 45,0 55,0 66,1 89,5 100,2

Fischerzeugnisse (kg) 6,7 7,0 7,9 7,4 7,6

Butter (kg) 9,5 13,5 14,6 15,2 14,6

Margarine (kg) 10,3 10,4 11,0 10,7 10,2

Trinkmilch (l) 90,7 94,5 98,5 98,7 113,9

Mehl/Nährmittel (kg) 121,6 101,6 97,3 94,5 97,1

Käse (kg) 3,0 3,6 4,6 7,5 10,2

Zuckererzeugnisse (kg) 27,4 29,3 34,3 40,6 40,5

Gemüse (kg) 37,0 60,7 84,8 93,8 100,6

Obst (kg) 21,8 57,0 55,5 71,1 78,6

Eier (Stk.) 116 197 239 289 301

50„Frau Mode“ und„Herr Geschmack“ –Die Bekleidung des sozialistischenMenschen

Mit dem gefüllten Bauch hatten die Men-schen begonnen, auch wieder andere Be-dürfnisse in den Blick zunehmen. Hierzugehörte zuerst die Kleidung. Während diePartei- und Staatsführung in den fünfzigerJahren auf vielen Gebieten zu einer Einhol-jagd mit der Bundesrepublik gerufen hatte,verfolgte sie im Bereich von Mode und Be-kleidung andere Ziele. Die Versuche, dasBekleidungsverhalten der Bürger zu beein-flussen, orientierten sich nicht daran, dieBundesrepublik in der Pro-Kopf-Ausstattungan Kleidern, Schuhen und Mänteln zu über-holen. Hier sollte genau der gegenteilige Ef-fekt erreicht werden. Mäßigung war ange-sagt.

Etwa die Hälfte der im Handel angebote-nen Sortimente umfaßte Bekleidungsartikelfür die Dame, den Herren und Kinder. Hierbot sich ein ideales Betätigungsgebiet, umdie Erziehung der DDR-Bürger zu verantwor-tungsbewußten sozialistischen Verbrauchernvoranzubringen und den Abkauf einzu-schränken. Wie eine 1963 verfaßte Disser-tation feststellte, waren die „kapitalistischenKonsumgewohnheiten“ von der Werbunggefördert worden: „Gegenwärtig bestehenbei der Beeinflussung des Bedarfs nochMängel. Der Inhalt der bedarfsbeeinflussen-den Maßnahmen entspricht nicht immer denZielen der sozialistischen Konsumtion. Das

Warenangebot, die Preis- und Einkommens-politik sowie die Werbung auf dem Binnen-markt waren nur ungenügend auf die Ent-wicklung sozialistischer Lebens- und Ver-brauchsgewohnheiten gerichtet ...“24 EineWende in der Werbearbeit wurde gefor-dert. Um diese Forderung durch materiellenDruck zu unterstützen, wurden Anfang dersechziger Jahre beispielsweise die Werbe-budgets um die Hälfte reduziert. Werbungim Stile von „Finden Sie nicht auch, daßzum Frühling unbedingt ein neues Kleidgehört?“ oder „Welche Frau freut sich nichtauf die schöne, warme Sommerszeit? Undschon wird die Frage gestellt: „Was werdeich mir diesmal kaufen?“ Wie gerufenkommt nun der neue Katalog, der jede Fraugut beraten möchte. Weder extravagantnoch anspruchslos sind die Modelle auf die-sen Seiten. Sie haben das gewisse Etwas,das die Kleider aus dem Alltäglichen her-aushebt, das sie flott und begehrenswertmacht. In seiner Vielfalt ist das ein Sortiment,das dem modischen Geschmack und derpersönlichen Note unserer heutigen Frauentspricht, die tatkräftig und selbstbewußtihren Platz in unserer sozialistischen Gesell-schaft einnimmt“, sollte durch Werbung er-setzt werden, die den Käufer darauf orien-tierte, modeunabhängige Bekleidung inzeitlosem Chic zu erstehen und ihn vor al-lem auf die Haltbarkeit des Materials undlange Lebensdauer der Stücke verwies.Werbung, die zum Konsumieren auffordertewie „Das Loch im Kleiderschrank (man kannnotfalls ein bißchen nachhelfen) ...“ warnicht mehr erwünscht.

Anfang der sechziger Jahre beschloß derMinisterrat, die Mode an volkswirtschaftli-che Möglichkeiten anzupassen. Die bis da-hin üblichen Sommer- und Winter-Schlußver-käufe wurden abgeschafft.25 Der VI. Partei-

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tag forderte ganz in diesem Sinne 1963eine Wende in der Werbearbeit. Der inter-nationale Entwicklungsstand, das Weltni-veau, sollte die Grundlage für eine eigenesozialistische DDR-Modelinie sein. Entspre-chend den Erfordernissen des „modernen In-dustriestaats DDR“ mit seiner modernen Le-bensweise sollten die Käufer vor allem imBereich der Mode ihren bisherigen Kauf-und Tragegewohnheiten abschwören undsich der zu entwickelnden zeitlosen und mo-deunabhängigen Modelinie zuwenden. Im-mer wieder gelangten Berichte an die ver-antwortlichen Stellen beim Ministerium fürHandel und Versorgung, aus denen hervor-ging, daß sich die Kunden eines anarchisti-schen und eher dem Kapitalismus zuge-

schriebenen Kaufverhaltens bedienten.„Hamsterei“ und spontane Käufe je nachAngebot und nicht nach Bedarf wurden kri-tisiert. Dem „westlichen Konsumterror“ undhektischen Modewechsel, dem Sich-Kleidennach dem „letzten Schrei“ sollte ein soziali-stisches Modebewußtsein entgegengesetztund der Bedarf durch planvolles Zukaufen,Komplettieren und Kombinieren an modi-schen Artikeln beeinflußt werden.

Modische Veränderungen sollten sich, wiein den Modelinien der DDR beabsichtigt,kontinuierlich und nicht in schnellen, abrup-ten Wechseln vollziehen. Darauf sollte auchbeim Import von Textilien geachtet werden,um nicht „durch unbedachte Einfuhren dassozialistische Erziehungsanliegen zu unter-wandern“26. „Die politische Bedeutung desModeschaffens liegt in der Aufgabe be-gründet, die Vorzüge unserer sozialistischenGesellschaft im Wettstreit mit dem Kapitalis-mus klar hervortreten zu lassen“, lautete dieAufgabe.27

Um dieses Ziel zu erreichen, waren in denfünfziger Jahren ein neuer Modeltyp – der„sozialistische Mensch, den es zu bekleidengilt“ – und sozialistische Modeleitbilder ge-schaffen worden. Der Bereich Modefor-schung der Versandhäuser erhielt die Auf-gabe, in Zusammenarbeit mit dem Modein-stitut Berlin eine entsprechende neue Mode-linie zu entwickeln, deren Vorbild die„stärker gebaute“ Frau, die in der Produk-tion in Stadt und Land kräftig zupackenkonnte, war. Die Bauernzeitung vom 1. Mai1956 befand, daß es – in Abgrenzung zum„westlichen“ Typ des schlanken Models –eher der „Typ der etwas vollschlanken Frau“sei, den „unsere Bäuerinnen“ sehen wollen.Entsprechend wurden bspw. auf den vonden Versandhäusern in kleinen Gemeinden

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53durchgeführten etwa 160 Modenschauenim Jahr bei der Auswahl der Models daraufgeachtet, ein breites Spektrum an Frauenfi-guren in unterschiedlichen Altersgruppenpräsentieren zu können. Bei alledem ginges nicht nur darum, akute Versorgungseng-pässe zu überwinden. Mit der steigendenAkzeptanz kräftiger Frauentypen hoffteman, den Abkauf bei Bekleidung langfristigeinschränken zu können, denn vor allemschlanke Frauen galten modischen Neuhei-ten gegenüber als aufgeschlossen. Korpu-lente Frauen hingegen würden nicht jedenmodischen Kleiderwechsel mitmachen, hat-ten Untersuchungen zum Bekleidungsverhal-ten übergewichtiger Frauen gezeigt.28

Diese Auffassung von der neuen sozialisti-schen Frau hielt sich jedoch nur kurze Zeit.Die Kunden wollten ihrem Idealbild nahekommende Frauen und Männer bewundernkönnen und sich einbilden, in der gleichenKleidung so ähnlich auszusehen. Aber auchdie Produktionsbetriebe boykottierten dasvollschlanke Model und weigerten sich,Kleidung in Übergrößen herzustellen. Diesenämlich erforderten einen höheren Material-verbrauch, der die Planerfüllung erschwerte.Für große Kleidung konnte aus der verfüg-baren Menge Stoff weniger Bekleidung her-gestellt werden. Also reagierte die Industrie,indem sie die tatsächlichen Figurverhältnisseunter der Bevölkerung und die langfristigenVorstellungen der Modemacher zugunstender aktuellen Planerfüllung ignorierte.Während noch 1961 die Models im voll-schlank-kräftigen Bäuerinnenstil zur LPG-Kon-ferenz oder zum Theaterabend ins Dorf-Klubhaus eilten, präsentierte die Werbungganz im Sinne der angestrebten Moderni-sierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu-nehmend städtische, schlanke Models, dienichts mehr mit dem Arbeiter- und Bäuerin-

nen-Typ gemein hatten. „Fesche“ jungeFrauen in eleganten Kleidern und jugendli-che Models mit Zigarette und Kofferradiobestimmten das Bild in den sechziger Jah-ren. Man gab sich weltoffen und modern,orientierte sich an den Modeschauen vonParis und Mailand.

Die junge, elegante und doch sportlich ge-kleidete Frau wurde mehr und mehr zum mo-dischen Leitbild in der DDR. Die Frau dersechziger Jahre erschien zumeist im elegan-ten Kleid oder Kostüm und mit passendenHandschuhen bekleidet. Sie trug einschickes Hütchen auf dem Kopf. Damit sie„vollständig“ angezogen war, brauchte sieTaschen, die ihr als: Damencocktailbörse,Geldscheintasche, Brieftasche, Stadttasche,Berufstasche, Umhängetasche, Bügeltasche,Überschlagtasche usw. angeboten wurden.Bei Schuhen konnte sie zwischen Damen-slingpumps, dem Damenhosenanzugschuh,der Damensandalette, der Riemchensan-dalette, dem Damen-Trotteur-Sling, Damen-pumps, Damenfreizeitschuh, Damensport-schuh, Damenschlußpantoffel, Damen-hauspantolette, Damenhauspantöffelchenwählen. Und damit „die natürliche Schön-heit des Frauenarms“ so richtig zur Geltungkam, mußte dieser „durch ein kunstvollesArmband vollendet“ werden, belehrte derVersandhandel 1971 seine Kundinnen.

Dies alles bedeutete nicht, daß die Erzie-hungsarbeit auf dem Gebiet der „sozialisti-schen Modelinien“ aufgegeben wurde. Derneue Modetyp entsprach der modernenwerktätigen städtischen Frau, die nicht nurdas Recht hatte, gut gekleidet zu sein, son-dern dazu regelrecht verpflichtet war: „JedeNachlässigkeit in der Kleidung ist derWürde der berufstätigen Frau abträglich“,konstatierte die Kleine Enzyklopädie „Die

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55Frau“.29 Weiter hieß es dort, daß die Be-rufskleidung „leider immer noch ein Stiefkindder Mode ist, sollte es aber nicht sein. Ar-beitsfreudigkeit wird nicht geweckt durchlangweilige, unschöne Kleidungsstücke, diedie Frau am Arbeitsplatz reizlos und dürftigerscheinen lassen. Im Gegenteil: bei äußer-ster Zweckmäßigkeit (ausreichenden Ta-schen, keine beengenden Schnittfalten,keine flatternden Jackenenden beispiels-weise für die Arbeit an der Dreschmaschineusw.) und Strapazierfähigkeit (insbesonderefür die Frau auf dem Lande) soll die Berufs-bekleidung in Schnitt und Farbe der Frau dieMöglichkeit geben, auch am Arbeitsplatzgut auszusehen.“30

Leider fanden diese guten Vorsätze nicht im-mer ihre Umsetzung. Der Eulenspiegelschrieb: „Trotzdem stiehlt sich dem Kauflusti-gen eine Träne ins Knopfloch, sobald er ver-schiedene Textilien näher in Augenscheinnimmt. Säcke in strahlendem Grau oder inanderen optimistischen Tiefdunkelfarben,mit Pailletten oder einer beinahe echten Bro-sche aufgemutzte Kittel hängen sich gleichden längst überholten OP-Art-Fummelchenaußerplanmäßige Falten in den Stoff. Apro-pos Stoff, der ist entweder sehr billig – wasnur bei ausgesprochenen Modeknüllern ver-tretbar wäre, weil die ohnehin nur einenSommer getragen werden – oder sehr teuer.Qualitäten, die Gewebe mit guten Trag-und Pflegeeigenschaften in ansprechendenFarben mit einem zeitlos-modischen, solidenSchnitt vereinen, fehlen beinahe ganz. (...)Sogenannte Modeknüller haben sich meistdie ohnehin kurzen Beinchen abgelaufen,ehe sie bei uns ein tapferes Schneiderleinfinden.“31 Denn aufgrund ihrer Planvorga-ben, die nach effizienter Materialauslastungund Stückzahlen und nicht nach ästheti-schen Kriterien fragten, ignorierten die Tex-

tilbetriebe die Vorgaben des Modeinstitutsund produzierten in altbewährter Maniernach ihren Erfahrungen weiter. So beschriebeine Produktionsarbeiterin in der Satirezeit-schrift „Eulenspiegel“ diese Situation: „VVB[Vereinigung Volkseigener Betriebe – A. K.]und Ministerium schreiben uns Stückzahlenvor. Da müssen erst einmal Kleider von denBändern purzeln. Ob sie gekauft werden,stellt sich erst später heraus. Wir bringenWerte. Deshalb die teuren Stoffe und simp-len Schnitte. Jedes Detail drückt die Zeit.“Und die Redaktion setzte noch einen eige-nen Bericht aus der Produktion obendrauf:„15 000 Damenmäntel über den Plan fer-tigte der VEB (B) Priegnitz in Wittenbergeaus einer Streichgarn-Zellwolle, die als Stofffür Jugendweiheanzüge den Ansprüchennicht mehr entsprochen hatte, mit wollig-wei-chem Unterfutter kaschiert jedoch bald alsErfolgsfaktor nach oben gemeldet wordenwar. Obwohl sich beim Bügeln der erstenMäntel zeigte, daß die Unterlage hart, derStoff wellig und die Kleidungsstücke unan-sehnlich waren, wurde in Anbetracht derAuflage im VVB Konfektion tapfer weiterpro-duziert und 6 000 Stück mit Gütezeichen 1und EVP [Endverbraucherpreis – A. K.]101,80 Mark ausgeliefert. Der Handelreklamierte 2 000 Stück. Der Rest – um75 Prozent preisgesenkt – sucht vergeblicheinen Käufer.“32

Bei allen Versuchen, das Mode- und Kauf-verhalten zu manipulieren, hatte man vor al-lem die Frauen im Blick. Sie galten Mode-fragen und leichtfertigen Spontankäufen ge-genüber als aufgeschlossen. Sie würdensich schnell und unüberlegt zum Kaufen ver-leiten lassen und mehr kaufen, als sie ei-gentlich bräuchten und mußten davon ab-gehalten bzw. dazu ermutigt werden – jenachdem, ob man bei den Planungen der

56nicht ausreichenden Produktion oder derabzuschöpfenden Kaufkraft Genüge tunwollte. Studien hatten desweiteren gezeigt,daß die Kaufentscheidungen für die Beklei-dung der Männer in der Mehrzahl vonFrauen getroffen wurden. Männer hingegengalten in der Regel nicht als putz- und mo-desüchtig und somit auch weniger erzie-hungsbedürftig. In der zeitgenössischen Ver-knüpfung von „Frau Mode“, die durch„Herrn Geschmack“ gezügelt wird, fanddies seine Entsprechung. Erst in den achtzi-ger Jahren revidierten die Modeforscher ihrein den sechziger und siebziger Jahren durchihre Studien mit verbreiteten Vorurteile überdas Kaufverhalten von Frauen: „Das Vorur-teil, wonach die meisten Frauen der Über-zeugung sind, viel mehr Bekleidung alsvorhanden zu benötigen, wird durch dieBefragung nicht bestätigt.“33 Trotz der ihnenzugeschriebenen hohen Kaufbereitschafthatten Befragungen ergeben, daß etwa dieHälfte aller Frauen in der DDR Problemehatte, etwas Passendes zum Anziehen zufinden.

