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Kant - AA VIII - Was Ist Aufklärung

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Edición de la Academia de Berlín. Texto alemán original.

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Kant: AA VIII, Beantwortung der Frage: Was ist ... ,

Seite 033

Zeile: Text (Kant):

01

Beantwortung der Frage:

02

Was ist Aufklärung?

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Kant: AA VIII, Beantwortung der Frage: Was ist ... , Seite 035

Zeile: Text (Kant):

01

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst02 verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen,

03 sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet

04 ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am

05 Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt,

06 sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. sapere aude! habe

07 Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch

08 der Aufklärung.

09 Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil

10 der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen

11 ( naturaliter maiorennes ), dennoch gerne zeitlebens unmündig

12 bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern

13 aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch,

14 das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat,

15 einen Arzt, der für mich die Diät beurtheilt, etc., so brauche ich mich mich

16  ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur

17 bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich

18 übernehmen. Daß der bei weitem größte Theil der Menschen (darunter

19 das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem da

20 er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene

21 Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben.

22 Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten,

23 daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen,

24 darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher

25 die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen.

26 Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch

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Kant: AA VIII, Beantwortung der Frage: Was ist ... , Seite 036

Zeile: Text (Kant):

01 einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der

02 Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren

03 Versuchen ab.

04 Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm

05 beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat

06 sie sogar lieb gewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines

07 eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon

08 machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines

09 vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben,

10 sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch

11 abwürfe, würde dennoch auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren

12 Sprung thun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt

13 ist. Daher giebt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene

14 Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln

15 und dennoch einen sicheren Gang zu thun.

16 Daß aber ein Publicum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es

17 ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich. Denn da

18 werden sich immer einige Selbstdenkende sogar unter den eingesetzten Vormündern

19 des großen Haufens finden, welche, nachdem sie das Joch der

20 Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen

21 Schätzung des eigenen Werths und des Berufs jedes Menschen selbst zu

22 denken um sich verbreiten werden. Besonders ist hiebei: daß das Publicum,

23 welches zuvor von ihnen unter dieses Joch gebracht worden, sie

24 hernach selbst zwingt darunter zu bleiben, wenn es von einigen seiner

25 Vormünder, die selbst aller Aufklärung unfähig sind, dazu aufgewiegelt

26 worden; so schädlich ist es Vorurtheile zu pflanzen, weil sie sich zuletzt an

27 denen selbst rächen, die oder deren Vorgänger ihre Urheber gewesen sind.

28 Daher kann ein Publicum nur langsam zur Aufklärung gelangen. Durch

29

eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism30 und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre

31 Reform der Denkungsart zu Stande kommen; sondern neue Vorurtheile

32 werden eben sowohl als die alten zum Leitbande des gedankenlosen großen

33 Haufens dienen.

34 Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und

35 zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich

36 die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu

37 machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsonnirt nicht!

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Kant: AA VIII, Beantwortung der Frage: Was ist ... , Seite 037

Zeile: Text (Kant):

01 Der Offizier sagt: räsonnirt nicht, sondern exercirt! Der Finanzrath:

02 räsonnirt nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsonnirt nicht, sondern

03 glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsonnirt, so viel ihr

04 wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung

05 der Freiheit. Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung

06 hinderlich? Welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? - Ich antworte:

07 der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein,

08 und der allein kann Aufklärung unter Menschen zu Stande bringen; der

09 Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein,

10 ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern.

