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„Die Partei beherrscht ein vortrefflicher Geist" Der Geheimkongreß der deutschen Sozialdemokratie in Kopenhagen von 1883 Karl-Rudolf Fischer I. Es gibt keinen Zweifel, das sogenannte „Sozialistengesetz" traf die deutsche Sozialdemokratie schwer; es gibt aber ebenso kei- nen Zweifel, daß die spätere große Organisationsstärke hier ihren Ursprung hat. 1 So existierten trotz Verbot Parteistruktu- ren auf allen Ebenen bis hin zum zentralen Kongreß. „Da die- ser Parteikongreß aber nicht im Reich zusammentreten konnte, wich man in das Ausland aus. Im Jahr 1880 fand der Kongreß auf Schloß Wyden im Kanton Zürich in der Schweiz statt, ... 1883 fand der Kongreß in Kopenhagen, 1887 in St. Gallen statt. 1 Die sozialdemokratische Führung wandte sich nach jedem Tref- fen an die Parteiöffentlichkeit, was den Mitgliedern „das Ge- fühl gab, einer gleichsam unbezwingbaren Bewegung anzuge- hören".* Kopenhagen bot sich als Tagungsort aus mehreren Gründen an; es war relativ gut zu erreichen, und es existierte eine sozial- demokratische Bewegung, die aktiv und international enga- giert arbeitete. Dazu kam, daß die Beziehungen der dänischen Sozialdemokraten zu den Genossinnen und Genossen in Schleswig-Holstein eng und freundschaftlich waren. In den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts waren die er- sten dänischen Arbeitervereine entstanden, aufgesplittet nach Berufszweigen. Ein weiteres Merkmal der frühen sozialisti- schen Bewegung zeigte sich in einem ausgeprägten Internatio- nalismus. „Dieser Internationalismus geht auf die Gesellen- wanderungen in der vorindustriellen Zeit zurück. ... Die Wan- derschaft der Gesellen diente der fachlichen Weiterbildung, ... sie wurdenpolitisch geweckt undideologisch geprägt." 4 Schleswig-Holstein lag dabei sozusagen auf dem Weg, und so entstanden bereits frühzeitig Kontakte. In mehreren Reichs- tagswahlkämpfen unterstützten z.B. die dänischen Sozialde- mokraten die Kandidaten des ADAV. 5 Nach intensiver politi- scher Arbeit entstand in Dänemark eine Bewegung, die auf gewerkschaftlicher Grundorganisation aufbaute. 1884 gewann die Partei ihre ersten beiden Sitze im Reichstag. Wie gut die Kontakte zwischen Schleswig-Holstein und Dänemark waren, zeigt auch eine Reise von ca. 300 Mitgliedern des Arbeiterbil- dungsvereins Lübeck, die am 1. Pfingstfeiertag 1884 nach Ko- penhagen reisen. An dieser Fahrt nahm auch der bekannte schleswig-holsteinische Sozialdemokrat Stephan Heinzel teil. Dieser traf sich bei seiner Ankunft in Kopenhagen sofort mit den dänischen Sozialdemokraten Holm, Hardun und Jensen, alle ebenfalls Schneider, von denen Jensen die Vorbereitungen zum Sozialistenkongreß im Jahr vorher getroffen hatte. Diese Kontakte sind für Schleswig-Holstein von großer Wichtigkeit gewesen, denn so erhielten sie Nachrichten und Informationen, die ihnen sonst versperrt geblieben wären. In Kiel wurden die Beziehungen auch durch Besuche von Matrosen der Dänemark- Fähren ausgebaut, die z.B. Druckschriften und Zeitungen mit- brachten. 6 Vom 29. März bis zum 2. April trafen sich nun führende Ver- treter der deutschen Sozialdemokratie in Kopenhagen, um die Situation ihrer Partei zu erörtern. 1 vgl. dazu J. Rovan, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Frank- furt 1980; F. Osterroth und D. Schu- ster, Chronik der deutschen Sozialde- mokratie, Hannover 1963; H. Gre- bing, Geschichte der deutschen Arbei- terbewegung, München 1977. 2 P. Wulf, „Unser die Welt, trotz alle- dem!", in: Mitteilungen des Beirats für Geschichte der Arbeiterbewegung und Demokratie in Schleswig-Holstein, Band 12, Kiel 1991, S. 13. 3 ebenda 4S. Federspiel, Arbeiterbewegung und Nationalismus im 19. Jahrhun- dert in Dänemark, in: Demokratische Geschichte, hrsg. v. Beirat für Ge- schichte, Band V, Kiel 1990, S. 96. 3 ebenda, S. 99 f. 6 vgl. dazu K.-R. Fischer, Stephan Heinzel und die Kieler Sozialdemokra- tie, in: Mitteilungen der Ges. f. Kieler Stadtgeschichte, Kiel 1987, S. 76. 89

Karl-Rudolf Fischer „Die Partei 1 beherrschtein vortrefflicher · AmKongreßtisch warensiePolitiker,ernstundbeherrscht inihrem Auftreten;aber währendihrerkleinenprivaten Zu- sammenkünfte,

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„Die Parteibeherrscht einvortrefflicher Geist"Der Geheimkongreß derdeutschenSozialdemokratie inKopenhagen von 1883

Karl-Rudolf Fischer

I.

Es gibt keinen Zweifel, das sogenannte„Sozialistengesetz" trafdie deutsche Sozialdemokratie schwer;es gibt aber ebenso kei-nen Zweifel, daß die spätere große Organisationsstärke hierihren Ursprunghat.1 So existierten trotz Verbot Parteistruktu-ren auf allen Ebenen bis hin zum zentralen Kongreß. „Dadie-ser Parteikongreß aber nicht im Reich zusammentreten konnte,wich man in das Ausland aus. Im Jahr 1880 fand der Kongreßauf Schloß Wyden im Kanton Zürich in der Schweiz statt, ...1883 fandder Kongreß inKopenhagen, 1887in St. Gallen statt.1Die sozialdemokratischeFührung wandtesichnach jedem Tref-fen an die Parteiöffentlichkeit, was den Mitgliedern „das Ge-fühl gab, einer gleichsam unbezwingbaren Bewegung anzuge-hören".*

Kopenhagenbot sich als Tagungsort aus mehreren Gründenan; es war relativ gut zu erreichen,und es existierteeine sozial-demokratische Bewegung, die aktiv und international enga-giert arbeitete. Dazu kam, daß die Beziehungen der dänischenSozialdemokraten zu den Genossinnen und Genossen inSchleswig-Holstein engund freundschaftlich waren.

In den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts waren die er-sten dänischen Arbeitervereine entstanden, aufgesplittet nachBerufszweigen. Ein weiteres Merkmal der frühen sozialisti-schen Bewegung zeigte sich in einem ausgeprägten Internatio-nalismus. „Dieser Internationalismus geht auf die Gesellen-wanderungen in der vorindustriellen Zeit zurück. ... Die Wan-derschaft der Gesellen diente der fachlichen Weiterbildung, ...sie wurdenpolitisch gewecktundideologisch geprägt."4

Schleswig-Holstein lag dabei sozusagen auf dem Weg, undso entstandenbereits frühzeitig Kontakte. In mehreren Reichs-tagswahlkämpfen unterstützten z.B. die dänischen Sozialde-mokraten die Kandidaten des ADAV.5 Nach intensiver politi-scher Arbeit entstand in Dänemark eine Bewegung, die aufgewerkschaftlicher Grundorganisation aufbaute. 1884 gewanndie Partei ihre ersten beiden Sitze im Reichstag. Wie gut dieKontakte zwischen Schleswig-Holstein und Dänemark waren,zeigt auch eine Reise von ca. 300 Mitgliedern des Arbeiterbil-dungsvereins Lübeck, die am 1. Pfingstfeiertag 1884 nach Ko-penhagen reisen. An dieser Fahrt nahm auch der bekannteschleswig-holsteinische Sozialdemokrat Stephan Heinzel teil.Dieser traf sich bei seiner Ankunft in Kopenhagen sofort mitden dänischen Sozialdemokraten Holm, Hardun und Jensen,alle ebenfalls Schneider, von denen Jensen die Vorbereitungenzum Sozialistenkongreß im Jahr vorher getroffen hatte. DieseKontakte sind für Schleswig-Holstein von großer Wichtigkeitgewesen,denn so erhielten sie Nachrichtenund Informationen,die ihnen sonst versperrt geblieben wären. In Kiel wurden dieBeziehungen auch durchBesuche von Matrosen derDänemark-Fähren ausgebaut, die z.B.Druckschriften und Zeitungen mit-brachten.6

Vom 29. März bis zum 2. April trafensich nun führende Ver-treter der deutschen Sozialdemokratie in Kopenhagen,um dieSituation ihrer Partei zuerörtern.

1 vgl. dazu J. Rovan, Geschichte derdeutschen Sozialdemokratie, Frank-furt 1980; F. Osterroth und D. Schu-ster, Chronik der deutschen Sozialde-mokratie, Hannover 1963; H. Gre-bing, Geschichte der deutschen Arbei-terbewegung, München 1977.2 P. Wulf, „Unser die Welt, trotz alle-dem!", in: Mitteilungen des Beirats fürGeschichte der Arbeiterbewegung undDemokratie in Schleswig-Holstein,Band12,Kiel 1991,S. 13.3 ebenda4S. Federspiel, Arbeiterbewegungund Nationalismus im 19. Jahrhun-dert in Dänemark, in: DemokratischeGeschichte, hrsg. v. Beirat für Ge-schichte, Band V, Kiel 1990, S. 96.3 ebenda, S. 99 f.6 vgl. dazu K.-R. Fischer, StephanHeinzelunddie Kieler Sozialdemokra-tie, in: Mitteilungen der Ges. f. KielerStadtgeschichte, Kiel1987, S.76.

