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KANT UND DER KRIEG oder: Über den Frieden: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis

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hat einige einflussreiche Schriften zu Politik- und Staatslehre verfasst, die mit seiner Ethik eng verzahnt sind, was sich unter anderem bereits darin zeigt, dass er den kategorischen Imperativ als Handlungsanleitung für Politiker empfiehlt. In seinen Texten „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ von 1784 und „Zum ewigen Frieden“ von 1795 (zweite,erweiterte Auflage 1796) und weiteren geschichtsphilosophischen Schriften entwirft er ein Fortschrittsmodell des Menschen, in dem der Krieg ein bedeutendes Element darstellt, so definiert er beispielsweise den ewigen Frieden allein in negativer Weise durch die generelle Unmöglichkeit von Krieg.Der Mensch macht Krieg, obwohl er Frieden will. Eine große Frage ist deshalb: Gibt es Krieg, damit Frieden sein kann? Bei Kant besitzt der Krieg eine interessante Doppelrolle. Viele seiner Äußerungen legen nahe, dass er im Krieg etwas absolut schlechtes sieht, doch gleichzeitig scheint es so, dass er dem Krieg auch ein positive Rolle zugesteht, denn er braucht den Krieg in seiner teleologischen Konzeption der Entwicklung der Menschheit hin zur „Auswickelung ihrer Vernunftanlagen“ und auch hin zum „ewigen Frieden“.

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Page 1: KANT UND DER KRIEG oder: Über den Frieden: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis

LV-Nr. 541.227, WS 2010/11SE: Geschichte der Philosophie (Kants Geschichtsphilosophie)Leiter: Dr. Jürgen MittelstrassFachbereich für Philosophie an der KGW-FakultätUNIVERSITÄT SALZBURG

KANT UND DER KRIEGoder:

Über den Frieden: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis

Philipp DollwetzelMatrikelnr.: 0820518

28.02.2011

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Inhalt

1 Einleitung...................................................................................................... 3

2 Der Naturzustand ist ein Kriegszustand....................................................... 3

3 Kants Auffassung vom Frieden.................................................................... 4

4 Der Fortschritt der Gattung Mensch............................................................. 4

5 Die Rolle des Krieges im Plan der Natur...................................................... 6

6 Die Natur als Garant des Friedens................................................................ 7

7 Kants Präliminar- und Definitivartikel......................................................... 8

7.1 Die sechs Präliminarartikel.................................................................... 8

7.1.1 Erster Präliminarartikel.................................................................. 8

7.1.2 Zweiter Präliminarartikel............................................................... 8

7.1.3 Dritter Präliminarartikel................................................................. 9

7.1.4 Vierter Präliminarartikel................................................................ 9

7.1.5 Fünfter Präliminarartikel................................................................ 9

7.1.6 Sechster Präliminarartikel.............................................................. 10

7.2 Die drei Definitivartikel......................................................................... 10

7.2.1 Erster Definitivartikel.................................................................... 11

7.2.2 Zweiter Definitivartikel................................................................. 11

7.2.3 Dritter Definitivartikel................................................................... 12

8 Ewiger Frieden und Antagonismus – ist das möglich?................................ 12

9 Was will die Natur wirklich?........................................................................ 14

10 Zusammenfassung....................................................................................... 17

11 Literaturverzeichnis..................................................................................... 19

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1 Einleitung

Philosophiert man über den Staat, dann kommt man unweigerlich zum Krieg.

Immanuel Kant hat einige einflussreiche Schriften zu Politik- und Staatslehre

verfasst, die mit seiner Ethik eng verzahnt sind, was sich unter anderem bereits

darin zeigt, dass er den kategorischen Imperativ als Handlungsanleitung für

Politiker empfiehlt. In seinen Texten „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in

weltbürgerlicher Absicht“ von 1784 und „Zum ewigen Frieden“ von 1795 (zweite,

erweiterte Auflage 1796) und weiteren geschichtsphilosophischen Schriften

entwirft er ein Fortschrittsmodell des Menschen, in dem der Krieg ein

bedeutendes Element darstellt, so definiert er beispielsweise den ewigen Frieden

allein in negativer Weise durch die generelle Unmöglichkeit von Krieg.

Der Mensch macht Krieg, obwohl er Frieden will. Eine große Frage ist deshalb:

Gibt es Krieg, damit Frieden sein kann? Bei Kant besitzt der Krieg eine

interessante Doppelrolle. Viele seiner Äußerungen legen nahe, dass er im Krieg

etwas absolut schlechtes sieht1, doch gleichzeitig scheint es so, dass er dem Krieg

auch ein positive Rolle zugesteht, denn er braucht den Krieg in seiner

teleologischen Konzeption der Entwicklung der Menschheit hin zur

„Auswickelung ihrer Vernunftanlagen“ und auch hin zum „ewigen Frieden“.

2 Der Naturzustand ist ein Kriegszustand

Das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert waren die Jahrhunderte der

Philosophie des Naturzustandes; John Locke, Thomas Hobbes, Samuel von

Pufendorf, Johann Heinrich Pestalozzi, Anthony Ashley-Cooper oder auch Jean-

Jacques Rousseau gehörten zu den führenden Philosophen, die sich mit dem

Naturzustand auseinandersetzten und auch in Kants politischer Philosophie spielt

der Naturzustand eine wichtige Rolle.

Der Naturzustand bei Kant besteht schlicht aus der Abwesenheit eines rechtlichen

Zustandes, d.h. der Naturzustand tritt genau dann ein, wenn keine obere

gesetzgebende Gewalt existiert.2 Damit unterscheidet sich Kants Konzeption

beispielsweise essentiell von Lockes Naturzustand, denn dort gelten bereits

gewisse naturgegebene Rechte.3 Kant scheint hier deshalb Hobbes näher zu

1 Kant bezeichnet den Krieg unter anderem als „das größte Hindernis des Moralischen“ (Kant,Streit 1798, 199-200), „Zerstörer alles Guten“ (Kant, Streit 1798, 197) oder auch als „Quellaller Übel und Verderbnis der Sitten“ (Kant, Streit 1798, 191).