11 Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft

12 denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publicum

13 der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen,

14 den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder

15 Amte von seiner Vernunft machen darf. Nun ist zu manchen Geschäften,

16 die in das Interesse des gemeinen Wesens laufen, ein gewisser Mechanism

17 nothwendig, vermittels dessen einige Glieder des gemeinen Wesens sich

18 bloß passiv verhalten müssen, um durch eine künstliche Einhelligkeit von

19 der Regierung zu öffentlichen Zwecken gerichtet, oder wenigstens von der

20 Zerstörung dieser Zwecke abgehalten zu werden. Hier ist es nun freilich

21 nicht erlaubt, zu räsonniren; sondern man muß gehorchen. So fern

22 sich aber dieser Theil der Maschine zugleich als Glied eines ganzen gemeinen

23 Wesens, ja sogar der Weltbürgergesellschaft ansieht, mithin in der

24 Qualität eines Gelehrten, der sich an ein Publicum im eigentlichen Verstande

25 durch Schriften wendet: kann er allerdings räsonniren, ohne da

26 dadurch die Geschäfte leiden, zu denen er zum Theile als passives Glied

27 angesetzt ist. So würde es sehr verderblich sein, wenn ein Offizier, dem

28 von seinen Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit

29 oder Nützlichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muß

30 gehorchen. Es kann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt werden, als

31 Gelehrter über die Fehler im Kriegesdienste Anmerkungen zu machen und

32 diese seinem Publicum zur Beurtheilung vorzulegen. Der Bürger kann

33 sich nicht weigern, die ihm auferlegten Abgaben zu leisten; sogar kann ein

34 vorwitziger Tadel solcher Auflagen, wenn sie von ihm geleistet werden sollen,

35 als ein Skandal (das allgemeine Widersetzlichkeiten veranlassen könnte)

36 bestraft werden. Eben derselbe handelt demungeachtet der Pflicht eines

37 Bürgers nicht entgegen, wenn er als Gelehrter wider die Unschicklichkeit

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t: AA VIII, Beantwortung der Frage: Was ist ... , Seite 037 http://www.korpora.org/Kant/aa08/037.html

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Kant: AA VIII, Beantwortung der Frage: Was ist ... , Seite 038

Zeile: Text (Kant):

01 oder auch Ungerechtigkeit solcher Ausschreibungen öffentlich seine Gedanken

02 äußert. Eben so ist ein Geistlicher verbunden, seinen Katechismusschülern03 und seiner Gemeine nach dem Symbol der Kirche, der er dient, seinen

04 Vortrag zu thun; denn er ist auf diese Bedingung angenommen worden.

05 Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den Beruf dazu, alle

06 seine sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte

07 in jenem Symbol und Vorschläge wegen besserer Einrichtung des

08 Religions= und Kirchenwesens dem Publicum mitzutheilen. Es ist hiebei

09 auch nichts, was dem Gewissen zur Last gelegt werden könnte. Denn was

10 er zu Folge seines Amts als Geschäftträger der Kirche lehrt, das stellt er

11 als etwas vor, in Ansehung dessen er nicht freie Gewalt hat nach eigenem

12 Gutdünken zu lehren, sondern das er nach Vorschrift und im Namen eines

13 andern vorzutragen angestellt ist. Er wird sagen: unsere Kirche lehrt dieses

14 oder jenes; das sind die Beweisgründe, deren sie sich bedient. Er zieht

15 alsdann allen praktischen Nutzen für seine Gemeinde aus Satzungen, die er

16 selbst nicht mit voller Überzeugung unterschreiben würde, zu deren Vortrag

17 er sich gleichwohl anheischig machen kann, weil es doch nicht ganz unmöglich

18 ist, daß darin Wahrheit verborgen läge, auf alle Fälle aber wenigstens

19 doch nichts der innern Religion Widersprechendes darin angetroffen wird.

20 Denn glaubte er das letztere darin zu finden, so würde er sein Amt mit

21

Gewissen nicht verwalten können; er müßte es niederlegen. Der Gebrauch22 also, den ein angestellter Lehrer von seiner Vernunft vor seiner Gemeinde

23 macht, ist bloß ein Privatgebrauch: weil diese immer nur eine häusliche,

24 obzwar noch so große Versammlung ist; und in Ansehung dessen ist er als

25 Priester nicht frei und darf es auch nicht sein, weil er einen fremden Auftrag

26 ausrichtet. Dagegen als Gelehrter, der durch Schriften zum eigentlichen

27 Publicum, nämlich der Welt, spricht, mithin der Geistliche im öffentlichen

28 Gebrauche seiner Vernunft genießt einer uneingeschränkten Freiheit, sich

29 seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen.