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linke Seite:Auflösung einer sozialdemokrati-schen Versammlung, an der W. Lieb-knecht, A. Bebe/ und W Hasencleverteilnahmen, aus Sicht einer bürgerli-chen Zeitschrift ( aus: Daheim,Leip-zig 1881).

1878 hatten zweiMänner, diekeineSozialdemokraten waren, kurz hinter-einander erfolglos Attentate auf denKaiser verübt. Nachweislich falsch,aber öffentlich doch wirksam, machteReichskanzlerBismarck dafür die So-zialdemokraten verantwortlich. Siewaren in den siebziger Jahren starkangewachsen(siehe Wahlergebnisse).

Bismarck ließ im Reichstag ein„Gesetz gegen die gemeingefährlichenBestrebungen der Sozialdemokratie"einbringen, das sog. „Sozialistenge-setz". Es stellte nach seinen Verab-schiedungen den radikalsten Versuchdes kaiserlichen Staatesdar, diepoliti-sche Emanzipation der Arbeiter zuverhindern. Es verbot zwar nicht dieBeteiligung an den Wahlen, aber allesozialdemokratischen Vereine, Ver-sammlungenundDruckschriften. — RS

II. „Ein deutscherSozialistenkongreß inKopenhagen"

"

„Die Delegierten der deutschen sozialdemokratischen Parteiwaren in diesen Tagen in einer Anzahl von 60 zu einem Kon-greß hier inder Stadt versammelt.

In den letztenMonaten war es eineAufgabe für die deutschePolizei, auszuspionieren, an welchem Ort und zu welcher Zeitunsere deutsche Bruderpartei ihren jährlichen Kongreß abzu-halten gedachte. Man meinte auch, das herausgefunden zuhaben, weil sowohl deutsche als auch Kopenhagener Blättererzählten, daß der Kongreß aufdem Schloß Wyden imKantonZürich in der Schweiz stattfinden sollte. Während die Polizeidiesem Irrtum verfallen war, bereitete die deutsche Sozialde-mokratie die Reise der Delegierten nach Kopenhagen vor. Ei-nes Tages verschwanden plötzlichalle herausragenderenGesin-nungsgenossen aus Deutschland;hierauf war diePolizei vorbe-reitet, und die Spione in Zürich stellten sich an den Bahnhof,um sie zu empfangen. Sie stellten sich aufund blieben stehen,denn die Erwarteten kamen weder am ersten noch am zweitenTag, sie kamen überhaupt nicht. Während man sie in derSchweiz erwartete, logierten sie sich in den KopenhagenerHo-tels ein.

Schon am Dienstag kamen die ersten Delegiertenan, darun-ter der Reichtagsabgeordnete v. Vollmar; am Mittwoch undDonnerstag folgten mehrere nach, und am Freitagnachmittagum 4 Uhr, als der Kongreß im großen Saaldes Versammlungs-gebäudes eröffnet wurde, waren alle zur Stelle. Hier sah manzum ersten Mal in der dänischen Hauptstadt diese Männer,deren Namen für immer ehrenvoll mit der großen deutschenArbeiterbewegung verknüpft sind. Außer Vollmar, der bereitserwähnt wurde, waren von den Bekannteren folgende gekom-men: Aver, der sächsische Landtagsdeputierte Bebel und dieMitglieder des deutschenReichstages Bios, Liebknecht,Hasen-clever, Kracker, Kayser, Geiser, Grillenberger, Frohme, DietzundStolle.

DieDelegierten repräsentierten Vereine und Kreise aus allenTeilen Deutschlands, sowie deutsche sozialdemokratische Ver-eine in Paris, London und der Schweiz. Sowohldies als auchder Umstand, daß diePartei 8 bis 10.000 Reichsmark für einensolchen Kongreß opfern kann, zeigt, daß die deutsche Sozial-demokratie in diesem Augenblick so ungeschwächt wie immerdasteht, den Ausnahmegesetzen und Polizeiverfolgungen zumTrotz.

Und es ist nicht verwunderlich, daß die Partei trotz allerWiderstände so stark dasteht!Diese Männer, die hier versam-melt waren, machten dies so verständlich wie nur irgendetwas.Ihr Auftreten war von Mut, Lebenslust und Handlungskraftgeprägt. Jeder von ihnen hatte einen oder mehrere Auswei-sungsbefehle von verschiedenen Aufenthaltsorten in der Ta-sche. Viele waren von guten Geschäften verjagt worden, undalle litten in höherem oder geringerem Maße unter der jetztherrschenden Gewaltherrschaft im Vaterland, aber Furcht undMutlosigkeit sind nichtsdestoweniger völlig fremde Begriffefür sie, und, etwas, dem wir noch größere Bedeutung zumes-sen, sie sindnicht zuFanatikern geworden.

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Am Kongreßtisch waren sie Politiker, ernst und beherrschtin ihrem Auftreten; aber während ihrer kleinen privaten Zu-sammenkünfte, die stattfanden, wenn die Verhandlungenbeendet waren, und in den vergangenen Tagen hat es davonnatürlich viele gegeben, zeigten sie uns, die mit ihnen zusam-menkamen, daß nicht ein einziger der Kämpfe, die sie jedenTag mit den Nachtwächtern der Kapitalisten zu bestehen ha-ben, es geschafft hatte, dieFrische undLebendigkeit ihres Gei-stes zu kühlen. Sie waren nicht wenigerempfänglich für einenScherz als für ein Kampfeswort, und sie machten Konversa-tion, sangen und musizierten, als wären es nicht sie, denen diedeutschePolizeiaufdenFersen war.

Wie gesagt, der Kongreß wurde am Freitag eröffnet.,Social-Demokratisk Forbund' begrüßte die Delegierten durch seinenVorstand, und die Kongreßmitglieder nahmen die Arbeit auf,deren erster Tag jedoch damit verging, sich zu konstituierenund die Mandate zu prüfen. Bebel wurde zum Vorsitzendengewählt,Hasenclever zum Zweiten Vorsitzenden.

Es versteht sich von selbst, daß die Beratungen nicht refe-riert werden können, wir beschränken uns daher darauf, fol-gendesmitzuteilen:

Ein Kongreß wie der zur Zeit stattfindende wird so oft abge-

Anteil der sozialdemokratischenStimmen bei den Reichstagswahlen,1878: Sie zeigen, daß die Sozialdemo-kratie in einigen Wahlkreisen bereitszur stärkstenPartei geworden war. —RS

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halten, wie die deutsche Parteileitung dies für notwendig hält,jedoch nicht seltener als einmal jedes zweite Jahr. Es ist dieAbsicht, einheitliches Auftreten von allen Teilen Deutschlandsbei Reichstagswahlen und ähnlichem zuwege zu bringen, wodie Sozialdemokratie alsPartei auftritt. Bei dieser Gelegenheitwurde ihre Haltung zu den Reichstagswahlen 1884 abgespro-chen. Weiterhin standen Bismarcks sozialpolitische Vorschlägezur Diskussion. Es wurde beschlossen, diese aufdas bestimm-teste zu bekämpfen, ebenso wie man beschloß, den Kampf ge-gen die kapitalistische Gesellschaft insgesamt zu forcieren,auch wenn dies weitere Verfolgungenmitsich führen sollte.

Während der Zusammenkunft trafen Adressen von russi-schen und französischen Sozialisten ein. In der Adresse ausRußland wurde vorgeschlagen, daß eine internationale Samm-lung für ein Grabmonument für Karl Marx in Gang gesetztwerden sollte. Der Kongreß übertrug der Parteileitung die Auf-gabe, sich mit denHinterbliebenen von KarlMarx in Verbin-dung zu setzen und sich eventuell an die Spitze einer solchenSammlung zustellen.

Sonntagnachmittag um 4 Uhr beendete der Kongreß seineVerhandlungen,die alsodrei Tagegedauerthatten.

Am Abend zuvor, also am Sonnabend, hatte der Bundesvor-stand [des Socialdemokratisk Forbund, Anm. d. Übersetze-rin7] sämtliche Kongreßmitglieder zu einem Festmahl eingela-den, wobei einer begrenzten Anzahl dänischer Sozialdemokra-ten Gelegenheit gegeben wurde, hinzuzukommen. Es herrschteeine in jeder Hinsicht vorzügliche Stimmung bei dieser Zu-sammenkunft, Reden wechselten mit Liedern und Lieder mitDeklamationsnummern. Es wurde von beiden Seiten unterstri-chen, daß sowohl die dänische als auch die deutsche Sozialde-mokratie Parteien seien, die auf streng parlamentarischemBoden ruhten und die weder Sympathie für noch Anknüp-fungspunktemit densogenanntenSozialrevolutionären hätten.

Nach der Beendigungdes Kongressesreisten einige der Dele-gierten schon am selben Abend ab, aber der größte Teil hieltsich noch gestern hier in der Stadt auf, um sich KopenhagensSehenswürdigkeiten anzusehen.

