2
© 2014 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Rezensionen 179 Ber. Wissenschaftsgesch. 37 (2014) 170 – 185 DOI: 10.1002/bewi.201401690 Katharina Schmidt-Brücken, Hirnzirkel. Kreisende Prozesse in Computer und Gehirn: Zur neurokybernetischen Vorgeschichte der Informatik, (Science Studies) Bielefeld: transcript 2012. 324 S., br., 35,80. ISBN 978-3-8376-2065-8. „The only way to handle a complicated situation with analog mechanisms is to break it up into parts and deal with the parts separately and alternately, and this is a digital trick.“ Man kann John von Neumanns aus dem Jahr 1966 stammende und von Katharina Schmidt-Brücken in ihrem Buch (S. 261) überlieferte Empfehlung für den Einsatz digitaler Schaltelemente in künftigen Rechenma- schinen durchaus auch als den Leitgedanken ihrer eigenen methodischen Vorgehensweise verstehen. So unterteilt die Autorin die komplizierte Situa- tion ihres Untersuchungsgegenstandes, die neuro- anatomische und -physiologische Vorgeschichte der Kybernetik, ebenfalls in einzelne historische Etappen, um diese nacheinander und mit einem beeindruckenden Maß an Genauigkeit Schritt für Schritt abzuarbeiten. Ihr zentrales Thema bildet dabei das Konzept der „regenerativen Zirkulation“ (S. 12), welches aus ihrer Sicht in der Sekundärli- teratur bislang gegenüber anderen kybernetischen Denkfiguren wie ‚Rückkopplung‘, ‚Regulation‘ oder ‚Symbolverarbeitung‘ vernachlässigt worden sei. Dabei spannt Schmidt-Brücken den Bogen ih- rer Erzählung von den Nervenfunktionsmodellen bekannter Neurowissenschaftler um 1900 (vor al- lem Santiago Rámon y Cajal, Siegmund Exner und Charles Scott Sherrington) über den in der Sekun- därliteratur bislang kaum behandelten spanischen Neurowissenschaftler Rafael Lorente de Nó bis hin zu Warren McCulloch und von Neumann, den neben Norbert Wiener einflussreichsten Ver- tretern der amerikanischen Kybernetik um 1950. Dass die Abstraktion und Sequenzialisierung von historischer Komplexität mit dem Realen nicht immer deckungsgleich ist (und genau diesen Um- stand bezeichnete von Neumann im Eingangszitat als den ‚Trick des Digitalen‘), kann man dabei als historiographische Notwendigkeit betrachten. Und obwohl Schmidt-Brücken auf eine soziale, technische oder kulturelle Kontextualisierung der von ihr besprochenen Nervenfunktionsmodelle weitestgehend verzichtet, handelt es sich bei dem vorliegenden Buch dennoch um einen wertvollen und gründlich recherchierten Beitrag zur Episte- mologie der Kybernetik und Informatik. Im ersten Teil ihrer Untersuchung rekapituliert die Autorin mit Hilfe des von ihr selbst vorge- schlagenen Begriffs der „neuronalen Integrations- mechanismen“ (S. 23 – 26) zunächst, wie sich im ausgehenden 19. Jahrhundert das Wissen über das Neuron als autonome Einheit des Nervengewe- bes herausbildete und wie Funktionsmodelle von verschiedenen Interaktionsweisen dieser Basisele- mente des Nervengewebes miteinander konkur- rierten. Hier gelingt es ihr zu zeigen, dass es sich bereits bei diesen (und nicht erst bei den kyberne- tischen) Modellen in erster Linie um „funktionelle Interpretationen“ (S. 92) handelte, die zwar durch die neuroanatomische und -physiologische For- schungspraxis informiert, aber dennoch in hohem Maße abstrahierend, spekulativ und von diskurs- übergreifenden Theorien wie der Assoziationslehre beeinflusst waren. Gleiches gilt für Lorente de Nós Modell geschlossener Neuronenketten, welches der Neuroanatom zunächst zur Erklärung konkreter reflexphysiologischer Phänomene heranzog, um darin später einen allgemeinen Regulationsmecha- nismus für das gesamte Nervengewebe zu sehen. In detektivischer Kleinarbeit rekonstruiert die Au- torin, wie der Wissenschaftler Erkenntnisse aus seiner eigenen experimentellen Erforschung der Vestibularorgane mit dem elektrophysiologischem Wissen seiner Zeit zusammenführte und darauf aufbauend, aber eben „nicht ohne Vereinfachungen und funktionelle Deutungen“ (S. 157), sein Zirku- lationsmodell synthetisierte. Sind die im ersten Teil des Buches vorgestellten Modelle also bereits hochgradig abstrakt und spe- kulativ, so spricht aus ihnen dennoch in erster Linie das Bemühen um ein naturwissenschaftliches Ver- ständnis von Aufbau und Funktionsweise des zen- tralen Nervensystems. Bei den „kybernetischen Nervennetzen“ (S. 175 ff.), welche Schmidt-Brü- cken in den Fokus des zweiten Teils ihrer Unter- suchung rückt, wird dieser heuristische Anspruch hingegen ausgeweitet und auch auf maschinelle Verhaltensweisen übertragen. Auch wenn man hier im Vergleich zur mittlerweile umfangreichen Sekundärliteratur zur Geschichte der Kybernetik (und insbesondere zu McCulloch und von Neu- mann) nur wenig Neues erfährt und die These eines sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun- derts vollziehenden „Hybridisierungprozess[es] von Nervensystem und Computer“ (S. 10) auch eher vertraut klingt, gelingt der Autorin durch ihre Konzentration auf das Zirkulationsmodell eine aufschlussreiche Analyse. Im Kontext einer „Kultur des Artifiziellen“ (S. 185) erscheint die