30 Denn daß die Vormünder des Volks (in geistlichen Dingen) selbst wieder

31 unmündig sein sollen, ist eine Ungereimtheit, die auf Verewigung derUngereimtheiten

32 hinausläuft.

33 Aber sollte nicht eine Gesellschaft von Geistlichen, etwa eine Kirchenversammlung,

34 oder eine ehrwürdige Classis (wie sie sich unter den Holländern

35 selbst nennt), berechtigt sein, sich eidlich unter einander auf ein gewisses

36 unveränderliches Symbol zu verpflichten, um so eine unaufhörlicheObervormundschaft

37 über jedes ihrer Glieder und vermittels ihrer über das

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t: AA VIII, Beantwortung der Frage: Was ist ... , Seite 038 http://www.korpora.org/Kant/aa08/038.html

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Kant: AA VIII, Beantwortung der Frage: Was ist ... , Seite 039

Zeile: Text (Kant):

01 Volk zu führen und diese sogar zu verewigen? Ich sage: das ist ganz unmöglich.

02 Ein solcher Contract, der auf immer alle weitere Aufklärung

03 vom Menschengeschlechte abzuhalten geschlossen würde, ist schlechterdings

04 null und nichtig; und sollte er auch durch die oberste Gewalt, durch Reichstage

05 und die feierlichsten Friedensschlüsse bestätigt sein. Ein Zeitalter

06 kann sich nicht verbünden und darauf verschwören, das folgende in einen

07 Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muß, seine (vornehmlich

08 so sehr angelegentliche) Erkenntnisse zu erweitern, von Irrthümern

09 zu reinigen und überhaupt in der Aufklärung weiter zu schreiten. Das

10 wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche

Bestimmung

11 gerade in diesem Fortschreiten besteht; und die Nachkommen

12 sind also vollkommen dazu berechtigt, jene Beschlüsse, als unbefugter und

13 frevelhafter Weise genommen, zu verwerfen. Der Probirstein alles dessen,

14 was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann, liegt in der Frage:

15 ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen könnte. Nun wäre

16 dieses wohl gleichsam in der Erwartung eines bessern auf eine bestimmte

17 kurze Zeit möglich, um eine gewisse Ordnung einzuführen: indem man es

18 zugleich jedem der Bürger, vornehmlich dem Geistlichen frei ließe, in der

19 Qualität eines Gelehrten öffentlich, d. i. durch Schriften, über das Fehlerhafte

20

der dermaligen Einrichtung seine Anmerkungen zu machen, indessen21 die eingeführte Ordnung noch immer fortdauerte, bis die Einsicht in die

Beschaffenheit

22 dieser Sachen öffentlich so weit gekommen und bewährt worden,

23 daß sie durch Vereinigung ihrer Stimmen (wenn gleich nicht aller) einen

24 Vorschlag vor den Thron bringen könnte, um diejenigen Gemeinden in

25 Schutz zu nehmen, die sich etwa nach ihren Begriffen der besseren Einsicht

26 zu einer veränderten Religionseinrichtung geeinigt hätten, ohne doch diejenigen

27 zu hindern, die es beim Alten wollten bewenden lassen. Aber auf 

28 eine beharrliche, von niemanden öffentlich zu bezweifelnde Religionsverfassung

29

auch nur binnen der Lebensdauer eines Menschen sich zu einigen30 und dadurch einen Zeitraum in dem Fortgange der Menschheit zur Verbesserung