Das in den fünfziger und sechziger Jahrendurch Marktuntersuchungen ermittelte tat-sächliche Kaufverhalten der Bevölkerungder DDR strafte die hysterische Polemik derSED gegen den „hektischen Modewechsel“Lügen. Die Ausstattung mit Bekleidungdeckte bei den meisten Familien den Grund-bedarf, ohne daß die finanzielle Ausstat-tung der Haushalte es zugelassen hätte, sichbeliebige Mengen an Garderobe nachWunsch zuzulegen. Denn der überwie-gende Teil der Haushaltskasse wurde für Le-bensmittel ausgegeben oder für technischeGüter gespart. Neuanschaffungen mußtenmit dem Familienbudget abgestimmt wer-den. Für viele Haushalte spielte beim Kaufvon Bekleidung die von der SED geforderte

Haltbarkeit der Stücke eine wesentlicheRolle. 1964 verfügte im Durchschnitt jedeFrau in der DDR über 32 Kleidungsstücke,unter denen Kleider und Schürzen mit durch-schnittlich neun Stück und Blusen mit sechsden Spitzenplatz hielten.34 Bis zum Be-ginn der siebziger Jahre verringerte sichdiese Menge an Bekleidung einer Erhe-bung des Instituts für Marktforschung zufolgesogar noch. Offenbar zeitigten hier dieErziehungsversuche zur längeren Nutzungder Bekleidung erste Erfolge. So besaßenFrauen in der DDR 1971 durchschnittlich nurnoch 31 Kleidungsstücke, worunter sichnoch sieben Kleider und fünf Blusen befan-den, die zu einem erheblichen Teil nicht ein-mal im Handel gekauft, sondern selbstge-schneidert waren, weil „ein bedeutenderTeil der Frauen verschiedene Unzulänglich-keiten im Warenangebot, wie zum BeispielMängel in der Größenstruktur, in Schnitt undForm der Konfektion oder unbefriedigendeMöglichkeiten zur Komplettierung“ auf dieseWeise ausglichen.35 Die Nutzungsdauerder Kleidungsstücke variierte dabei je nachEinkommensverhältnissen beträchtlich. Wäh-rend Frauen der unteren Einkommensgrup-pen ihre Kleidung druchschnittlich 10 Jahretrugen – also tatsächlich bis an die Grenzedes materiellen Verschleißes gingen –, sor-tierten Frauen der oberen Einkommensgrup-pen ihre Kleidung nach vier Jahren aus. Beiden Männern kam es zu noch krasseren Un-terschieden. Hier ersetzten die Männer derunteren Einkommensgruppen ihre Anzügeerst nach 14 Jahren, während sich bessergestellte nach vier Jahren einen neuen An-zug leisteten.

Bis Ende der sechziger Jahre änderte sich in der Mode der DDR wenig. Die Kleidungwar im Prinzip einer „klassischen“ und „kor-rekt-konventionellen“ Linie treu geblieben.

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Die Erziehungsarbeit im Bereich der Moderichtete sich jedoch nicht nur auf das Ausse-hen der Kleidung, sondern auch auf Trage-gewohnheiten, die sich am Material orien-tierten. Das Material der Kleidung bestandin der DDR auch 15 Jahre nach Kriegsendenoch immer in weiten Teilen aus Zellwolle,die seit rohstoffbewirtschafteten Vorkriegs-zeiten den Ersatz für höherwertige Materia-lien abgab. Nur wenige Modelle warenaus Baumwolle oder gar Naturseide gefer-tigt. Nun kam die Zeit der hochgepriesenenErsatzstoffe, die mit dem Chemieprogrammund den synthetischen Fasern in den sechzi-ger Jahren Einzug hielten. „Chemie bringtWohlstand, Schönheit, Glück“, hatte dasChemieprogramm 1959 verheißen. NebenGrisuten wurde Wolpryla als Ersatzstoff fürWolle entwickelt, Polycon sollte die Pope-

line ersetzen, Dederon und Acetat-Kunst-seide boten sich als Seidenersatz an, Ske-lan stand für Filz, Velveton war eine ArtSamtersatz. Allerdings vollzog sich derDurchbruch der neuen Materialien nicht pro-blemlos. In der Käufergunst standen dieseMaterialien ganz weit oben und wurdenkräftig nachgefragt, verhießen sie doch eineVerminderung der harten Wascharbeit, dasie als pflegeleicht, bügelfrei und knitterarmgalten. Aber die Produktion konnte mit derNachfrage nicht Schritt halten. Und wiederwar es die Werbung, die die falschen Sig-nale gab. Das Institut für Marktforschungmonierte: „Im I. Quartal 1962 wurde zumBeispiel wiederholt durch die Industriebe-triebe im Fernsehfunk für Erzeugnisse ausDederon und Baumwolle geworben, ob-wohl das Warenangebot auch ohne Wer-bung nicht ausreichte, um den Bedarf zudecken. Nach einer Werbung für Putten-mäntel aus Dederon wollten die Produkti-onsbetriebe die im Fernsehfunk gezeigtenModelle wegen zu hohem Materialeinsatznicht einmal anfertigen. Im Handel wurdeaber bereits nach diesen Modellen gefragt.(...) Das Ministerium wies zu Beginn desJahres 1962 die Verantwortlichen für dieWollcrylonwerbung darauf hin, daß der Be-darf bei diesen Erzeugnissen gegenwärtigdas Warenangebot übersteigt. Es forderteeine Verminderung der Werbung für dieseWaren. Die Industrie vertrat jedoch die Mei-nung, daß die Werbeaktion nicht den Ab-satz, sondern nur die Popularisierung desWarenzeichens `Schaf in der Retorte´ zumZiel habe.“36 Obwohl die Versandhäuser inihrer „kleinen Textilkunde“ dieses Materialbereits 1962 vorgestellt hatten, glänztenWollcrylonerzeugnisse nicht nur in den Ka-talogen durch Abwesenheit. Erst 1963konnte das staatliche Versandhaus „cen-trum“ das aus dem Material Wollcrylon und

(Foto: Neues Leben. Magazin der Jugend 1958)

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Prelana kombinierte Nachfolgematerial na-mens Wolpryla mit einem Modell vorstellen.Während in der Bundesrepublik bereitsEnde der fünfziger Jahre Trevira seinen Sie-geszug als pflegeleichtes Material feierte,bot der konsument-Katalog seinen Kundenerst 1964 ein DDR-eigenes Äquivalent:„GRISUTEN (R), im Ausland als Trevira be-kannt, ist voll waschbar, permanent plissee-beständig, wasserabstoßend, elastisch undknitterarm“. Der Informationstext baute aufden Wissensvorsprung, den die Kundendurch ihre familiären Kontakte in die Bun-desrepublik hatten. Allerdings wurde Grisu-ten nicht als Trevira-gleichwertig anerkannt.Erst 1969 gelang es der DDR ein gleich-wertiges Produkt namens „Präsent 20“ aufden Markt zu bringen, das auch die Bevöl-kerung als DDR-Trevira akzeptierte.

Die sinnvolle Nutzung der Freizeit

Zum Ende der sechziger Jahre konnten vieleDDR-Bürger feststellen, daß sich ihre Lebens-situation verbessert hatte. Zwar war die wirt-schaftliche und gesellschaftliche Liberalisie-rung Mitte der sechziger Jahre abgebro-chen worden, der Bereich der individuellenKonsumtion jedoch war weitgehend ver-schont geblieben. Denn hier galten noch im-mer die Pläne vom Einholen der Bundesre-publik und dem Erreichen des Weltniveaus. Der Staat gewährte seinen Bürgern eineReihe von Erleichterungen im täglichen Le-ben. Polikliniken, Kulturhäuser, Kureinrichtun-gen und Ferienplätze waren in großer Zahleingerichtet worden und wurden hoch sub-ventioniert betrieben. Denn die SED hatteganz dem internationalen Trend folgend,Freizeit als Ergänzung zur Arbeitszeit als ge-sellschaftlich und privat hochgeschätztesGut akzeptiert. Jedoch machte sich dieStaats- und Parteiführung seit der Einführungder 5-Tage-Arbeitswoche im Jahre 1967verstärkt Gedanken über die arbeitsfreieZeit ihrer Bürger. Diese sollte ihnen nachMöglichkeit nicht sebst überlassen bleiben.

Aufmerksamkeit erheischte einerseits dieFrage, inwieweit sich die vermehrt zur Ver-fügung stehende Zeit in einem verstärktenAbkauf von Waren – vornehmlich durchFrauen – in dieser Freizeit äußern würde.Andererseits galt es zu klären, wie diesefreie Zeit sinnvoll und nutzbringend ver-bracht werden konnte. Neben den Vorher-sagen für den Warenabkauf mußten Vor-schläge für eine sinnvolle Nutzung derfreien Zeit gemacht werden.

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(Foto: Verband der Konsumgenossenschaft-VdK eG, Fotoarchiv)

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(Foto: Verband der Konsumgenossenschaft-VdK eG, Fotoarchiv)

Die Werbung erhielt eine neue Aufgabe.Sie sollte über neue Produkte, die der Frei-zeitgestaltung dienten, ein neues Lebens-und Freizeitgefühl vermitteln und Freizeitakti-vitäten propagieren. Werbeseiten gut be-stückt mit Büchern wiesen auf die Sinnhaf-tigkeit einer mit Lesen verbrachten Freizeithin und betonten, daß „das gute Buch – einBaustein des Friedens und der Völkerver-ständigung“ sei. Gesellschaftsspiele oderMusikinstrumente, Photoapparate und Zu-behör oder zahlreiche Sport- und Camping-angebote warben für eine naturverbun-dene, sportlich-aktive Erholung. Segelboote,Motorboote und Kanus fehlten ebensowe-nig wie Fahrräder oder Rollschuhe. Zur mo-

dernen Freizeitgestaltung zählte auch die„Partykultur“, die zünftig mit Bierfäßchenund Heimgrill in Werbung, Fernsehen undZeitungen angepriesen wurde. Dazu gabes Partyspieße, Cocktaillöffel und den Fon-duetopf ebenso wie Porzellanservices alsZeichen „gepflegter Gastlichkeit“.

Auch Reisen wurde unter dem Motto „Ur-laub auf moderne Art“ in allen Medien be-worben. Dabei stand jedoch nicht nur dieReisetätigkeit, sondern vor allem auch dashierfür käufliche Warensortiment im Mittel-punkt. Es wurde für Campingartikel gewor-ben, deren Angebotsvielfalt sich schnell er-weiterte. Der centrum-Katalog machte

621957 den Anfang mit Möbeln „für Sonneund Erholung“, „für Zelt und Wochenende“und zeigte Sonnenschirm, Campingbett undLiegestuhl. Noch war der Campinghaushaltvergleichsweise überschaubar, ebenso wiedie Zahl von etwa 10.000 Campern, diebis Mitte der fünfziger Jahre die Zeltplätzeheimsuchten. Aber in dem Maße, wie sichdie Campingbewegung zu einer Massen-bewegung entwickelte, mit der Hundert-tausende in den warmen Monaten dieZeltplätze der Republik bevölkerten, erwei-terte sich das Angebot. 1959 verzeichne-ten die Plätze schon 172.000 und 1970gar 500.000 Zelter. Die 1959 gegrün-dete Messesondergruppe „Wassersport undCamping“ machte sich die Entwicklung und Vermarktung von neuen Camping- undFreizeitartikeln zur Aufgabe. Hängematten,Fahrtenmesser, Campinglaternen, Cam-pingkocher, Campingküche – alles war aufdiese Freizeitbetätigung und die Betonungihrer angenehmen Seiten eingestellt. Nebenpreisgünstigen Angeboten einfacher Cam-pingartikel kamen mehr und mehr hochprei-sige Luxus-Güter ins Angebot. Das Angebotdifferenzierte sich ebenso aus, wie sich dieCampingliebhaber voneinander unterschie-den. Da gab es die besserverdienendenAutobesitzer, die als Dauerzelter einenzweiten Hausstand im Freien unterhielten, indem sie weder auf das Fernsehen noch dieWaschmaschine oder den häuslichen Herdverzichten wollten, und es gab die Zelter,die mit einem einfachen Spitzzelt vorliebnahmen. Ein Hauszelt konnte man fürs Dau-ercampen inzwischen für stolze 1.219,–MDN kaufen und in dieses diverse Cam-pingmöbel – angefangen von Liegen, Ti-schen und Stühlen über Schränke bis hin zuRegalen – stellen. Denn „zum campinggehört eine gute Ausrüstung“ befand derCentrum-Katalog 1969. Während die

vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund(FDGB) angebotenen Reisen durch die staat-liche Stützung sehr preiswert und für jedenerschwinglich waren – so bezahlte man füreinen vierzehntäägigen Urlaub mit Vollpen-sion zwischen 75 und 180 Mark – warendie über das staatliche Reisebüro erhältli-chen Reisen nicht nur knapp sondern auchteuer. Dennoch erhöhte sich die Zahl derjährlichen DDR-Urlauber auf 13 Millionen,was in etwa 80 Prozent der Bevölkerungentsprach.

1966 verbanden etwa 35 Prozent der DDR-Bürger ihren Urlaub mit einer Ferienreise.Statistische Erhebungen zählten Mitte dersechziger Jahre 4,5 bis 5 Millionen Ur-laubsreisende, davon 3,75 Millionen im In-land und 750 000 im Ausland. Die Hälftevon ihnen verreiste „organisiert“ über staat-liche oder gewerkschaftliche Träger wie dasReisebüro oder den Feriendienst der Ge-werkschaft FdgB, die andere Hälfte ver-brachte ihre Urlaubstage auf privat unter-nommenen Reisen. Vor allem im Sommerwollten die DDR-Bürger wegfahren und leg-ten ihren Urlaub zu 80 Prozent in die Mo-nate Juni bis August. Diese Tendenz solltesich in der DDR ebenso wie in andereneuropäischen Staaten verstärken. Zwischen1952 und 1966 erhöhte sich beispiels-weise die Zahl der Urlauber an der Ost-seeküste von 310 000 auf 1,41 Millio-nen.37 Aber die DDR-Bürger zog es auch indie Ferne. Was dem Bundesbürger dasMittelmeer, wurde dem DDR-Bürger dieSchwarzmeerküste, was den einen die Al-pen, hatten die anderen in der Hohen Tatra.Bereits 1967 wurde bei Auslandsreisen die Millionengrenze erreicht. Und als zuBeginn der siebziger Jahre der paß- undvisafreie Reiseverkehr zwischen der DDR,Polen und der CSSR eingeführt wurde, stan-

63den den Reiselustigen, die inzwischen über18 Tage Mindesturlaub verfügen konnten,noch weniger Schranken im Wege. Reisenwurden über das 1957 gegründete Deut-sche Reisebüro, das später in Reisebüro derDeutschen Demokratischen Republik umbe-nannt wurde, vermittelt. Diese führten nichtnur in DDR-Feriengebiete, sondern dehntenihre Reisen unter dem Motto „Erholung inFreundesland“ auf die Sowjetunion, Polen,die CSSR, Bulgarien und Rumänien aus.Trotz der zwischen einem und zwei Monats-gehältern liegenden Preise dieser Reisenwaren sie sehr gefragt und binnen kürzesterZeit ausverkauft.

