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REZENSION Publikationen über Nachhilfeunterricht mit wissenschaftlichem Anspruch sind auch im deutschsprachigen Raum nicht gerade selten. Sie sind allerdings einer starken ‚Konkur- renz‘ von Beiträgen mit deutlicher (bildungs)politischer Schlagseite ausgesetzt. Einige einschlägige Bespiele der letzten 10 Jahre: „Unkontrolliertem Nachhilfemarkt den Nähr- boden entziehen“, „Nachhilfe – Streitthema in der Bildungsdebatte“, „Ausgaben für Nachhilfe – teurer und unfairer Ausgleich für fehlende individuelle Förderung“, „Nach- hilfe – gekaufte Bildung?“, „The hidden marketplace private tutoring“. Dementsprechend vorurteilsbelastet verlaufen auch viele Diskussionen über dieses Thema. Karin Guill widmet sich ihm seit mehreren Jahren und legt mit diesem Band ihre an der Universität Dortmund approbierte Dissertation vor. Wie es einer aufwändigen und quali- tätsvollen Prüfungsarbeit entspricht, hat sie diese breit angelegt: Nach einigen (weni- gen) historischen Bemerkungen stellt sie mit „Modelle(n) zur Erklärung der Nutzung von Nachhilfeunterricht“ gleich einen Hauptzweck ihrer Untersuchung dar: Antworten zu fin- den auf Fragen nach Motiven und soziometrischen Prädiktoren für die Inanspruchnahme von Nachhilfeunterricht. Auf der Suche nach hilfreichen Theorien kommt sie einerseits auf Rational-Choice-Modelle (R. Boudon und Nachfolger), andererseits auf spieltheore- tische Ansätze (S. 45 ff.), die sie beide unter reichlicher Verwendung von mathematischen Formeln beschreibt. Bevor Guill die Hypothesen ihrer eigenen Untersuchungen formuliert (S. 91 ff.) sowie deren Methoden und Datenbasis – letztere liefert ihr die Hamburger Längsschnittstudie „Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern“ (KESS) – darstellt, gibt sie einen Überblick über den (2010 gegebenen) Forschungsstand. Die Position ver- nünftig argumentierender pädagogischer Ratgeberliteratur fasst sie dabei wie folgt zusam- men: „Aus pädagogischer Perspektive sollten am ehesten Schülerinnen und Schüler in besonderen persönlichen Umständen (Krankheit, familiäre Probleme wie z. B. Scheidung Z f Bildungsforsch (2013) 3:271–273 DOI 10.1007/s35834-013-0070-8 Karin Guill: Nachhilfeunterricht. Individuelle, familiäre und schulische Prädiktoren Münster u. a.: Waxmann, 2012, Empirische Erziehungswissenschaft Bd. 37, 218 Seiten, ISBN 978-3-8309-2693-1. € 29.90 Josef Thonhauser Online publiziert: 15.08.2013 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 Univ.-Prof. i. R. Mag. Dr. J. Thonhauser () Akademiestraße 26, 5020 Salzburg, Österreich E-Mail: [email protected]

Karin Guill: Nachhilfeunterricht. Individuelle, familiäre und schulische Prädiktoren

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Rezension

Publikationen über nachhilfeunterricht mit wissenschaftlichem Anspruch sind auch im deutschsprachigen Raum nicht gerade selten. sie sind allerdings einer starken ‚Konkur-renz‘ von Beiträgen mit deutlicher (bildungs)politischer schlagseite ausgesetzt. einige einschlägige Bespiele der letzten 10 Jahre: „Unkontrolliertem nachhilfemarkt den nähr-boden entziehen“, „nachhilfe – streitthema in der Bildungsdebatte“, „Ausgaben für nachhilfe – teurer und unfairer Ausgleich für fehlende individuelle Förderung“, „nach-hilfe – gekaufte Bildung?“, „The hidden marketplace private tutoring“. Dementsprechend vorurteilsbelastet verlaufen auch viele Diskussionen über dieses Thema.

Karin Guill widmet sich ihm seit mehreren Jahren und legt mit diesem Band ihre an der Universität Dortmund approbierte Dissertation vor. Wie es einer aufwändigen und quali-tätsvollen Prüfungsarbeit entspricht, hat sie diese breit angelegt: nach einigen (weni-gen) historischen Bemerkungen stellt sie mit „Modelle(n) zur erklärung der nutzung von Nachhilfeunterricht“ gleich einen Hauptzweck ihrer Untersuchung dar: Antworten zu fin-den auf Fragen nach Motiven und soziometrischen Prädiktoren für die inanspruchnahme von nachhilfeunterricht. Auf der suche nach hilfreichen Theorien kommt sie einerseits auf Rational-Choice-Modelle (R. Boudon und nachfolger), andererseits auf spieltheore-tische Ansätze (s. 45 ff.), die sie beide unter reichlicher Verwendung von mathematischen Formeln beschreibt.

