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politik 12 DFZ 1 · 2014 Was die Große Koalition im Gesundheitswesen unternehmen will Kaum Ideen, eine Menge Pragmatismus Deutschland hatte gewählt. Im September gingen rund 71 Prozent der Wahlberechtigten zur Urne und entschieden, welche der Parteien mit wie vielen Mandaten im Deutschen Bundestag die Interessen der Wähler vertreten würde. Während der kleine Koalitionspartner, die FDP, mit 4,8 Prozent erst gar nicht die Fünfprozenthürde schaffte – 2009 erhielten die Liberalen noch 14,6 Prozent – machte sich bei der CDU/CSU offenbar der Kanzlerinnenbonus bezahlt: Das Ergebnis hieß 41,5 Prozent und damit 7,7 Pro- zentpunkte mehr als vor vier Jahren. Zweitstärkste Partei: die SPD mit 25,7 Prozent. Die Bürger haben so freiwillig oder unfreiwillig der Großen Koalition in die Schuhe geholfen. Mit dem Koalitionsvertrag ist nun ein ziemlich kompromissloser Kompromiss zwischen CDU/CSU und SPD besiegelt worden: keine großen Verspre- chungen, aber eine Menge Pragmatismus. Finanzierung der GKV Ablesbar ist das Suchen des kleinsten gemeinsamen Nenners insbesondere beim Beitragssatz in der gesetzlichen Kranken- versicherung (GKV). Sollte sich die traditionelle Stammwäh- lerschaſt der Sozialdemokraten das Verhandlungsergbnis dort genauer ansehen, könnte sie enttäuscht sein: Der Arbeitgeber- anteil wird bei 7,3 Prozent festgeschrieben. Der Arbeitnehmer- anteil bleibt ebenfalls gleich, aber der einkommensunabhängige Zusatzbeitrag, in den auch der bisherige Arbeitnehmerzuschlag von 0,9 Prozent einfließt, wird allein von den Arbeitnehmern zu tragen sein. Aber werden die Kosten in der GKV auch steigen? Die Gesundheitsökonomen sind sich in diesen Tagen jedenfalls einig und prognostizieren einen Beitragssatz von 16 Prozent im Jahr 2017, so Prof. Günter Neubauer aus München, bis hin zu satten 17 Prozent, die der immer offensiv rechnende Kieler Gesundheitsökonom Dr. omas Drabinski aus den Büchern holt. Drabinski kritisiert: „Der neue prozentuale Zusatzbeitrag wälzt die Kostensteigerungen vollständig auf Lohn-, Gehalts- und Rentenempfänger ab.“ Verhandlungsführer Karl Lauterbach, SPD, konnte sich bei diesem ema offenbar nicht durchsetzen. Gegenüber diesem Magazin sagte ein Sprecher der Sozialdemo- kraten, dass die „Wiedereinführung“ der paritätischen Finanzie- rung ein „wichtiges Ziel“ sei, „das wir umsetzen werden, wenn sich die politische Möglichkeit dazu ergibt“. © [M] Monkey Business Images / thinkstockphotos.com

Kaum Ideen, eine Menge Pragmatismus

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Was die Große Koalition im Gesundheitswesen unternehmen will

Kaum Ideen, eine Menge PragmatismusDeutschland hatte gewählt. Im September gingen rund 71 Prozent der Wahlberechtigten zur Urne und entschieden, welche der Parteien mit wie vielen Mandaten im Deutschen Bundestag die Interessen der Wähler vertreten würde. Während der kleine Koalitionspartner, die FDP, mit 4,8 Prozent erst gar nicht die Fünfprozenthürde schaffte – 2009 erhielten die Liberalen noch 14,6 Prozent – machte sich bei der CDU/CSU offenbar der Kanzlerinnenbonus bezahlt: Das Ergebnis hieß 41,5 Prozent und damit 7,7 Pro-zentpunkte mehr als vor vier Jahren. Zweitstärkste Partei: die SPD mit 25,7 Prozent.