„Gute Unterhaltung”

In der Freizeit sollte jedoch vor allem auch„gute Unterhaltung” und Bildung eine Rollespielen. Hierfür waren die Angebote anFernsehern, Radios und Tonbandgerätenausersehen.

Die Ersteinführung von Fernsehgeräten hattein den Jahren 1953 bis 1957 begonnen.1959 war bereits ein Ausstattungsgrad von acht Prozent der Haushalte erreicht. Am12. August 1961 konnte das Fernsehen der

(Foto: Verband der Konsumgenossenschaft-VdK eG, Fotoarchiv)

64DDR gar eine Gala anläßlich der Fertigstel-lung des Ein-Millionsten Fernsehapparatsaus dem „Rafena”-Fernsehwerk feiern. Mitteder fünfziger Jahre war von der SED nochnicht vorgesehen, daß vormaliger Luxus zum Gebrauchs- und Allgemeingut werdensollte. Die produzierten Stückzahlen ließeneine umfassende Ausstattung der Haushaltenicht zu. Bis 1965 statteten vor allem Bes-serverdienende ihre Haushalte aus. Danachsollte das bis dahin erhöhte Produktionsauf-kommen und eine Preissenkung sichern, daßauch Normalverdiener sich nun ihren Fernse-her leisten konnten. Dabei rechneten dieÖkonomen der DDR noch zu Beginn dersechziger Jahre mit einem baldigen Überho-len der Bundesrepublik auf der Fernseh-strecke. Diesen Optimismus leiteten sie ausden jährlichen Zuwachsraten beim Bestandund der steigenden Produktion an Fernseh-geräten ab, die gegen Ende der fünfzigerJahre die bundesdeutschen Raten erreichten.Dieser Aufschwung währte indes nur kurzeZeit. Anfang der sechziger Jahre kam es inder Fernsehproduktion der DDR wegen feh-lender Zubehörteile zu einem starken Pro-duktionsrückgang, der das gesteckte Ziel,die Bundesrepublik in der Fernsehausstattungnoch vor 1965 zu überholen, unerreichbarwerden ließ. Die Gemeinde der Fernsehbe-sitzer vergrößerte sich zwar ständig, aberkeineswegs in dem von der Bevölkerung ge-wünschten Maße. Denn allgemeine Lohner-höhungen seit 1959 hatten zu einem stärke-ren Kaufkraftzuwachs geführt, als von derSED ursprünglich geplant. 1963 stand in31,2 Prozent der Haushalte im Westen undin 23,90 Prozent im Osten nun ein Fernse-her.38 Die DDR hatte zwar aufgeholt, dasEinholen oder gar Überholen sollte ihr aller-dings nicht gelingen. Dennoch konnte dieDDR durchaus zufrieden sein, denn bereits1967 verfügten 70 Prozent der Haushalte

über ein Fernsehgerät, ein Ergebnis, mit demdie Parteiführung statistisch gesehen zufrie-den sein konnte. Ganz im Sinne des „Welt-standsvergleichs“ konnte 1972 festgestelltwerden, daß sich der Fernseher seit dem Be-ginn der sechziger Jahre als Grundbedarf inder Haushaltsausstattung etabliert hatte. Al-lerdings schwieg man tunlichst darüber, daßdie technische Qualität und das Aussehender DDR-Apparate nicht mit den westdeut-schen Geräten Schritt halten konnte.

Bei Radiogeräten sah die Versorgungssitua-tion bereits Anfang der sechziger Jahre bes-ser aus. 90 Prozent aller Haushalte in derDDR besaßen bereits mindestens ein Radio.Das waren vorrangig „Super“-Geräte, diefür den UKW-Empfang ausgerüstet warenund in den sechziger Jahren durch tragbareKoffer- und Transistorradios ersetzt wurden.Der Versandhandel leistete mit seinen Kata-logen Pionierarbeit bei der Verbreitung die-ser Geräte und bereitete die Kunden aufneue Hörgewohnheiten vor. Noch bevorsich die tragbaren Klein- und Kleinstrund-funkempfänger auf dem Markt in der DDRetabliert hatten, präsentierte der Katalog1957 erstmals ein Koffergerät, vorgestelltvon einem jugendlichen Model mit Ziga-rette. Damit war der Kundenkreis für dieseNeuerung angesprochen: Vor allem anjunge Besteller, also Personen zwischen 15und 40 Jahren, richtete sich dieses Ange-bot. Der Bedarf an Kofferradios und Ton-bandgeräten nahm ab Ende der fünfzigerJahre rasant zu, denn vor allem jüngere Kun-den wünschten für ihre gestiegene Mobilitätauch mobile Unterhaltung. Bereits 1961nannte schon jeder zehnte DDR-Bürger einKofferradio sein eigen. Diese Mengenent-wicklung entsprach bereits Anfang der sech-ziger Jahre nicht mehr dem ständig steigen-den Bedarf. So konnte der Handel bei-

65spielsweise 1960 überhaupt keine Kofferra-dios anbieten, weil nicht genügend Transi-storen für die Produktion dieser beliebten Ta-schengeräte zur Verfügung standen. Ob-wohl die Produktion von Kofferradios in derDDR bis 1962 bereits 18 Prozent der ge-samten Rundfunkempfangsgeräteproduktionerreicht hatte, war die westdeutsche Indu-strie auch hier wieder besser, früher und um-fassender auf das neue Kaufinteresse einge-stellt. Sie produzierte 1962 bereits 44 Pro-zent Kofferempfänger, was dem gestiege-nen Bedarf weit eher entsprach, als die indiesem Prozentsatz von der DDR hergestell-ten, aber längst nicht mehr nachgefragten„Super“-Modelle.39 Auch an diesen Sorti-menten offenbarte sich die bevorzugte Ver-sorgung des staatlichen Handels vor demgenossenschaftlichen. Während der cen-trum Versand Leipzig die Geräte bspw. be-reits seit den fünfziger Jahren – wenn auchnicht durchgehend – anbieten konnte, fan-den die Besteller des konsument-Versand-hauses Karl-Marx-Stadt Radios erstmals1965 im Katalog.

Plattenspieler setzten sich erst in den sechzi-ger Jahren – und nur langsam – als alterna-tives Musikgerät zum traditionellen Radiodurch. Noch 1966 verfügten nur 6,5 Pro-zent der Haushalte über einen elektrischenPlattenspieler. Und erst zwischen 1970 und 1980 stieg der Ausstattungsrad auf35,8 Prozent an. Das hatte zum einen da-mit zu tun, daß preiswerte Geräte zwischen100,– und 150,– MDN erst ab Mitte dersechziger Jahre auf den Markt kamen. Dieälteren Kunden blieben ohnehin lieber beiihrem bewährten „Super“ und sahen kaumdie Notwendigkeit, einen „fürs Leben“ ge-kauften Radioapparat nun durch neue Mo-den zu ersetzen: „Dazu kamen Vorbehalteder Jugendlichen gegenüber dem Reper-

toire und der Aktualität der Tanzmusikplat-ten. Folglich kaufen sie auch kein Abspiel-gerät“40, mußte man konstatieren. Unter Ju-gendlichen stieg die Nachfrage erst, als dieDDR-Schallplattenindustrie statt der bisheraufgelegten „klassischen Titel“ Neuheitender internationalen Tanzmusikszene preßte,die bis Anfang der sechziger Jahre vor al-lem über den Rundfunk verbreitet wordenwaren, was wiederum die Nachfrage nachKofferradios unter jugendlichen Käufern be-günstigt hatte.41 Tonbandgeräte warenzwar ebenfalls bereits seit den fünfziger Jah-ren im Angebot zu finden, aber ihr hoherPreis verhinderte eine weitreichende Nut-zung. Erst in den siebziger Jahren begün-stigte die Bedarfsdeckung bei anderen tech-nischen Geräten und die Verbreitung vonselbstbespielten Musikbändern den Kaufdieser Geräte.

Allerdings hatte sich in den sechziger Jahrentrotz aller Fortschritte in der Statistik einneues Problem gezeigt. Die schwerfälligePlanwirtschaft vermochte Innovationen imBereich der technischen Konsumgüter nurschleppend umsetzen. Zudem blieben dieHerstellungskosten selbst in der Massenferti-gung unverhältnismäßig hoch. Das bedeu-tete, daß die Industrie zwar produzierte, dieGeräte aber bereits beim Verlassen der Fa-briken zu Ladenhütern geworden waren.Die einkommensstarken Haushalte, die sichbis Ende der sechziger Jahre mit techni-schen Geräten weitgehend ausgestattet hat-ten, suchten nun nach neuen Sparzielen. Daihr Bedarf bereits gestillt war, zögerten sie,ihre Ausstattung mit den nicht selten bereitsbei der Markteinführung veralteten Gerätezu erneuern. Zeitweilig türmten sich Elektro-geräte mangels unmittelbarer Nachfrageauf Halde, da sie einerseits zu teuer warenund andererseits den technischen An-

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67sprüchen der kaufkräftigeren Kundschaftnicht mehr entsprachen. Dies zeitigte unge-ahnte Folgen. Da das Angebot in manchenBereichen, rein quantitativ gesehen, ausrei-chend erschien, sahen die Planverantwortli-chen weder Anlaß, noch hatten sie die aus-reichenden Ressourcen, um technische Fort-entwicklungen zügig in der Produktion um-zusetzen. Gleichzeitig begann jedoch –zunächst in den einkommensstarken Haus-halten – die Spanne zwischen den zirkulie-renden und den auf der Bank befindlichenGeldmitteln immer weiter auseinanderzu-klaffen, ohne daß letzteres hinreichenddurch das Angebot an Waren abgeschöpftwerden konnte. Auf hochwertige Konsum-güter bzw. dem westlichen Entwicklungs-stand halbwegs entsprechende Fernseher,Kühlschränke oder Waschmaschinen mußtezum Teil viele Jahre gewartet werden, wo-bei die Wartezeit mit den Jahren stieg.Schichtarbeiter erhielten Vorzugsanmeldun-gen, mit denen sie bei einer etwaigen Liefe-rung in den Verkaufsstellen bevorzugt ver-sorgt wurden. Um den Abkauf von Geräten,die ausreichend in den Geschäften vorhan-den waren, zu beschleunigen, setzte manauf die Möglichkeit der Teilzahlung. DasKalkül ging dahin, daß einkommenstarkeHaushalte vor allem die nicht über Teilzah-lung erhältlichen technischen Neuerungenerwerben sollten. Die einkommensschwa-chen Haushalte konnten über die Teilzah-lung auf ausreichend vorhandene technischüberholte Artikel verwiesen werden. NeueAbsatzmöglichkeiten für langlebige Konsum-güter boten auch die 1971 beschlossenenKredite für junge Ehepaare, die von da anbereits zum Zeitpunkt der EheschließungMöbel und technische Haushaltsgeräte ineinem weitaus größeren Umfang kaufenkonnten als ohne das staatliche Darlehen.Die Bedarfsforscher ermittelten, daß die

Erstausstattung der Haushalte durch jungeLeute vor allem zum Abkauf von preisgünsti-geren Haldemodellen” führen würde, wasdem Abbau der vorhandenen Überproduk-tion zugute kommen sollte. Tatsächlich führ-ten die Kredite bis Ende der siebziger Jahredazu, daß die Haushaltsausstattung mittechnischen Konsumgütern auf durchschnitt-lich 80 Prozent anstieg. Schon stellten dieWirtschaftsplaner Überlegungen an, daßnach der Sättigung des Grundbedarfs antechnischen Konsumgütern die Produktionzugunsten anderer Waren gedrosselt wer-den könnte. Diese mußten jedoch verworfenwerden, da die Geräte nach einer durch-schnittlich zehn Jahre dauernden Nutzungersatzreif wären. Darüber hinaus würdenverstärkt von den mit dem Grundbedarf aus-gestatteten Haushalten moderne und weiter-entwickelte Geräte nachgefragt, argumen-tierte man. Da die Mehrzahl der Haushaltealsbald ihren Grundbedarf gedeckt hatte,wurden die alten Geräte an die Kinderge-neration weitergegeben. Diese wiederummußte bei der Eheschließung ihren Ehekreditnicht mehr dafür verwenden, sich eine tech-nische Erstausstattung zuzulegen, sondernkonnte sich mit ihrem Geld gleich auf dietechnischen Neuerungen konzentrieren,was wiederum den Druck auf diese in zugeringen Stückzahlen hergestellten Artikelerhöhte.

Hilf Dir selbst

Angesichts der Mängel in der Versorgungverbrachten viele Bürger ihre Freizeit damit,sich selbst zu helfen. Für Heimwerker wurdeunter dem Slogan „Hilf Dir selbst“ in Son-

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derabteilungen der Kaufhäuser ein umfang-reiches Werkzeugangebot für Haus undGarten angeboten. Auch in den Wohnge-bieten wurden Materialstützpunkte einge-richtet, in denen Werkzeug kostenlos aus-geliehen werden konnte. Die ursprünglicheIdee, durch ein gut ausgebautes Netz an öf-fentlichen Dienstleistungen solcherlei Arbei-ten tatsächlich zum Hobby werden zu las-

sen, zeitigte nie Erfolge. Vielmehr wurde derSlogan „Hilf Dir selbst” zum bestimmendenMotto vieler DDR-Bürger im täglichen Leben.Klappte es mit dem Kauf der im Geschäftals „Beratungsmuster” ausgestellten Möbelnicht, so konnten die gewünschten Objektebei einem Tischler oder gar selber angefer-tigt werden. Frauen verbrachten die Wo-chenenden damit, für ihre Kinder und sich

69selbst Bekleidung zu nähen. Auch das Ein-kochen, das ursprünglich zu den Hausar-beiten hatte zählen sollen, die nur noch alsHobby verfolgt werden würden, nahm imLaufe der Jahre einen immer größeren Raumein.

Wie in den ersten Nachkriegsjahren erfor-derte das Leben in der DDR ein hohes Maßan Geschick und Improvisationsgabe nunallerdings auf einem höheren Niveau. Dergewiefte Bastler konnte im Kindersortimentfündig werden. Denn manche Geräte, diees für den normalen Gebrauch nicht zu kau-fen gab, fanden sich im Kindersortiment als Spielzeug wieder. So konnten sich dieKleinen an Geräten üben, die die Großenwohl gern besessen hätten, aber nichtkaufen konnten. Dort wurde „für alle Bastlerund Heimwerker“ die Handbohrmaschine„hobby“ angepriesen, die durchaus nichtnur für Kinder geeignet war. Sogar Tele-phonapparate, die in den sechziger Jahrenzu den Luxusartikel zählten und bis zumEnde der DDR zu den Mangelwaren mitfünfzehnjähriger Wartezeit gehörten, konn-ten mit einer zehn Meter langen Verbin-dungsschnur als Spielzeug erstanden wer-

den. 1968 wies ein Versandhauskatalogsogar darauf hin, daß das Kindertelephonsich auch als Haus- und Campingtelephoneigne und durchaus funktionsfähig sei.