Katharina Schmidt-Brücken, Hirnzirkel. Kreisende Prozesse in Computer und Gehirn: Zur neurokybernetischen Vorgeschichte der Informatik, (Science Studies)

  • Upload
    jan

  • View
    213

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

© 2014 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

Rezensionen

179Ber. Wissenschaftsgesch. 37 (2014) 170 – 185

DOI: 10.1002/bewi.201401690

Katharina Schmidt-Brücken, Hirnzirkel. Kreisende Prozesse in Computer und Gehirn: Zur neurokybernetischen Vorgeschichte der Informatik, (Science Studies) Bielefeld: transcript 2012. 324 S., br., € 35,80. ISBN 978-3-8376-2065-8.

„The only way to handle a complicated situation with analog mechanisms is to break it up into parts and deal with the parts separately and alternately, and this is a digital trick.“ Man kann John von Neumanns aus dem Jahr 1966 stammende und von Katharina Schmidt-Brücken in ihrem Buch (S. 261) überlieferte Empfehlung für den Einsatz digitaler Schaltelemente in künftigen Rechenma-schinen durchaus auch als den Leitgedanken ihrer eigenen methodischen Vorgehensweise verstehen. So unterteilt die Autorin die komplizierte Situa-tion ihres Untersuchungsgegenstandes, die neuro-anatomische und -physiologische Vorgeschichte der Kybernetik, ebenfalls in einzelne historische Etappen, um diese nacheinander und mit einem beeindruckenden Maß an Genauigkeit Schritt für Schritt abzuarbeiten. Ihr zentrales Thema bildet dabei das Konzept der „regenerativen Zirkulation“ (S. 12), welches aus ihrer Sicht in der Sekundärli-teratur bislang gegenüber anderen kybernetischen Denkfiguren wie ‚Rückkopplung‘, ‚Regulation‘ oder ‚Symbolverarbeitung‘ vernachlässigt worden sei. Dabei spannt Schmidt-Brücken den Bogen ih-rer Erzählung von den Nervenfunktionsmodellen bekannter Neurowissenschaftler um 1900 (vor al-lem Santiago Rámon y Cajal, Siegmund Exner und Charles Scott Sherrington) über den in der Sekun-därliteratur bislang kaum behandelten spanischen Neurowissenschaftler Rafael Lorente de Nó bis hin zu Warren McCulloch und von Neumann, den neben Norbert Wiener einflussreichsten Ver-tretern der amerikanischen Kybernetik um 1950. Dass die Abstraktion und Sequenzialisierung von historischer Komplexität mit dem Realen nicht immer deckungsgleich ist (und genau diesen Um-stand bezeichnete von Neumann im Eingangszitat als den ‚Trick des Digitalen‘), kann man dabei als historiographische Notwendigkeit betrachten. Und obwohl Schmidt-Brücken auf eine soziale, technische oder kulturelle Kontextualisierung der von ihr besprochenen Nervenfunktionsmodelle weitestgehend verzichtet, handelt es sich bei dem vorliegenden Buch dennoch um einen wertvollen und gründlich recherchierten Beitrag zur Episte-mologie der Kybernetik und Informatik.