2 Kant, Frieden 1796, 58.3 Der Naturzustand ist nach Locke der Zustand bevor sich die Menschen „auf Grund ihrer

3

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stehen. Der Naturzustand sei immer auch ein Kriegszustand und nie ein Zustand

des Friedens, da der Mensch durch eigennützige und bösartige Neigungen

getrieben sei und so eine ständige Bedrohung durch einen möglichen Krieg

herrsche.4

3 Kants Auffassung vom Frieden

Frieden müsse deshalb erst „gestiftet“ und gesichert werden. Eine solche

Friedensgarantie könne nur durch einen bürgerlich-gesetzlichen Zustand gegeben

werden.5 Im ersten Präliminarartikel seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“

erläutert Kant sein Verständnis von Frieden. Er bedeute nicht bloßer

Waffenstillstand, sondern mit dem Frieden würden alle Ursachen des Krieges

beseitigt. Wirklicher Frieden zeichne sich somit durch die tatsächliche

Unmöglichkeit eines zukünftigen Krieges aus.6

Krieg widerspreche grundsätzlich der Vernunft und Frieden sei Pflicht.7 Der

Frieden, der alle Kriege beendet, müsse durch einen „Vertrag der Völker unter

sich“, dem sogenannten „Friedensbund“ gestiftet werden.8 Ziel des Friedenbundes

sei die „Erhaltung und Sicherung der Freiheit eines Staats für sich selbst und

zugleich anderer verbündeten Staaten, ohne daß diese doch sich deshalb (wie

Menschen im Naturzustande) öffentlichen Gesetzen und einem Zwange unter

denselben unterwerfen dürfen.“9

4 Der Fortschritt der Gattung Mensch

Kant geht davon aus, dass die Entwicklung des Menschen zielgerichtet ist, die

Gattung Mensch also einem Fortschritt unterworfen sei. Ziel sei es, „diejenigen

eigenen Zustimmung zu Gliedern einer politischen Gesellschaft machen.“ (Locke 1977,II.§15.) Locke definiert den Naturzustand am Anfang des zweiten Treatise wie folgt: „Er ist[für die Menschen] ein Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Gesetzesder Natur ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so zuverfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten odervom Willen eines anderen abhängig zu sein.“ (Locke 1977, II.§4.) Zudem sei er ein „Zustandder Gleichheit, in dem alle Macht und Rechtsprechung wechselseitig sind, da niemand mehrbesitzt als ein anderer“ (ebd.). Jeder Mensch habe im Naturzustand das Recht die Vorteile derNatur zu genießen und seine angeborenen Fähigkeiten zu gebrauchen, jedoch im Rahmen desGesetzes der Natur, das Gerechtigkeit und Barmherzigkeit fordert (Locke 1977, II.§5).

4 Kant, Idee 1784, 26.5 Kant, Frieden 1796, 58.6 Kant, Frieden 1796, 51-52. - Kant bezeichnet die Wortkombination 'ewiger Friede' als einen

„Pleonasm", da der Friede, den er meint, ein endzeitlicher Friede sei (ebd.).7 Kant, Frieden 1796, 66.8 Kant, Frieden 1796, 66-67.9 Kant, Frieden 1796, 67.

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Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind“ in der

Menschheit als Gattung vollkommen zu entwickeln, d.h. der Mensch wird

vollkommen vernünftig.10 Diese Idee soll „Ziel seiner Bestrebungen sein, weil

sonst die Naturanlagen größtenteils als vergeblich und zwecklos angesehen

werden müßten; (…) welches (…) die Natur (…) am Menschen allein eines

kindischen Spiels verdächtig machen würde.“11 Der Fortschritt benötige

„Versuche, Übung und Unterricht, um von einer Stufe der Einsicht zur anderen

allmählich fortzuschreiten"12 und soll vom Menschen aber allein durch sein

eigenes Engagement erreicht werden.13

Um dieses Ziel zu verwirklichen, nutze die Natur einen im Menschen natürlich

angelegten Antagonismus, nämlich die „ungesellige Geselligkeit der Menschen,

d.i. den Hang derselben in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem

durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen

droht, verbunden ist.“14 Der Eigensinn eines Menschen führe zu diesem

gesellschaftlichen Widerstand und der sei es wiederum, der „alle Kräfte des

Menschen erweckt, ihn dahin bringt seinen Hang zur Faulheit zu überwinden und,

getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter

seinen Mitgenossen zu verschaffen“.15 Erst diese Konkurrenz führe also zur

Weiterentwicklung und Bildung der menschlichen Fähigkeiten. Aus der Existenz

dieses Antagonismus schließt Kant auf einen weisen Schöpfer, der den Plan der

Natur so festgelegt hat.16

Nur eine bürgerliche Gesellschaft könne letztendlich den Antagonismus im

sicheren Gleichgewicht halten, dauerhaften Frieden stiften und garantieren, dass

der Mensch seine Anlagen vollständig entwickeln kann.17 Sie bedeute für die

Menschen die größtmögliche Freiheit bei genauer Begrenzung derselben, d.h. ein

Zustand der „Freiheit unter äußeren Gesetzen“.18 Kant beschreibt ihn auch als

einen „Zustand des Zwanges“.19

10 Kant, Idee 1784, 23.11 Kant, Idee 1784, 23-24.12 Kant, Idee 1784, 23.13 Kant, Idee 1784, 25.14 Kant, Idee 1784, 25.15 Kant, Idee 1784, 26.16 Kant, Idee 1784, 26-27.17 Kant, Idee 1784, 33.18 Kant, Idee 1784, 27.19 Kant, Idee 1784, 28.

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5 Die Rolle des Krieges im Plan der Natur