Die „Meister von morgen“ sollten sich spie-lend auf ihre Aufgaben beim Aufbau desSozialismus und der modernen DDR vorbe-reiten können. Neben der MangelwareWaschvollautomat gab es hochmodernePuppenherde, Computer („Pikodat“) undferngesteuerte Autos oder Raumfahrzeuge.Für Mädchen gab es Haushaltgeräte in Mi-niaturausführung: Bohnermaschinen, Näh-maschinen, Elektroherde, elektrische Mixer– alles war zu haben. Die Jungen konntensich als Baumeister des Sozialismus in derGroßblockbauweise am Wohnungsneubauversuchen, mit einem Funkgerät für den Ein-satz in der Volksarmee üben, mit dem Hoch-geschwindigkeitszug „Transitus“ über dieSchienen rasen oder mit einem vollmechani-schen Bagger Sand schaufeln, mit der Kin-der-Multimax bohren oder mit dem Mond-fahrzeug unbekannte Welten entdecken.Den Kindern sollte die ganze Welt offenste-hen. Sie sollten zu den Trägern der gesell-schaftlichen Ideale werden.

Von der individuellen Bedürfnisbefriedigung

zu den „sozialistischen Errungenschaften“

72Zu Beginn der siebziger Jahre mußte sichdie SED-Führung eingestehen, daß ihrehochfliegenden Pläne gescheitert waren.Die Einführung des Neuen ÖkonomischenSystems (NÖSPL) verbunden mit einer Indu-striepreisreform in den sechziger Jahren, diezu einem flexiblen Wirtschafts- und Preissy-stem führen sollten, um die wirtschaftlicheEntwicklung der DDR modernen Anforderun-gen anzupassen, wurde abgebrochen. Diein den sechziger Jahren im Zuge des NeuenÖkonomischen Systems begonnene Preisre-form wurde gestoppt, Preiserhöhungen wa-ren von nun an nur noch für neu auf denMarkt kommende Produkte möglich. Interngaben die Parteiführer für die verfehlte Wirt-schaftspolitik Walter Ulbricht die Schuld. Erhabe mit seinen Plänen die „planmäßig pro-portionale Entwicklung“ der Volkswirtschaftbehindert, Schwerpunktbereiche seien zustark gefördert worden, während die Zulie-fer- und Konsumgüterindustrie vernachlässigtworden seien. Er habe versäumt, die nochverbliebenen etwa 11.500 privaten Indu-strie- und Handwerksunternehmen, die 40Prozent des Konsumgüterbedarfs herstellten– in Volkseigentum zu überführen. Engpässeund Mangelwaren seien die Folge. DieWestverschuldung sei stark gestiegen. Auchder Wohnungsbau sei grob vernachlässigtworden.

Für die Bevölkerung jedoch waren die zehnauf den Mauerbau 1961 folgenden Jahrenicht die schlechtesten. Die Menschen hat-ten einen raschen Anstieg ihrer Lebensqua-lität verzeichnen können. Die Ausstattungder Haushalte mit Fernsehern und Kühl-schränken, mit Autos und Waschmaschinenhatte mit durchschnittlich 70–80 Prozent be-achtliche Ausmaße erreicht. Die Preise fürNahrungsmittel und Tarife waren weitge-hend stabil, Dienstleistungen zumindest in

den Städten in ausreichendem Maße erhält-lich. Soziale Leistungen waren ausgebautworden, Polikliniken errichtet, neue Kur-heime entstanden, seit Mitte der sechzigerJahre war die 5-Tage-Arbeitswoche einge-führt worden, ein Zugewinn an freier Zeit zuverzeichnen. Aus Sicht der Bevölkerunghätte diese Entwicklung in immer schnelle-rem Tempo weitergehen können.

Darüber hinaus hatte sich die Bevölkerungauf den Westen als erstrebenswertes Kon-sumvorbild eingestellt und richtete sich trotzdes Mauerbaus weiter am westlichen Le-bensstandard aus. Dieser aber hatte Endeder sechziger Jahre als Bezugsgröße der öf-fentlichen Propaganda ausgedient. Die aufstaatlicher Ebene verfolgte Annäherung derbeiden deutschen Staaten nährte die Hoff-nungen auf eine baldige Normalisierungder Beziehungen, wovon sich die Bürgervor allem Reise- und Alltagserleichterungenin einer deutschen Konförderation erhofften.Aber genau das wollte die SED nicht.Schließlich begleitete sie ihre Deutschland-politik mit einer deutlichen Abgrenzung vonder bis dahin propagierten gesamtdeut-schen Nation, die nicht nur aus dem Verfas-sungstext verschwand. Auch zahlreiche Insti-tutionen hatten Reminiszenzen an Deutsch-land aus ihren Namen zu tilgen. Aus dem„Deutschlandsender“ wurde die „Stimmeder DDR“, die Deutsche Akademie der Wis-senschaften hieß fortan Akademie der Wis-senschaften der DDR. Aus der „DDR als so-zialistischem Staat deutscher Nation“, wiesie in der Verfassung von 1968 noch ge-heißen hatte, wurde 1974 „ein sozialisti-scher Staat der Arbeiter und Bauern“.

Auf wenigstens zwei Gebieten scheitertedie SED jedoch in ihrer Abgrenzung gegenden Westen. Trotz fortgesetzter Versuche,

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74das Modeverhalten der DDR-Bürger zu be-einflussen, erwiesen sich diese als resistentgegenüber der sozialistischen Modelinie.Sie orientierten sich lieber an den im We-sten wahrgenommenen Modeneuheiten,gegen die alle Erziehungsversuche machtloswaren. Auch hier mußte sich die SED-Führung sagen lassen, „die Bedarfswünscheunserer Menschen auf modischem Gebietentwickeln sich nicht isoliert von internatio-nalen Veränderungen in der Mode. Ihr Ein-fluß wirkt über Ländergrenzen hinweg undgestattet keinen anders orientierten ,Allein-gang‘.“42 Damit war das Scheitern der zu Beginn der sechziger Jahre angestreb-ten Modeerziehung offiziell erklärt wor-den.

Nun setzte ein rasanter Aufbruch ein: DieRöcke wagten sich in Richtung Knie, dieHose eroberte die Kleiderschränke, undfreie Beine, kurze Hosen oder nackte Ober-arme und Bäuche bestimmten das Mode-bild. Die Forderung, daß die moderne Frauvor allem vollständig angezogen sein sollte,schien darüber auch in Vergessenheit zu ge-raten. Die Frau in der DDR erschien zu Be-ginn der siebziger Jahre als anspruchsvollund verwöhnt, bezaubernd und bildschön,modebewußt, jugendlich, vorteilhaft, kessund entzückend. Sie sollte als „sozialistischeFrau“ „jung und frisch“ sein. Sie hatte denWandel zur modernen, selbstbewußten undim Arbeitsleben stehenden Frau photowirk-sam vollzogen.

Ende der sechziger Jahren eroberte einneues Modesegment den Markt: die Ju-gendmode. Der Staat DDR hatte die Jugendals wichtigen Politpartner erkannt undbemühte sich seit Beginn der sechzigerJahre um deren Loyalität. Besondere Jugend-angebote wie das Jugendradio DT 64 –

nach seinem Gründungsjahr 1964 benannt–, Jugendklubs und die Einführung der Ju-gendmode in Spezialverkaufsstellen warenhierfür Belege. Ab 1969 war die Jugend-mode mit einer eigenen Abteilung in allengrößeren Kaufhäusern präsent. Mit ihren ei-gens für Jugendliche entworfenen Modellenversuchte sie, den an westlichen Modeent-wicklungen ausgerichteten Jugendlichen ei-nen „Modekompromiß“ anzubieten, der ei-nerseits die westlichen Linien aufgriff und siesozialismusgerecht umsetzte. Inzwischenhatte sich mit dem amerikanischen Wood-stock die Hippiebewegung auch in West-europa ausgebreitet; die Haare wurden län-ger, die Röcke kürzer, die Hosenbeine brei-ter, die Musik lauter – und all das machtekeineswegs an der deutsch-deutschenGrenze halt, sondern fand über die verfem-ten Westsender sehr wohl seinen Weg inostdeutsche Konsumentenherzen. „Feschund frei“ titelte der konsument 1972 seineSommerkollektion und gab damit dem aktu-ellen Lebensgefühl, das sich auch in Filmender Defa wie „Die Legende von Paul undPaula“ äußerte, seinen Namen. Langhaa-rige Models bei Frauen und Männern be-stimmten nun das Erscheinungsbild. Die er-ste „Niethose“ – eine höchst unvollkommeneNachbildung westlicher Jeans, die verpöntwaren und den Anlaß für Relegationen vonder Oberschule in der DDR abgaben – fandsich bereits 1966 in einem centrum-Kata-log. Bis 1975 mutierte die Niethose zur„Freizeithose“. Anfang der siebziger Jahregestattete die SED-Führung der Jugend so-gar, die noch wenige Jahre zuvor mit hartenStrafen sanktionierten Jeans in der DDR kau-fen zu können. Hunderttausende von Import-Jeans der Marke Wrangler fanden ihrenWeg in die Geschäfte der DDR. Sogar eineeigene Jeans-Produktion – deren Akzeptanzunter der Bevölkerung jedoch unter der nur

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77mangelhaften Imitation des Originals litt –wurde aufgenommen.

Allen Erziehungsversuchen der sechzigerJahre zum Trotz, träumten die Bürger in derDDR noch immer von einem einigenDeutschland und westdeutschen Lebensver-hältnissen. Sie hatten die in den fünfzigerJahren gesetzten Maßstäbe und die damalsgegebenen Versprechen nicht vergessen.Nun sollte sie verstärkt die „sozialistischenErrungenschaften“ in den Blick nehmen. DieDDR-Führung hatte aufgrund ihrer eigenenLebenserfahrungen ein einfaches Sozialis-mus-Modell entwickelt. Danach brauchtendie Menschen vor allem eine trockene undwarme Wohnung, billige Grundnahrungs-mittel und Arbeit. So ausgestattet, würdesich der sozialistische Aufbau praktisch vonselbst vollziehen und zu einer allgemeinenZufriedenheit führen. Die auf dem VIII. Par-teitag 1971 verkündete Hauptaufgabesetzte auf die „weitere Erhöhung des mate-riellen und kulturellen Lebensniveaus desVolkes auf der Grundlage eines hohen Ent-wicklungstempos der sozialistischen Pro-duktion, der Erhöhung der Effektivität deswissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität“.43

Zwar hatte Erich Honecker mit seiner Redeauf dem VIII. Parteitag versucht, die kühn-sten Erwartungen zu dämpfen. Er erklärte,es könne nur das verbraucht werden, waszuvor produziert worden sei. Allerdings kamdiese Botschaft bei der Bevölkerung andersan, als sie gemeint war. Diese entnahm derBestandsaufnahme vor allem zwei Punkte:Die Versorgung mit Konsumgütern würde

verbessert und der Wohnungsbau gefördertwerden. Die als sozialistische Errungen-schaften gepriesenen Sicherheiten galtenlängst als selbstverständlich. Die Menschenschlußfolgerten, daß nach den Aufbaujah-ren mit seinen ständigen Verweisen auf dasmorgige Wohlleben nun die Zeit der Erntegekommen sei. Daß sich damit an der wirt-schaftlichen Grundlage nichts oder nur we-nig ändern würde, wurde kaum zur Kenntnisgenommen.

Hatte die DDR schon in den sechziger Jah-ren mit Ulbrichts ehrgeizigen Projekten, diedie DDR an die Welstpitze befördern soll-ten, eine über ihren Möglichkeiten liegendeWirtschaftspolitik verfolgt, so schlug sie nuneinen nicht minder gefährlichen Weg ein.Denn die Erwartungen der Bevölkerung anihr Lebensniveau stiegen weiter. Und dieSED bemühte sich nach Kräften, diese Er-wartungen zu erfüllen. Der Preisstopp wurdeals sozialpolitische Maßnahme verkauft,Rentenerhöhungen 1972 gewährt und För-dermaßnahmen für berufstägige Mütter ver-abschiedet.

Zum Kernstück der SED-Sozialpolitik wurdeauf der 10. Tagung des Zentralkomitees der SED im Oktober 1973 das Wohnungs-bauprogramm ernannt. Der unter WalterUlbricht vernachlässigte Wohnungsbausollte nun verstärkt in den politischen Blickgenommen werden, das Wohnungspro-blem als soziales Problem bis 1990 gelöstsein. Bis dahin sollte nicht mehr jeder nureine Wohnung, sondern seine Wohnungbewohnen.

78Das moderne undbehagliche Heim

In der DDR waren – wie in ganz Deutsch-land nach dem Kriege – etwa 65 Prozentdes Wohnungsbestandes in den Städtenzerstört. Bei einem geschätzten Wohnungs-bestand von etwa 4.060.000 Wohnungenauf dem Gebiet der DDR waren 650.000Wohnungen völlig zerstört, 757.000 gal-ten als leicht bis mittelschwer beschädigt. ImVergleich zum Vorkriegsstand fehlten etwa12 Prozent Wohnraum. Verschärft wurdediese Situation durch die Millionen Flücht-

linge und Vertriebene, die aus ehemaligendeutschen Gebieten nach westlich derOder-Neiße-Linie gezogen waren. Um die-ser prekären Situation Herr zu werden, wur-den in der SBZ/DDR wie überall in Deutsch-land Wohnunterkünfte notdürftig instand ge-setzt und jeder verfügbare Raum genutzt.Die Kriegszerstörungen und die Ansiedlungvon etwa drei Millionen Flüchtlingen undVertriebenen führten zusammen mit der Ver-nachlässigung des bestehenden Wohnungs-und Hausbestandes vor allem in den Städ-ten dazu, daß hunderttausende Wohnun-gen fehlten.

Um Spekulationen mit der Wohnungsnot zuverhindern, wurde der freie Wohnungsmarkt

(Foto: Stadtarchiv Erfurt)Erstes Erfurter Wohngebiet in Plattenbauweise 1966.

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aufgelöst. Die Vergabe von Wohnraum er-folgte nach Dringlichkeitskriterien über zen-trale Stellen und Ämter, bei denen die Bür-ger einen Antrag auf Wohnraumzuweisungstellen konnten.

Bereits 1953 hatte es geheißen: „Besser le-ben – schöner wohnen“. Fünf Jahre späterbeschloß der V. Parteitag das „Wohnungs-bauprogramm des Sieben-Jahrplans“, mitdem Hunderttausende neuer Wohnungenerbaut werden sollten. Auf der 3. Baukonfe-renz 1960 benannte Walter Ulbricht denWohnungsbau als eines der Gebiete, aufdem die Bundesrepublik im Systemvergleichzu überholen war. Und tatsächlich konntedie DDR auch hier bis 1961 erste Erfolgevorweisen. Zwischen 1950 und 1961 wur-den über 550.000 Wohnungen instand ge-

setzt oder neugebaut. Aber angesichts desin die Millionen gehenden Bedarfs war daszu wenig.