Wir fühlen uns davon überzeugt, daß jeder Freund der Ar-beiterbewegung sich mit Begeisterung dem Wunsch anschlie-ßen wird, daß der nun zu Ende gebrachte Kongreß der deut-schen Sozialdemokratie Glück undErfolgbringenmöge.""

' Die Artikel des dänischen „Social-Demokraten" spiegeln eindrucksvolldie Stimmung auf dem Kongreß undin der dänischen Hauptstadt wider.Sie gehören zu den wenigen Quellen,die für diesen Geheimkongreß vor-handen sind. Der Autor hat sich des-halb entschieden, sie möglichst voll-ständig in den Text miteinzubeziehen;besonderer Dank gilt Frau SabineTiedke, Kiel, die die Artikel übersetzthat.s Social-Demokraten, Nr. 75, Kopenhagen, 3. April 1883

III. August Bebelspricht

Am 30. März 1883 stellt August Bebel,den der Kongreß zusei-nem Vorsitzenden wählte, in einer ebenso bilanzierenden wieprogrammatischen Rede die Situation der deutschen Sozialde-mokraten vor.

Zu Beginnerläutert Bebel, daß es im Herbst 1882 eine dreitä-gige Konferenz der Reichstagsabgeordneten unter Hinzuzie-hung anderer Vertrauenspersonen in Zürich gegeben hat; dortsind viele Gesichtspunkte der Parteiarbeit einer gründlichenErörterung unterzogen worden, und es wurde der Entschlußgefaßt, im Jahre 1882 keinenParteikongreß abzuhalten. „Über-gehend zur Kennzeichnung der gegenwärtigen Situation, kon-

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statierte der Redner zunächst, daß sich die Gesamtlage der Par-tei wie die Lage der Verhältnisse überhaupt, seit dem WydenerKongreß sehr zugunsten der Partei in Deutschland verbesserthabe. DieParteistehe, wie schon ein Blickauf die Zusammen-setzung dieser Versammlung lehre, ungebrochen da, sie habean Selbstvertrauen und Zukunftshoffnung ungemein gewon-nen."9

Bebel kritisiert allerdings auch, daß es in verschiedenen Be-reichen des Reiches Stimmverluste seit 1878 gegeben hat. Inmanchen Wahlkreisen fehlt die Organisation, was daran liegt,daß weder finanzielleMittel noch geeigneteKräfte dort für diePartei arbeiteten. Der ökonomische Druck hindere ebenfallsdie Genossen, sich ingewohnter Weise an der Agitation zu be-teiligen. „Wie während der Wahlagitation und namentlich beidenNachwahlen der Mut und das Selbstvertrauen der Partei-genossen gestiegen sei, habe jeder mit Genugtuung begrüßenkönnen,ja man dürfe ohne Übertreibung sagen, daß der vor-treffliche Geist, der heute die Genossen überall beherrsche,ganz wesentlich im Wahlkampf und durch den Wahlkampfgeboren worden sei"; mit diesen Worten bestätigt Bebel denZuwachs an Organisationsstärkeder deutschenSozialdemokra-tie.10

Der Vorsitzende informiert die Mitglieder darüber, daß einTeil der finanziellen Mittel für die Wahlkämpfe aus den Verei-nigten Staaten gekommen ist, insbesondere die Reise der Ge-nossen Fritzscheund Viereck brachte einen Reinerlösvon über13.000RM. „Einebesondere Anerkennung verdienten auch dieParteigenossen derjenigen Orte und Bezirke, die seit Jahr undTag dem kleinen Belagerungszustand verfallen sind. Niemandwerde glauben, daß dort die Polizei mit besonderer Schonungvorgegangen sei. ... Er schlage vor, den Parteigenossen der un-ter dem BelagerungszustandstehendenBezirke für ihre tapfereund hingebende Haltung die Anerkennungdes Kongressesaus-zusprechen(allgemeineZustimmung)."1^

August Bebel, dendieNachricht vom Tode Karl Marx' weni-ge Tage vor dem Kongreß erreicht hatte, würdigt Marx als Be-gründer des wissenschaftlichen Sozialismus. Die Mitgliederdes Kongresses erheben sich daraufhin von ihren Plätzen undgedenkendes Verstorbenen.

Am Freitag oder am Samstag hält Bebel das Hauptreferatzum Thema „Verlängerung des Sozialistengesetzes, Taktik derPartei undHaltung des Parteiorgans".Der Kongreß diskutiertheftig manche Aussagen, Bebel gehört weiterhin der Parteilei-tungan.12

Am Abend des 31. März findet ein großes Bankett zuEhrenderDelegierten statt.

' A. Bebel, Ausgewählte Reden undSchriften, Band 2, 1878 bis 1890, Er-sterHalbband,Berlin 1978, S. 206."> ebenda, S. 208.11 ebenda, S. 208 f.12 A. Bebel, Ausgewählte Reden undSchriften,Band 2, 1878 bis 1890, Zwei-ter Halbband, Berlin 1978,S. 493.

IV. Festmahl für dendeutschen sozial-demokratischen Kon-greß in Kopenhagen

„Wie schon gestern erwähnt, hatte der Vorstand des Socialde-mokratisk Forbund die Delegierten eingeladen, sich mit eini-gen dänischen Gesinnungsgenossen zu einem Festmahl zu ver-sammeln, das der Vorstand am Sonnabendabend arrangierthatte. Das Fest nahm seinen Beginn um 21.30 Uhr und wurdevon einem hiesigen Gesinnungsgenossen mit einem kurzen

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Willkommensgruß an die Delegierten eröffnet. Anschließenderhielt P. Holm das Wort und sagte ungefähr folgendes: Dieungewöhnliche Begebenheit, eine so große Anzahl Gesin-nungsgenossen aus Deutschland bei uns zu sehen, hat uns na-türlich besonders berührt. Es ist sehr bedauerlich, daß dieMänner, die so viel für dasProletariat ausgerichtet haben, imAusland Zuflucht suchen mußten, um ihre Angelegenheiten zubesprechen;aber aufder anderen Seite hat es uns gefreut, die-sen Männern einen gastlichen Ort anbieten zu könnenund ihrepersönlicheBekanntschaft zu machen, was wohl nie geschehenwäre, wenn das Sozialistengesetz nicht existiert hätte. Er nähr-te die sichere Hoffnung, daß die dänischen Sozialdemokratenvon demselben Geist beseelt werden mochten, der die Beratun-gen des Kongresses auszeichnete. Man könnesehr gut behaup-ten, daß die sozialistische Bewegung von Deutschland durchdie hervorragende sozialistische Literatur zu uns gekommen

Das Versammlungshaus der däni-schen Sozialdemokraten in der Ra-mesgade in Kopenhagen, inklusiveImbiß, Restaurant, Cafe und Qlhalle(Bierhalle) — RS

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sei, die Karl Marx undFerd. Lassalle insLeben gerufen hätten.Aus diesem Grunde ist die Freude für unsum so größer, unse-ren deutschen Gesinnungsgenossen bei uns ein Asyl anbietenzu können. Verschiedene Verhältnisse hätten vor einigen Jah-ren die dänische Partei geschwächt, aber nun sei diese starkund habe eine vielleicht noch nie dagewesene Bedeutung. DerRedner habe während des Kongresses einen Ausspruch vonLiebknecht über die Sozialrevolutionäre und Phrasenheldengehörtund könnesich diesem Ausspruch vollständig anschlie-ßen, da auch wir unser Ziel auf streng parlamentarischemWege zuerreichen wünschen. Zum Schluß brachte er ein HochaufdiedeutscheSozialdemokratie aus.

Hierauf ergriff der Vorsitzende des Kongresses, A. Bebel,das Wort. Wenn ich, sagte er, das Wort ergreife, geschiehtes, um unseren herzlichen Dank für den Empfang auszuspre-chen, den wir bei Ihnen gefunden haben. Obwohl uns nationa-le Grenzen trennen, ist unsere Gesinnung doch dieselbe. Alswir beschlossen, in den hohen Norden zu reisen, waren wirnicht ohne Bedenken, da wir uns über die Verhältnisse hieroben nicht richtig im klaren waren. Dasbittere Gefühl, insAus-land gehen zu müssen, ist jedoch durch den Empfang unddieGastfreundlichkeit, die Sie uns bereitet haben, gemildert wor-den. Ich wünsche mir, daß diese Tage sowohl Ihnen als auchuns im Ergebnis Glück bringen werden. Leider herrscht jaeinziemlich verbreiteter Nationalhaß, der von den Regierungenund den herrschenden Klassen geschürt wird. Allerdings isthier heute abend wieder der Beweis dafür erbracht worden,daß das arbeitende Proletariat gemeinsame Interessen hat.Zum Schluß brachte der Redner einen mit Begeisterung aufge-nommenen Toast auf eine internationale Völkerbrüderschaftaus.

Hordum ergänzte Holms Aussagen und wünschte, daß dieDelegierten die Überzeugung von hier mitnähmen, daß die dä-nischen Sozialdemokraten von brüderlichen Gefühlen für dasProletariat in allenLändern beseelt seien.