Die Natur habe dem Menschen ein Leben in allen „Erdgegenden“ ermöglicht und

die Menschen durch Krieg gezielt in alle diese Gegenden getrieben, sie dadurch

bevölkert und ebenfalls nur durch Krieg den Menschen genötigt, gesetzmäßige

Verhältnisse einzugehen.20 Somit ist der oben beschriebene kriegerisches

Naturzustand letztendlich Ursache der gerechten bürgerlichen Verfassung: „In

diesen Zustand des Zwanges zu treten, zwingt den sonst für ungebundene Freiheit

so eingenommenen Menschen die Not und zwar die größte unter allen, nämlich

die, welche sich Menschen unter einander selbst zufügen, deren Neigungen es

machen, daß in wilder Freiheit nicht lange neben einander bestehen können.“21

Falls die innere Zwietracht in einem Staat nicht ausreiche, um den Menschen in

diesen Zustand zu bringen, dann geschehe dies durch Krieg von außen, denn im

Naturzustand werde ein Volk stets durch andere Völker bedroht und genötigt sich

zusammenzuschließen, um bestehen zu können.22

So wie die einzelnen Menschen ohne eine vereinigende bürgerliche Verfassung im

kriegerischen Naturzustand zueinander stehen, ist es auch bei Staaten. Krieg sei

im Naturzustand das einzige „traurige Notmittel (…), durch Gewalt sein Recht zu

behaupten“, da eben gemäß Definition in diesem Zustand keine obere richterliche

Gewalt existiere, die bei einem Streit urteilen könnte. Der Ausgang des Krieges

entscheide wie „vor einem sogenannten Gottesgerichte“.23

„Die Natur hat also die Unvertragsamkeit der Menschen, selbst der großen

Gesellschaften und Staatskörper dieser Art Geschöpfe wieder zu einem Mittel

gebraucht, um in dem unvermeidlichen Antagonism derselben einen Zustand der

Ruhe und Sicherheit auszufinden; d. i. sie treibt durch die Kriege, durch die

überspannte und niemals nachlassende Zurüstung zu denselben, durch die Not, die

dadurch endlich ein jeder Staat selbst mitten im Frieden innerlich fühlen muß, zu

anfänglich unvollkommenen Versuchen, endlich aber nach vielen Verwüstungen,

Umkippungen und selbst durchgängiger innerer Erschöpfung ihrer Kräfte zu dem,

was ihnen die Vernunft auch ohne so viel traurige Erfahrung hätte sagen können,

20 Kant, Frieden 1796, 75. - Wenn die Natur wollte, dass alle Menschen an allen Stellen der Erdeleben konnten, dann sollten auch alle Menschen überall leben. Dieses Sollen bestehe auchdann, wenn es der menschlichen Neigung widerspreche und sei nicht durch einen moralischenPflichtbegriff begründet (Kant, Frieden 1796, 76-77).

21 Kant, Idee 1784, 28.22 Kant, Frieden 1796, 78.23 Kant, Frieden 1796, 55-56.

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nämlich: aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinaus zu gehen und in einen

Völkerbund zu treten“.24

Kant beschreibt den Krieg somit zum einen als ein Rechtsmittel der Not und

Mittel der Natur zur Belehrung des Menschen.25 Nur durch all die schlimmen

Erfahrungen, die mit ihm verbunden sind, wird der Mensch vernünftiger werden

und sich einer bürgerlichen Verfassung freiwillig unterwerfen.26

6 Die Natur als Garant des Friedens

Die Natur garantiere den Frieden, denn sie sei zweckmäßig27 und aus der

Zwietracht der Menschen müsse somit unweigerlich Eintracht folgen, das sei

„Schicksal“ bzw. „Vorsehung“.28 Mit 'Natur' bezeichnet Kant im Grunde nichts

anderes als eine göttliche Ordnung, in der alles mit Notwendigkeit geschehe.29

24 Kant, Idee 1784, 30. (Hervorhebungen durch den Verfasser) - Krieg ist also die Ungeselligkeitunter Staaten und der Handel gilt für Kant als sein geselliges Komplement, denn der Handelhabe die ersten friedlichen Beziehungen zwischen Völkern ermöglicht (Kant, Frieden 1796,76). Der „Handelsgeist“ vereinige die Völker, denn Handel und Krieg schließen sich aus.Durch den Willen zur Förderung der „Geldmacht“ fördern die Staaten den Handel und damitden Frieden (Kant, Frieden 1796, 81).

25 „Alle Kriege sind demnach so viel Versuche (zwar nicht in der Absicht der Menschen, aberdoch in der Absicht der Natur), neue Verhältnisse der Staaten zu Stande zu bringen und durchZerstörung, wenigstens Zerstückelung aller neue Körper zu bilden, die sich aber wiederentweder in sich selbst oder neben einander nicht erhalten können und daher neue, ähnlicheRevolutionen erleiden müssen; bis endlich einmal teils durch die bestmögliche Anordnung derbürgerlichen Verfassung innerlich, teils durch eine gemeinschaftliche Verabredung undGesetzgebung äußerlich ein Zustand errichtet wird, der, einem bürgerlichen gemeinen Wesenähnlich so wie ein Automat sich selbst erhalten kann.“ (Kant, Idee 1784, 31.)

26 „Nicht genießen, sondern Kräfte-Entwickelung war der Zweck der Natur. Das Gute sollte ausder Rohigkeit entwickelt werden: das war Naturplan. Der Mensch macht, daß es aus demBösen entwickelt werden muß. Das Böse (..) zwingt zum Guten" (Kant, Reflexionen 1974,234).

27 Laut Kant folgt der Lauf der Natur einem „Zweck eines sie vorher bestimmendenWelturhebers" (Kant, Frieden 1796, 73). Deshalb sei alles durch Naturgesetze vorherbestimmt.Man könne zwar erkennen, dass es einen Zwecke gebe, doch nicht worin dieser Zweckbestehe, und Gott greife nicht aktiv in den Lauf der Welt ein, sondern er sei nur ihr Anfang(ebd.).

28 Kant, Frieden 1796, 74. - Wobei die Tatsache, dass die Entwicklung des Menschengeschlechts(Gattung) auf einen „objektiven Endzweck“ gerichtet sei, nicht an den „Kunstanstalten derNatur“ erkennbar sei und auch nicht auf diesen Endzweck geschlossen werden könne, sondernnur hinzugedacht werden könne und müsse. Dies sei durch einen Analogieschluss möglich. DieNatur folge dem göttlichen Zweck in der Art, wie die menschlichen Handlungen den Zweckenfolgen, die die Vernunft ihnen gebe (ebd.). - Meines Erachtens macht Kant aber genau dies,was er hier als unmöglich beschreibt, nämlich den Schluss von den „Kunstanstalten der Natur"auf die Existenz einer Zweckgerichtetheit der Natur. Das zeigt beispielsweise seine mehrmalsaufgegriffene Geschichte mit dem Treibholz, um den Naturplan der Verbreitung des Menschenin alle Weltgegenden zu erläutern.

29 Die Verwendung des Begriffs 'Natur' ist laut Kant in einer Theorie „schicklicher für dieSchranken der menschlichen Vernunft (…) und bescheidener als der Ausdruck einer für unserkennbaren Vorsehung, mit dem man sich vermessenerweise ikarische Flügel ansetzt, um demGeheimnis ihrer unergründlichen Absicht näher zu kommen“´(Kant, Frieden 1796, 75).