Im Zuge der Umstrukturierungsprogrammeder Wirtschaft durch das NÖSPL in densechziger Jahren wurde zu Lasten des Woh-nungsbau auf andere Industriezweige ge-setzt, die die SED-Wirtschaftsführung fürwichtiger hielt, um Anschluß an die Welt-spitze zu halten. Die bestehende Woh-nungsnot verschärfte sich wieder, zumalnicht nur der Wohnungsneubau gedrosseltwurde, sondern auch die Instandhaltung al-ter Bausubstanz hintangestellt wurde.

Zu Beginn der sechziger Jahre gab es etwa600.000 Anträge auf Zuweisung einerWohnung. Die Zahl der Wohnungssuchen-

80

81den verringerte sich bis 1989 jedoch trotzdes ab 1971 zum Kernstück der Sozialpoli-tik erhobenen Wohnungsbaus nicht, dennder Verfall des alten Wohnungsbestandesmachte immer mehr Bürger zu Wohnungssu-chenden.

Um in den Genuß einer warmen und trocke-nen Wohnung zu kommen, mußten sich dieWohnungssuchenden auf dem Wohnungs-amt melden. Nach oft mehrjähriger Warte-zeit – wobei junge Familien bevorzugt mitWohnraum versorgt wurden – erfüllten sichdann für viele Familien ihre Träume voneinem warmen und trockenen Heim, indemsie eine Neubauwohnung zugewiesen be-kamen. Angesichts der ehrgeizigen Bau-pläne blieb kaum Kapazität für die Repa-ratur und Renovierung der alten Bausub-stanz übrig, die zu 45 Prozent aus Bautenbestand, die noch vor der Jahrhundert-wende errichtet worden waren. Nur 10 Po-zent der Wohnungen waren nach 1945entstanden.

1971 zeichnete sich mit der Verkündungdes Wohnungsbauprogramms endlich eineWende ab. Erst 1979 erreichte der Woh-nungsbau in der DDR wieder das Niveauvon 1961, und bis 1989 schaffte es dieDDR tatsächlich, 1,8 Millionen neuer Woh-nungen zu erbauen. Allerdings wurde dafürein hoher Preis gezahlt. Die alte Bausub-stanz verfiel weiter, an den Peripherien derStädte, deren Stadtkerne zunehmend ent-wohnt und baufällig waren, entstanden rie-sige Schlafstädte, die oftmals wegen derfehlenden Mittel und Baukapazitäten län-gere Zeit auf die nötige Infrastruktur wie Ver-kehrsanbindung an die Städte, Kindertages-stätten, Einkaufs- und Dienstleistungsmög-lichkeiten sowie Kultureinrichtungen wartenmußten. Auch die Qualität der Wohnungen

ließ zu wünschen übrig. Das massenhafteBauen forderte seinen Tribut bei der Woh-nungsqualität, die bei den vorhandenenWohnungen vielfach nicht modernen An-sprüchen entsprach.44 In den siebziger Jah-ren verfügten nur etwa 20 Prozent der Woh-nungen über Fernwärme oder Warmwas-ser. Durch den starken Neubau konnte dieseQuote bis 1989 auf ca. 60 Prozent erhöhtwerden. Dabei klaffte jedoch zwischen denneugebauten Wohnungen und den Altbau-ten ein immer größerer Unterschied.

So hatte 1969 noch jeder vierte DDR-Haus-halt keinen Wasseranschluß in der Woh-nung, in jeder dritten Wohnung befand sichdie Toilette außerhalb des Wohngebäudes.Nur 38 Prozent der Wohnungen verfügtenüber ein Innen-WC, das wiederum nur in50 Prozent dieser Fälle eine Wasserspülunghatte. 1989 hatte sich dieses Verhältnisdurch die Vielzahl neugebauter Wohnun-gen verbessert. Nunmehr verfügten 82 Pro-zent der Wohnungen über Bad oder Du-sche, die in den Altbauwohnungen oftmalsin der Küche stand, und 76 Prozent derWohnungen hatten nunmehr ein Innen-WC.Auch die Ausstattung mit Steckdosen ließ zuwünschen übrig. Vor allem auf dem Landund in den Altbauten stammte das Netz derelektrischen Leitungen oftmals noch aus derVorkriegszeit und war für den Betrieb ener-gieintensiver technischer Hausgeräte nichtausgelegt. Auch die Anzahl der Steckdosenwar dementsprechend unzureichend. Zudieser ungünstigen sanitären Ausstattungder Wohnungen kam die hohe Belegungs-zahl der Wohnungen, in denen sich imSchnitt zwei Personen einen Raum teilten.Bis in die sechziger Jahre hinein mußten sichvor allem in den Städten oft mehrere Fami-lien eine Wohnung teilen. Durchschnittlichwohnten 1961 3,1 Personen in einer Woh-

82nung, wobei jedem 16,7 qm Wohnfläche(inklusive Bad und Küche) zur Verfügungstanden. Hinzu kam, daß die durchschnittli-che Wohnungsgröße mit 65 qm für 3-4 Per-sonen knapp bemessen war. Allerdings er-höhte sich zwischen 1971 und 1976 diepro Person verfügbare Wohnfläche von20,6 qm auf 37,6 qm.

Obwohl sich für Hunderttausende Bürger je-des Jahr die Wohnbedingungen verbesser-ten, nahm die individuelle Zufriedenheit mitden Wohnverhältnissen jedoch nicht nen-nenswert zu. Eine 1979 hierzu angefertigteUntersuchung zeigt, daß die gestiegeneWohnqualität auch die Ansprüche in dieHöhe schraubte. Statt der erhofften zuneh-menden Zufriedenheit zeigte sich, daß dieUnzufriedenheit gestiegen war. Vor allembemängelten die Bürger die zu geringe An-zahl der Wohnräume, den mangelndenKomfort und die geringe Wohnfläche.Diese lag mit 65 qm pro Wohnung 20 qmunter dem bundesdeutschen Durchschnitt.45

Daß diese bekannten Mängel nicht soschnell behoben werden konnten, hatteauch in diesem Bereich mit Fehlplanungenund den durch ständig steigende Subventio-nen künstlich niedrig gehaltenen Mieten zutun, die auf dem Stand von 1936 eingefro-ren worden waren. So zahlte eine Familiedurchschnittlich lediglich drei bis fünf Pro-zent ihres monatlichen Verdienstes für dieMiete. Mietpreise lagen zwischen 0,80und 1,20 Mark pro qm. Mieten zwischen30 und 60 Mark waren die Regel.

Die veränderten Wohn- und Lebensbedin-gungen brachten auch Änderungen in derMöblierung und im Wohnverhalten mit sich.Durchschnittlich drei Prozent des Einkom-mens – das entsprach etwa 380 Mark imJahr – wurden für Möbel ausgegeben.

Das Möbelangebot in den fünfziger Jahrenbestand vor allem in aus Massivholz gefer-tigten traditionellen „Garniturmöbeln“ fürWohn- und Schlafzimmer, die in der Regel„auf Lebenszeit“ angeschafft wurden. Die zuBeginn der sechziger Jahre in Plattenbau-weise errichteten Wohnungen, deren durch-schnittliche Wohnfläche für eine Familie beietwa 65 Quadratmetern lag, erfordertepaßgerechte Möbel, die den Anforderun-gen des „modernen Wohnens“ entspra-chen. Aus dem gemütlichen Wohnen derfünfziger Jahre wurde das moderne Woh-nen der sechziger. Die Möbel aus massivemHolz wichen nach und nach den aus folie-beschichteten Holzplatten bestehenden An-baumöbeln.

Zu Beginn der sechziger Jahre wurden vomKleinmöbel über Küche, Wohnzimmer,Schlafzimmer mit passenden Polstermöbelnin verschiedenen Kombinationen als Liege-Sitz und Schlafmodell bis hin zu Badmöbelnkomplette Einrichtungen angeboten. Möbelin ausbaufähiger und komplettierbarer Lei-ter- sowie Montagebauweise, die ab 1968vorerst nur in Großstädten verkauft wurden,sowie Schrankwände standen im Vorder-grund. Die Anbauwand ersetzte den kom-pakten Wohnzimmerschrank. Zerlegbare,klappbare, platzsparende Möbel waren ge-fragt, mit denen in den genormten Klein-wohnungen jeder Zentimeter „Stellfläche“so optimal wie möglich genutzt werdenkonnte. Der Wohnungsgröße mußte durchentsprechend mulitfuntkional nutzbare Mö-bel und höchstmögliche Platzersparnis Rech-nung getragen werden. Die Küchen zeigtensich in zartrosa, himmelblau, lindgrün oderhellgelb.

Kombinierfähige Möbel wurden unter dem Motto „Immer aktuell – für jede Woh-

83nung passend“ beworben, das auf die stei-gende Mobilität der jungen Generation an-spielte, die bei Bedarf ihren Arbeits- undWohnort in regelmäßigen Abständen wech-selte. Krönung der Flexibilität war der Um-zug nach Berlin, um hier an einem der vie-len in den siebziger und achtziger Jahren insLeben gerufenen „Jugendprojekte“ zur Ver-schönerung der Hauptstadt mitzuwirken.Die vorgestellten Möbel glichen der in „Ge-brauchsanleitungen für Neubauwohnun-gen“ vorgegebenen Mustereinrichtung. DieKunden wünschten sich, daß die Möbeleine individuelle Raumnutzung ermöglichensollten, da durch den Grundriß der genormtgebauten Neubauwohnungen die Auftei-lung in Schlaf- und Wohnzimmer einheitlichvorgegeben war. Für bestimmte Wohnungs-grundrisse ähnelte die Wohnungseinrich-tung mit Anbaumöbeln wie ein Ei dem an-deren.

Dieser aus wohnraumökonomischen Erwä-gungen notwendige Wandel in der Möblie-

rung vollzog sich nicht problemlos. In einer1972 rückblickend für die sechziger Jahrevorgelegten Studie über die Veränderungenbei der Möbelnachfrage mußten die For-scher feststellen, daß das „über längere Zeithindurch nicht völlig bedarfsgerechte Mö-belangebot im Einzelhandel“ denkbarungünstige Bedingungen für die Verbreitungder Anbaumöbel und das moderne Woh-nen bot. Auch die Katalogangebote ver-sprachen wie immer mehr, als sie haltenkonnten. Denn so wie der Einzelhandelviele Möbel nur als „Beratungsmuster“zeigte, mußte auch der Versandhandel Ab-sagen verschicken. „Infolge des hohenDringlichkeitsgrades der Möbelanschaffun-gen“ – denn wer wollte schon monatelangin einer halbleeren Wohnung hausen? –wären die Kunden gezwungen, auf diereichlich vorhandenen veralteten Garnitur-möbel zurückzugreifen, „die nicht völligihren Wünschen und Vorstellungen entspre-chen“.46 Auch das Teilzahlungssystemwurde hier einmal mehr seinem Ruf gerecht,

84ein Instrument für den Abbau von schwerverkäuflichen Haldeprodukten zu sein. Sokonnten zwar die längst nicht mehr gefrag-ten und für Neubauwohnungen viel zugroßen Garniturmöbel auf Teilzahlung er-worben werden, moderne und gefragtekombinierfähige Möbel hingegen nicht.„Auf Grund der gültigen Teilzahlungsnomen-klatur konnten An-, Aufbau- und Monta-gemöbel im Prinzip nicht auf Teilzahlung ge-kauft werden“, befand die Studie.47 Für denAbkauf von Möbeln spielten auch die 1972beschlossenen Kredite für junge Ehen eineRolle, da diese nun bereits zum Zeitpunktder Eheschließung langlebige Konsumgüter– Möbel und technische Haushaltsgeräte –in einem weitaus größeren Umfang erwer-ben konnten als ohne das staatliche Dar-lehen. Die Erstausstattung der Haushaltewürde dabei durch junge Leute auch beiMöbeln vor allem zum Abkauf von preis-günstigeren „Haldemodellen“ führen, wasdem Abbau der hier vorhandenen Überpro-duktionen zugute kommen sollte.

Anfang der siebziger Jahre konnten dieMarktforscher der DDR melden, „daß sich inden zurückliegenden Jahren bereits grundle-gende Wandlungen in den Einstellungender Bevölkerung auf dem Gebiet der Wohn-raummöbel vollzogen haben.“48 Hier hattensich moderne, kombinier- und erweiterungs-fähige Möbel durchgesetzt. In einer Studiedes Instituts für Marktforschung aus demJahre 1972 hieß es rückblickend: „Im Rah-men dieser Entwicklung wird immer mehreine weitgehende Übereinstimmung zwi-schen den funktionellen Aufgaben der Wohnungseinrichtungs- und Ausrüstungsge-genstände und deren kulturell-ästetischenAufgaben angestrebt. Das bedeutet, daßdie Konsumgüter immer mehr vom Standpunkt der Zweckmäßigkeit beeinflußt

werden, daß zugleich aber auch die vomästhetischen Empfinden diktierten An-sprüche wachsen. Auf dem Gebiet derWohnraummöbel bedeutet diese Entwick-lung, daß sich die bereits gegenwärtig ab-zeichnenden quantitativen und qualitativenNachfrageveränderungen weiter durchset-zen werden. Das heißt, es ist damit zu rech-nen, daß verstärkte Anforderungen auftretenhinsichtlich

– einer zweckmäßigen und ästhetischenFormgestaltung und auch Farbgebung,

– eines dem Ausstattungsvolumen mit ande-ren Konsumgütern wie Textilien, Büchern,Schallplatten usw. entsprechenden fas-sungsvermögens der Schrankmöbel,

– einer Mehrzeckverwendung bestimmterMöbelarten (z. B. Schrankmöbel fürsWohn-, Arbeits- und Jugendzimmer),

– einer rationallen Raumnutzung und zu-gleich individuellen Gestaltung derRäume sowie

– einer kontinuierlichen Ergänzung undKomplettierung vorhandener Möbelbe-stände.“49

Motorisierung

Angesichts der Anfang der siebziger Jahreerwarteten Verbesserung im Lebensstandardprognostizierten die Marktforscher der DDR,daß mit der zunehmenden und bald erreich-ten Befriedigung der Bedürfnisse in derHaushaltsausstattung sich nunmehr die Spar-ziele und Konsumbedürfnisse auf größereZiele, wie das Häuschen im Grünen und vorallem das eigene Auto, konzentrieren wür-den.

85

86Während in den fünfziger Jahren nur etwa2,5 Prozent der Haushalte über einen PKW(und ca. 15 Prozent über ein Moped oderMotorrad) verfügten, erhöhte sich dieserGrad der Ausstattung in den sechziger Jah-ren auf etwa 5 Prozent und in den siebzigerJahren auf 15 Prozent. Bereits 1980 hattedie Ausstattung mit PKW 38 Prozent und1989 57 Prozent erreicht. Zum Ende derDDR verfügte also etwa jeder zweite Haus-halt über ein Auto. Das beliebteste (oderbesser) am weitesten verbreitete Auto warder Trabant, gefolgt vom Wartburg. Beideswaren Wagen aus einheimischer Produk-tion.

Unter dem Stichwort „Personenbeförde-rungsbedürfnisse“ beobachteten die Ökono-men in der DDR seit den sechziger Jahrenmit zunehmender Sorge Strukturverschiebun-gen hin zu den „individuellen Verkehrsmit-teln“. Denn auch hier konnte die Produktionnicht mit den rasant wachsenden Bedürfnis-sen und finanziellen Möglichkeiten der Bür-ger mithalten. Zwar hoffte man, über die be-kannten langen Wartezeiten die freienGeldmittel langfristig zu binden und somitWährungs- und Warenturbulenzen vorzu-beugen. Dadurch wurde einerseits der Kaufanderer Produkte gebremst und andererseitsdie Überalterung der Haushaltsausstattungforciert. Autos, auf die im Durchschnitt zehnJahre und mehr gewartet werden mußte,wurden 15–20 Jahre gefahren. Aber diestetig wachsenden Geldmittel der Bevölke-rung, die über das normale Angebot nicht

sinnvoll gebunden werden konnten, hingenwie ein Damoklesschwert über der DDR.

