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Kausale Faktoren und - Pearson · 3 Kausale Faktoren und Sichtweisen Der Verlust eines Elternteils im Kindesalter kann eine beitragende Ur-sache für das Auftreten von Depressionen

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  • Kausale Faktoren undSichtweisen

    33.1 Abweichendes Verhalten: Ursachen undRisikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743.1.1 Notwendige, hinreichende und beitragende Ursachen . . . 743.1.2 Rückkopplung und Zirkularität in abweichendem

    Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763.1.3 Diathese-Stress-Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

    3.2 Sichtweisen der Ursachen abweichenden Verhaltens 80

    3.3 Die biologische Sichtweise und biologische kausaleUrsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813.3.1 Ungleichgewichte des Neurotransmitter- und

    Hormonhaushalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813.3.2 Genetische Vulnerabilitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 843.3.3 Temperament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903.3.4 Cerebrale Dysfunktion und neuronale Plastizität . . . . . . . 913.3.5 Der Erkenntnisgewinn aus der biologischen Sichtweise . 93

    3.4 Die psychosozialen Sichtweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 953.4.1 Die psychodynamischen Betrachtungsweisen . . . . . . . . . 953.4.2 Die behavioristische Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . 1023.4.3 Die kognitiv-behavioristische Betrachtungsweise . . . . . . 1063.4.4 Was geschieht, wenn man sich eine bestimmte

    Betrachtungsweise zu eigen macht? . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

    3.5 Psychosoziale kausale Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1123.5.1 Deprivation oder Trauma im frühen Lebensalter . . . . . . . 1133.5.2 Nachteilige Erziehungsstile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1173.5.3 Eheprobleme und Scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1203.5.4 Umgang mit sog. unangepassten Freunden und

    Bekannten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

    3.6 Die soziokulturelle Sichtweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1243.6.1 Die Aufdeckung soziokultureller Faktoren durch

    interkulturelle Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

    3.7 Soziokulturelle kausale Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1283.7.1 Die soziokulturelle Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1283.7.2 Pathogene gesellschaftliche Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . 1293.7.3 Der Einfluss der soziokulturellen Sichtweise . . . . . . . . . 131

    Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 ÜB

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  • 3 Kausale Faktoren und Sichtweisen

    W ie bereits im letzten Kapitel ausgeführt, hatdie Suche nach den Ursachen abweichen-den Verhaltens eine sehr lange Tradition. Seit jeherbeschäftigten sich Menschen, die krankhaftes Verhal-ten bei anderen beobachteten, mit der Frage nachdem Grund dafür. So vermutete beispielsweise Hip-pokrates die Ursache in einem Ungleichgewicht inKörpersäften. Andere waren der Ansicht, dass eineBesessenheit durch Dämonen oder böse Geister ab-weichendes Verhalten hervorbrächte; in späterer Zeitwurden dann körperliche Fehlfunktionen als Erklä-rung angeführt.

    Jeder Versuch, eine Ursache für abweichendesVerhalten zu identifizieren, führte zur Bildung ei-ner Theorie oder eines Modells dieses Verhaltens.Bereits die von Hippokrates aufgestellte Hypotheseist im Grunde ein Krankheitsmodell, in dem von derExistenz von vier verschiedenen Körpersäften ausge-gangen wird, die jeweils mit bestimmten Verhaltens-weisen in Zusammenhang stehen sollten. Bis heutebringt die Suche nach Erklärungen für abweichendesVerhalten ständig neue Modelle hervor; seit Beginndes 20. Jahrhunderts entwickelten einige Denkrich-tungen besonders aufwendige Modelle der Ursachenund der möglichen Behandlung abweichenden Ver-haltens. Wir werden hier die einflussreichsten theore-tischen Sichtweisen im Detail betrachten und dabeiinsbesondere die verschiedenen Arten von kausalenFaktoren berücksichtigen, die von jeder dieser Schu-len benannt wurden.