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Die Natur unterstützt durch selbstsüchtige Neigungen den menschlichen

(vernünftigen) Willen, denn in der republikanische, d.h. bürgerlichen Verfassung

werden schlussendlich die entgegengesetzten Neigungen so geregelt, dass sie sich

gegenseitig aufheben, sodass die Vernunft frei agieren kann. So wird der Mensch,

der von Natur aus nicht moralisch gut ist, gezwungen, ein guter Staatsbürger zu

sein.30

7 Kants Präliminar- und Definitivartikel

Zur Erlangung des ewigen Friedens stellt Kant einen Katalog von Verboten und

Geboten auf, die unbedingt beachtet werden müssten, weil ansonsten endgültiger

Friede unmöglich sei. Diese Postulate teilt er in sechs Präliminar- und drei

Definitivartikel ein.

7.1 Die sechs Präliminarartikel

Die Artikel 1, 5 und 6 der Präliminartikel bezeichnet Kant als strenge Gesetze,

die sofort zu beachten sind. Die Durchführung der Artikel 2, 3 und 4 sei dagegen

aufschiebbar, „damit sie nicht übereilt und so der Absicht selbst zuwider

geschehe“.31

7.1.1 Erster Präliminarartikel

„Es soll kein Friedensschluß für einen solchen gelten, der mit dem geheimen

Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden."32 Wie oben

bereits erläutert, handelt es sich beim Frieden nicht um einen einfach

Waffenstillstand, sondern um die Beseitigung des Kriegs.

7.1.2 Zweiter Präliminarartikel

„Es soll kein für sich bestehender Staat (klein oder groß, das gilt hier gleichviel)

von einem anderen Staate durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben

werden können.“33 Ein Staat sei kein Eigentum, sondern „eine Gesellschaft von

30 Kant, Frieden 1796, 79. - Der Mensch besäße eine moralische Anlage, durch die es möglichsei, seine böse Natur zu bändigen (Kant, Frieden 1796, 66) und die Natur „entwickele in dieserscheinbarlich wilden Anordnung ganz regelmäßig jene ursprüngliche Anlagen“ (Kant, Idee1784, 31).

31 Kant, Frieden 1796, 57.32 Kant, Frieden 1796, 51.33 Kant, Frieden 1796, 52.

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Menschen, über die niemand anders als er selbst zu gebieten und zu disponieren

hat.“34 Wäre ein Staat ein Besitztum, das von einem Besitzer zum anderen

übergeht, dann verliere, der Staat „seine Existenz als einer moralischen Person“.35

7.1.3 Dritter Präliminarartikel

„Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören.“36 Ein

stehendes Heer sei eine ständige Bedrohung anderer Staaten und führe zum

Wettrüsten. Die Aufrüstung dränge zur Nutzung der angehäuften Waffen und

somit seien stehende Heer selbst Ursachen für Angriffskriege.37 Zudem bedeuten

Heere im Grunde „einen Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und

Werkzeugen in der Hand eines andern (des Staats) (…), der sich nicht wohl mit

dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen läßt.“38

7.1.4 Vierter Präliminarartikel

„Es sollen keine Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel gemacht

werden.“39 Schulden dürfen nur zum Wohl des Volkes aufgenommen werden.

Geliehenes Geld zur Kriegsführung sei eine bedrohliche Geldmacht.40 Zudem

würde der „unvermeidliche Staatsbankrott manche andere Staaten unverschuldet

in den Schaden mit verwickeln“.41

7.1.5 Fünfter Präliminarartikel

„Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats

gewalttätig einmischen“.42 Ein Staat mit unrechter Verfassung kann ein warnendes

Beispiel geben, stellt aber selbst noch keine Schädigung eines anderen Staates dar,

34 Kant, Frieden 1796, 52.35 Kant, Frieden 1796, 52. - So dürfe ein Staat auch einem anderen Staat keine Truppen stellen,

wenn kein gemeinsamer Feind bestehe, denn dadurch würden die Soldaten, die auchUntertanen und Personen sind, „als nach Belieben zu handhabende Sachen gebraucht undverbraucht." (Kant, Frieden 1796, 53.)

36 Kant, Frieden 1796, 53.37 Kant, Frieden 1796, 53.38 Kant, Frieden 1796, 53. - Dies sei „Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung selbst." (Kant,

treit, 1798, 195.) Beim freiweilligen Waffengang zur Sicherung der Heimat sei dies aber nichtder Fall (Kant, Frieden 1796, 53).

39 Kant, Frieden 1796, 54.40 Es gebe drei zentrale Mächte: die „Heeresmacht“, die „Bundesmacht“ und die „Geldmacht“,

welche alle drei in gleicher Weise als bedrohlich einzustufen seien (Kant, Frieden 1796, 53-54).

41 Kant, Frieden 1796, 54.42 Kant, Frieden 1796, 55.

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auf die reagiert werden muss.43 Auch darf in einen Bürgerkrieg nicht von Außen

militärisch eingegriffen werden, denn auch hier würde die „Einmischung äußerer

Mächte Verletzung der Rechte eines nur mit seiner innern Krankheit ringenden,

von keinem andern abhängigen Volks, selbst also ein gegebenes Skandal sein und

die Autonomie aller Staaten unsicher machen.“44 Kein Staat kann einen anderen

verurteilen oder bestrafen, da zwischen Staaten kein hierarchisches Verhältnis

vorliegen kann.45

7.1.6 Sechster Präliminarartikel

„Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten

erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich

machen müssen: als da sind Anstellung der Meuchelmörder (percussores),

Giftmischer (venefici), Brechung der Kapitulation, Anstiftung des Verrats

(perduellio) in dem bekriegten Staat etc.“46 Wenn das Vertrauen auf Frieden

gänzlich verloren gegangen sei, werde der Krieg zum reinen „Ausrottungskrieg“

und verliere seine Zweckorientierung. Die Vernichtung aller Menschen führe zwar

auch zum ewigen Frieden, dies sei aber nicht das Ziel.47

7.2 Die drei Definitivartikel

Die drei Definitivartikel basieren laut Kant auf dem folgenden Gesetz: „Alle

Menschen, die aufeinander wechselseitig einfließen können, müssen zu

irgendeiner bürgerlichen Verfassung gehören.“48 Menschen können in drei

Rechtsformen aufeinander Einfluss nehmen, als Bürger innerhalb eines Staates,

als Staaten untereinander und als Staaten und gleichfalls Menschen „als Bürger

eines allgemeinen Menschenstaats“.49 Dieser Aufteilung folgend behandeln die

Definitivartikel zuerst das Staatsbürgerrecht, dann das Völkerrecht und schließlich

das Weltbürgerrecht.