31 gleichsam zu vernichten und fruchtlos, dadurch aber wohl gar der

32 Nachkommenschaft nachtheilig zu machen, ist schlechterdings unerlaubt. Ein

33 Mensch kann zwar für seine Person und auch alsdann nur auf einige Zeit

34 in dem, was ihm zu wissen obliegt, die Aufklärung aufschieben; aber auf 

35 sie Verzicht zu thun, es sei für seine Person, mehr aber noch für die

Nachkommenschaft,

36 heißt die heiligen Rechte der Menschheit verletzen und mit

37 Füßen treten. Was aber nicht einmal ein Volk über sich selbst beschließen

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t: AA VIII, Beantwortung der Frage: Was ist ... , Seite 039 http://www.korpora.org/Kant/aa08/039.html

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Kant: AA VIII, Beantwortung der Frage: Was ist ... , Seite 040

Zeile: Text (Kant):

01 darf, das darf noch weniger ein Monarch über das Volk beschließen; denn

02 sein gesetzgebendes Ansehen beruht eben darauf, daß er den gesammten

03 Volkswillen in dem seinigen vereinigt. Wenn er nur darauf sieht, da

04 alle wahre oder vermeinte Verbesserung mit der bürgerlichen Ordnung

05 zusammen bestehe: so kann er seine Unterthanen übrigens nur selbst

06 machen lassen, was sie um ihres Seelenheils willen zu thun nöthig finden;

07 das geht ihn nichts an, wohl aber zu verhüten, daß nicht einer den andern

08 gewaltthätig hindere, an der Bestimmung und Beförderung desselben nach

09 allem seinem Vermögen zu arbeiten. Es thut selbst seiner Majestät Abbruch,

10 wenn er sich hierin mischt, indem er die Schriften, wodurch seine

11

Unterthanen ihre Einsichten ins Reine zu bringen suchen, seiner Regierungsaufsicht12 würdigt, sowohl wenn er dieses aus eigener höchsten Einsicht thut,

13 wo er sich dem Vorwurfe aussetzt: Caesar non est supra grammaticos,

14 als auch und noch weit mehr, wenn er seine oberste Gewalt so weit erniedrigt,

15 den geistlichen Despotism einiger Tyrannen in seinem Staate

16 gegen seine übrigen Unterthanen zu unterstützen.

17 Wenn denn nun gefragt wird: leben wir jetzt in einem aufgeklärten

18 Zeitalter? So ist die Antwort: nein, aber wohl in einem Zeitalter der

19 Aufklärung. Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im Ganzen

20 genommen, schon im Stande wären, oder darin auch nur gesetzt werden

21 könnten, in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung

22 eines andern sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel. Allein

23 daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten,

24 und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung, oder des Ausganges aus

25 ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit allmählig weniger werden, davon

26 haben wir doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter

27 das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friedrichs.

28 Ein Fürst, der es seiner nicht unwürdig findet, zu sagen: daß er es

29 für Pflicht halte, in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben,

30 sondern ihnen darin volle Freiheit zu lassen, der also selbst den hochmüthigen

31 Namen der Toleranz von sich ablehnt, ist selbst aufgeklärt und

32 verdient von der dankbaren Welt und Nachwelt als derjenige gepriesen

33 zu werden, der zuerst das menschliche Geschlecht der Unmündigkeit wenigstens

34 von Seiten der Regierung entschlug und jedem frei ließ, sich in

35 allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner eigenen Vernunft zu bedienen.

36 Unter ihm dürfen verehrungswürdige Geistliche unbeschadet

37 ihrer Amtspflicht ihre vom angenommenen Symbol hier oder da abweichenden

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t: AA VIII, Beantwortung der Frage: Was ist ... , Seite 040 http://www.korpora.org/Kant/aa08/040.html

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Kant: AA VIII, Beantwortung der Frage: Was ist ... , Seite 041

Zeile: Text (Kant):

01 Urtheile und Einsichten in der Qualität der Gelehrten frei und

02 öffentlich der Welt zur Prüfung darlegen; noch mehr aber jeder andere,

03 der durch keine Amtspflicht eingeschränkt ist. Dieser Geist der Freiheit

04 breitet sich auch außerhalb aus, selbst da, wo er mit äußeren Hindernissen

05 einer sich selbst mißverstehenden Regierung zu ringen hat. Denn es leuchtet

06 dieser doch ein Beispiel vor, daß bei Freiheit für die öffentliche Ruhe und

07 Einigkeit des gemeinen Wesens nicht das Mindeste zu besorgen sei. Die

08 Menschen arbeiten sich von selbst nach und nach aus der Rohigkeit heraus,

09 wenn man nur nicht absichtlich künstelt, um sie darin zu erhalten.