Hasenclever hat zweimal an Dänemarks Grenzen im Feldgestanden, das eine Mal 1866 als Landwehrmann, und daszweite Mal als sozialistischer Agitator. Im ersten Fall war ernatürlich nicht freiwillig gegangen, sondern dorthin komman-diert worden; das zweiteMal bereiste er in seiner Eigenschaftals Präsident des damals existierenden allgemeinen Deut-schen Arbeitervereines' Schleswig-Holstein und streute denSamen für die sozialdemokratische Bewegung, die auch demdänischen Proletariat zugute kam, und er konnte sich dahergut erinnern, daß die dänischen Blätter seine Agitation mitAufmerksamkeit verfolgt hatten.

Nachdem einige weitere Redner, darunter [Frenler ?] undEmcken, sich zu verschiedenen Dingen geäußert hatten, wurdedie Tafel aufgehoben, woraufhin sich die Gäste einer unge-zwungenen Unterhaltung hingaben. Eine halbe Stunde späterwurde der Punsch serviert, währenddessen wieder eine ReiheReden gehaltenund Toastsausgebracht wurden.

C. C. Andersen sprach für die deutschen Ausgewiesenen

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und trug den Delegierten auf, ihnen den Gruß der dänischenGesinnungsgenossenzu überbringen.

Adam Petersen hielt einen kleinen Vortrag über das Ver-sammlungsgebäude, und der Delegierte Förster grüßte die dä-nischen Gesinnungsgenossenin dänischer Sprache.

Aver war nun zum dritten Mal in Kopenhagen: zum erstenMal war es, als er seinen Vortrag im Versammlungsgebäudehielt, das zweiteMal, als er den Kongreß hier in der Stadt vor-bereitete, und nun zum Kongreß selbst, und er mußte seine vol-le Zufriedenheit mit dem brüderlichen Empfang aussprechen,den die dänischenGesinnungsgenossen ihm jedesmal bereitethatten.

Das Fest wurde mit Reden desPianofortearbeiters Holst unddes Reichstagsabgeordneten Liebknecht abgeschlossen. Zwi-schen deneinzelnen Vorträgen wurden sozialistische Chor- undSologesänge gesungen und einige deklamatorische Nummernvorgetragen, von denen Freiligraths Gedicht ,Die Schlacht un-ter dem Birnenbaum' hervorgehoben werden soll. Wir wagenes, zu behaupten, daß sämtliche Teilnehmersich noch lange andiesen Abend erinnern werden, der in der besten Laune undder begeistertsten Stimmung zugebracht wurde, und daß unse-re deutschen Gäste die Überzeugung mit nach Hause zu ihrenleidenden Brüdern genommen haben, daß das dänische Prole-tariat den Kampf, den diese für die Menschenrechte führen,mit ungeteilter Aufmerksamkeit verfolgt, während wir aufderanderen Seite so etwas wie neues Leben für unsere Taten erhal-ten haben."13

V. Die Aktionen derdänischen Polizei

„Die Stadt geriet in Aufruhr, als die Berichte über den amSonntag abgeschlossenen Sozialistenkongreß allgemein be-kannt wurden. Das Gerücht verbreitete sich blitzschnell, unddie Leute wetteiferten um den ,Social-Demokraten', um bestä-tigt zu bekommen, daß es auch wirklich wahr wäre, daß wirDeutschlands bekannteste Persönlichkeiten und hervorragend-steRedner inunseren Boulevardsbeherbergthatten.

In den Cafes und an allen öffentlichen Orten war die Bege-benheit das Hauptgesprächsthema. Die Namen Liebknecht,Hasenclever, Bebel usw. flogen von Mund zu Mund. Jederkommentierte die Sache vonseinem Standpunkt aus, und manwar besonders darüber verblüfft, daß niemand etwas von demKongreß erfahren hatte, bevor er vorüber war. Einige taten sichjedoch etwas darauf zugute, daß der zahlreiche Besuch vonDeutschen zudieser Jahreszeit ihnen auffällig gewesen sei, an-dere behaupteten, daß sie einen Herren bemerkt hätten, derauffallend Georg Brandes14 ähnelte, und von dem sie nun er-fuhren, daß es sich um den sächsischen LandtagsabgeordnetenBebel handelte; aber niemand außerhalb des eingeweihtenKreises konnte sich damit hervortun, die geringste Ahnunggehabt zu haben, daß die Fremden, auf die man während derletzten Tage in Theatern und Konzerten gestoßen war, diesel-ben Männer waren, von deren sozial-politischen Aktivitätenman fast jedenTag inden Zeitungen liest.

Wenn wir sagen .keiner' müssen wir jedoch davon Herrn

13 Social-Demokraten, Nr. 76, Kopen^hagen,4. April188314 zeitgenössischer dänischer Literatürhistoriker

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Grone ausnehmen. Für den Polizeidirektor von Kopenhagenwar die Mitteilung der Zeitungen gestern nichts völligNeues.Mit Hilfe seiner energischen' Agenten wurde ihm schon amSonnabend bekannt, daß die deutsche sozialdemokratischePartei hier in der Stadt einen Kongreß hatte. Diese Unterrich-tung erhielt er gleichzeitig damit, daß die Delegierten ihre5. Sitzung abhielten,undnachdemmehrere von ihnensich hierinder Stadt bereits vier Tage langaufgehaltenhatten.

Wir haben nicht beabsichtigt, diesem Umstand eine Bedeu-tung beizumessen. Der Aufenthalt der deutschen Sozialdemo-kraten in Kopenhagen war völlig legal und ging die Polizeinicht mehr an als andere Kongresse, die stattgefunden habenoder stattfinden werden. Wenn wir es nichtsdestoweniger unter-lassen haben, die Ankunft unserer deutschen Meinungsgenos-sen hier zu erwähnen, wenn diese ihre Reise mit Heimlichkeitumgeben haben und wenn sie sich in den Hotels mitfingiertenNamen haben einschreiben lassen, ist dies nicht geschehen, umHerrn Grone oder jemand anderen hinters Licht zu führen,sondern ausschließlich mit Rücksicht auf die deutsche Polizei.Man wollte keine deutschen Spione bei den Beratungen dabeihaben, man wollte freisprechenund sich freibewegen können.Daher kam man nach Kopenhagen in aller Stille, und daherverschwiegen wir ihreAnkunft.

Es kann gut sein, daß Herr Grone unsere Auffassung nichtvollständig teilt. Erfühlt sich vielleicht alsMitglied derinterna-tionalen Polizei, und er nimmt eventuell Verpflichtungen aufsich, die über seine Nachtwächterstellung in Kopenhagen hin-ausgehen. Das kann sein! Aber wenn er nun in diesem Falleüberlistet worden ist, so hätte er gute Miene zum bösen Spielmachensollen.

Wie wäre es doch von Herrn Grone kluggewesen, in diesemFalleine gute Mienezumachen. Er hätte so tun können,als obdie Sache ihn überhaupt nichts anginge; niemand hätte ihmetwas vorzuwerfen gehabt.

Aber er machte diese gute Miene nicht, im Gegenteil; er tatso, als ob die Sache ihn ungeheuer viel anginge, und nun fra-gen die Leute: ,Aber wie konnte sich denn Herr Grone 4 Tagelang in Unkenntnis über etwas befinden, das ganz offen undgenauvor seinen Augenvorging?'

Ja, wirbegreifenes nicht!Am Sonntagmorgen zwischen sechs undsieben Uhr schlie-

fen unsere Fremden noch ruhig und friedlich, obwohl die Ab-schlußsitzung des Kongresses für ziemlich früh am Morgenangesetzt worden war, weil man gegen Mittag fertig zu seinwünschte. DieDelegierten waren jedoch spät vom Fest des So-cialdemokratisk Forbund zurückgekommen, und es sah des-halb danachaus, daß siealle verschlafen würden.

Es war zudiesem Zeitpunkt, daß Herr Grone begann, sich inBewegungzusetzen.

Die Kriminalpolizei erschien in den Hotels, die Delegiertenwurden geweckt — rechtzeitig, und es wurden ihnen Fragendarüber vorgelegt, wer sie seien, was sie wollten, Fragen , diesie selbstverständlich wahrheitsgemäß beantworteten, und

linkeSeite:Titelseite des Social-Demokraten vom3. April 1883, auf der vom Kongreßdänischer Sozialdemokraten in Kopen-hagen erstmalsberichtet wurde. — RS

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dann entdeckte unsere tüchtige Polizei, daß man, wie es gesternabend so naiv in der ,Berl.[inske] TW.[ende]' heißt, ,die be-kanntestendeutschenSozialdemokraten vorsieh hatte.

Nach dieser Entdeckung hatte Herr Grone eine Audienzbeim König. So viel Bedeutung maß er dieser Sache bei, dieaufzuspüren er vier Tage gebraucht hatte, und über die wir ihmjede wünschenswerte Information gegeben hätten, wenn ersichprivat anunsgewandthätte.

Um drei Uhr amNachmittag desselben Tages trafHerr Lieb-knecht beim Polizeidirektor ein. Dieser bedeutete unserem Ge-sinnungsgenossen, daß der Kongreß nicht fortgesetzt werdendürfe, undLiebknecht antwortete darauf, daß das Verbot inso-weit sehr gelegenkäme, als der Kongreß eben im selben Augen-blick seine Beratungen abschließe, da die Tagesordnung er-schöpftsei.