Die Bürger haben so freiwillig oder unfreiwillig der Großen Koalition in die Schuhe geholfen. Mit dem Koalitionsvertrag ist nun ein ziemlich kompromissloser Kompromiss zwischen CDU/CSU und SPD besiegelt worden: keine großen Verspre-chungen, aber eine Menge Pragmatismus.

Finanzierung der GKVAblesbar ist das Suchen des kleinsten gemeinsamen Nenners insbesondere beim Beitragssatz in der gesetzlichen Kranken-versicherung (GKV). Sollte sich die traditionelle Stammwäh-lerschaft der Sozialdemokraten das Verhandlungsergbnis dort genauer ansehen, könnte sie enttäuscht sein: Der Arbeitgeber-anteil wird bei 7,3 Prozent festgeschrieben. Der Arbeitnehmer-anteil bleibt ebenfalls gleich, aber der einkommensunabhängige Zusatzbeitrag, in den auch der bisherige Arbeitnehmerzuschlag

von 0,9 Prozent einfließt, wird allein von den Arbeitnehmern zu tragen sein. Aber werden die Kosten in der GKV auch steigen? Die Gesundheitsökonomen sind sich in diesen Tagen jedenfalls einig und prognostizieren einen Beitragssatz von 16 Prozent im Jahr 2017, so Prof. Günter Neubauer aus München, bis hin zu satten 17 Prozent, die der immer offensiv rechnende Kieler Gesundheitsökonom Dr. Thomas Drabinski aus den Büchern holt. Drabinski kritisiert: „Der neue prozentuale Zusatzbeitrag wälzt die Kostensteigerungen vollständig auf Lohn-, Gehalts- und Rentenempfänger ab.“ Verhandlungsführer Karl Lauterbach, SPD, konnte sich bei diesem Thema offenbar nicht durchsetzen. Gegenüber diesem Magazin sagte ein Sprecher der Sozialdemo-kraten, dass die „Wiedereinführung“ der paritätischen Finanzie-rung ein „wichtiges Ziel“ sei, „das wir umsetzen werden, wenn sich die politische Möglichkeit dazu ergibt“.

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Am Ende der politischen Möglichkeiten?Offenbar bedeutet die Große Koalition vorerst das Ende der poli-tischen Möglichkeiten für die SPD, denn auch das im Vorfeld der Bundestagswahl wie sauer Bier angepriesene Konzept der Bür-gerversicherung findet keinen Eingang in den Koalitionsvertrag. Nein, nicht einmal, wenn man die Lupe rausholt, hat sich ein Schlupfloch für das einst mühsam ausklamüserte Modell zwi-schen den Koalitionsvertragszeilen den Weg gebahnt. Auch hier erklärt der SPD-Sprecher gegenüber diesem Magazin: „Aufgrund der unterschiedlichen politischen Vorstellungen im Bereich der GKV-Finanzierung kann die SPD eine Bürgerversicherung im Rahmen der Großen Koalition nicht umsetzen.“ Einen kleinen Erfolg sieht die SPD dann offenbar im Stillstand: „Für die SPD war es wichtig, keine Vereinbarungen zu treffen, die einer Bür-gerversicherung entgegenstehen.“ So kann man es auch sehen. Oder noch ganz anders. Das macht die CDU. Die gibt den Ball an die Versicherten zurück, die „weiterhin vergleichen“ könnten, „welche Krankenkasse wie wirtschaftet“. Heißt: Der Preisver-gleich soll offenbar im Bereich der GKV Spreu von Weizen tren-nen. Ob das funktioniert, ist allerdings die Frage, denn sprung-hafte Krankenversicherungswechsel der Versicherten sind nicht bekannt. Gegenüber diesem Magazin sagte Jens Spahn von der CDU: „Wichtig war uns, dass steigende Gesundheitskosten nicht automatisch Arbeit teurer machen und damit Jobs gefährden. Das würde die Arbeitnehmer am meisten treffen.“