10 Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, d. i. des Ausganges der

11 Menschen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit, vorzüglich in

Religionssachen

12 gesetzt: weil in Ansehung der Künste und Wissenschaften

13 unsere Beherrscher kein Interesse haben, den Vormund über ihre Unterthanen

14 zu spielen; überdem auch jene Unmündigkeit, so wie die schädlichste,

15 also auch die entehrendste unter allen ist. Aber die Denkungsart eines

16 Staatsoberhaupts, der die erstere begünstigt, geht noch weiter und sieht

17 ein: daß selbst in Ansehung seiner Gesetzgebung es ohne Gefahr sei,

18 seinen Unterthanen zu erlauben, von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen

19 Gebrauch zu machen und ihre Gedanken über eine bessere Abfassung derselben

20 sogar mit einer freimüthigen Kritik der schon gegebenen der Welt

21 öffentlich vorzulegen; davon wir ein glänzendes Beispiel haben, wodurch

22 noch kein Monarch demjenigen vorging, welchen wir verehren.

23 Aber auch nur derjenige, der, selbst aufgeklärt, sich nicht vor Schatten

24 fürchtet, zugleich aber ein wohldisciplinirtes zahlreiches Heer zum Bürgen

25 der öffentlichen Ruhe zur Hand hat, kann das sagen, was ein Freistaat

26 nicht wagen darf: räsonnirt, so viel ihr wollt, und worüber ihr

27 wollt; nur gehorcht! So zeigt sich hier ein befremdlicher, nicht erwarteter

28

Gang menschlicher Dinge; so wie auch sonst, wenn man ihn im Großen betrachtet,29 darin fast alles paradox ist. Ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit

30 scheint der Freiheit des Geistes des Volks vortheilhaft und setzt ihr doch

31 unübersteigliche Schranken; ein Grad weniger von jener verschafft hingegen

32 diesem Raum, sich nach allem seinem Vermögen auszubreiten. Wenn denn

33 die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten

34 sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat:

35 so wirkt dieser allmählig zurück auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses

36 der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird) und endlich auch

37 sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet,

[ Seite 040 ] [ Seite 042 ] [ Inhaltsverzeichnis ]

t: AA VIII, Beantwortung der Frage: Was ist ... , Seite 041 http://www.korpora.org/Kant/aa08/041.html

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Page 9: Kant - AA VIII - Was Ist Aufklärung

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Kant: AA VIII, Beantwortung der Frage: Was ist ... , Seite 042

Zeile: Text (Kant):

01 den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu

02behandeln.*)

03 Königsberg in Preußen, den 30. Septemb. 1784.

*) In den Büsching'schen wöchentlichen Nachrichten vom 13. Sept. lese ich heute

den 30sten eben dess. die Anzeige der Berlinischen Monatsschrift von diesem

Monat, worin des Herrn Mendelssohn Beantwortung eben derselben Frageangeführt wird. Mir ist sie noch nicht zu Händen gekommen; sonst würde sie die

gegenwärtige zurückgehalten haben, die jetzt nur zum Versuche da stehen mag,

wiefern der Zufall Einstimmigkeit der Gedanken zuwege bringen könne.

[ Seite 041 ] [ Seite 043 ] [ Inhaltsverzeichnis ]

t: AA VIII, Beantwortung der Frage: Was ist ... , Seite 042 http://www.korpora.org/Kant/aa08/042.html