Wie gesagt, wir hatten nicht beabsichtigt, das Verhältnis derdänischen Polizei zum Kongreß zu erwähnen; aber da wir se-hen, daß die rechten Blätter gerade in dieser Frage vom Rat-und Gerichtshaus inspiriert werden, waren wir der Ansicht,das Obenstehende darlegen zu müssen, um jedesMißverständ-nis zu verhindern."15

15 Social-Demokraten, Nr. 76, Kopenhagen,4. April1883

VI. Kommentare... der linken Presse

„Der deutsche sozialdemokratische Kongreß in Kopenhagenhat wieder einmalklar unddeutlich gezeigt, wie wenig diePoli-zei mit all ihren Waffen gegenüber der revolutionären Parteiauszurichten vermag. Wohl der größte Teil der Mitglieder desKongresses steht unter der Aufsicht der Polizei, und dennochhaben sie sich ungestörtin der dänischen Hauptstadt versam-meln können.Es ist übrigens falsch, wenn mehrere Organe ge-sagt haben, daß die Sozialdemokratie vorsätzlich verbreitethat, daß der Kongreß in der Schweiz stattfinden würde. ÜberZeit und Ort des Kongresses hat nie etwas in ,Der Soziald[e]mokrat' gestanden. DiePolizeihat sich ganz einfach selbst ge-täuscht.

Unser schweizerisches Bruderorgan .Arbeiterstimme'schreibt: Ebenso wie vor zweieinhalb Jahren für den Kongreßaufdem Schloß Wyden, so waren auch die Vorbereitungen fürden Kongreß in Kopenhagen heimlich getroffen worden, undman kann sich die Verblüffung der Polizei denken, als sieschließlich von dem Kongreß Kenntnis erhielt. Seit die deut-sche Sozialdemokratie organisiert ist, ist noch keinKongreß —nicht einmal in der Zeit der am meisten verbreitetenPropagan-da — so stark besucht worden wie dieser Kongreß im Ausland/Und dies ist ein sicheres Zeichen für die Stärke der Partei, ge-gen die sich das infamste aller Ausnahmegesetze als nutzloserwiesen hat. Ein weiteres Zeichen für die Stärke der Partei istes, daß während des gesamten Verlaufs des Kongresses wederder Name Most noch seine Sozialrevolutionäre Propaganda'ein einziges Mal erwähnt wurde, — so bedeutungslos ist dieseauffremder Erde gewachsenePflanzepersönlicherRenommie-rerei für die deutsche soziale Bewegung. Der Platz erlaubt esuns heute nicht, aufeinen umfassenden Bericht über den Kon-greß einzugehen; es sollnur noch erwähnt werden, daß die da-

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NischePolizeinicht umhinkonnte, einen Beweisfür die Solida-rität der internationalen Spionageinteressen zu erbringen: AmSonntagmorgen um 7 Uhr wurden in sämtlichen Hotels Nach-forschungen nach den Kongreßdelegierten angestellt, die denbekannten Untersuchungen ihrer Legitimation und des Zwek-kes ihrer Anwesenheit unterworfen wurden. Man erwies ihnensogar die Ehre, ihre Personenbeschreibungen aufzunehmen.Doch dies hinderte die Delegierten nicht daran, ihre Beratun-gen ungestört zu Ende zu führen. Auf der Rückreise nachDeutschland wurden einige wenigeParteigenossen von der Po-lizei festgenommen, mußten aber nach wenigen Stunden wie-der freigelassen werden, wodurch es den Bismarckschen Poli-zei-Spürhunden nur gelang, sich zum Gegenstand allgemeinenGelächterszumachen.

Den Kongreß in Kopenhagen und die Sympathie, die diedeutschen Sozialisten bei den dänischen Arbeitern fanden, wel-che sich besonders bei einer am Sonnabend abgehaltenen Zu-sammenkunft offenbarte, hat wieder einmal gezeigt, daß deralte Feldruf der Internationale:Proletarier aller Länder verei-nigtEuch!' überall innigeZustimmung gefundenhat."16„Wie schonfrüher erwähnt, rief die Nachricht davon, daß De-legierte der deutschen sozialdemokratischen Partei ihren Kon-greß hier in der Stadt abgehalten hatten, sofort eine ziemlicheSensation hervor.

Diese Regung war jedochnicht anders, als sie gewesen wäre,wenn man eines schönenMorgens gelesen hätte, daß dieKo-

penhagener einige Tage lang und ohne es zu ahnen PräsidentGrevy, Fürst Bismarck oder andere bekannte Persönlichkeitenin ihrer Mitte gehabt hätten. Man bedauerte, daß die günstigeGelegenheit, mit diesen Männern persönliche Bekanntschaftzu stiften oder sie wenigstens zu sehen, an einem vorbeigegan-gen war. Man frischte sein Interesse für die Sozialdemokratieauf, und man verlor sich in Erstaunen darüber, daß Militär,Polizei undKapitalisten vereint es mit ihren Ausnahmegesetzenso wenig vermocht hatten, die deutsche Arbeiterpartei zuschwächen, daß diese einen Kongreß wie den hier erwähntenetablieren konnte, einen Kongreß, größer denn jeund verbun-den mit bedeutender vorhergehender Arbeit und großen Ko-sten.

DieRegung war eine Mischung von Respekt undErstaunen.Man war beeindruckt von dieser Partei der Arbeiter, die diestärkste Macht in Europa nicht zu brechen vermocht hatte,selbst durch Anwendung willkürlichster, brutalster Mittel, und,wie gesagt, man bedauerte, daß dieBlätter nichts hatten erzäh-len können,bevor das Ganze vorüber war und bevor dieDele-gierten abgereist waren — diese Delegierten, die man so gernegesehenhätte.

Dies war die Wirkung, dieder Kongreß aufdie Gemüter hat-te, undsie istfür uns ein Beweis dafür, daß die BevölkerungKopenhagens dabei ist, zu einem ruhigen und reifen Verständ-nis des Charakters der verschiedenen Parteien zu gelangen.Man ist aus dem Glauben herausgewachsen, daß die Politikerder Linken Holzschuhe undLodenjacke tragen, man läßt sich

16 Social-Demokraten, Nr. 81, Kopenhagen, 10. April 1883

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nicht länger einreden, daß die Sozialdemokraten die Zivilisa-tion zerstören und die Menschheit zurück in die gesetzlosenZustände der Urzeit treiben wollen. Selbst diejenigen, die bis-her noch nicht weiter gelangt sind, alsfür Goos oder Rimestadzu stimmen, haben so viel verstanden, daß sie weder dieGaardmandsparti [Zusammenschluß wohlhabender Bauern;Anm. d. Übersetzerin] auslachennoch sich vor denpolitischenZukunftsbestrebungen der Arbeiter verstecken. Man weiß vonder ersten, daß sie nur dieForderung nach dem Parlamentaris-mus repräsentiert, der schon in vielen Ländern durchgeführtist, und der also auch etwas ist, das hier eingeführt werdenwird, einJahr früher oderspäter, aber doch in einersehr nahenZukunft. Was die Sozialdemokratie angeht, ist es niemandemmehr unbekannt, daß wir ein anderes und angemesseneresökonomischesPrinzip für den Gesellschaftshaushalt einführenwollen, als dasjetzt herrschende. So viel Aufklärunghaben dieletzten 12 Jahre Agitation doch hier in derHauptstadt bewirkt,und daher weckte die Mitteilung über den abgehaltenen Kon-greß nur Aufregung und in vielen Fällen Sympathie, aber beikeinem einzigenFurcht.

Dies, womit wir undein jederDemokrat den größten Grundhaben, zufrieden zu sein, ist natürlich den reaktionären Blät-tern in die Quere gekommen. Wofür sie kämpfen, kann nur auf-rechterhalten werden durch die große bleiche Furcht der Mas-sen vor sozialen Reformen undspeziell vor den sozialen Refor-mierern. Es soll im Volk eine blinde Angst vor allem Neuenherrschen, Unwissenheit über alles Wahre, Angst vor jedem,der mit den alten Götternbricht. Manhat jagelogenund besu-delt, sich jahrein und jahraus angestrengt, um eben dieses zuerreichen, eben um das Volk unten in der Dunkelheit zu halten,wo sich dessen Väter vor 100 Jahren unter der Gespenster-furcht gewunden haben. Die konservativen Blätter haben vieleJahre keine andere Funktion gehabt als die, zu verdummen.Kann man sich daher drüber wundern, daß sie mißvergnügtsind, jetzt, da es so aussieht, als ob diese ihre einzigeMissionmißglückt sei.

Es sind die Korrespondenten der Partei, die gewohnheitsge-mäß das Mißvergnügen am plumpesten erklären. Wir erwähn-ten neulich einen von ihnen, einen Herren, der drüber fabulier-te, daß die KopenhagenerPolizeidiehier in derStadt anwesen-den deutschen Reichstagsabgeordneten zur Zwangsarbeit imArmenhaus hätte verurteilen können. Man vergleicht diesenAusspruch mit der Entrüstung, die es im Deutschen Reichstaggeweckt hat, daß diePolizei inKiel einpaar Delegierte 8 Stun-den lang in Kiel festhielt. Ein anderer Kopenhagener Korre-spondent, der berüchtigte ,Sekretär' Frost, mit dem das engli-sche Blatt ,Standard' die Verbindung noch nicht abgebrochenhat, bekam in dem genannten Blatt am 7. des Monats ein Tele-gramm veröffentlicht, in dem er sein Bedauern darüber aus-drückt, daß die Autoritäten nicht alle Delegierten festgenom-men haben. Diese paar Beispiele, die wir übrigens nicht fürwert erachten, uns weiter mit ihnen aufzuhalten, beleuchtenausreichend die Laune der Partei. Man ist in den führenden'

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Kreisen sehr beleidigt; aber man hat sich auch darüber zu be-klagen, daß alle Verdummungsbestrebungen, alle Anstrengun-gen, die Leute von der Sozialdemokratie zu vergraulen, im ent-scheidendenAugenblick wirkungsloszuBodengefallensind.