Reformen – ohnehin überflüssig?Auch der Vorstandsvorsitzende der Kassenzahnärztlichen Bun-desvereinigung (KZBV), Dr. Wolfgang Eßer, sieht in dem „kas-senindividuellen Beitragssatz mit variabler Arbeitnehmerbe-lastung“ ein „Preissignal Richtung Versicherte“ und führt aus: „Inwieweit diese Änderung wirklich den Wettbewerb zwischen den Kassen belebt, dürfte unter anderem davon abhängen, an welchem Punkt die Politik bei wachsenden Kassenausgaben erneut in die Finanzierungsregel eingreift und beispielsweise den Arbeitgeberanteil wieder anhebt.“ Der Markt macht's? Man wird sehen. Bei den privaten Versicherungsunternehmen hüllt man sich derzeit in Schweigen. Zwar hatten die im Vorfeld der Bundestagswahl offensiv gegen das Konzept der Bürgerversi-cherung gewettert, doch allzu laut möchte die private Kranken-versicherung (PKV) jetzt offenbar nicht werden. Auf die Fragen dieses Magazins geht der Verband der Privaten Krankenversiche-rung nicht ein und verweist auf die offizielle Stellungnahme des Vorsitzenden, Uwe Laue: Dieser lobt, dass sich die Koalitionäre „gegen Einheitslösungen und Radikalreformen“ entschieden haben – das „bestehende System aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung“ habe sich „bestens bewährt“. Hoch zufrie-den zeigt sich die PKV auch über den auf inzwischen „mehr als 180 Milliarden Euro gewachsenen Kapitalstock“ der PKV und Pflegeversicherung. Was genau die Versicherten und „Leistungs-erbringer“ von diesen Mammutreserven haben, verrät die PKV an dieser Stelle nicht.

Vielleicht kürzere Wartezeiten beim Orthopäden? Falls das der Vorteil für die PKV-Kundschaft sein sollte, könnte sich der Marktvorteil bald erledigt haben: „Für gesetzlich Versicherte wollen wir die Wartezeit auf einen Arzttermin deutlich reduzie-ren. Sie sollen sich zukünftig bei Überweisung an einen Fach-arzt an eine zentrale Terminservicestelle bei der Kassenärztli-chen Vereinigung (KV) wenden können. Diese vermittelt inner-halb einer Woche einen Behandlungstermin.“ Klingt gut und

nach Arbeit für die KVen. Skeptisch ist man beim GKV-Spit-zenverband, was diesen Lösungsvorschlag anbelangt. Zwar lobt die Vorstandsvorsitzende des Spitzenverbands, Dr. Doris Pfeif-fer, in der offiziellen Stellungnahme, dass „von der Verkürzung der Wartezeiten auf einen Arzttermin über die Flexibilisierung bei der ambulanten Versorgung bis hin zur Stärkung der Prä-vention und der Möglichkeit, dass Krankenkassen mit einzel-nen Kliniken Qualitätsverträge abschließen dürfen“ die geplan-ten Möglichkeiten reichen würden. Auf Nachfrage dieses Maga-zins relativierte der Sprecher des GKV-Spitzenverbands, Florian Lanz, zum Thema Wartezeiten jedoch: „Trotz ihrer gesetzlichen Zuständigkeit konnten die Kassenärztlichen Vereinigungen bis-her das Problem der teilweise überlangen Wartezeiten auf einen Facharzttermin nicht lösen. Deshalb sind wir skeptisch, ob gera-de die Kassenärztlichen Vereinigungen jetzt noch einmal damit betraut werden sollen.“