Bevor Guill die Hypothesen ihrer eigenen Untersuchungen formuliert (s. 91 ff.) sowie deren Methoden und Datenbasis – letztere liefert ihr die Hamburger Längsschnittstudie „Kompetenzen und einstellungen von schülerinnen und schülern“ (Kess) – darstellt, gibt sie einen Überblick über den (2010 gegebenen) Forschungsstand. Die Position ver-nünftig argumentierender pädagogischer Ratgeberliteratur fasst sie dabei wie folgt zusam-men: „Aus pädagogischer Perspektive sollten am ehesten schülerinnen und schüler in besonderen persönlichen Umständen (Krankheit, familiäre Probleme wie z. B. scheidung

z f Bildungsforsch (2013) 3:271–273Doi 10.1007/s35834-013-0070-8

Karin Guill: Nachhilfeunterricht. Individuelle, familiäre und schulische PrädiktorenMünster u. a.: Waxmann, 2012, Empirische Erziehungswissenschaft Bd. 37, 218 Seiten, ISBN 978-3-8309-2693-1. € 29.90

Josef Thonhauser

Online publiziert: 15.08.2013© springer Fachmedien Wiesbaden 2013

Univ.-Prof. i. R. Mag. Dr. J. Thonhauser ()Akademiestraße 26, 5020 salzburg, Österreiche-Mail: [email protected]

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der eltern) sowie bei schlechten schulischen Rahmenbedingungen (z. B. Probleme mit Lehrerinnen oder Lehrern) vorübergehend auf nachhilfeunterricht zurückgreifen. Lang-fristige Leistungsprobleme werden, abgesehen von den nachhilfeanbietern selbst, kaum als akzeptabler Grund gesehen, nachhilfeunterricht zu nutzen. stattdessen wird in diesem Fall dafür plädiert, eine überfordernde schulformwahl zu korrigieren.“ (s. 59) in der Pra-xis hält man sich allerdings kaum an diese empfehlung.

sehr bald ist deutlich geworden, dass die Autorin sich eine sehr differenzierte sicht auf das Problem erworben hat und sich nicht von häufig kolportierten, letztlich allerdings wohl politisch motivierten Aussagen einschränken bzw. verführen lässt. zumal diese, wie die Autorin nachweist, häufig kaum belegte oder sogar eindeutig widerlegte Vorurteile transportieren. zum Beispiel, dass nachhilfeunterricht nur an Gymnasien, nicht aber an Haupt- oder Realschulen eine Rolle spiele oder nach wie vor eine „Domäne der gehobe-nen schichten“ sei und nicht auch in unteren einkommensgruppen und in Familien mit Migrationshintergrund (zunehmend) Verbreitung finde (S. 66 und S. 73). Einen starken Einfluss bei der Entscheidung für Nachhilfeunterricht üben seriösen Befunden zufolge (bei jüngeren schülerinnen und schülern die elterlichen) Bildungsaspirationen aus. Bei Kontrolle der anderen Faktoren nimmt nachhilfe mit steigenden Bildungsaspirationen zu, was sich u. a. auch bei schülerinnen und schülern zeigt, die aus Hauptschulen einen Übergang auf eine weiterführende schule anstreben.

Der internationale Vergleich weist für die skandinavischen Länder und Kanada eine relativ geringe nutzungsquote (unter 10 %) aus, für die zentral- und westeuropäischen staaten (unter ihnen Deutschland und Österreich) sowie die UsA eine mittlere (20 bis 30 %), für Griechenland, die osteuropäischen staaten sowie Japan und Korea eine hohe (z. T. bis 80 %, bezogen insbesondere auf Mathematik). (s. 85 f.) in manchen Ländern (vor allem auch entwicklungsländern) bewegt sich der nachhilfeunterricht jenseits jeder Legalität (z. B. als mit absichtlich schlechterer Benotung herbeigeführte notwendigkeit eines zuverdienstes für Lehrer/innen). in unseren Breiten schwankt die einschlägige Dis-kussion zwischen Anklagen gegen versagende schulen und entsprechenden Forderungen nach Systemveränderungen: flächendeckende Ganztagsschulen, Reduzierung der selek-tiven Funktion – zumindest in der Pflichtschulzeit. Die Autorin bezweifelt allerdings, dass sich damit der erhoffte effekt einstellen würde, weil sich die inanspruchnahme von nachhilfe auch als nutzung individueller familiärer Möglichkeiten zur erhöhung von Lebenschancen der Kinder, die ja auch unter geänderten systembedingungen interessant bleiben würde, verstehen ließe – eben als „individuelle Freiheitsrechte“. Die Darstellung der ergebnisse (s. 127 ff.) und ihre Diskussion (s. 152 ff.) bieten der Autorin Gelegenheit, noch auf viele weitere (inhaltliche und methodische) Details einzugehen. Bei der Lektüre gewann ich jedoch den eindruck, dass es ihr auch um eine empirisch fundierte Botschaft zu tun ist, mit der sie auf die weitere entwicklung in diesem gleichermaßen komplexen wie politisch brisanten Thema Einfluss nehmen könnte.

Ich habe diese Botschaft dort verortet, wo Karin Guill darüber reflektiert, inwieweit nachhilfeunterricht „eine Bedrohung der Chancengleichheit“ darstellt (s. 185 f.): „Das Prinzip der fairen Chancengleichheit wird jedoch verletzt, wenn der Bildungserfolg nicht mehr nur von Begabung und Anstrengung abhängt, sondern z. B. von der nutzung von Nachhilfeunterricht, der Kindern aus finanziell besser gestellten Familien eher zugänglich ist … Das Ausmaß der Verletzung der fairen Chancengleichheit durch nachhilfeunter-

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richt hängt auch davon (ab), inwieweit sich der schulerfolg durch nachhilfeunterricht bedeutsam steigern lässt… in einer quasi-experimentellen studie wurde gezeigt, dass besonders intensiver und damit kostenaufwendiger nachhilfeunterricht mit Leistungs-verbesserungen von ca. einer notenstufe … einhergeht.“ Dazu kommt noch ein zweiter effekt: eltern, die auf Grund ihres soziokulturellen Gewichts einen Reformdruck zu einer Verbesserung des staatlichen schulsystems aufbauen könnten, von der alle Kinder pro-fitieren würden, aber auf Nachhilfeunterricht ausweichen, um die Erfolgschancen ihrer Kinder zu sichern, reduzieren dadurch ihren möglichen Beitrag zur Verbesserung des öffentlichen Bildungssystems.