Und es war doch diesesMal ein entscheidender Augenblick,als man erzählte, daß Grossist Svrensen undFabrikant Peter-sen mit den von den Ausnahmegesetzen verfolgten Führern derArbeiterpartei Tür an Tür gewohnt haben. Man hat über dieseMänner Räubergeschichten verbreitet, und wenn nur eine ein-zige dieser Geschichten geglaubt worden wäre, hätte man japanisches Erschrecken erwarten können.Aber es blieb aus. Esfielen zwar Leute auf der Straße um, aber dies geschah ausHunger, nicht ausFurcht vor den Sozialdemokraten. Alle dieseFälle mußten unter der Rubrik ,inkrankem und hilflosem Zu-stand gefunden' geführt werden, und es ist bekanntlich nichtdie Arbeiterpartei, sondern es sindHajre [konservative Partei;Anm. d. Übersetzerin], dieKapitalisten, die derzeitigen Macht-haber, die Uniformierten und die im schwarzen Anzug,die fürdiese Fälledie Verantwortung tragen."11

... der konservativenPresse

„Während die Hajre-Korrespondenten sich anstrengen, für dieLaune in den kleinen führenden' Kreisen ihrer Partei ge-schmackvollen Ausdruck zu finden, versucht das ,Dagblad'letzten Montag, dem roten Gespenst ein wenig Leben einzu-hauchen, um es noch einmal zum Spuken zu bringen. HerrGoos, dessen Geist über den Verwünschungen in den Spaltendieses Blattes schwebt, ist durch dieFassung der Kopenhagenersichtlich irritiert. Er hat ein paar Spalten schreiben lassen, umzu beweisen, daß diePhysiognomie unserer guten Stadt etwasanders hätteaussehen sollen,als sie es tat, als die alarmierendeNachricht am vorigen Dienstag kam, und er legte es seinenMitbürgern ans Herz, sich dessen zu erinnern, wenn nächstesMal ein deutscher Sozialistenkongreß in Kopenhagen abgehal-ten wird.

Das ,Dagblad' ist jedoch von den Erfahrungen der letztenTage nicht unberührt geblieben. Es hat gelernt, daß es mehr alsRedensarten über Gesellschaftsumstürzler bedarf, um die Ko-penhagener Bevölkerung zu erschrecken. ,Der Volkserschrek-ker, Herr Bismarck' wird aus der Waffenkammer des Blatteshervorgeholt. Er steht ansonsten im Dienste des Kampfes ge-gen den Parlamentarismus, denn es ist ja allen unseren konser-vativen Blättern klar, daß er ein Venstre-Ministerium [Venstre:links-liberale Partei; Anm. d. Übersetzerin] alsmehr alsausrei-chenden Anlaß betrachten würde, um ganz Dänemark zu an-nektieren. Das Blatt ergänzt daher die Buhmänner seines Arti-kels mit diesem nützlichen Menschen. Er muß doch den Ko-penhagenerndenMut nehmenkönnen.

Das pfiffige Bourgeoisieorgan schlägt mit folgendem umsich:

Der deutsche Sozialistenkongreß war ein Treffen, das heim-lich eingeleitet war, heimlich abgehalten wurde, und dessenResultate ebenfalls heimlich gehalten werden', es war ein Tref-fen von Männern, ,die es nicht wagten, ihre Zusammenkünfte

" Social-Demokraten,Nr. 82, Kopenhagen, 11. April 1883

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in ihrem Vaterland abzuhalten', sie kamen hierher, .nicht ehr-lich und offen, sondern unter falschem Namen ... . Solcheheimlichen Treffen haben einen Beigeschmack von etwas Ge-sellschaftsumstürzlerischem, wie sehr man auch das Gegenteilversichert.' Hierzu kommt, daß solche Kongresse Jür unshöchstunbehaglich werden könnten.'Denn ,kein Staat ist eifri-ger als Deutschland, eine internationale Übereinkunft gegendie gesellschaftsumstürzlerischen Parteien zuwege zu bringen,und kein Staat wird deshalb weniger geneigt sein, mit einemNachbarn nachsichtig zu sein, der seine Türen für dessen miß-vergnügte Untertanen öffnet.' Daher rät das Blatt den deut-schen Sozialdemokraten, in Zukunft wegzubleiben, da mit derdänischenPolizeinicht zu spaßen ist. .Sie zeigte ihre Wachsam-keit dadurch, daß sie sofort (?) nach dem BeginndesKongres-ses ... die deutschen Polizeibehörden davon unterrichten konn-te, daß er stattfand, und als diese nichts anderes wünschten18,als daß man ihnen Informationen über die Namen der Teil-nehmer verschaffen sollte, erfüllte man prompt diesenWunsch. Die Delegierten wagen jedoch nicht,,damit zu rech-nen, daß die dänische Polizei immer so rücksichtsvoll seinwird. Dieses Mal hat Herr Grone sich daraufbeschränkt, denWunsch der deutschen Polizeiprompt auszuführen; aber wennwieder ein Kongreß abgehalten wird, wird seine Gefälligkeit,wenn man dem ,Dagbl.[ad]' glauben kann, weit über das hin-ausgehen, was von ihm verlangt wird;denn man wird ,sich vonFremden zu befreien wissen,die ... unser Verhältnis zu fremdenMächten bedrohen könnten.

So lautet ungefähr der Artikel, dessen bescheidenes Ziel esgewesen ist, den verflogenen Schrecken der Gemüter zu er-neuern. Es ist uns nicht bekannt, daß das Ziel erreicht wordenist, jaes kommt uns sogar unwahrscheinlich vor; aber wir wer-den nichtsdestoweniger den zitierten Punkten ein paar Worteschenken.

Da ist zuerst dies, daß die Beratungen des Kongresses heim-lich geführt wurden, etwas, das dem Ganzen einen gesell-schaftsumstürzlerischen Beigeschmack geben sollte. DieseBehauptung von Heimlichkeit ist doch nicht völligkorrekt. Esgab zwar keinen freien Zugangfür deutsche oder dänische Po-lizeiagenten, aber der Kongreß versteckte sich jedoch deshalbnoch nicht an verborgenen Orten. Es waren Leute beiden Tref-fen zügegen, dienicht gerade alle unter den Begriff ,direkt zu-ständig' fielen, und bei einzelnen der Treffen, besonders amSonntagvormittag, waren bei den Verhandlungen des Kongres-ses in dem großen Saaldes Versammlungsgebäudes eine bedeu-tende Anzahl Menschen zugegen. Wir erwähnen dies nur, weildaraus hervorgehen wird, daß die deutschen Sozialdemokratenkeinen Wert darauf legten, ihreAnwesenheit hier zu verbergen.Alles, was man zum Ziel hatte, warnur, die deutschenPolizei-spione auf eine falsche Spur zu locken, und dieses wurde indem Augenblick erreicht, als dieDelegierten aufdem Bahnhofin Kopenhagen ausstiegen, während die Polizeiagenten zwi-schen denschweizerischen Bergenumherfuhren.

Aber es ist übrigens unsere Ansicht, daß nicht eine einzige18 Hervorhebung von der Übersetze-rin.

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Partei jemals öffentliche Vorstandssitzungen abhält. Kann das.Dagblad' behaupten, daß die Hajre-Partei [die konservativePartei; Anm. d. Übersetzerin], die ja alle Tugenden auf sichvereinigt und eine richtige Musterpartei ist, öffentliche Vor-standssitzungenabhält? Oder tut die Venstre-Partei das? Oderist es überhaupt gebräuchlich, daß die führenden Männer derParteien der Kriminalpolizei und der Presse Zugang zu ihrenprivaten Zusammenkünften gewähren, zu diesen Treffen, woder Plan für die zukünftige Politik zurechtgelegt wird? Nein,das geschieht nie! Aber mit welchem Recht sieht das ,Dagblad'dann etwas Gesellschaftsumstürzlerisches darin, daß sich diedeutscheSozialdemokratie wie alleanderenParteien verhält?

Das verehrte Blatt meint es natürlich auch nicht ganz ernst,wenn es verlangt, daß dieFührer der Arbeiterpartei öffentlicheSitzungen abhalten, während die Herren Rimestad, Dinesenund wie die vereinigten Vorstandsmitglieder der H&jre-Parteisonst heißen, der Öffentlichkeit nie auch nur den geringstenEinblick darin ermöglichen, was sie, als Vorstand betrachtet,unternehmen. Diese Redensart von .Heimlichkeit' wird nurvorgebracht, um die Gespensterfurcht der Kopenhagener aufdie Beine zu bringen. Man braucht nur im Text weiterzugehen,um dieses aufs Neue bestätigt zu bekommen; denn ein kleinesStück weiter unten wird als Argument gegen die Delegiertengebraucht, daß sie ,es nicht wagen, ihre Zusammenkünfte inihrem Vaterlandabzuhalten.