    Zunächst beschäftigen wir uns mit der biologi-schen Sichtweise. Die Theorien bezüglich der kausa-len Ursachen abweichenden Verhaltens, die sich ausdieser Sichtweise ergeben, betonen genetische undandere physiologische Zustände, die die Funktiondes Gehirns und des Körpers beeinträchtigen und amEnde zu psychopathologischen Zuständen führen. AlsNächstes widmen wir uns dann den psychosozialenSichtweisen: Die psychodynamische Sichtweise kon-zentriert sich auf angstverursachende intrapsychischeKonflikte, die behavioristische Sichtweise auf rele-vante Lernprozesse und die kognitiv-behavioristischeSichtweise auf unterschiedliche Arten der Informati-onsverarbeitung, die zu Störungen im Denken führen.Anschließend werden wir die soziokulturelle Sicht-weise betrachten, die die Ausprägung der Anfälligkeitfür psychische Störungen und die Schwere des Ver-laufs anhand gestörter sozialer Rahmenbedingungensowie unterschiedlicher kultureller Hintergründe zuerklären versucht. Bevor wir uns mit den verschie-denen theoretischen Sichtweisen auseinandersetzen,müssen wir jedoch verstehen, wie das Konzept der

    Verursachung im Zusammenhang mit abweichendemVerhalten gesehen wird.

    Abweichendes Verhalten:Ursachen undRisikofaktoren 3.1Eine der wichtigsten Fragestellungen innerhalb derKlinischen Psychologie ist die nach den Gründen, ausdenen Menschen sich maladaptiv verhalten. Wenn wirdie Ursachen für bestimmte Störungen kennen wür-den, so könnte man nicht nur die Bedingungen für ihrAuftreten vermeiden, sondern auch die Bedingungenumkehren, die ein Fortbestehen dieser Störungen zurFolge haben. Außerdem ließen sich psychische Stö-rungenvielbesseranhand ihrer Ursachen diagnostizie-ren und klassifizieren, als – wie heute üblich – auf derGrundlage von Gruppen von Symptomen.

    Das Verständnis der Ursachen abweichenden Ver-haltens ist sicherlich erstrebenswert, jedoch aufgrundder enormen Komplexität menschlichen Verhaltensunglaublich schwierig. Selbst die einfachsten mensch-lichen Verhaltensweisen, wie das Aussprechen oderNiederschreiben eines einzigen Wortes, sind das Er-gebnisvonTausendenvorangegangenerProzesse– unddas Zusammenwirken dieser Prozesse ist nicht immerersichtlich. Das gesamte Leben einer Person in kausa-len Begriffen zusammenzufassen ist selbst im Falle ei-nes adaptiven Lebens eine Aufgabe von enormer Trag-weite. Betrachtet man ein maladaptives Leben, ist esnoch viel schwieriger. Als Konsequenz sprechen vieleForscher heute lieber von Risikofaktoren (dies sind Va-riablen, die mit dem Auftreten abweichenden Verhal-tenskorreliert sind)alsvonUrsachen.Nichtsdestotrotzbleibt das Verständnis von Ursachen das höchste Ziel.

    3.1.1 Notwendige, hinreichende undbeitragende Ursachen

    Ungeachtet der theoretischen Sichtweise können be-stimmte Begriffe dazu verwendet werden, die Rolleeines bestimmten Faktors im kausalen Muster abwei-chenden Verhaltens, der sogenannten Ätiologie, zu be-schreiben. Eine notwendige Ursache (wie Ursache X)ist eine Bedingung, die für das Auftreten einer Störung(wie Störung Y) zwingenderweise vorliegen muss. Bei-spielsweise kann progressive Paralyse (Y) – eine de-generative Erkrankung des Gehirns – nicht auftreten,wenn die betreffende Person sich nicht zuvor mit Sy-

    74

  • 3.1 Abweichendes Verhalten: Ursachen und Risikofaktoren

    � NotwendigeUrsache

    Wenn Störung Y auftritt, dann muss Ur-sache X vorausgegangen sein.

    � HinreichendeUrsache

    Wenn Ursache X auftritt, wird StörungY ebenfalls auftreten.

    � BeitragendeUrsache

    Wenn Ursache X auftritt, so steigt dieWahrscheinlichkeit für das Auftretenvon Störung Y.