Noch zu wenig?„Im Hinblick auf die konkrete zahnmedizinische Versorgung sind wir mit dem Ergebnis der Koalitionsverhandlungen nicht wirklich zufrieden“, kritisiert Eßer und konkretisiert: „Für Erwachsene mit schweren Behinderungen sollen zwar medi-zinische Behandlungszentren eingerichtet werden, und dabei soll auch an die zahnmedizinische Versorgung gedacht werden. Das ist begrüßenswert, aber andere, ganz zentrale Aspekte der Betreuung von Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinde-rung sind leider außen vor geblieben: Wir brauchen für diese Menschen ein systematisches Präventionsmanagement.“ Schon länger haben die zahnärztlichen Gesellschaften unter Federfüh-rung von Kammer und Kassenzahnärztlicher Bundesvereini-gung (KZBV) mit dem „Konzept zur vertragszahnärztlichen Versorgung von Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinde-rung“ die Abrechenbarkeit für die Behandlung von Patienten-gruppen, bei denen ein Mehraufwand für den Zahnarzt besteht, umrissen: Die letzten vorliegenden Schätzungen kommen für 2007 auf ein „Personenpotenzial mit eingeschränkter Selbst-steuerung“, die noch in die Praxis kommen können, aber kör-perlich oder kognitiv eingeschränkt sind und nicht selbstgesteu-ert die Zahn- und Mundpflege vornehmen können, von 0,8 bis 1,1 Millionen Personen im GKV-Bereich. Das Konzept will den Leistungsanspruch für diese Personengruppe etwa auf „risiko-spezifische Zahnreinigung“ für den Leistungskatalog der GKV festschreiben. Offenbar macht man sich bei der KZBV Hoffnun-gen, dass der Zug hierfür noch nicht abgefahren sein könnte: „Die neue Bundesregierung will noch 2014 ein Präventionsge-setz verabschieden. Wenn man Ernst machen will mit vorsor-georientierter Gesundheitspolitik, dann muss man auch dieses Präventionsmanagement in das Gesetz aufnehmen“, so Eßer.

Freie Berufsausübung?„Wir begrüßen, dass auf eine Bürgerversicherung verzichtet wurde. Bedeutend ist für uns auch das Bekenntnis zur Freibe-ruflichkeit“, sagt Dr. Peter Engel, Präsident der Bundeszahn-ärztekammer (BZÄK). Beim Freien Verband Deutscher Zahn-ärzte (FVDZ) sieht man den Koalitionsvertrag gerade im Hin-blick auf die Positionierung zur freien Berufsausübung kritisch – Dr. medic IfM Timisoara Kerstin Blaschke, Bundesvorsitzende des Verbands, dazu: „Die Freiberuflichkeit der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sowie Zahnärztinnen und Zahnärzte wird von den Koalitionären als ‚Garant für die Diagnose- und Thera- »»»

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piefreiheit sowie die freie Arztwahl‘ unterstrichen – gleichzeitig soll aber die Förderung von Praxisnetzen ausgebaut werden. Es bleibt abzuwarten, was sich die Politik genau darunter vorstellt.“ Im Koalitionsvertrag ist zu lesen, dass „die gesetzlichen Vorga-ben zum Abbau von Überversorgung“ durch den Ankauf von Arztsitzen von einer „‚Kann‘- in eine ‚Soll‘-Regelung“ überführt werden sollen. „Die ‚Daumenschrauben’ werden für freiberuf-lich tätige Zahnärztinnen und Zahnärzte immer weiter ange-zogen“, sagt Blaschke und konkretisiert: „Auch im Hinblick auf die Delegation- und Substitution (zahn-)ärztlicher Leistungen ist vor dem Hintergrund der Kompetenzerweiterung für nichtärzt-liche Gesundheitsberufe zu erwarten, dass die freie Berufsaus-übung vor neue Herausforderungen gestellt wird“, sagt Blaschke.

Datennutzung„Die sektorübergreifende Qualitätssicherung mit Routinedaten wird ausgebaut“, schreibt der Koalitionsvertrag. Hierzu soll ein Institut gesetzlich begründet werden, „das dauerhaft und unab-hängig die Qualität der ambulanten und stationären Versorgung ermittelt und dem Gemeinsamen Bundesausschuss Entschei-