Es ist natürlich die Absicht des Blattes, indem dies gesagtwird, kritiklosen Lesern noch mehr den Schreck in die Gliederzu jagen, denn sowohl Herr Goos als auch Herr Grove sindnicht so dumm, wie sie sich den Anschein geben. Die Herrenwissen sehr gut, daß, wenn die deutschen Sozialdemokratenihre Treffen nicht im Vaterland abhalten, dies nicht geschieht,weil sie bei diesen etwas anders tun oder beschließen, als waszum Wohl ihrer Mitbürger ist, sondern weil die augenblickli-chenMachthaber, dieselben Machthaber,über deren Außenpo-litik man sich hierzulande jedenTag beklagt, eine Zeitlang undmit einem schändlichen Ausnahmegesetz der Arbeiterparteiverbieten konnten, ihre Treffen innerhalb der Grenzen des Va-terlandes abzuhalten. Wie will das ,Dagblad' eigentlich seinenVorwurf verteidigen, daß der Kongreß nicht in Deutschlandabgehalten wurde? Wäre er dort abgehalten worden, dann hät-te sich die deutsche Sozialdemokratie eines Gesetzesbruchesschuldiggemacht, zwar nur eines Bruches des Ausnahmegeset-zes, aber doch in jedemFall eines Gesetzesbruches. Ist es dieAbsicht des Blattes, unseren Gesinnungsgenossen vorzuwer-fen, daß sie dieses Gesetz respektieren?

Nein, wir wissen es wohl, die Herren Börsenjournalistensind nicht so tief in die Sache eingedrungen. Sie haben nurge-nommen, was ihnen in dieHändefiel, um, wenn möglich,einekünstliche Stimmung gegen die Arbeiterpartei zu schaffen.Dasselbe ist derFall mit der Beschuldigung, daß die deutschenSozialdemokraten nicht .ehrlich und offen, sondern unter fal-schem Namen' hierhergekommen sind. ,Dagbl.[ad]'weiß natür-lich genausogut wie wir und alle anderen, daß ein erheblicher

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Teil der Namen, die in Hotels angegeben werden, fingiert sind.Alle diese reisenden Künstler, die hierherströmen, tragen Na-men, von denen ihre Taufscheine nichts wissen, Titel wie Grafund Gräfin von Falster finden sich auch in keinem Kirchen-buch. Ist alldiesFalschheit und Widerwärtigkeit in den Augendes .Dagblad', oder sind es nur die Sozialdemokraten, dienicht incognito reisendürfen?

Die Delegierten wollten bei ihrer Zusammenkunft nicht vondeutschen Polizeiagenten belästigt werden. Das war ihr Motiv,falsche Namen anzugeben. Graf und Gräfin von Falster nen-nen sich so, um sich von anderen Unbehaglichkeiten losreißenzu können.Ist dasEhrlichkeit — oder ist es nicht eher ,Dag-bl.[ad] ,' das versucht, mit unehrlichen Mitteln Männer zu be-schmutzen, die diesesBlatt nicht würdig ist zunennen?

Wir brauchen uns hier wohlnicht beidem Versuch des ,Dag-blad' aufzuhalten, die dänische Bevölkerung mit Bismarckoder den pfiffigen Bemerkungen über Herrn Grone zu er-schrecken. Es ist wenig wahrscheinlich, daß die deutschen So-zialdemokraten öfterhierherkommen werden, unddiese Punk-te betreffen unsere Gesinnungsgenossen nicht unmittelbar. Wirsollen nur bemerken, daß es natürlich nicht einen einzigen Ge-setzesparagraphen gibt, mit dem man eine eventuelle Teilnah-mean demKongreß verbietenkann.

Und würde man dennoch ein solches Verbot versuchen, wür-den die Herren Rellemann, Grone und Goos sich anstrengen,nicht nur die Wünsche der Berliner Polizeiprompt zu erfüllen,sondern mehr als das zu tun, dannglauben wir, daß dieKopen-hagener Bevölkerungsich entschieden gegen sie wendet. Hier-zulande hat man nicht viel, wofür man den deutschenMacht-habern dankbar seinmuß, wenigstensnicht so viel, daß irgend-ein Däne sich dadurch sonderlich erbautfühlen würde, dieBe-diensteten des Staates vor Herrn Bismarck undseinen HelfernaufdemBauchkriechenzusehen."19

19 Social-Demokraten, Nr. 83, Kopenhagen, 12. April 1883

VII. Verhaftungen inKiel und Neumünster

„Nach gestern bei uns eingegangenen Privatmitteilungen wares nicht nur unser Gesinnungsgenosse, der Reichstagsabgeord-nete v. Vollmar, der am Dienstagmorgen bei seiner Ankunft inKiel festgenommen wurde, sondern sämtliche Sozialdemokra-ten, die von hier aus der Stadt über Kiel nach Hause reisten.Die Festnahme fandin dem Augenblick statt, als die Delegier-ten das Schiff verließen, und sie wurden sofort in Arrest ge-führt, wo sie Verhören unterworfen wurden. Unsere Gesin-nungsgenossen mußten sowohl gegenüber einem Kriminal-kommissar als auch gegenüber der anwesenden Polizei undmehreren Autoritäten Erklärungen abgeben. Das Ergebniswar, daß man, nachdem man einige Schreiben durchschnüffelthatte, alle Festgenommenen, also auch v. Vollmar, am Nach-mittag desselben Tages auffreienFuß setzte.

Unser Informant schreibt, daß man die Verhafteten erstnach größtmöglichen Verzögerungenfreigab, und wenn mansich nichtsdestoweniger schließlich dazu bequemte, geschahdies also nicht aus gutem Willen, sondern weil es nicht die ge-ringsteGrundlagefür eine Anklagegab.

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Ritz.Bur. [eau ?]erhieltgesternfolgendes Telegramm:Kiel, den 4. April. Laut ,Kieler Zeit,[ung] ' ist der hier gesternfestgenommene sozialdemokratische ReichstagsabgeordneteVollmar im Laufe des vergangenen Tages wieder auffreien Fußgesetzt worden.

Hieraus scheint hervorzugehen, daß man selbst in Kielnach wie vor in dem Irrtum befangen war, daß nur v. Vollmarfestgenommen worden wäre. Die deutsche Polizei schämtsich vielleicht, von der mißglückten Massenverhaftung zu er-zählen.

Hier in der Stadt weckte gestern dieMitteilung von der Ver-haftung Vollmars große Anteilnahme, nicht nur unter den So-zialdemokraten, sondern bei allen Intelligenten undfreiheitlichGesinnten. Vollmar hat, ebenso wie die anderen Delegierten, inden Tagen, die er hier gewesen ist,Freunde gewonnen. Vor denherausragenden Fähigkeiten dieser Männer und vor ihrer un-bedingten politischen Ehrenhaftigkeit, die die Verfolgungenvieler Jahre bewiesen haben, ziehen selbst ihre erbitterstenWidersacher denHut.Daher ist es nicht so erstaunlich,daß dieMitteilung von der Verhaftung mit lebendigem Mitgefühl undmit Entrüstung über die Bismarcksche Gewaltherrschaft auf-genommen wurde. Man fragte erstaunt, mit welchem Recht diedeutsche Polizei Reichstagsabgeordnete des Landes festnimmt,wenn es deren einziges Vergehen ist, daß siefür die Interessender Armen kämpfen, während anderefür die Vorteile der Rei-chen kämpfen. Daraufgab es nichts anderes zu antworten, alsauf das deutsche Ausnahmegesetz hinzuweisen, das jedePoli-zeiwillkür ermöglicht, und zu konstatieren, daß dieses Gesetzeine Auswirkungder Versuche derKapitalisten ist, die mensch-liche Entwicklung mit unnatürlichen Mitteln niederzuhalten,

Streng überwacht, aber schlecht kon-trollierbar: Die Sozialdemokratenun-ter dem „Sozialistengesetz". Auf die-sem TelegrammmeldeteinPolizeiagentderBerliner Zentraleeinenangeblichenweiteren Geheimkongreß der Sozial-demokratie samt vermeintlichem Ta-gungsort London und vermeintlichemZeitpunkt. — RS

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dieEntwicklung, die in dieRichtung einer allgemeinen Aufklä-rungundallgemeinen Wohlbefindens geht.

Mißverständnisse Natürlich gibt es unter den Leuten noch einen Teil Mißver-ständnisse über den eigentlichen Charakter des Kongresses. Soteilt ein Korrespondent der Privatpresse mit, daß ein interna-tionaler sozialistischer Kongreß abgehalten worden ist. Diestrifft nicht zu, weil der Kongreß vollständig national gewesenist, d.h. deutsch-national. Es war die deutsche Sozialdemokra-tie, die durch ihre Repräsentanten aus allen Teilen des Landesund von deutschen Vereinen in Paris und London hier in derStadt Beschlüsse für ihrePolitik und ähnliches für die nächsteZeit faßte, und weder die dänische noch irgendeine sozialisti-sche Partei hatte Delegierte bei dem Treffen oder nahman denBeratungen teil. Ebenso ist es unrichtig, wenn gesagt wird, daßdie schweizerische Regierung es verboten hätte, den Kongreßaufdem Schloß Wyden in Zürich abzuhalten. Einsolches Ver-bot existiert nicht und wäre nicht verhängt worden. Auch diedänischePolizei glaubte sich nicht berechtigt, den Kongreß zuverbieten, nur weil dieserstattfand. Daß diePolizei sich nichts-destoweniger im letzten Augenblick in die Sache einmischte,stand in Verbindung damit, daß die Delegierten, um deutscheSpionagezu vermeiden, in denHotels fingierte Namen angege-ben hatten, wovon man annahm, daß dies gegen das Gesetzüber die Aufsicht über Fremde verstieße, nach Herrn Lieb-knechts Aussage trat Herr Grone jedoch sehr rücksichtsvollauf, und da er sich erst zu dem Glockenschlag zeigte, als derKongreß seine Sitzungen abschloß, haben wir Grund zur An-nahme, daß die deutschen Sozialdemokraten keinen unange-nehmen Eindruck von der dänischen Polizei mit nach Hausegebrachthaben.