    Abbildung 3.1: Typen von Ursachen abweichenden Verhaltens

    philis (X) infiziert hat. Allgemeiner ausgedrückt: WennY auftritt, dann muss X vorausgegangen sein. Ein wei-teres Beispiel ist die posttraumatische Belastungsstö-rung (PTBS) – eine der Angststörungen –, die nicht auf-treten kann, wenn jemand kein traumatisches Erlebnishatte. Eine notwendige Ursache reicht jedoch nicht im-mer aus, um eine psychische Störung hervorzurufen;auch andere Faktoren können hierfür Voraussetzungsein. Im Falle von PTBS entscheiden mehrere psycho-logische und soziale Variablen darüber, ob eine Per-son nach einem traumatischen Erlebnis diese Störungentwickelt. Viele psychische Erkrankungen scheinenüberhauptkeinenotwendigen Ursachen zuhaben, aberdie Forschungen in diesem Bereich sind noch nicht ab-geschlossen.

    Eine hinreichende Ursache (wie Ursache X) ist eineBedingung, die das Auftreten einer Störung (wie Stö-rung Y) garantiert. Allgemeiner formuliert: Wenn Xauftritt, wird Y ebenfalls auftreten. Beispielsweisewird in einer aktuellen Theorie davon ausgegangen,dass Hoffnungslosigkeit (X) eine hinreichende Ursa-che für Depressionen (Y) ist (Abramson, Alloy & Me-talsky, 1995; Abramson, Metalsky & Alloy, 1989). Ge-mäß dieser Theorie braucht man seine eigene Zukunftnur hoffnungslos genug zu betrachten, um depressivzu werden. Eine hinreichende Ursache muss jedochkeine notwendige Ursache sein. In Bezug auf das Bei-spiel der Depression führen Abramson et al. (1989) aus,dass Hoffnungslosigkeit keine notwendige Ursache fürDepressionen ist; diese Erkrankung kann auch andereUrsachen haben.

    Der häufigste Untersuchungsgegenstand in der kli-nisch-psychologischen Forschung sind beitragendeUrsachen. Eine beitragende Ursache (wie Ursache X)erhöht die Auftretenswahrscheinlichkeit einer Stö-rung (wie Störung Y), ist jedoch weder notwendig nochhinreichend für das Auftreten der Störung. Allgemei-ner formuliert: Wenn X auftritt, so steigt die Wahr-scheinlichkeit für das Auftreten von Y. Beispielsweisekann elterliche Zurückweisung die Wahrscheinlich-

    keit dafür erhöhen, dass ein Kind später Schwierig-keiten im Umgang mit engen persönlichen Bindungenhaben wird; oder sie erhöht die Wahrscheinlichkeitdafür, dass Zurückweisung in einer Beziehung im Er-wachsenenalter Depressionen hervorruft. Man sprichtin diesem Zusammenhang davon, dass elterliche Zu-rückweisung eine beitragende Ursache für die späterenProbleme der betreffenden Person ist; sie ist aber wedernotwendig noch hinreichend (Abramson et al., 1989;Abramson et al., 1995).

    Über die Unterscheidung zwischen notwendigen,hinreichenden und beitragenden Ursachen abwei-chenden Verhaltens hinaus muss man auch den Zeit-rahmen berücksichtigen, innerhalb dessen die ver-schiedenen Ursachen ihre Wirkung entfalten. DieAuswirkungen mancher kausaler Ursachen, deneneine Person relativ früh in der Lebensspanne ausge-setzt ist, können viele Jahre lang unsichtbar sein. Manspricht in diesem Fall von distalen kausalen Ursa-chen, die zur Prädisposition für das Auftreten einerStörung beitragen können. Beispielsweise kann derVerlust eines Elternteils im Kindesalter oder gewalt-tätiges oder vernachlässigendes Verhalten der Elternals distale beitragende Ursache wirken, die die Personanfällig für Depressionen oder antisoziales Verhaltenim Erwachsenenalter macht. Im Gegensatz dazu ent-falten andere kausale Ursachen bereits innerhalb kur-zer Zeitabstände ihre Wirkung; dies sind sogenannteproximale kausale Ursachen. Eine proximale kausaleUrsache kann manchmal ein Zustand sein, der sichals nicht bewältigbar für eine Person erweist und dasAusbrechen einer Störung auslöst. Ein schwerer beruf-licher oder schulischer Misserfolg oder tiefgreifendeEheprobleme sind Beispiele für proximale kausale Ur-sachen, die zu Depressionen führen können. In ande-ren Fällen gehen proximale Ursachen mit biologischenVeränderungeneinher; sokönnenbeispielsweiseSchä-digungen der linken Hirnhemisphäre, präfrontal sowiedieentsprechenden Basalganglien ebenfallszuDepres-sionen führen.