dungsgrundlagen liefert.“ Wie soll das gehen? Die GKVen sollen verpflichtet werden, dem Institut „geeignete pseudonymisier-te Routinedaten zur Verfügung zu stellen.“ Um welche Daten handelt es sich da genau? Auf Nachfrage dieses Magazins ging die SPD darauf nicht ein, sondern stellte fest, dass die „ungenü-gende Verfügbarkeit und Aufbereitung von Routinedaten“ der Krankenkassen für die Verbesserung der Versorgung und als Entscheidungsgrundlage für Patienten von einer „Mehrheit der Expertinnen und Experten kritisch bewertet“ würde. Jens Spahn wurde auf Anfrage diese Magazins konkreter, es gehe darum, „die gesamte Patientengeschichte zu betrachten“, und führte das Szenario am Tag nach der Entlassung aus dem Krankenhaus aus: „Manchmal ist auch ein weiterer Klinikaufenthalt notwendig. Im bisherigen System wäre das ein neuer Fall. Das wollen wir ändern und künftig Daten über den gesamten Verlauf der Krank-heit sektorübergreifend analysieren, natürlich anonymisiert“.

Wie das aussehen wird, an dieser Stelle sind sich die Koali-tionäre dann einig: Genaueres werde im Gesetzgebungsverfah-ren geklärt.

Eva Britsch

Im Interview: Parteienforscher Professor Dr. Oskar Niedermayer

„Wir brauchen eine liberale Partei“Drei Monate hat es gedauert, bis die neue Bundesregierung im Dezember fest stand. Jetzt kann der Bundestag die Arbeit aufnehmen. Erstmals ohne die FDP. Wie es um die Parteienlandschaft bestellt ist, warum die Liberalen kein Auslaufmodell sind und inwiefern sich die beiden großen Parteien CDU und SPD noch unterscheiden, darüber sprachen wir mit dem Politikwissenschaftler Professor Dr. Oskar Niedermayer. Er ist Parteienforscher mit eigenem Lehrstuhl an der Freien Universität Berlin.

DFZ: Herr Professor Niedermayer, haben Sie mit dem Ergebnis der Bundestagswahl gerechnet?» Niedermayer: Ich habe mit vielem gerechnet. Aber nicht damit, dass

die FDP im Bundestag nicht mehr dabei sein wird.

DFZ: Fehlen die Freidemokraten denn?» Meiner Ansicht nach schon. Wir brauchen eine liberale Partei, weil

der Liberalismus in dieser Form in den anderen Parteien nicht vertreten ist. Ich denke, die FDP hat die Chance, mit ihrem neuen Parteichef Christian Lindner bei der nächsten Wahl wieder in den Bundestag zu kommen.

DFZ: Die FDP ist also kein Auslaufmodell?» Nein. Aber sie hat jetzt Konkurrenz bekommen. Die AfD [Alter-

native für Deutschland; Anm. der Redaktion] entwickelt sich zu einer wirtschaftsliberalen Partei. Wenn sie es schafft, sich von der-zeit existierenden rechtspopulistischen Tendenzen abzugrenzen und zu distanzieren, dann hat sie eine gute Chance, sich in der Par-teienlandschaft zu etablieren. Die FDP muss sich dann von Union und AfD abgrenzen, das heißt Alleinstellungsmerkmale finden.

DFZ: Stichwort Alleinstellungsmerkmal: Den großen Volksparteien wird ja heute oft vorgeworfen, dass sie sich gar nicht mehr großartig unterschei-den. Stimmt das? Gibt es – salopp gesagt – einen großen Einheitsbrei?

» Das sehe ich gar nicht so. Die beiden großen Parteien SPD und CDU haben immer noch ihren Markenkern. Bei der Ausrichtung des Sozialstaats unterscheiden sie sich immer noch deutlich. Die SPD steht für Sozialkompetenz und die CDU für Wirtschaftskom-petenz. Immense Unterschiede zeigen sich auch in der Gesund-heitspolitik. Deshalb haben sie sich auch nicht getraut, bestimmte Themen bei den Koalitionsverhandlungen anzugehen. Wenn die SPD da mit einer Bürgerversicherung angefangen hätte, dann wäre das nach hinten losgegangen.