43 Feindseliges Verhalten sei nur dann gerechtfertigt, wenn man schon „tätig lädiert“ wurde(Kant, Frieden 1796, 58).

44 Kant, Frieden 1796, 55.45 Kant, Frieden 1796, 56.46 Kant, Frieden 1796, 55.47 Kant, Frieden 1796, 55.48 Kant, Frieden 1796, 59.49 Kant, Frieden 1796, 59.

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7.2.1 Erster Definitivartikel

„Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein.“50 Die

republikanisch-bürgerliche Verfassung sei gekennzeichnet durch die Freiheit der

Bürger als Menschen, der Abhängigkeit derselben als Untertanen und ihrer

Gleichheit als Staatsbürger.51 In einer republikanischen Verfassung beschließen die

Staatsbürger selbst, ob Krieg geführt werde oder nicht. Was bedeuten würde, dass

„sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten“; ein

Beschluss, den Kant als höchst unwahrscheinlich betrachtet.52

7.2.2 Zweiter Definitivartikel

„Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein.“53 Wie

oben bereits angesprochen wurde, betrachtet Kant Staaten in derselben Weise wie

Personen, die sich im Naturzustand befinden (der wiederum ein Kriegszustand

ist). Zur Garantie der Sicherheit müssen die Staaten in eine gemeinsame

Verfassung treten, die der bürgerlichen ähnelt, was Kant den „Völkerbund“

nennt.54 Der Völkerbund sei aber kein „Völkerstaat“, weil niemals ein Staat

Gesetzgeber eines anderen sein kann.55

50 Kant, Frieden 1796, 59.51 Kant, Frieden 1796, 59. - Kant definiert Freiheit und Gleichheit wie folgt: äußere rechtliche

Freiheit „ist die Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meineBeistimmung habe geben können.“ Gleichheit ist „in einem Staates dasjenige Verhältnis derStaatsbürger, nach welchem keiner den andern wozu rechtlich verbinden kann, ohne daß er sichzugleich dem Gesetz unterwirft, von diesem wechselseitig auf dieselbe Art auch verbundenwerden zu können.“ Es handle sich dabei um angeborene, zur Menschheit notwendiggehörende und unveräußerliche Rechte (Kant, Frieden 1796, 60). Der Mensch könne denZustand der Gleichheit nur durch eigenes Verbrechen verlassen, aber nie durch Vertrag oderKriegsgewalt (Kant, Gemeinspruch 1793, 141). Eine genauere Erläuterung der Einteilungfinden Sie bei Kant, Gemeinspruch 1793, 137-145.

52 Kant, Frieden 1796, 62. - Die republikanische Verfassung sei aber keine demokratischeVerfassung. Das Prädikat 'republikanisch' bedeute nichts anderes als Gewaltenteilung, d.h. die„Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden“. Daher gebees entweder republikanische oder despotische Regierungen. Regierungart sei nicht dasselbewie die Staatsform. Die Demokratie sei despotisch. (Kant, Frieden 1796, 62-64).

53 Kant, Frieden 1796, 64.54 Die Durchführbarkeit dieser Idee sieht Kant in der Französischen Revolution als Beispiel für

den möglichen Ausgangspunkt einer solchen Friedensbewegung bestätigt: „Denn wann dasGlück es so fügt: daß ein mächtiges und aufgeklärtes Volk sich zu einer Republik (die ihrerNatur nach zum ewigen Frieden geneigt sein muß) bilden kann, so gibt dieses einenMittelpunkt der föderativen Vereinigung für andere Staaten ab, um sich an sie anzuschließenund so den Freiheitszustand der Staaten gemäß der Idee des Völkerrechts zu sichern und sichdurch mehrere Verbindungen dieser Art nach und nach immer weiter auszubreiten.“ (Kant,Frieden 1796, 67.) Siehe auch Kant, Streit 1798, 190.

55 Kant, Frieden 1796, 64. - Kant sieht bei dem Völkerstaat einen Widerspruch, da „viele Völkeraber in einem Staate nur ein Volk ausmachen" (ebd.). An anderer Stelle (Kant, Frieden 1796,59) hat er aber von einem Menschenstaat gesprochen. Hier ist anzumerken, dass die Gründungeines solchen Menschenstaates nur dann wirklich durchgeführt werden kann, wennStaatsbürgerrecht und Völkerrecht durch das Weltbürgerrecht ersetzt werden. Viele

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7.2.3 Dritter Definitivartikel

„Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität

eingeschränkt sein.“56 Hospitalität definiert Kant als „das Recht eines Fremdlings,

seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen von diesem nicht feindselig

behandelt zu werden.“57 Dieses Recht ist auf dem Recht „des gemeinschaftlichen

Besitzes der Oberfläche der Erde“ begründet, wodurch „niemand an einem Orte

der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere.“58 Die Einhaltung der Hospitalität

ermögliche die grundsätzlich friedliche Kommunikation der Völker und eine

allmähliche Annäherung an die weltbürgerliche Verfassung.59

8 Ewiger Frieden und Antagonismus – ist das möglich?

Kants Auffassung des Antagonismus scheint in Anbetracht seiner Definition des

ewigen Friedens problematisch. Wir erinnern uns, er definiert den Frieden durch

die grundsätzliche Unmöglichkeit des Krieges. Betrachten wir nun folgenden

Absatz: „Was also der zwecklose Zustand der Wilden tat, daß er nämlich alle

Naturanlagen in unserer Gattung zurück hielt, aber endlich durch die Übel, worin

er diese versetzt, sie nötigte, aus diesem Zustande hinaus und in eine bürgerliche

Verfassung zu treten, in welcher alle jene Keime entwickelt werden können, das tut

auch die barbarische Freiheit der schon gestifteten Staaten, nämlich: daß durch die

Verwendung aller Kräfte der gemeinen Wesen auf Rüstung gegen einander, durch

die Verwüstungen, die der Krieg anrichtet, noch mehr durch die Notwendigkeit

sich beständig in Bereitschaft dazu zu erhalten zwar die völlige Entwickelung der

Naturanlagen in ihrem Fortgange gehemmt wird, dagegen aber auch die Übel, die

daraus entspringen, unsere Gattung nötigen, zu dem an sich heilsamen

Widerstande vieler Staaten neben einander, der aus ihrer Freiheit entspringt, ein

Gesetz des Gleichgewichts auszufinden und eine vereinigte Gewalt, die demselben

Nachdruck gibt, mithin einen weltbürgerlichen Zustand der öffentlichen

voneinander unabhängige Staaten seien besser als eine „Universalmonarchie“, weil derenGesetze durch die Größe der Regierung an Macht verlieren und vom Despotismus zur Anarchieführen würden (Kant, Frieden 1796, 80). Im Gegensatz dazu impliziert ein Völkerbund nichtdie Auflösung der Einzelstaaten.