    Eine verstärkende beitragende Ursache ist ein Zu-stand, der die Aufrechterhaltung bereits vorhandenenabweichenden Verhaltens wahrscheinlicher macht.Beispiele hierfür sind die verstärkte Beachtung durchandere, die Erfahrung erhöhter Sympathie und derWegfall unerwünschter Verantwortlichkeit, wenn einePerson psychisch krank ist. Diese angenehmen Erfah-rungen können den Genesungsprozess unbeabsichtig-terweise behindern. In umgekehrter Weise kann dasVerhalten einer depressiven Person zur Entfremdungvon Freunden und Familie führen, was durch die ver-mehrte Erfahrung von Zurückweisung eine Verstär-

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  • 3 Kausale Faktoren und Sichtweisen

    Der Verlust eines Elternteils im Kindesalter kann eine beitragende Ur-sache für das Auftreten von Depressionen im Erwachsenenalter sein.Ursachen, deren Auswirkungen für viele Jahre nicht sichtbar sind, be-zeichnet man als distale kausale Ursachen.

    kungdervorhandenenDepressionzur Folgehat (Joiner,2002; Joiner & Metalsky, 1995).

    Bei vielen Formen psychischer Störungen ist nochnicht bekannt, ob es notwendige oder hinreichende Ur-sachen gibt; die Beantwortung dieser Frage bleibt dasZiel der aktuellen Forschung. Im Gegensatz dazu istjedoch sehr viel über die beitragenden Ursachen fürviele Formen psychischer Störungen bekannt. Einigeder distalen beitragenden Ursachen, die später in die-sem Kapitel behandelt werden, setzen VulnerabilitätimKindesaltermit dem späteren Auftreten von Störun-gen in Beziehung. Andere, eher proximale beitragendeUrsachen scheinen eine Störung direkt hervorzubrin-gen, und wieder andere können das Fortbestehen ei-ner Störung begünstigen. Das Verständnis dieses kom-plexen kausalen Musters wird dadurch noch weiter er-schwert,dassdieselbeBedingung eine proximale Ursa-che für eine Störung in einer bestimmten Lebensphaseund gleichzeitig auch eine distale beitragende Ursachefür eine andere Störung in einer späteren Lebensphasesein kann. So kann der Tod eines Elternteils die pro-ximale kausale Ursache für die folgende Trauerreak-tion eines Kindes sein, die mehrere Monate oder auchein Jahr anhält; gleichzeitig stellt dieser Umstand aberauch eine distale beitragende Ursache dar, durch diedas Kind im späteren Leben mit höherer Wahrschein-lichkeit dafür anfällig sein wird, auf bestimmte Stress-faktoren mit Depressionen zu reagieren.

    3.1.2 Rückkopplung und Zirkularität inabweichendem Verhalten

    In den Naturwissenschaften konzentriert man sich tra-ditionellerweise auf die Identifizierung von Ursache-Wirkungs-Beziehungen, also die Isolierung der Be-dingung X (Ursache), die zu Zustand Y (Wirkung)führt. Überschreitet beispielsweise der Blutalkohol-spiegel einen bestimmten Wert, so ist Trunkenheit dieFolge. Wenn mehr als eine kausale Ursache beteiligt ist,spricht man von einem kausalen Muster. Hier sind dieBedingungen A, B, C etc. die Ursache für den ZustandY.DiesemKonzeptderKausalität folgt einemeinfachenlinearen Modell, in dem eine gegebene Variable odereine Gruppe von Variablen entweder unmittelbar oderspäter zu einem bestimmten Ergebnis führt. In den Ver-haltenswissenschaften hat man es nicht nur meistensmit einer Vielzahl interagierender Ursachen zu tun, oftkann man auch kaum unterscheiden, was Ursache undwas Wirkung ist. Mit anderen Worten: Die Auswirkun-gen von Rückkopplungen und die Existenz vielfälti-ger Wechselwirkungen müssen ebenfalls berücksich-tigt werden.