DFZ: Die Kernkompetenzen von CDU/CSU und SPD vermischen sich im Wahlkampf aber auch gerne mal. Wenn sich die Union zum Beispiel vehe-ment für Familienpolitik stark macht, dann kommt man schon ins Grü-beln und denkt: Ist das nicht eigentlich das Feld der Sozialdemokraten?» Also, zunächst mal hat die CDU bei dieser Wahl auf die Person

Angela Merkel gesetzt. Und mit ihr verbunden waren die Inhalte. Merkel sehen die Menschen als Krisenmanagerin. Am Beispiel Europäische Union wurde das sehr deutlich. Sie hat den Leuten gesagt: „Euch geht's doch gut im Vergleich zu den Menschen in anderen europäischen Ländern. Und das wird auch so bleiben.“ Die SPD konnte diesem Versprechen auf Sicherheit nichts entgegenset-zen. Was die Wahlkampfthemen angeht, hat Merkel einiges abge-räumt, was eigentlich die SPD hätte mobilisieren können. Da gab es Zugeständnisse beim Mindestlohn oder in der Familienpolitik. »»»

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Kommentar

Bürger ohne politischen Bodenscher Lehrstühle sachkundiger und ernsthafter ausgearbeitet als bei den Sozialdemokraten. Dort wurden die Abschaffung der Zweiklas-senmedizin und eine transparente Basisversicherung unter ideolo-gischer Betreuung des Chefintellektuellen Karl Lauterbach mit dem Begriff „Gerechtigkeit“ angepriesen.

Gerechtigkeit mit schalem Beigeschmack! Deshalb, weil der Bür-ger das Gefühl haben könnte, dass der Begriff als Schlagwort miss-braucht wurde, um die eigene Klientel ruhigzustellen. Denn wer den Verdacht nährt, Grundüberzeugungen bei der erstbesten Gelegen-heit zugunsten von Posten aufzugeben, hat ein Glaubwürdigkeits-problem – nicht nur in der Außendarstellung.

Da sieht das müde Publikum einen profilierungssüchtigen Peer Steinbrück, der sich seine – sicherlich komplexen – Kenntnisse zum Finanzmarkt vergolden lässt. Einem selbstzufriedenen Sigmar Gab-riel ist das Schielen auf Posten in jedem seiner staatstragenden Sät-ze anzumerken, und Karl Lauterbach wollte gerne Bundesgesund-heitsminister werden.

Da nutzte sogar die Lauterbach-Exfrau, Krebsexpertin Angela Spelsberg, die Gunst der Stunde und sagte gegenüber Die Bunte: „Ich befürchte, dass auch die Öffentlichkeit seine moralische Eig-nung überschätzt.“ Lauterbach ließ angeblich über seinen Anwalt ausrichten, seine Exfrau habe nicht das Recht, moralisierende Kom-mentierungen abzugeben.

Na denn: Wenn Politik ohne Moral auskommt, dann Politiker doch sicher auch ohne Posten. Von Eva Britsch

Wo zwei sich zusammentun, muss ein Kompromiss gefunden wer-den. Das ist eine alte Binsenweisheit, die unter Umständen vieles hei-ßen kann: Der kleinste gemeinsame Nenner, neue Ideen aus Gegen-sätzen kreieren oder ein taktisches Abwägen, was an eigenen Über-zeugungen durchgesetzt werden kann und wo Abstriche zugunsten des Verhandlungspartners gemacht werden müssen.

Welchen Kompromiss der kleinere Koalitionspartner, die SPD, nun gefunden haben mag, scheint indes unklar. Im Bereich des Gesund-heitswesens wurde im Vorfeld der Wahl noch massiver Reformbedarf von den Roten diagnostiziert, und man wollte mithilfe des Konzepts der Bürgerversicherung Revolte machen – mit dem Vertrag ist jedoch lediglich eine leidenschaftslose Zweckehe unterschrieben worden.

Sicher, die CDU wollte die Bürgerversicherung nicht, das war vor der Wahl klar! Dass nun aber im Gegenteil die Fahnen unter roter Regierungsbeteilungen sogar auf „Arbeitnehmerbelastung“ gestellt werden, ist nur noch absurd.