Die Studentenschaftund der sozialde-mokratische Kongreß

Das,Dagblad'enthielt amDienstagfolgendeNotiz:,Von dem Vorsitzenden der Studentengesellschaft, Dr. Pingel,wird gesagt, daß er im Sinn gehabt habe, Liebknecht aufzufor-dern, einen Vortrag in der Gesellschaft zu halten, aber derenVorstand sei doch so vernünftig gewesen, sich der Ansicht desVorsitzenden nicht anzuschließen, und der Gedanke, Lieb-knecht unter deren Gästen aufzunehmen, wurde daher aufge-geben.'

Aus diesem Anlaß schreibt Dr. Pingel gestern folgendes im,Morgenbl.[ad] '" ,Da diese Sache also der Öffentlichkeit zurKenntnis gebracht worden ist, würde ich es gerne sehen, HerrRedakteur, daß Ihr verehrtes Blatt mich nicht in ein Gegensatz-verhältnis zu meinen Kollegen stellt; welches Gewicht hat es,ob durch das Dagblad etwas mehr oder etwas weniger Fabelnverbreitet werden? — sondern über den Grund zu informieren,warum wir nach gründlicher Überlegung beschlossen, den Füh-rer der deutschen Sozialdemokraten nicht einzuladen, in derGesellschaft zu sprechen. Wir wußten, daß das Auftreten derHerren Liebknecht, Bebel oder Hasenclever unter den däni-schen Studenten ihnen eine so umfassende Belehrung über diedeutsche Arbeiterbewegung bringen würde, daß sie schwerlich

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auf irgendeinem anderen Wege in so kurzer Zeit so viel übereine der allerwichtigsten Fragen unserer Zeit würden lernenkönnen. Wir wußten auch, daß das Geheul, das unsere konser-vative Presse in einem solchen Fall anheben würde, unterstütztvon dem Gewinsel aller alten Tanten unserer Stadt, der Gesell-schaft nicht würde schaden können,so fest wie die Stellung ist,die sie sich schon erobert hat. Aber eines wußten wir nicht, obwir nicht möglicherweisemit unserer Einladung die bereits soschwierige Stellung unserer Regierung Deutschland gegenübernoch weiter erschweren könnten, und es war diese patriotischeRücksicht auf eine mögliche Vergrößerung der diplomatischenSchwierigkeiten unserer Regierung, die uns dazu brachte, wennauchschweren Herzens, denPlan aufzugeben, der in so hohemGrade in Übereinstimmung mit den lebendigen Gedanken un-serer Gesellschaft war und Aussicht aufeine so seltene und rei-cheBelehrunggab.'"20

„In der Mittwochssitzung des Deutschen Reichstages griffder sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Kayser dieFrage der Verhaftung in Kiel auf, indem er zur Geschäftsord-nung bemerkte: ,Ich will nur feststellen, daß mehrere Mitglie-der des Hauses, die von einer Reise zurückkehrten, um an denBeratungen des Hauses teilzunehmen, gewaltsam daran gehin-dert worden sind, sich im Reichstag einzufinden. Ich bemerkedies vor derDiskussion über denHolzzoll, weil, falls z.B. sämt-liche zwölf Mitglieder meiner Partei festgenommen wordenwären und die erwähnte Sache zur Abstimmung gekommenwäre, dadurch vielleicht die Abstimmung des Reichstages ver-ändert worden wäre. (Hört!Hört!und Sehr richtig!) Aus die-sen Gründen will ich hier eine Anfrage an den JustizministerdesReiches richten, weillaut Paragraph15 desStrafgesetzes...

Präsident Levetzau unterbricht den Redner: Ich muß denHerrn Abgeordneten darum bitten, sich an die Bemerkung andie Geschäftsordnung zu halten, innerhalb derer keine Anfragean dieRegierunggerichtet werden kann.

Kayser.-Dann habe ich dasErsuchen an denHerrn Präsiden-

ten zu richten, daß er veranlassen wolle, daß die Mitgliedermeiner Partei ihre Reise nach Berlin ungestört fortsetzen kön-nen, da ansonsten durch das gegen sie angewandte Verfahrenein Eingriff in die Abstimmungsverhältnisse des Reichstagesgeschehenkann. Ich behalte es mir vor, zurraschen Erledigungdieser Angelegenheiteinen Antrag zustellen.'— Über die Festnahme in Kiel hat die ,Volks Zeitung' fol-gendes erfahren: Von dem Kongreß in Kopenhagen begabensich die Reichstagsabgeordneten v. Vollmar und Frohme sowiedie Herren Viereck, Müller und Ulrich nach Kiel. Der Nameeines sechsten Herren ist uns unbekannt. Eine Anzahl Sozial-demokraten hatten von Kopenhagen aus eine andere Routegewählt. In Kiel wurden die erstgenannten sechs Sozialdemo-kraten von einem dorthin abgesandten Polizeikommissar fest-genommen. Auf den Wunsch der Reichstagsabgeordneten v.Vollmar und Frohme wurden ihre Koffer nicht geöffnet, son-dern nur versiegelt, während die anderen Sozialdemokrateneiner Durchsuchung unterworfen wurden. Am Nachmittag

211 Social-Demokraten,Nr. 77, Kopen-hagen, 5. April 1883

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Page 22: Karl-Rudolf Fischer „Die Partei 1 beherrschtein vortrefflicher · AmKongreßtisch warensiePolitiker,ernstundbeherrscht inihrem Auftreten;aber währendihrerkleinenprivaten Zu- sammenkünfte,

wurden die Festgenommenen vor Gericht gestellt, woraufhinsiefreigelassen wurden.

Von den sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten isthier im Reichstag ein Antrag darüber eingebracht worden, daßder Reichstag den Reichskanzler dazu auffordern möge, daßdie Polizeiobrigkeit in Kiel strafrechtlich zur Verantwortunggezogen werde, aufgrund des Verstoßes gegen die Verfassungund das Strafgesetz, der dadurch stattgefunden hat, daß diegenannte Obrigkeit dieReichstagsabgeordneten v. Vollmar undFrohme gewaltsam daran gehindert hat, an den BeratungendesReichstages teilzunehmen.— ,Hamb.[urger] Nachr.[ichten]' haben ein längeres Tele-gramm aus Kopenhagen vom 4. April, worin der Kongreß er-wähnt wird, und indem eine kurze DarstellungderBeratungendes Kongresses gegeben wird. Das Telegramm hebt hervor, waswährend des Festmahles ausgesprochen wurde, daß die däni-scheunddie deutsche Sozialdemokratie aufstrengparlamenta-rischem Boden stehen, ohne Sympathie für oder Anschluß andie Sozialrevolutionäre. In dem Telegramm wird ebenfalls er-wähnt, was sicher Herrn Grone überraschen wird, daß ,dieKopenhagener Polizei sofort darüber im klaren war, was dieseLeute vorhatten.'Ebenfalls wird erwähnt, wie Herr Grone undseineMänner es wohlwollend auf sich genommen haben, her-umzugehen und die Fremden am Sonntagmorgen zu wecken,und daß ihre Gefälligkeit hoffentlich keinen schädlichen Ein-fluß aufdas TrinkgelddesHotelpersonals gehabthabe."11

Nachdem es der Regierung nicht gelungen war, inKiel denProzeß durchzuführen, kam es im September 1885 inChemnitzvor dem Landgericht zur Verhandlungseröffnung;der Prozeßendete allerdings mit einem Freispruch, da den Angeklagtendie Zugehörigkeit zu einer geheimen Organisation nicht nach-gewiesen werden konnte. Der Staatsanwalt legte Revision einund das Reichsgericht überwies den Fall zur nochmaligen Ver-handlungans Landgericht Freiberg.

Dort kam das Gericht zum Ergebnis, daß nach dem Erlaßdes Sozialistengesetzes eine neue Organisation geschaffen wor-den sei zu dem Zwecke, verbotene Literatur zu verbreiten. DieTeilnahme am Kongreß, auf dem z.B. über die Zeitung Sozial-demokrat gesprochen worden war, bedeutete damit eine Zuge-hörigkeitzu einer solchen Verbindung. Die Angeklagten wur-den zu mehrmonatigenGefängnisstrafen verurteilt;im ganzenReichbegannendie sogenannten„Geheimbund-Prozesse".22

21 Social-Demokraten, Nr. 79, 7.April188322 vgl. dazu Bericht der Reichstags-Kommission über die Abgeordneten-Verhaftungen, erfolgt am 2., 3. und 4.April 1883 zu Kiel und Neumünster,München 1883; K.-R. Fischer, DieAbgeordnetenverhaftungen zu Kielund Neumünster, in: Zeitschrift derGesellschaft für Schleswig-Holsteini-sche Geschichte, Band 116, Kiel 1991,S. 167-172.

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