    Die folgende Fallstudie veranschaulicht, dass un-serKonzeptkausalerBeziehungen auchdiekomplexenFaktoren der Existenz von Feedback, Interaktionsmus-tern und Zirkularität berücksichtigen muss.

    Fallbeispiel: Wahrnehmungvon Feindseligkeit

    Ein Junge mit einer gestörten Beziehung zu sei-nen Eltern in seiner Vorgeschichte missdeutet dasVerhalten seiner Spielkameraden regelmäßig alsfeindselig. Um der vermeintlichen Feindseligkeitzu begegnen, entwickelt er Abwehrstrategien; bei-spielsweise reagiert er mit Zurückweisung aufFreundlichkeit anderer, da er diese als Herablas-sung empfindet. Als Reaktion auf das schwierigeBetragen des Jungen reagiert sein Umfeld defen-siv, feindselig und wiederum zurückweisend, wasdie verzerrte Wahrnehmung des Jungen bestätigtund verstärkt. Auf diese Weise wird jede Gelegen-heit für umgekehrte Erfahrungen und neue Lern-prozesse zunichte gemacht und verwandelt sichin eine weitere Begegnung mit einem Umfeld, daskonstant feindselig zu sein scheint – was genau aufder Linie der Erwartungen des Jungen liegt.

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  • 3.1 Abweichendes Verhalten: Ursachen und Risikofaktoren

    3.1.3 Diathese-Stress-Modelle

    Viele der in diesem Kapitel behandelten Sichtweisenoder Modelle abweichenden Verhaltens haben gemein-sam, dass man sie als Diathese-Stress-Modelle betrach-tenkann.EinePrädisposition fürdieEntwicklungeinerbestimmten Störung bezeichnet man als Diathese oderVulnerabilität. Siekann dasErgebnis biologischer, psy-chosozialer und/oder soziokultureller kausaler Ursa-chen sein. Die hier behandelten Betrachtungsweisenbetonen normalerweise die Bedeutung jeweils andererDiathesen. Es wird angenommen, dass sich viele psy-chische Störungen als Ergebnis des Einwirkens einesStressors auf eine Person entwickeln, die eine Diathesefür diese Störung aufweist. Aus diesem Grund werdenwir die Diathese-Stress-Modelle abweichenden Ver-haltens hier eingehender behandeln (siehe beispiels-weise Meehl, 1962; Monroe & Simons, 1991; siehe In-gram&Luxton,2004, füreineaktuelleÜbersicht). IndieTerminologie der weiter oben beschriebenen Arten vonkausalen Ursachen übersetzt, ist die Diathese eine rela-tiv distale notwendige oder beitragende Bedingung, je-doch im allgemeinen nicht hinreichend für das Auftre-tenderStörung.Stattdessen istdasAuftreteneineseherproximalen unerwünschten Ereignisses oder einer Si-tuation (des Stressors) zwingend nötig; dieser Stressorkann auch als beitragende oder notwendige Ursachefungieren, ist jedoch für sich allein bei Personen ohnedieDiathese inderRegelnichthinreichend,umdieStö-rung auszulösen.

    Stress bedeutet die Reaktion eines Individuumsauf Anforderungen, die seine persönlichen Ressour-cen stark beanspruchen oder übersteigen (Folkman &Moskovitz, 2004; Lazarus, 1993) und wird in Kapitel 5eingehend behandelt. Er tritt normalerweise dann auf,wenn ein Individuum chronisch oder episodisch un-erwünschte Ereignisse erlebt. Auf das Vorliegen einerDiathese oder Vulnerabilität wird normalerweise erstgeschlossen, nachdem stressbehaftete Umweltbedin-gungenbereitszuunangepasstemVerhalten geführt ha-ben. Die Dinge werden dadurch noch komplizierter,dass Faktoren, die zur Entwicklung einer Diathese bei-tragen, manchmal selbst sehr starke Stressoren sind.Beispielsweise kann ein Kind, das den Tod eines El-ternteils erlebt, eine Prädisposition oder Diathese fürDepressionen in seinem späteren Leben entwickeln.