Spätestens seit der Agenda 2010 müsste die SPD bei ihrer Stamm-wählerschaft eigentlich unten durch sein – überraschend, dass die Traditionspartei trotz des Verkaufs elementarer Grundsätze bei der Bundestagswahl noch ein Viertel der Wählenden von sich überzeu-gen konnte. Zur Agenda 2010 war im Regierungsprogramm lediglich lapidar „Nachbesserungsbedarf“ hineingetextet worden – und das Konzept der Bürgerversicherung schien sowohl bei den Grünen als auch bei der angeblichen Chaostruppe, „die Linke“, mit demografi-schen Zukunftsrechenmodellen und mit Unterstützung ökonomi-

VITA

Indem sie diese Themen früh selbst mit Inhalten füllte, hat sie den Sozialdemokraten praktisch den Wind aus den Segeln genommen. Gesellschaftspolitisch könnte der Union übrigens in Zukunft auch die AfD mit ihren konservativen Werten Konkurrenz machen.

DFZ: Wenn Frau Merkel aus strategischen Gründen die Themen der Geg-ner ausschlachtet, kann der Wähler ihr dann überhaupt noch glauben?» Angela Merkel ist keine Ideologin; sie geht die Politik pragmatisch

an – siehe Europapolitik. Da ist sie nicht die große ideologische Schiene gefahren. Man nimmt es ihr auch nicht übel, wenn sie in den Bereichen der anderen wildert. Merkel will ihre Partei an den Zeitgeist anpassen. Und da trifft sie auch Entscheidungen, die nicht immer traditionell christdemokratisch sind.

DFZ: Blicken wir auf das aktuelle politische Parkett. Die Regierungs-bildung lief von September bis Dezember. Hat das schon jemals so lange gedauert?» Bisher dauerte die längste Regierungsbildung 73 Tage. Dieses Mal

war es nicht sehr viel mehr. Insgesamt kam es einem sehr lang vor, aber eigentlich bewegte es sich noch halbwegs im Rahmen. Die langen Verhandlungen sprechen dafür, dass sich die beiden Par-teien eben doch noch voneinander unterscheiden. Und so etwas wie die SPD-Mitgliederbefragung verzögert alles natürlich noch mal, obwohl die Erfordernis der Basiszustimmung ja nicht neu ist.

DFZ: Ein Novum war hingegen der Hauptausschuss, den der Bun-destag zum ersten Mal während der Koalitionsverhandlungen ein-gesetzt hatte. Machte der Sinn?» Ich glaube, im Prinzip schon. Es gibt ja eine Art „gentleman’s agree-

ment“, dass der Bundestag nichts beschließt, was die neue Regie-

rung bindet. Somit hat der Hauptausschuss auch nichts Wesent-liches entschieden, sondern nur das operative Geschäft am Laufen gehalten.

DFZ: Wie lautet Ihre Perspektive für die neue Legislaturperiode? Gibt es unter der Großen Koalition eine Politik des Stillstands?» Im Koalitionsvertrag steht nichts drin, was eine Revolution erwar-

ten lässt. Deshalb ist davon auszugehen, dass es keine großen Rich-tungswechsel geben wird. Grundsätzlich wird es heutzutage auch immer schwieriger, eine Politikwende zu realisieren. Die globa-len Probleme sind so komplex geworden, und Deutschland hat so vielfältige Verpflichtungen, dass die Berechenbarkeit deutscher Politik sehr wichtig ist. Da kann man keinen krassen Kurswech-sel vornehmen.

Die Fragen stellte Melanie Fügner

Professor Dr. Oskar Niedermayer ist Politik-wissenschaftler und Hochschullehrer. Der 61-Jährige leitet seit 1993 das Otto-Stam-mer-Zentrum der Freien Universität Berlin. Bei seiner Forschung und Lehre konzent-riert sich Niedermayer auf das politische System Deutschlands, vergleichende Regie-rungslehre (Westeuropa und USA), politi-sche Soziologie, Europaforschung sowie auf Methoden der Politikwissenschaft.

Niedermayer