Im ersten Teil ihrer Untersuchung rekapituliert die Autorin mit Hilfe des von ihr selbst vorge-schlagenen Begriffs der „neuronalen Integrations-mechanismen“ (S. 23 – 26) zunächst, wie sich im

ausgehenden 19. Jahrhundert das Wissen über das Neuron als autonome Einheit des Nervengewe-bes herausbildete und wie Funktionsmodelle von verschiedenen Interaktionsweisen dieser Basisele-mente des Nervengewebes miteinander konkur-rierten. Hier gelingt es ihr zu zeigen, dass es sich bereits bei diesen (und nicht erst bei den kyberne-tischen) Modellen in erster Linie um „funktionelle Interpretationen“ (S. 92) handelte, die zwar durch die neuroanatomische und -physiologische For-schungspraxis informiert, aber dennoch in hohem Maße abstrahierend, spekulativ und von diskurs-übergreifenden Theorien wie der Assoziationslehre beeinflusst waren. Gleiches gilt für Lorente de Nós Modell geschlossener Neuronenketten, welches der Neuroanatom zunächst zur Erklärung konkreter reflexphysiologischer Phänomene heranzog, um darin später einen allgemeinen Regulationsmecha-nismus für das gesamte Nervengewebe zu sehen. In detektivischer Kleinarbeit rekonstruiert die Au-torin, wie der Wissenschaftler Erkenntnisse aus seiner eigenen experimentellen Erforschung der Vestibularorgane mit dem elektrophysiologischem Wissen seiner Zeit zusammenführte und darauf aufbauend, aber eben „nicht ohne Vereinfachungen und funktionelle Deutungen“ (S. 157), sein Zirku-lationsmodell synthetisierte.

Sind die im ersten Teil des Buches vorgestellten Modelle also bereits hochgradig abstrakt und spe-kulativ, so spricht aus ihnen dennoch in erster Linie das Bemühen um ein naturwissenschaftliches Ver-ständnis von Aufbau und Funktionsweise des zen-tralen Nervensystems. Bei den „kybernetischen Nervennetzen“ (S. 175 ff.), welche Schmidt-Brü-cken in den Fokus des zweiten Teils ihrer Unter-suchung rückt, wird dieser heuristische Anspruch hingegen ausgeweitet und auch auf maschinelle Verhaltensweisen übertragen. Auch wenn man hier im Vergleich zur mittlerweile umfangreichen Sekundärliteratur zur Geschichte der Kybernetik (und insbesondere zu McCulloch und von Neu-mann) nur wenig Neues erfährt und die These eines sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-derts vollziehenden „Hybridisierungprozess[es] von Nervensystem und Computer“ (S. 10) auch eher vertraut klingt, gelingt der Autorin durch ihre Konzentration auf das Zirkulationsmodell eine aufschlussreiche Analyse. Im Kontext einer „Kultur des Artifiziellen“ (S. 185) erscheint die

Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 37 (2014): Rezensionen

© 2014 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim180 Ber. Wissenschaftsgesch. 37 (2014) 170 – 185

kreisförmige Zwischenspeicherung von Signalen nun als geeigneter Mechanismus, um ‚intelligente‘ Leistungen wie ‚Gedächtnis‘ bzw. ‚Lernen‘ in for-mallogischen Netzwerken wie konkreten elektro-nischen Rechenmaschinen zu implementieren (z. B. als Ringspeicher mit Hilfe von Verzögerungslei-tungen im EDVAC). Ausgerechnet in dem Umweg über formale Logik, Mathematik und Computer-architektur sahen Kybernetiker also einen „neuen methodischen Zugang im Verständnis des Geistes“ und hofften, „mentale Prozesse als computationale

Prozesse“ betrachten zu können (S. 292 – 293). Mit dieser Pointe eines rückkehrenden Positivismus, den Neuroanatomen wie Lorente de Nó längst hin-ter sich gelassen hatten, schließt Schmidt-Brücken den Kreis ihrer Untersuchung. Nicht zuletzt auf-grund dieser schlüssigen Argumentation handelt es sich bei Hirnzirkel um ein lesenswertes Buch, welches allerdings ein gründlicheres Lektorat, ein Sachregister und, aufgrund der vielen fachspezifi-schen Termini, ein Glossar verdient hätte.

Jan Müggenburg (Lüneburg)