    Es wurden mehrere Theorien darüber aufgestellt,wie eine Diathese und Stress zusammenwirken könn-ten, um eine Störung hervorzurufen (Ingram & Lux-ton, 2004; Monroe & Simons, 1991). Gemäß dem so-genannten additiven Modell reicht bei Individuen miteiner starken Diathese bereits ein geringes Ausmaß an

    Stress, bevor sie eine Störung entwickeln; bei Indivi-duenmiteiner schwachenDiathese istdagegenein sehrhohes Maß an Stress erforderlich. Mit anderen Worten:Wenn Diathese und Stress aufsummiert werden und ei-ner dieser Faktoren hoch ist, kann der andere niedrigsein und umgekehrt. Eine Person mit keiner oder einersehr schwachen Diathese kann also dennoch eine Stö-rung entwickeln, wenn sie wirklich starkem Stress aus-gesetzt wird. Ein anderer Ansatz wird im sogenanntenInteraktionsmodell vertreten: Diesem Modell zufolgemusseinegewisseDiathese vorliegen,bevorStress sichauswirken kann. Laut diesem Modell wird eine Personohne Diathese also niemals eine Störung entwickeln,egal,wievielStress sieausgesetztwird.EinePerson miteiner Diathese wird demgegenüber mit zunehmenderMenge an Stress eine steigende Auftretenswahrschein-lichkeit für die Störung zeigen. Auch komplexere Mo-delle sind möglich, da Diathesen unterschiedlich starkausgeprägt sein können. Diese Möglichkeiten sind in�Abbildung 3.2 dargestellt.

    Seit den späten Achtziger Jahren des letzten Jahr-hunderts richtete sich zunehmend Aufmerksamkeitauf das Konzept protektiver Faktoren – Einflüsse, diedie Reaktion einer Person auf umweltbedingten Stressin einer Weise modifizieren, die das Auftreten der ne-gativen Konsequenzen von Stress unwahrscheinlichermacht (Cicchetti & Garmezy, 1993; Masten, 2001; Mas-ten et al., 2004; Rutter, 1985). Ein wichtiger protekti-ver Faktor während der Kindheit ist das Vorhanden-sein eines sozialen Umfeldes, in dem sich mindestenseine nahe Bezugsperson gegenüber dem Kind liebevollund unterstützend verhält. Dies ermöglicht die Ent-wicklungeiner starkenBindungzwischen KindundEl-ternteil (Masten & Coatsworth, 1998). Allerdings sindprotektive Faktoren nicht immer die Folge angeneh-mer Erfahrungen: Tatsächlich können erfolgreich be-wältigte Stresserfahrungen oft die Entwicklung vonSelbstbewusstsein oder Selbstwertschätzung begüns-tigen und so als protektiver Faktor wirken; somit för-dern manche Stressoren paradoxerweise das Coping.Diese „Abhärtung“ ist bei mittleren Stressoren wahr-scheinlicher als bei schwachen oder extrem starkenStressoren (Barlo, 2002a; Hetherington, 1991; Rutter,1987). Manche protektiven Faktoren haben überhauptnichts mit vorangegangenen Erfahrungen zu tun, son-dern sind schlicht und einfach ein Merkmal oder eineEigenschaft der Person, dabei finden sich durchaus ge-schlechtsspezfische Unterschiede (Rutter, 1982). An-dere protektive Eigenschaften sind ein frohes Gemüt,hohe Selbstwertschätzung, hohe Intelligenz und guteSchulleistungen (Masten, 2001; Masten & Coatsworth,1998; Rutter, 1987).