Tarife im öffentlichen Nahverkehr warensubventioniert und mit 10–20 Pfennig biszum Untergang der DDR unverändert stabil.Auch die Preise für Bus- oder Bahnfernver-kehr wurden gestützt und niedrig gehalten.Es gab ein ausgebautes öffentliches Trans-portsystem, dessen Qualität allerdings zuwünschen übrig ließ. Durch die hohen Preis-subventionen waren die Einnahmen gering,was wiederum notwendige Modernisierun-gen verhinderte. Verspätungen, ungeheizteund unsaubere Züge, Fahrplanausfälle wa-ren an der Tagesordnung.

Die Unsicherheit und Unbequemlichkeit desöffentlichen Personenverkehrs wirkten hierebenso wie Prestige- und Modernitäts-gründe auf die Wünsche der Bevölkerungnach wachsender individueller Mobilität.

In den fünfziger Jahren bewegten sich diezurückgelegten Straßenkilometer in beschei-denem Rahmen. Man brauchte das Autovor allem, um zur Arbeit oder einmal im Jahrin den Urlaub zu kommen. Mit zunehmen-der Freizeit änderten sich auch hier Bedürf-nisse und Verhalten. So verdoppelten dieDDR-Bürger zwischen 1960 und 1970 dieindividuell zurückgelegten Personenkilome-ter von 49 309 auf 77 350 Millionen,während die mit öffentlichen Verkehrsmittelnzurückgelegten Kilometer nur um 16 Prozentstiegen.

Das Jahrzehnt der Krisen –„Noch nie bereitete der

Einkauf soviel Verdruß undMühe wie in jüngster Zeit“50

88Nur allzubald mußte die DDR-Führungspüren, daß sie nicht nur mit den Unwäg-barkeiten im eigenen Land konfrontiert war.Die rohstoffarme DDR, die auf Importe ausder Sowjetunion angewiesen war, bekamdie Grenzen ihres wirtschaftlichen Wachs-tums und Wohlergehens weitgehend vonder Sowjetunion diktiert. Die Ölkrise und diedurch sie verursachte Weltmarktkrise warennicht ohne Auswirkungen auf die im „Rat fürgegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) zu-sammengeschlossenen sozialistischen Staa-ten geblieben. Die Sowjetunion erhöhte1976 die Preise für ihre Erdöllieferungenund reduzierte gleichzeitig die Menge desexportierten Erdöls, was in den von ihrenRohstoffexporten abhängigen sozialisti-schen Staaten für wirtschaftliche Turbulen-zen sorgte. Diese wiederum hatten demwirtschaftlich und politisch wenig entgegen-zusetzen und konnten zusehen, wie sie diedadurch entstandenen Nachteile ausgli-chen. Die neuerliche Krise hatte jedochnicht nur ökonomische Ursachen. So zeigtesich nach Abschluß der Verhandlungen inHelsinki und der Unterzeichnung derSchlußakte, daß die stillen Hoffnungen aufeine Öffnung der DDR nach Westen hin nunvollends zerschlagen waren. Die DDR-Führung enthielt ihren Bürgern den genauenWortlaut der Schlußakte, der auch Reise-und Ausreiseerleichterungen festschrieb, vor.

Am 16. November 1976 meldeten dieNachrichtenagenturen, daß Wolf Biermannwegen seines „feindlichen Auftretens“ dieStaatsbürgerschaft der DDR entzogen wor-den sei und ihm die Wiedereinreise nachseiner Konzerttournee nach Westdeutsch-land nicht mehr gestattet werde. Doch dasKalkül der Machthaber der SED, daß dieBevölkerung diesen Schritt wie meist hinneh-men würde, erfüllte sich nicht. Namhafte

Künstler und Intellektuelle protestierten ge-gen die Ausbürgerung und erklärten sich mitBiermann solidarisch. Es hagelte Haft- undParteistrafen, Ausschlüsse aus der SED oderVerbänden, Publikationsverbote und Schika-nen aller Art.

Die Ausbürgerung Biermanns war jedochmehr als nur ein neuerliches Anziehen derkulturpolitischen Daumenschrauben und De-monstration der Macht. Statt die innenpoliti-sche Lage zu entspannen, provozierte sieden schlimmsten intellektuellen Aderlaß derohnehin durch die Abwanderung von ca.vier Millionen DDR-Bürgern seit 1949 ge-schwächten DDR. Die SED-Führung gerietnicht nur bei den Intellektuellen unter Druck.Auch die politisch und ökonomisch umwor-bene Jugend, deren Loyalität man mit vieler-lei materiellen Anreizen versucht hatte zukaufen, wandte sich resigniert mehr undmehr von der „Partei der Arbeiterklasse undInteressenvertreterin des gesamten Volkes“ab.

Der Zusammenhang zwischen Preissteige-rungen auf dem Weltmarkt, Mangelerschei-nungen in der DDR und der wachsendenUnzufriedenheit der Bürger zeigte sich1977 mit der sog. „Kaffeekrise“ besondersdeutlich. Seit Honeckers Machtantritt hattesich die Auslandsverschuldung der DDR umein Vielfaches erhöht. Das Politbüro suchteangesichts der steigenden Weltmarktpreiseund der Exportschwäche der DDR-Wirt-schaft nach Wegen, um über die Drosse-lung von Importen die Verschuldung abzu-bauen. Für den Import von Kakao- und Kaf-feerzeugnissen gab die DDR jährlich etwa150 Millionen Valuta-Mark aus. Als die Kaf-feepreise 1976 dramatisch anstiegen,mußte die DDR nunmehr fast 700 MillionenMark für Kaffeeimporte ausgeben. Um die

89Auslandsverschuldung nicht weiter steigenzu lassen, beschloß die SED-Führung die Im-porte von Nahrungs- und Genußmitteln zudrosseln und die dringend benötigten Devi-sen für die Einfuhr von Rohstoffen zu sparen.Die bis dahin angebotenen Kaffeesortenwurden auf eine Sorte „Rondo“ reduziert.Diese kostete statt 15 Mark pro 250 g nun-mehr 30 Mark pro 250 g. Außerdem kameine neue Mischkaffeesorte auf den Markt.Von weiteren Maßnahmen – wie etwa derZuteilung von Kaffee – sah die SED ab: „Aufeine Kontingentierung beim Verkauf vonRöstkaffee im Einzelhandel ist zu verzichten,da eingeschätzt werden kann, daß durchdie Erhöhung des Kaffeepreises um ca.100 % ein Rückgang des Kaffeeverbrauchsum ca. 25–30 % zu erwarten ist. Weiterhinist damit zu rechnen, daß durch diese Maß-nahmen eine Zunahme der Versorgung derDDR-Bevölkerung durch andere Quellen,wie z.B. durch grenzüberschreitenden Päck-chen- und Paketverkehr und beim Abkauf imIntershop [...] erfolgen wird. [...] In Betrie-ben, Verwaltungen, Institutionen usw. sowiefür Repräsentationszwecke ist der Verbrauchvon Kaffee generell zu untersagen.“51

Die Bevölkerung nahm diesen Angriff aufihren Lebensstandard nicht unwiderspro-chen hin. Es hagelte Eingaben und Drohun-gen. Denn immerhin gehörten Genußmittelzu einem wichtigen Posten bei der Bestim-mung des Lebensniveaus. Da der Bedarf anGrundnahrungsmitteln seit den sechzigerJahren als gesichert galt und in diesem Be-reich durch fehlende Sortimente wie Obstund Gemüse oder Fisch keine Kaufkraftver-lagerungen mehr zu erwarten war, legte dieBevölkerung ihr durch Einkommenserhöhun-gen gestiegenes Gehalt zunehmend in Ge-nußmittel an. Süßwaren, Tabak, Kaffee undAlkohol rückten ins Zentrum des Interesses.

Der Verbrauch an Bohnenkaffee nähertesich in den siebziger Jahren dem gesund-heitsschädigenden Bereich. Denn trotz ei-nes stark überteuerten Preises – der zur Re-gulierung der Nachfrage beitragen sollte –gehörte Kaffee zu den wichtigsten Ausga-benposten. Etwa vier Prozent des gesamtenEinzelhandelsumsatzes – bzw. 20 Prozentdes Umsatzes bei Genußmitteln – entfielenauf Kaffee.52 So erhöhte sich der Verbrauchan Kaffee zwischen 1960 von 1,1 kg bis1989 auf 3,6 kg, wobei hier die umfäng-lichen privaten Einfuhren in der offiziellenDDR-Statistik natürlich nicht berücksichtigtwurden. (Immerhin deckten diese 18 Pro-zent des Gesamtverbrauchs der DDR.) Kaf-fee zählte gar zu den stärksten Posten imHaushaltsbudget der DDR-Haushalte. 3,3Milliarden Mark gaben die DDR-Bürger proJahr für den Kaffeekonsum aus, fast ebenso-viel wie für Möbel und etwa das Doppelte,was sie für Schuhe zahlten.

Alarmierend stieg auch der Verbrauch vonAlkoholika, dessen Konsum „gesundheitsge-fährdende Ausmaße“, die einer „internatio-nalen Spitzenposition gleichkommen“, an-genommen hatte und „in gesellschaftlich ak-zeptierbare Bahnen“ gelenkt werdenmußte.53 Beim Verbrauch von reinem Alko-hol sah es noch drastischer aus. DDR-Bürgertranken 1960 4,1 Liter und 1989 10,9 Li-ter reinen Alkohols. Umgerechnet in han-delsübliche Alkoholsorten tranken sie alsodurchschnittlich 146 Liter Bier und 15,5 LiterSchnaps im Jahr.54 Auch hier hoffte man –vergeblich – mit dem Mittel der Preisregulie-rung den Verbrauch zu senken. Besorgniserregte vor allem der erhöhte Konsum soge-nannter „harter“ Alkoholika, zu deren Ver-breitung das unzureichende Wein- und Bier-angebot, die Einführung der 5-Tage-Arbeits-woche in den sechziger Jahren und Einkom-

90menserhöhungen sowie mangelnde Waren-angebote bei Industriekonsumgütern undhochwertigen Nahrungsmitteln beigetragenhatten.

1978 konnte die SED noch stolz vermel-den, daß sich die Lage auf dem Kaffeesek-tor – allerdings ohne ihr Zutun wegen dergesunkenen Kaffeepreise auf dem Welt-markt – wieder normalisiert hatte. Aber da-mit hatte sich das Krisenkarussel erst zu dre-hen begonnen. 1978 kämpfte die DDR mitdem schlimmsten Kälteeinbruch seit Kriegs-ende, der der Wirtschaft Schäden in Millio-nenhöhe zufügte. Kaum war dieser über-standen, drangen bedrohliche Nachrichtenvom östlichen Nachbarn, Polen, über dieGrenze. Solidarnosc machte mobil, Polenbefand sich in einer politischen Krise. DieDDR schloß schließlich 1981 ihre Grenzeund setzte den erst zehn Jahre zuvor ins Le-ben gerufenen visafreien Verkehr mit demNachbarland wieder aus.

Jenseits dieser politischen Schwierigkeitenstand die DDR zudem kurz vor der Zah-lungsunfähigkeit, vor der sie nur der 1983von Franz Josef Strauss maßgeblich befür-wortete Kredit der Bundesrepublik be-wahrte. Im ganzen Land waren Kaffee, But-ter und Fleisch – vormals zum „Systemver-gleich“ auserkorene Lebensmittel – knapp.

Eine delikate Versorgungsstrategie

Mängel in der Versorgung waren also inden achtziger Jahren kein neues Thema. DieSitzungen von Politbüro und Zentralkomitee,die Berichte der Räte der Bezirke und Kreisesowie der Staatssicherheit beschäftigtensich unaufhörlich mit den „Engpässen“ inder Versorgung der Bevölkerung. Wederdie tausend kleinen noch die zehn großenDinge waren zu nichtig, um nicht auf höch-ster Ebene beraten und beschlossen zu wer-den. Entgegen allen Plänen und Zukunftsvi-sionen hatten die Versorgungsprobleme imLaufe der Zeit jedoch nicht ab-, sondern zu-genommen. Und allen realen Verbesserun-gen im Alltag und in der Versorgung zumTrotz gab sich die Bevölkerung mit dem Er-reichten nicht zufrieden, sondern war mitihren Bedürfnissen der tatsächlichen Ent-wicklung immer ein gutes Stück voraus.

Die statistischen Ergebnisse klangen nichtschlecht. Immerhin erreichte der Ausstat-tungsgrad der Haushalte mit hochwertigentechnischen Gütern wie Kühlschränken,Fernsehern und Waschmaschinen 90 Pro-zent, im Pro-Kopf-Verbrauch an Nahrungs-mitteln verteidigten die DDR-Bürger seit lan-gem die Weltspitze und auch bei Dienstlei-stungen hatte sich die Lage gebessert.

Zwar hatte sich der Lebensstandard derDDR-Bürger erhöht, aber die erhoffte Zufrie-denheit mit den Lebensumständen war nichteingetreten. Im Gegenteil: Die Forderungenund Erwartungen weiteten sich aus. Das In-stitut für Marktforschung räumte in seinenVeröffentlichungen ein, daß die Einteilung

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(Foto: Verband der Konsumgenossenschaft-VdK eG, Fotoarchiv)

der Bevölkerung in Zielgruppen, die inihrem Konsumverhalten beeinfluß- und er-ziehbar waren, gescheitert war. Der Bevöl-kerung wurde ein wachsender Wille zur Di-stinktion und Differenzierung attestiert, denes mit Waren zu befriedigen gelte. Subjek-tiv empfanden die Bürger die Versorgungs-lage als so schlecht wie seit den fünfzigerJahren nicht mehr.

Bereits 1959 hatten die auf der Bank be-findlichen Sparguthaben zum ersten Maldie frei in Umlauf befindlichen Geldmittelüberstiegen. Um aufkeimenden Unmut zu

besänftigen, erhöhte die SED immer wiederdie Löhne und Gehälter und hielt an denniedrigen Mieten, Energiepreisen und Ver-kehrstarifen fest. Hauptaufgabe war es, das„erreichte Versorgungsniveau zu sichern“und eine Rang- und Reihenfolge der Be-darfsdeckung zu erstellen. Die als „soziali-stische Errungenschaften” popularisiertenniedrigen Mieten und die Preise für Energie,Brot und Milch galten wie schon in densiebziger Jahren als unantastbar. Gleichzei-tig legte die Abteilung Handel und Versor-gung beim Zentralkomitee der SED Listenüber die aktuellen Mangelwaren an. Auf ih-

92nen fanden sich fast alle Waren wieder, dieursprünglich den Wettstreit mit der Bundes-republik entscheiden sollten.

Die Bevölkerung hatte nun genügend Geldund verdiente nunmehr durchschnittlich1.000 Mark im Monat. Doch angesichtsder unzureichenden Warendeckung undder fehlenden technisch weiterentwickeltenProdukte gab es wenig Gelegenheiten, die-ses Geld auch auszugeben. So hatten ge-rade die Versuche, die Bevölkerung überden Lohnfonds zu befrieden, die Unzufrie-denheit noch erhöht.