56 Kant, Frieden 1796, 69.57 Kant, Frieden 1796, 69. - Es handle sich nicht um ein „Gastrecht“, sondern um ein

„Besuchsrecht“ (Kant, Frieden 1796, 69).58 Kant, Frieden 1796, 69.59 Kant, Frieden 1796, 70. - Die Natur besäße zwei Mittel, um Völker von der Vermischung

abzuhalten und zu trennen, das seien die verschiedenen Sprachen und die verschiedenenReligionen (Kant, Frieden 1796, 80-81).

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Staatssicherheit einzuführen, der nicht ohne alle Gefahr sei, damit die Kräfte der

Menschheit nicht einschlafen, aber doch nicht ohne ein Prinzip der der Gleichheit

ihrer wechselseitigen Wirkung und Gegenwirkung, damit sie einander nicht

zerstören.“60

Durch den weltbürgerlichen Zustand wird der Antagonismus ebenso wie in der

bürgerlichen Staatsverfassung nicht aufgehoben, sondern so ausbalanciert, dass

durch die enge Bindung der Staaten im Völkerbund jede Aggression gegen

einzelne Mitglieder alle Staaten betrifft und deshalb ein Krieg von vorne herein

kaum Aussicht auf Erfolg bietet.61 Das ist zwar realistisch, aber strenggenommen

wird durch eine solche Balancierung die Unmöglichkeit des Krieges nicht

garantiert, sondern Krieg wird nur unwahrscheinlicher. Damit ist dieser Zustand

nicht hinreichend, um ewigen Frieden zu garantieren.

Zudem betont Kant, dass innerhalb dieses Zustandes auch immer noch Gefahr

herrschen soll, damit eben der Fortschritt in der Gattung Mensch nicht abebbt.

Doch wie soll man dies verstehen? Ungeselligkeit ist und bleibt Ungeselligkeit

und widerspricht im Grunde immer Kants Kategorischem Imperativ. Oder ist ein

bisschen Ungeselligkeit erlaubt oder sogar geboten, um den Fortschritt des

Menschen zu garantieren?

Im Grunde versucht Kant mit seiner bürgerlichen Weltordnung einen

endzeitlichen Zustand zu beschreiben, der sich zwar bemüht auf realistischem

Boden zu bleiben, aber genau deswegen nicht weit genug geht.62 Dabei gerät er

unvermeidlich in eine theoretische Problematik, denn es gilt auch bei Krieg und

Frieden tertium non datur: es kann nicht ewigen Frieden mit gleichzeitiger

latenter Ungeselligkeit (d.h. Gefahr) geben, denn nur da droht Gefahr, wo

Ungeselligkeit ist, und wo Ungeselligkeit ist, droht Krieg. Ist nicht da, wo immer

noch Gefahr droht, ein latenter Kriegszustand? Aber ist es nicht gerade Ziel diesen

Zustand abzuschaffen?

Kant postuliert zudem absolut, dass einzig und allein die praktizierte Moralität

Essenz und Ziel aller Zivilisierung ist,63 und die praktizierte Moralität lässt keine

Ungeselligkeit mehr zu. Somit kann auch durch die weltbürgerliche Verfassung

kein ewiger Frieden garantiert werden und dies weiß auch Kant: „Für Staaten im

60 Kant, Idee 1784, 32. (Hervorhebungen durch den Verfasser)61 Kant, Idee 1784, 35.62 Den angestrebten Völkerbund bezeichnet er als „letzte Vollkommenheit" (Kant, Reflexionen

1974, 221).63 Kant, Idee 1784, 32.

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Verhältnisse untereinander kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus

dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie,

ebenso wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu

öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen (freilich immer

wachsenden) Völkerstaat (civitas gentium) bilden. Da sie dies aber nach ihrer Idee

vom Völkerrecht durchaus nicht wollen, mithin, was in in thesi richtig ist, in

hypothesi verwerfen, so kann an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik

(wenn nicht alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg

abwehrenden, bestehenden und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der

rechtscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten, doch mit beständiger Gefahr

ihres Ausbruchs.“64 Er schreibt weiterhin: „Auf die Art garantiert die Natur durch

den Mechanism in den menschlichen Neigungen selbst den ewigen Frieden;

freilich mit einer Sicherheit, die nicht hinreichend ist, die Zukunft desselben

(theoretisch) zu weissagen, aber dich in praktischer Absicht zulangt und es zur

Pflicht macht, zu diesem (nicht bloß chimärischen) Zwecke hinzuarbeiten.“65

In diesem Zusammenhang noch von einer Garantie zu sprechen (ob in

theoretischer oder praktischer Hinsicht ist irrelevant), ist sinnlos. Was soll eine

Garantie ohne Sicherheit überhaupt sein? Das wäre nichts anderes als eine

Garantie ohne Garantie. Was für eine zweckmäßige Natur ist das, die dem

Menschen ein Ziel setzt, dass sie nie vollkommen garantieren und er realiter nie

vollkommen erreichen kann?

9 Was will die Natur wirklich?

Wenn wir Kants Meinung folgen, dann ist es unmöglich die Natur vollständig zu

durchdringen, jedoch gibt auch er vor, ein paar sichere Angaben über sie machen

zu können. Die Natur sei zweckmäßig, tue „nichts überflüssig und ist im

Gebrauche der Mittel zu ihren Zwecken nicht verschwenderisch."66 Für den

Menschen habe sie als Ziel bestimmt, alle seine vernünftigen Anlagen

vollkommen entwickeln zu können, d.h. einen vollkommen vernünftigen

Endzustand zu erreichen. Dies soll, wie bereits beschrieben, allein sein eigener

Verdienst sein. Doch Kant ist sich bewusst, dass der Mensch dieses Ziel oftmals

64 Kant, Frieden 1796, 68.65 Kant, Frieden 1796, 81. (Hervorhebungen durch den Verfasser)66 Kant, Idee 1784, 23. - Kants Einschätzung der Natur ist unverträglich mit der darwinschen

Evolutionstheorie.