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  • 3 Kausale Faktoren und Sichtweisen

    (a)

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    Stressintensität

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    Stressintensität

    hoch

    niedrig

    starke Diathese

    mittlere Diathese

    keine Diathese

    (b)

    Abbildung 3.2: Diathese-Stress-Modelle. (a) Interaktionsmodell des Zusammenwirkens von Diathese und Stress. (b) Additives Modell des Zu-sammenwirkens von Diathese und Stress.Quelle: S. M. Monroe und A. D. Simons (1991). Diathesis-stress theories in the context of life stress research: Implications for the depressive disorders. PsychologicalBulletin, 110, 406–414.

    Auch wenn ein Kind unter schwierigen Bedingungen aufwächst, kannes vor den Auswirkungen von Problemen im späteren Leben geschütztsein. Voraussetzung hierfür ist eine Beziehung zu einem Erwachsenen,wie beispielsweise der Großmutter, in der das Kind Liebe und Unter-stützung erfährt. Die zentralen Elemente einer solchen liebevollen undunterstützenden Beziehung sind, dass die erwachsene Person die Kinderzum Fragen ermuntert, sich ihre Probleme und Sorgen anhört und ver-sucht, die Konflikte und Widrigkeiten im Leben des Kindes zu verstehen.

    Protektive Faktoren führen darüber hinaus oft, abernicht immer, zur Resilienz – der Fähigkeit, sich auchan sehr schwierige Umstände anzupassen. Ein Beispielist ein Kind, das sich in der Schule bemüht und guteNoten hat, obwohl seine Eltern drogenabhängig sindoder es schlagen (Garmezy, 1993; Luthar, 2003; Masten,2001).DerBegriffResilienz wurdehierbeizurBeschrei-bung dreier bestimmter Phänomene benutzt: „(1) guteEntwicklung trotz risikobehafteter Umstände, (2) fort-

    bestehende Kompetenz unter Bedrohung und (3) Erho-lung von Traumata“ (Masten, Best & Garmezy, 1990,S. 426). Eine alltägliche Umschreibung der Resilienzist es, „die Schwierigkeiten zu meistern“, die einemim Weg stehen. Es gibt zunehmende Belege dafür, dassKinder mit intakten mentalen Adaptionsfähigkeitenviele risikoreiche Umstände gut bewältigen können. Indiesem Zusammenhang sind Faktoren wie Intelligenzund kognitive Entwicklung, Fähigkeit zur Selbstregu-lation, Motivation zur Weiterentwicklung und kompe-tente Erziehung von Bedeutung (Masten, 2001). Pro-bleme treten in der Regel erst dann auf, wenn einesoder mehrere dieser Adaptationssysteme von Anfangan schwach ausgeprägt sind (zum Beispiel niedrigeIntelligenz), ein starker Stressor eines oder mehrereder Systeme beschädigt (wie beispielsweise der Todeines Elternteils) oder wenn das Ausmaß der Bedro-hung die menschliche Adaptationsfähigkeit bei Wei-tem übersteigt (wie im Falle chronischer Traumatisie-rung in Kriegssituationen oder chronischer Misshand-lung in dysfunktionalen Familien; Cicchetti, 2004; Ci-cchetti & Toth, 2005; Masten & Coatsworth, 1998). Essollte jedoch ebenfalls beachtet werden, dass Resilienznicht als Alles-oder-Nichts-Fähigkeit betrachtet wer-den kann. Einige Forschungsergebnisse zeigen, dassauch resiliente Kinder (also solche, die trotz starkemStress hohe soziale Kompetenz zeigen) gelegentlichvon subjektiv erlebter hoher emotionaler Belastung be-richten. Darüber hinaus können Kinder, die hohe Re-silienz in einem Bereich zeigen, deutliche Schwierig-

    78

  • 3.1 Abweichendes Verhalten: Ursachen und Risikofaktoren

    keiten mit der Entwicklung von Resilienz in anderenBereichen zeigen (Luthar, Doernberger & Zigler, 1993).