Täglich mit den Versorgungslücken konfron-tiert, paßten die Menschen ihr Einkaufsver-halten dem unbefriedigenden Angebot an.Spekulations- und Vorrats- sowie Impulskäufemehrten sich und führten ihrerseits wiederumzu neuen Versorgungsproblemen. Die Er-wartung von Preiserhöhungen und neuerli-chen Einbrüchen in der Versorgung verstärk-ten den Warenabkauf weiter. Tauschge-schäfte und ein „grauer Markt“, auf dem fürD-Mark alles zu haben war, verschärften dieoffizielle Versorgungssituation noch. MonikaMaron prägte den Begriff von der „Diktaturder Kellner und Verkäuferinnen“. „Sonderge-schäfte“ wie Intershop, Genex, Delikat oderExquisit verbesserten die Versorgungslagenur auf kurze Sicht. Die politischen Folgenund der wachsende Unmut der Bevölke-rung über die Ungerechtigkeiten in der Ver-teilung der Waren zeitigten gravierende Fol-gen.

Die offiziellen Berichte sprachen von einer„stabilen Versorgungssituation“. Diese er-wies sich in den nicht-veröffentlichten Analy-sen jedoch als „stabil kritisch“, woran sichden Prognosen zufolge auch in absehbarerZeit nichts ändern würde.

Um der wachsenden Unzufriedenheit ge-genzuwirken, hatte das Politbüro beim ZKder SED im Frühjahr 1977 beschlossen, dieDelikat- und Exquisitläden auszubauen. Siesollten den Bedarf der – devisenlosen – Be-völkerung an hochwertigen Importnahrungs-mitteln befriedigen und über die dort erziel-ten höheren Preise zum Abbau der ständigwachsenden Spareinlagen beitragen. Ent-sprechend einer auch für andere Bereichedes öffentlichen Lebens in der DDR gelten-den Regelung entsprach das Warenange-bot dem Verhältnis 60:40. 60 Prozent derWaren sollten hochwertige, dem Westen inVerpackung und Art entsprechende Warenaus einheimischer Produktion sein, 40 Pro-zent aus Importen vor allem aus der Bun-desrepublik stammen. Das Angebot im „De-likat“ entsprach bis 1981 auch den Erwar-tungen der Verbraucher, konnten Mängel imAngebot doch mit der Anlaufphase begrün-det werden. Hinzu kam, daß im Delikat vorallem Waren angeboten wurden, die imsonstigen Einzelhandel nicht anzutreffen undsomit konkurrenzlos waren: „Die umsatzsti-mulierende Wirkung des Delikat-Warenan-gebots beruht hauptsächlich auf der Hervor-hebung und Abgrenzung gegenüber demtraditionellen WtB-Sortiment und damit aufdem Effekt der Bereicherung und Vielfalt desNahrungs- und Genußmittelangebots.“55

Bald stellte sich jedoch heraus, daß dieangebotenen einheimischen Artikel nicht alsAlternative zu den Importen akzeptiert wur-den. Sie galten als „nachgemacht“ und ent-sprachen nicht den Erwartungen an einwestliches Erscheinungsbild der Waren. Be-reits 1981 war eine „generelle Angebots-verschlechterung“ eingetreten, in derenFolge das avisierte Ziel, einen festen Käu-ferkreis mit seiner Kaufkraft zu binden, nichtgelang. Auch litt die Akzeptanz des Delikat-handels als sinnvolle Ergänzung zum sonsti-

93gen Warenangebot, da nach und nach im-mer mehr Waren aus dem normalen Wa-rensortiment nun in den Delikatläden auf-tauchten. Die Bürger fühlten sich betrogenund unterstellten, daß Mangelwaren ausdem normalen Sortiment zu höheren Preisenim „Delikat“ käuflich waren.

Bis Ende der 80er Jahre verschärften sichdie Diskrepanzen zwischen Angebot undNachfrage weiter. Zwar erreichte der Um-satz im „Delikat“ das zweifache Volumendes Umsatzes im Sortiment „Waren des täg-lichen Bedarfs“, aber das kam nur zu-stande, weil die befürchtete Verlagerungdes Angebots aus dem WtB-Sektor in denDelikat-Bereich eingetreten war. Die Vorzei-geläden der DDR schnitten in der Bewertungdurch die Bevölkerung gegen Ende der DDRimmer schlechter ab. Diese bescheinigte ih-nen eine stetig abnehmende Auswahl, man-gelnde Vielfalt, ein sinkendes Versorgungsni-veau mit einem unzureichenden Grad anBedarfsdeckung. Dennoch kaufte die Bevöl-kerung verstärkt in diesen Läden ein. Vor derdurch das mangelhafte Angebot forciertenReservehaltung der DDR-Bevölkerung Käu-fen gegenüber, vor dem verstärkten unbere-chenbaren Kaufverhalten und den darausresultierenden Kaufverlagerungen in andereBereiche wie Textilien warnten die Marktfor-scher eindringlich. Sahen sie doch im Schei-tern des Modells „Delikat“ die Gefahr vonVersorgungsstörungen bisher ungekanntenAusmaßes. Ihre Forderungen nach einer Er-höhung der Importe und der Aufnahmetatsächlicher „Delikatessen“ in das Angebotblieben ungehört bzw. wegen der fehlen-den Devisen unerfüllbar.

Auch im Bereich der kostenintensiven Kon-sumgüter wie PKW, Fernsehern, Kühlschrän-ken oder Waschmaschinen sah es kaum an-

ders aus. Die Läden und Lager waren zwarvoll, aber bei den Verbrauchern, die längstihren Grundbedarf an technischen Hausrat,Möbeln und Bekleidung gedeckt hatten unddenen der DDR-Handel kaum Neuerungenbieten konnte, hatte sich der Trend zum teu-ren Produkt und zu hochwertigen Erzeugnis-sen durchgesetzt. Auf begehrte Neuent-wicklungen wie Farbfernseher oder Vollau-tomaten mußte jedoch bis zu mehreren Jah-ren gewartet werden. Somit war auch hierkeine reale Möglichkeit gegeben, die Kauf-kraftüberhänge wirkungsvoll abzubauenund die steigende Unzufriedenheit einzu-dämmen. Die Ausmusterung alter und derKauf neue Geräte wurde auch dadurch er-schwert, daß technisch neue Geräte wieFarbfernseher, Waschvollautomaten oderKaffeemaschinen nur in geringen Stückzah-len in den Verkauf gingen.

Auch wenn Anfang der achtziger Jahre be-reits 24 Prozent der DDR-Haushalte einFarbfernsehgerät ihr eigen nannten, lag dieKaufbereitschaft weit höher. Wenn man sichschon einen neuen Fernseher leisten wollteund konnte, dann sollte es auch das tech-nisch modernste Gerät sein. Den DDR-Bür-gern, die sich einen einheimischen Color-trone-Farbfernseher kaufen wollten, kamunverhofft der Westen in Gestalt des Patent-rechts zu Hilfe. Der für den Export ent-wickelte Fernseher konnte wegen der Verlet-zung von 28 Patenten nicht exportiert wer-den. So beschloß die SED-Führung, für die-ses Produkt die Teilzahlung einzuführen,was zum Abbau der die Lager verstopfen-den zigtausend Geräte führte.

Die in den achtziger Jahren in zweijährigemTurnus erstellten Marktlagetests kamen zu im-mer schlechteren Befunden. Fast alle Kon-sumgüter zählten inzwischen zu den kriti-

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95schen Sortimenten: „Am Ende des III. Quar-tals 1985 kann einmal mehr festgestellt wer-den, daß bei der Mehrzahl der in beidenWarengruppen untersuchten Sortimente ins-gesamt ausreichende Angebotsmengen zurDeckung der Bevölkerungsnachfrage vor-handen waren. Schwierigkeiten bereitetnach wie vor das Angebot dieser Gesamt-mengen in einer nachfragegerechten struk-turellen Zusammensetzung. [...] SolcheSchwierigkeiten äußern sich einerseits in un-zureichenden Angebotsmengen [...], ande-rerseits in teilweise beträchtlichen Überan-geboten.“56 Bei Schuhen wurde eine „kom-plizierte Marktlage“ festgestellt, die aller-dings durch die private Einfuhr – viaGeschenksendungen – von mehreren Millio-nen Paar Schuhen über den privaten Paket-verkehr wieder gemildert werde. Zum Be-reich Oberbekleidung hingegen hieß es: „Inder Frühjahr-Sommer-Saison 1985 ist esnicht gelungen, die Marktsituation nach derim Vorjahr verzeichneten Verschlechterungwieder zu stabilisieren. Der Einzelhandelmeldet bei 60 Prozent der Untersuchungs-positionen unzureichende Angebotsmengen[...].“57

Aber die Forscher des Instituts entdeckten zu-mindest in ihren veröffentlichten Verlautba-rungen auch noch in dieser angespanntenund unbefriedigenden Situation etwasGutes. So führe die mangelhafte Angebots-situation dazu, daß die Bevölkerung nichtnur auf dem Nahrungsmittelsektor durch dasEinkochen, sondern auch bei der Kleider-frage auf das „Selbermachen“ zurückgriffe.Bereits 1976 hatte eine Studie die Frageaufgeworfen, ob die „individuell geschnei-derte Oberbekleidung Luxus, Hobby oder`Notlösung´“? sei. Im Ergebnis stellte dasPapier einerseits fest, daß das unzurei-chende Angebot im Handel zum Sel-

bernähen führe, daß andererseits aber da-durch auch eine „sinnvolle Nutzung desFreizeitfonds unserer Frauen“ gewährleistetwerde.58 Auch der in den 80er Jahren for-ciert betriebene Ausbau der An- und Ver-kauf-Läden (A&V), des Secondhand-Han-dels in der DDR, war vor allem fehlendenWaren geschuldet.

Schaufenster Berlin

Der Ärger über die eingeschränkten Kon-summöglichkeiten wurde noch durch die seitden sechziger Jahren betriebene Bevorzu-gung von Berlin bei der Belieferung mitMangelwaren verstärkt. Einerseits verschobdie Berliner Versorgungslage die Statistikenund suggerierte ein höheres Versorgungsni-veau, andererseits reisten Hunderttausendeaus den Bezirken in die Hauptstadt, um hiereinzukaufen. Dieser Einkaufstourismus lief inden achtziger Jahren aber nicht mehr nurprivat ab. Betriebe stellten ihre Werksfahr-zeuge für Einkaufsfahrten direkt beim Produ-zenten zur Verfügung und schickten Lastwa-gen nach Berlin und andere Orte, um nachBestellisten ihrer Beschäftigten einzukaufen.Schließlich gab es in der DDR alles zu kau-fen – nur nicht unbedingt in den offiziellenLäden.

Für die bevorzugte Versorgung von Berlinwaren politische Prämissen ausschlagge-bend. Berlin sollte als „Grenzstadt zum Im-perialismus“ zum Schaufenster des Sozialis-mus werden und vom Wachsen und Ge-deihen des ersten sozialistischen Arbeiter-und-Bauern-Staates auf deutschem Boden

96künden. So erhielt Berlin pro 1.000 Ein-wohner die doppelte Anzahl PKW zur Ver-fügung gestellt als die Bezirke. Auch diedurchschnittlichen Wartezeiten waren in derHauptstadt mit 132 Monaten wesentlich ge-ringer als in den Bezirken, wo 156 Monateauf ein Auto gewartet werden mußte.

Ausländer als Sündenböcke

Bei ihrem Versuch, hausgemachte Problem-lagen externen Ursachen anzulasten, griffendie DDR-Marktforscher auf altbekannte Re-pertoirs zurück. War bereits 1953 die ver-schobene Aufhebung der Rationierung demAbkauf der Westberliner Bevölkerung inOstberlin angelastet und auch der Mauer-bau mit dem drohenden Ausverkauf derDDR durch Westberliner begründet worden,so boten sich in den achtziger Jahren wie-derum Touristen und Ausländer als Sünden-böcke an. 1980 wurde im Auftrag der Re-gierung untersucht, welche Auswirkungender ausgesetzte Reiseverkehr zwischen Po-len und der DDR auf die Versorgungslagehatte. Man stellte fest, daß dieser auf 33Prozent des Vorjahresstandes zurückgegan-gen sei, wobei die Einreisenden zu 90 Pro-zent als Arbeitskräfte in die DDR kamen.Diese wiederum kauften weniger Waren,wodurch für DDR-Bürger mehr zur Verfügungstand. Im Klartext hieß das: „Infolge des

Rückgangs der Käufe polnischer Touristenwurden die verfügbaren Warenfonds in stär-kerem Maße für die Versorgung der Bevöl-kerung in der DDR wirksam.“59

Trotzdem rief das „polnische Kaufverhalten“unter der Bevölkerung antipolnische Tenden-zen und Streikbereitschaft hervor: Die Polenhätten keine Lust zu arbeiten und das Landsei ein Faß ohne Boden. Die Polen-Hilfewürde die Versorgung in der DDR nur ver-schlimmern, hieß es. Hans Modrow mel-dete sogar aus Dresden, daß die Bevölke-rung in den Grenzbezirken erwäge, tagsü-ber nicht mehr arbeiten, sondern einkaufenzu gehen, um den Polen zuvorzukommen.1988 wurden die Marktforscher noch deut-licher. Sie errechneten über zehn MillionenBesuche aus sozialistischen und nichtsozia-listischen Ländern in die DDR, die dabeiauch in Läden der DDR einkauften: „Damitpartizipieren Ausländer an den Errungen-schaften, die im Zuge der Verwirklichungder Einheit von Wirtschafts- und Sozialpoli-tik in unserem Land erreicht worden sind.Das bedeutet einen Schaden für die Wirt-schaft der DDR und beeinflußt das politischeKlima negativ.“ Um dieser Situation zu be-gegnen, empfahlen die Marktforscher, dieRationierung wieder einzuführen, um eine„handelsseitige Einflußnahme auf die Höheder Abkaufmengen“ zu haben.60 Die Ratio-nierung wurde kurzzeitig für Fleischwarenwieder eingeführt: Pro Person durfte nurnoch 500 g gekauft werden. Aber dies trafweniger die Ausländer als die DDR-Bürgerselber, denen man je eigentlich die Warenerhalten wollte.