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nicht bewusst verfolgt oder sogar unvernünftig handelt und fragt deshalb, wie die

Natur sicherstellt, dass er trotz seiner widerstrebenden Neigungen dies im

Endeffekt doch tut. Seine Antwort ist, das die Natur dem Menschen keine Pflicht

im moralischen Sinn auferlegt, sondern „sie tut es selbst, wir mögen wollen oder

nicht (…). Die Natur will unwiderstehlich, daß das Recht zuletzt die Obergewalt

erhalte.“67

Das bedeutet folglich, dass die Natur für den Menschen vorgesehen hat, dass er

das Ziel erreicht, und auch noch garantiert, dass er das Ziel erreicht, ob er es nun

aktiv anstrebt oder nicht. Daraus ergibt sich nun die Frage: Wie kann dies nun

noch ganz allein ein Verdienst des Menschen sein, wenn es doch in gewisser

Weise sein Schicksal ist? Warum soll sich der Mensch dann noch aktiv darum

bemühen?

Wenn zudem die Natur wirklich „nichts überflüssig“ tut und „im Gebrauche der

Mittel zu ihren Zwecken nicht verschwenderisch“ ist, dann folgt daraus, dass jeder

Krieg, jedes Leid und jedes Gewaltopfer der Geschichte notwendig war.68 So

könnte man mit Recht behaupten, beide Weltkriege und der Holocaust des

zwanzigsten Jahrhunderts seien mit Notwendigkeit geschehen, denn sie seien im

Plan der Natur vorgesehen, um dem Menschen letztendlich zur Vernunft zu

nötigen. Wollen wir dies akzeptieren? In diesem Zusammenhang überrascht es

nicht, dass auch Kant selbst sich wundert, warum bei diesem obskuren Plan erst

die später geborenen Menschen das Glück genießen können, in einem

vernünftigen Zustand zu leben, obwohl doch viele Generationen vorher eben

diesen Zustand vorbereitet haben und nicht belohnt wurden, sondern leiden

mussten.69

67 Kant, Frieden 1796, 78-80. - So ist es der von der Natur festgelegte Zweck der Vernunft, deninneren und äußeren Frieden zu fördern und sicherzustellen (Kant, Frieden 1796, 80).

68 In den Reflexionen aus Kants Nachlss finden sich Fragmente, die genau solch einenGedankengang aufzeigen:„Die (Natur) Bestimmung des Menschen ist die Entwickelung allerTalente und die auf die hochste (sic!) Kunst gegründete Glückseligkeit und Gutartigkeit. Dazubedient sich die Natur des Schmerzens und der Übel, die sie uns antut, noch mehr: die wir unsselbst zuziehen. Diese Bestimmung der Menschengattung müssen wir folgen. Moralität ist einesache der Kunst, nicht der Natur.“ (Kant, Reflexionen 1974, 207.) Weiterhin schreibt er:„Welches sind die Triebfedern, deren sich die Natur zur Hervorbringung der bürgerlichenGesellschaft bedient? Der Eifersucht, des Mißtrauens, der Gewalttätigkeiten, welche dieMenschen nötigen, sich Gesetzen zu unterwerfen und die wilde Freiheit aufzugeben. Daherkommt die Entwicklung aller guten Naturanlagen. (Man kann die Geschichte eines jeden Volksals eine Bestrebung der Natur zu Errichtung einer vollkommenen bürgerlichen Verfassungansehen. Die der Staaten als Versuche zum Völkerrecht.)“ (Kant, Reflexionen 1974, 210.)

69 Kant, Idee 1784, 25.

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In extremer Ausformung könnte dieses teleologische Konzept sogar dazu

verwendet werden, Kriege in Anbetracht eines höheren Gutes zu rechtfertigen. Ein

Kriegstreiber könnte sagen: „Ich führe Krieg, um die Weiterentwicklung der

Vernunftanlagen in der Gattung Mensch zu fördern“.

Wir wollen diesen Ausspruch kurz prüfen. Sowohl ungesellige wie auch gesellige

Handlungen, hier bezeichnet als soziale und antisoziale Handlungen, fördern die

Entwicklung des Menschen hin zum vernünftigen Zustand. Man darf deshalb an

dieser Stelle die Frage stellen: Ist alles, was zur Weiterentwicklung der

Vernunftanlagen beiträgt gut? Mit 'gut' kann hier auch moralisch gut gemeint sein,

also im Prinzip moralisch geboten. Damit würde die Frage lauten: „Ist alles, was

zur Weiterentwicklung der Vernunftanlagen beiträgt moralisch geboten?“

Zur Bewertung dieser Frage bietet sich Kants ureigenes Kriterium an, der

Kategorische Imperativ: „Handle so, daß du wollen kannst, deine Maxime solle

ein allgemeines Gesetz werden (der Zweck mag sein, welcher er wolle).“70.

Der Satz, der hier zu prüfen ist, könnte wie folgt lauten: „Ich tue willentlich etwas

soziales (z.B. friedliche, einträchtige, ehrliche, vertrauensvolle Handlungen), um

die Weiterentwicklung der Vernunftanlagen in der Gattung Mensch zu fördern.“

Ich kann ohne Probleme wollen, es sei allgemeines Gesetz, willentlich sozial zu

handeln, um die Weiterentwicklung der Vernunftanlagen in der Gattung Mensch

zu fördern.71 Das nennt man im Volksmund „mit gutem Beispiel vorangehen“. Das

würde auch bedeuten: „Stifte Frieden!“. Wenn nun dies geboten ist, so kann eine

antisoziale Handlung nicht noch ebenfalls geboten sein, sie kann nicht einmal

erlaubt sein, weil ihre Unterlassung geboten ist. Deshalb folgt daraus, dass nicht

alles, was laut Kant zur Weiterentwicklung der Vernunftanlagen beiträgt moralisch

geboten sein kann.72

Doch wie ist das zu verstehen? Der Kriegstreiber könnte argumentieren: Wie kann

etwas nicht geboten sein, wenn es dazu beiträgt, dass der Mensch letztendlich

vernünftiger wird? Nun, es kann auch sein, dass alles, was zur Weiterentwicklung

der Vernunftanlagen beiträgt keinen moralischen Gehalt hat. Dann wären aber

70 Kant, Frieden 1796, 91.71 Problematisch wird erst dann, wenn jeder dieses Gesetz befolgt (was eine soziale Tat ist), denn

dann wäre ja jeder bereits vernünftig und das Gesetz wäre eine unsinnige Tautologie.72 Die obigen Sätze drücken zweckgerichtete Handlungen aus und hier würde Kant sowieso

einwenden, dass Krieg führen und ungesellig Handeln an sich verboten sind, egal ob mandamit einen guten Zweck verfolgt oder nicht. Doch damit würde er unserer Argumentation nurentgegenkommen.