97Epilog

Bis 1989 verbesserte sich die schlechte Ver-sorgungslage nicht mehr. Im Gegenteil, sieverschlimmerte sich weiter. Die Ökonomenwandten sich nun der Mobilisierung allerVersorgungsmöglichkeiten zu und griffen aufbisherige Tabuthemen wie Intershop undWestpakete zurück. Zwar hatte sich ErichHonecker 1977 vor SED-Funktionären nochoptimistisch dazu geäußert, daß die Läden,die die DDR-Bevölkerung zunehmend inzwei Gruppen polarisiert hatten, nicht vonlanger Dauer sein würden: „Gestattet mirein offenes Wort zu den Intershop-Läden.Diese Läden sind selbstverständlich keinständiger Begleiter des Sozialismus. Natür-lich übersehen wir nicht, daß Bürger derDDR, die keine Devisen besitzen, in gewis-sem Sinne im Nachteil gegenüber denensind, die über solche Währung verfügen.Mit dieser Frage haben wir uns befaßt undfestgelegt, das Netz der `Exquisit’-Lädenauszubauen. Auch die Anzahl der Delikat-Läden wird erhöht.“61

Ende der achtziger Jahre mußte der von derSED in Auftrag gegebene „Sonderauftragzur gegenwärtigen Versorgungssituation“62

jedoch erneut in Wiederholung des 1976von Erich Honecker auf dem IX. SED-Partei-tag gesprochenen Wortes feststellen, daßnur das verbraucht werden könne, was vor-her produziert wurde. Der Bericht verwiesdarauf, daß die seit Ende der 70er Jahre un-ter dem Eindruck der polnischen Entwick-lung verfolgte Einkommenspolitik zu einemschnelleren Wachstum der Einkommen alsder Produktion geführt habe. Hinzu komme,daß das produzierte Angebot nicht denKaufwünschen der Bevölkerung entspreche,

deren freie Geldmengen weder über diehochpreisigen Waren in Delikat und Exquisitnoch über andere Konsumgüter gebundenwerden könnten. Auch hätten die seit 1975erzielten Umsatzsteigerungen im Handelnichts mit einem erhöhten Abkauf durch dieBevölkerung zu tun, sondern mit Preiser-höhungen. Auch die Intershop-Politik der Re-gierung fördere dieses Verhalten, da die inden Intershop angebotenen Waren westli-cher Produktion selbst bei einem unreali-stisch hohen Umtauschwert zwischen D- undDDR-Mark von 1: 8 bzw. 1:10 immer nochden gleichen Preis hätten wie die im DDR-Handel angebotenen – zumeist minderwer-tigen – DDR-Waren. Die Bevölkerung werdedurch diese Preisgestaltung indirekt aufge-fordert, DDR-Geld zu Schwarzmarktkursen,die derzeit bei 1: 4 bis 1: 5 lägen, zu tau-schen und im Intershop einzukaufen. Hinzukomme, daß die Bevölkerung sich an Waren aus dem Nichtsozialistischen Wäh-rungsgebiet (NSW) orientiert habe und die-sen einen größeren moralischen und mate-riellen Wert als entsprechenden DDR-Pro-dukten beimesse. Eine im Februar 1989 fer-tiggestellte Studie über den Paket- undPostverkehr mit der Bundesrepublik brachtezutage, daß die DDR-Wirtschaft und derHandel auf die private Einfuhr von Konsum-gütern und Nahrungsmitteln regelrecht an-gewiesen waren. Teilweise überstieg dieprivate Einfuhrmenge von Kaffee, Kakau,Oberbekleidung und Schuhen die Mengeder in der DDR produzierten Waren.63 DerBericht verwies auf die Bedeutung dieserEinfuhrmengen für die Wirtschaft der DDR,da sie die Eigenproduktion entlasteten. Essei ein Trugschluß den Stellenwert der Ge-nußmittel in den Paketen geringzuschätzen,da ein Teil der angespannten Versorgungs-lage auf dem DDR-Markt darüber ausgegli-chen werde. Hierbei würde es sich „in je-

98dem Einzelfall um versorgungspolitisch rele-vante Mengen“ handeln, „die maßgeblichdas Versorgungsniveau bei diesen Sortimen-ten prägen. Stets muß mit Nachdruck dar-auf verwiesen werden, daß Textilwaren indieser Größenordnung seit Jahrzehnten überden Postpaket- und Päckchenverkehr in dieDDR gelangen und in den Garderobefondsunserer Bevölkerung eingehen. Diese Ein-fuhrmengen an Textilwaren bieten den Emp-fängern die Möglichkeit, qualitative undstrukturelle Mängel im Warenangebot auchüber längere Zeiträume zu überdecken[...]“. Problematisch sei lediglich, daß überdie Einfuhr von `hochmodischer Kleidung’die Kleidungsansprüche in die Höhe ge-schraubt würden, ohne daß der Handel inder DDR dem etwas entsprechendes entge-genzusetzen habe. Auch sei das hierüberan die Nichtempfänger von Paketen vermit-telte Frustrationspotential nicht zu unterschät-zen: „Anders ist das natürlich bei den Be-völkerungskreisen, die nicht über derartigeKontakte verfügen. Hier wird eine perma-nente Unzufriedenheit genährt, die durchden Augenschein im Straßenbild oder ander Arbeitsstelle ständig neu geschürt wird.Dieser politische Aspekt, der schon in derSchule beginnt, darf in seiner Bedeutungnicht unterschätzt werden.“64 Doch derar-tige Warnungen verhallten ungehört.

Die Ökonomen entwickelten immer wiederdas gleiche Szenario, um diese Entwicklungaufzuhalten. Solange das Angebot nichtdazu angetan sei, die Geldüberhänge wirk-sam abzubauen, sollte auf das Mittel derKaufkraftstimulierung über Einkommenser-höhungen verzichtet werden. Mehr nochwurde gefordert, die Preise für Mieten, En-ergie und soziale Leistungen zu erhöhen,

um so die Belastung des Staates und diewachsenden Spareinlagen der Bevölkerungabzubauen. Sie rieten dazu, die Preise zuerhöhen, Löhne und Gehälter einzufrierenund technisch hochmoderne Waren bereit-zustellen. Aber all diese Maßnahmen, diebis 1989 immer wieder gefordert wurden,lehnte die SED aus politischen Gründen ab:Sie fürchtete durch unpopuläre Maßnahmenauf dem Konsumsektor ihre Legitimät nochmehr zu untergraben.65 Statt Preiserhöhun-gen gewährte die SED weitere Einkommens-erhöhungen, für die bereits seit langemkeine Warendeckung mehr vorhanden war.Die Einführung von technisch hochmoder-nen Waren scheiterte an den veralteten In-dustrieanlagen und dem Mangel an Devi-sen. Und so schien es nur eine Frage derZeit, bis die SED-Führung ihren politischenund ökonomischen Offenbarungseid leistenmußte. Dies tat Werner Jarowinsky, Sekretärfür Handel und Versorgung beim ZK derSED am 10. November 1989, in dem ervor der versammelten SED-Spitze erklärte,die DDR habe seit dem Ende der 60er Jahreüber ihre wirtschaftlichen Verhältnisse ge-lebt.

Nach der Öffnung der Grenze und demFall der „Mauer“ im November 1989 kon-statierte man im Westen, daß die DDR-Bür-ger das gerade empfangene Begrüßungs-geld unverzüglich in Lebensmittel wie Kaf-fee, Schokolade und Südfrüchte, unter de-nen die Banane den Spitzenplatz innehatte, umsetzten.66 Alle diese Produkte waren bisdahin sporadisch über Westpakete, Inter-shop oder die Delikatläden in den Konsumder DDR-Bürger eingegangen und hattenihre Konsumerwartungen wesentlich mitge-prägt.67

99Anmerkungen

1 Karl Böhm, Rolf Dörge: Unsere Welt von morgen.Berlin 1961. Die folgenden Zitate entstammenden Seiten 10 und 368.

2 Ullrich Mählert: Die Partei hat immer recht. Berlin1996, S. 425.

3 Über die Maßnahmen zur Gesundung der politi-schen Lage in der Deutschen Demokratischen Re-publik. Anlage zum Protokoll der Politbürositzungvom 5. 6. 1953. In: Hoffmann, Dierk; Schmidt,Karl-Heinz; Skyba, Peter (Hrsg.): Die DDR vordem Mauerbau. Dokumente zur Geschichte desanderen deutschen Staates 1949–1961. Mün-chen 1993, S. 153. Im folgenden: Hoffmann,Schmidt, Skyba: Die DDR vor dem Mauerfall.

4 Der neue Kurs und die Aufgaben der Partei. In: Dokumente der SED. Berlin 1954, Bd. IV, S. 449.

5 Der Handel im Siebenjahrplan der DeutschenDemokratischen Republik und seine Aufgabenzur weiteren Verbesserung der Versorgung der Be-völkerung. Berlin 1959, S. 4.

6 Ebd., S. 105.7 Centrum-Katalog Frühjahr/Sommer 1961, S. 58.8 Gerhard Manz: Was darf es sein? Was Du vom

Handel wissen solltest! Berlin (DDR) 1959, S. 55.9 Ebd, S. 81.

10 Heinrichs, Wolfgang: Die Grundlagen der Be-darfsforschung. Berlin 1955, S. 7.

11 Bericht zum Standort Siedenbollentin. SAPMO-BArch, J IV 2 610–135, S. 9.

12 Probleme des Handels auf dem Land bis zumJahre 1970, vom 20.11.1962. SAPMO-BArch JIV 2 610-135, S. 1–2.

13 Konsument-Katalog Frühjahr/Sommer 1959, S. 214 Handelskonferenz der SED, Berlin 1959, S. 40.15 Bericht zur Versorgungslage vom 16.5.1960,

SAPMO-BArch J IV 2 610-134, S. 7.16 Hoffmann, Schmidt, Skyba: Die DDR vor dem

Mauerbau, S. 389.17 Koch, Herbert: Die Ausstattung der Haushalte der

Bevölkerung mit wichtigen technischen Konsum-gütern Teil II. In: MIM Nr. 2/1966 (im folgen-den: Koch: Ausstattung), S. 13.

18 Albrecht, Anneliese: Die Aufgaben der zentralenstaatlichen Organe auf dem gebiet der sozialisti-schen Binnenhandelswerbung. In: MIM 2/1962(im folgenden: Albrecht: Aufgaben), S. 22.

19 Ebd., S. 16.20 Koch, Ausstattung, S. 25f.21 Die Auswirkungen einer bedarfsgerechten Versor-

gung der Bevölkerung mit Südfrüchten auf die Ent-wicklung der Nachfrage. 1972. Barch, Außen-stelle Coswig. DL 102/594, S. 7.

22 Statstisches Jahrbuch der DDR, 1990, S. 106.23 Die künftige Entwicklung der Verbrauchererwar-

tungen an das Sortiment, die Bearbeitung, dieQualität und die Verpackung der Nahrungsmittel.1968. Bundesarchiv Außenstelle Coswig. DL102/189, S. 4.

24 Albrecht, Anneliese: Die Funktion und die Aufga-ben der Werbung auf dem Konsumgüter-Binnen-markt, die Verantwortung der einzelnen Organebei der Lösung dieser Aufgaben und die Vorbe-reitung und Durchführung der Werbemaßnah-men. Leipzig 1963, S. 2.

25 Beschluß des Ministerrates vom 2.8.1962 überdie Abschaffung der Schlußverkäufe.

26 Schubert, Karl-Ernst: Zur Aufgabenstellung desModeschaffens in der DDR. In: MIM Nr. 2/1963, S. 64.

27 Ebd., S. 58.28 Weichsel, Ruth: Die sportlich-legere und kombi-

nierfähige Bekleidung erwirbt die Gunst der Kon-sumenten. In: MIM Nr. 3/1971 (im folgendenWeichsel: Bekleidung).

29 Die Frau. Kleine Enzyklopädie. Berlin 1961, S. 500.

30 Ebd., S. 500.31 „Kleider machen Leute“, In: Eulenspiegel Nr. 15/

1968, S. 2.32 Eulenspiegel Nr. 15/1968, S. 9.33 Aktuelle Informationen zur Mode und Saison.

1980. BArch, Außenstelle Coswig DL 102/1572, S. 7.

34 Weichsel, Ruth: Die sportlich-legere und kombi-nierfähige Bekleidung erwirbt die Gunst der Kon-sumenten. In: MIM Nr. 3/1971, S. 22.

35 ebd.36 Albrecht: Aufgaben, S. 22f.37 Statistisches Jahrbuch der DDR. 1967, S. 493.38 Statistisches Jahrbuch der DDR 1959, S. 527;

Statistisches Jahrbuch der DDR 1961, S. 505.39 Schumann: Rundfunk, S. 51ff.40 Scholz, Horst: Die Entwicklung des Bedarfs an

Konsumgütern der Warengruppe Elektroakustikbis 1980. Teilstudie Fonogeräte. November1967. BArch, DL 102/166, S. 10.

41 Schumann: Rundfunk, S. 72f.

10042 Wittek, Georg: Probleme der Berücksichtigung

des Faktors Mode bei der langfristigen Bedarfs-prognose für Textilien und Bekleidung. In: MIMNr. 3/1975, S. 24.

43 Bericht des ZK der SED an den VIII. Parteitag, in:Neues Deutschland vom 16. 6. 1971, S. 4.

44 Randow, Horst-Dieter: Die Entwicklung derWohnbedürfnisse der Bevölkerung der DDR. Be-richt I 1970. BArch Außenstelle Coswig L 102/443 (im fol-genden: Randow: Wohnbedürfnisse).

45 Waltraud Nieke: Zur Problematik Wohnbedürf-nisse und bedarfsgerechte Versorgung der Bevöl-kerung mit Möbeln und Polsterwaren. In: MIMNr. 1/1979, S. 11ff.

46 Nieke, Waltraud: Zu einigen Veränderungen derNachfrage bei Wohnzimmermöbeln. In: Mittei-lungen des Instituts für Marktforschung (MIM) Nr.1/1972, S. 18.

47 ebd., S. 18.48 Randow: Wohnbedürfnisse S. 17.49 ebd, S. 14.50 Auszug aus einer Eingabe zur Versorgungssitua-

tion im II. Quartal 1987 an das Ministerium für Handel und Versorgung, weitergeleitet am20. Juli 1987 an das Büro Jarowinsky beim Zen-tralkomitee der SED. Bundesarchiv (im folgenden:BArch) SAPMO DY 30/37988.

51 Stefan Wolle: Die heile Welt der Diktatur. Bonn1998, S. 200.

52 Jutta Schmutzler: Zum Bohnenkaffeeverbrauch der Bevölkerung der DDR. In: MIM Nr. 2/1974,S. 22ff.

53 Peter Donat: Entwicklungsprobleme des Spirituo-senverbrauchs. In: MIM Nr. 2/1973, S. 24ff.

54 Statistisches Jahrbuch der DDR. Berlin 1990, S. 323.

55 Die Versorgung mit hochwertigen Nahrungs- undGenußmitteln. 1981. BArch, Außenstelle CoswigDL 102/1491, S. 6

56 Marktlagetest Haushaltsgeräte 1985. BArch,Außenstelle Coswig DL 102/VA 121, S.3.

57 Ebda. S. 5.58 Ruth Weichsel: Individuell geschneiderte Ober-

bekleidung – Luxus, Hobby oder Notlösung?MIM Nr. 1/1976, S. 13.

59 Zu Auswirkungen der zeitweiligen Veränderun-gen im privaten Reiseverkehr zwischen der DDRund der Volksrepublik Polen auf dem Konsum-güterbinnenmarkt der DDR im Jahre 1981.BArch, Außenstelle Cosiwg DL 102/1487, S. 7.

60 Sonderauftrag zur gegenwärtigen Versorgungs-situation. BArch, Außenstelle Coswig 1989, DL102/2074, o.S.

61 „Klassenspaltung im Alltagsleben der DDR”. In:Neue Züricher Zeitung vom 7.12.1988.

62 BArch, Außenstelle Coswig DL 102/2074.63 Analyse des Postpaket- und -päckchenverkehrs für

das IV. Quartal 1988 und Einschätzung der Jah-resgrößen für 1988. BArch, Außenstelle CoswigDL 102 VA 248.

64 Ebd.65 Herbert Koch: Zur Beeinflussung des Bedarfs der

Bevölkerung. MIM Nr. 3/4/1984, S. 9–11.66 Die Satirezeitschrift „Titanic” widmete ihr Titelbild

der Novembernummer 1989 diesem Einkaufsver-halten.

67 Siehe hierzu Miteilungen des Instituts für Markt-forschung (MIM) Nr. 4/1989.

ISBN 3-931426-31-9