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soziale Handlungen ebenfalls kein Gegenstand moralischer Bewertung, was sie

aber offensichtlich sind.

Wie ist es dann zu verstehen, dass Handlungen, die aus dem Antagonismus

entspringen, notwendig, aber nicht geboten sind? Wie kann hier überhaupt noch

ein moralischer Maßstab angesetzt werden, wo doch all das notwendig geschieht?

Letztendlich führt uns dieses Thema unweigerlich zu dem alten Problem zwischen

Freiheit des Willens und der Determination des Naturgeschehens.

10 Zusammenfassung

Kant ist es hoch anzurechnen, dass er in seinen Gedanken zum ewigen

Friedensschluss auf einer durchführbaren und realistischen Ebene bleibt. Doch ist

auch genau dies sein größtes Problem, denn sein ganzes Konzept basiert auf

einem Ideal der Natur, das sich in seiner Vollkommenheit grundsätzlich nicht mit

der offensichtlichen Unmöglichkeit zur Vollkommenheit des Menschen verträgt.

Kant selbst war sich dessen bewusst, dass der Völkerbund einen ewigen Frieden

nicht garantieren kann und er weiß auch, dass der Mensch aufgrund seiner

ungeselligen Anlagen über einen solchen Zustand nicht weiter hinauskommen

kann, und trotzdem spricht er von einer Garantie der Natur auf ewigen Frieden,

was, wie oben erläutert wurde, sinnlos ist.

So scheint Kants Konzeption wie ein Versuch selbst dem schlechtesten aller

Dinge, das ist der Krieg, noch eine sinnvolle Rolle im großen Plan der Natur zu

verleihen. Wenn Kant von einer vollkommenen Zweckmäßigkeit der Natur

ausgeht, dann kann er auch nicht anders als dem, was uns am unsinnigsten, am

unvernünftigsten und am widerlichsten erscheint, im großen Naturganzen einen

Zweck zuzusprechen. Der von ihm beschriebene Antagonismus existiert zwar

offensichtlich, aber ob er in genau dieser Art und Weise zweckgerichtet ist, ist eine

andere Frage. So behauptet er, dass alles, was bedingt durch diesen Antagonismus

geschieht, im Grunde dazu beiträgt, dass der Mensch seine Naturanlagen

weiterentwickeln kann bis zu dem Punkt, wo er den Antagonismus letztendlich

aushebelt, indem er sich freiwillig einer republikanisch-bürgerlichen Verfassung

unterwirft. Nun stellt aber die Aussage, dass die Natur den Menschen

unweigerlich, ob er will oder nicht, zur Vernunft führt ein gravierendes Problem

der praktischen Ethik dar. Denn warum soll etwas angestrebt werden, was sowieso

notwendig geschieht? Zudem führt uns die beschriebene Behauptung zu

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moralischen Problemen, die schwer zu akzeptieren sind, und schließlich

gezwungenermaßen zum altbekannten Konflikt zwischen Freiheit und

Notwendigkeit.

Im gesamten betrachtet ist Kant aber zuzustimmen, dass die von ihm postulierte

Verfassung und der Völkerbund praktisch am besten geeignet sind, die

Wahrscheinlichkeit für einen Krieg zu vermindern, auch wenn der ewige Frieden

unerreichbar scheint.73

73 „Die Idee einer mit dem natürlichen Rechte des Menschen zusammenstimmenden Konstitution(...) ist nicht ein leeres Hirngespinst, sondern die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassungüberhaupt und entfernt allen Krieg." (Kant, Streit 1798, 196-197.)

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11 Literaturverzeichnis

Kant, Frieden 1796

Kant, Immanuel, Klemme, Heiner (Hg.): Über den Gemeinspruch: Das

mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Zum

ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Mit Einleitung und

Anmerkungen, Bibliographie und Registern kritisch herausgegeben von

Heiner F. Klemme, Hamburg 1992 (Philosophische Bibliothek, Bd. 443).

Kant, Gemeinspruch 1793

Kant, Immanuel: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig

sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Riedel, Manfred (Hg.), Kant,

Immanuel: Schriften zur Geschichtsphilosophie. Mit einer Einleitung

herausgegeben von Manfred Riedel, Stuttgart 1974, 118-182.

Kant, Idee 1784

Kant, Immanuel: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher

Absicht, in: Riedel, Manfred (Hg.), Kant, Immanuel: Schriften zur

Geschichtsphilosophie. Mit einer Einleitung herausgegeben von Manfred

Riedel, Stuttgart 1974, 21-39.

Kant, Reflexionen 1974

Kant, Immanuel: Ausgewählte Reflexionen aus dem Nachlaß zur

Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Historiographie, in: Riedel,

Manfred (Hg.), Kant, Immanuel: Schriften zur Geschichtsphilosophie. Mit

einer Einleitung herausgegeben von Manfred Riedel, Stuttgart 1974, 201-

255.

Kant, Streit 1798

Kant, Immanuel: Der Streit der Fakultäten, 2. Abschnitt. Der Streit der

philosophischen Fakultät mit der juristischen. Erneuerte Frage: Ob das

menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei,

in: Riedel, Manfred (Hg.), Kant, Immanuel: Schriften zur

Geschichtsphilosophie. Mit einer Einleitung herausgegeben von Manfred

Riedel, Stuttgart 1974, 183-200.

Locke, 1977

Locke, John, Euchner, Walter (Hg.): Zwei Abhandlungen über die

Regierung. (Two Treatises of Government, engl.) Übers. v. Hans Jörn

Hoffmann, Frankfurt am Main 1977.

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