    Insgesamt kann man zwischen zwei Arten von Ur-sachen abweichenden Verhaltens unterscheiden: Sol-chen, die innerhalb einer Person liegen und Teil derbiologischen Voraussetzungen oder die Folge der vor-angegangenen Erfahrungen der Person sind (diese be-zeichnet man als Diathesen, Vulnerabilitäten oder Prä-dispositionen), und solchen, die auf aktuelle Problemeim Leben einer Person folgen (Stressoren). Typischer-

    weise sind weder Diathese noch Stress für sich alleinausreichend, um eine Störung hervorzurufen, doch inder Kombination können sie manchmal zum Auftretenvon abweichendem Verhalten führen. Ebenfalls einewichtige Rolle spielen protektive Faktoren, die entwe-der auf bestimmte Erfahrungen oder manche Eigen-schaften der Person zurückgehen und Resilienz ange-sichts von Vulnerabilität und Stress fördern können.Das folgende hypothetische, doch absolut plausibleSzenario, veranschaulicht diese Konzepte sehr schön.

    Fallbeispiel: Angeboren oder anerzogen

    Melinda und Tracy sind eineiige Zwillinge, deren El-tern bei einem Autounfall ums Leben kamen, als dieKinder ein Jahr alt waren. Mutter und Großmutterder Mädchen haben jeweils wiederkehrende Pha-sen schwerer Depression in ihrer Vorgeschichte. DieKinder wurden von zwei liebevollen Mittelklasse-familien adoptiert, in denen bisher keine Fälle vonDepression aufgetreten waren. Melindas Adoptiv-familie bot ihr ein liebevolles und unterstützendesUmfeld und half ihr durch Schule und College. Tra-cys Adoptiveltern hingegen ließen sich bald nachder Adoption scheiden, und sie wuchs bei der Mut-ter auf, die eine schwere Alkoholabhängigkeit ent-wickelte und nicht in der Lage war, einer geregeltenBeschäftigung nachzugehen. Da das Leben der Mut-ter zunehmend aus den Fugen geriet, musste Tracy

    viermal die Schule wechseln. Aufgrund ihrer Alko-holabhängigkeit und anderer psychischer Problemekonnte die Mutter Tracy kein konsistent liebevol-les und unterstützendes Umfeld bieten, und sie be-strafte Tracy oft grundlos, wenn sie betrunken war.Tracy schaffte es dennoch irgendwie, ihren High-School-Abschluss zu bekommen, und absolvierteein Studium an einem staatlichen College. SowohlTracy als auch Melinda heirateten bald nach ihremAbschluss am College, aber beide ließen sich im Al-ter von 27 Jahren wieder scheiden. In den sechs Wo-chennachderScheidungentwickelteMelindaeinigeSymptome einer Depression. Diese waren jedochnicht schwerwiegend und sie erholte sich schnell.Tracy hingegen erlebte eine massive Depressions-phase, die über ein Jahr andauerte.

    In diesem Beispiel haben Tracy und Melinda identi-sche genetische Voraussetzungen und somit dieselbegenetische Diathese für Depression. Beide waren dem-selben distalen Stressor (Tod der Eltern im frühen Kin-desalter), und demselben proximalen Stressor (Schei-dung im Alter von 27 Jahren) ausgesetzt. Jedoch gabes in Melindas Umfeld viele protektive Faktoren, wäh-rend sie aufwuchs (liebende und unterstützende Fami-lie und angemessene Ressourcen), die Tracy verwehrtblieben (Fehlen einer liebevollen und unterstützendenMutter und unzureichende Ressourcen). So zeigte Me-linda Resilienz angesichts ihrer Scheidung, Tracy hin-gegen nicht.

    Wir werden in den folgenden Kapiteln sehen, dassunterschiedliche Modelle abweichenden Verhaltensunterschiedliche Diathesen und unterschiedlicheStressoren als Ursachen abweichenden Verhaltensidentifizieren – und ebenso unterschiedliche protek-tive Faktoren als Ursache für die Ausprägung vonResilienz trotz widriger Umstände.

    IndieserErörterungmuss insbesonderehervorgehobenwerden, dass Diathese-Stress-Modelle im übergeord-neten Rahmen von multikausalen Entwicklungsmo-dellen zu sehen sind. Dies bedeutet, dass ein Kind imVerlauf seinerEntwicklung zahlreichen Risikofaktorenausgesetzt sein kann, deren Zusammenwirken mögli-cherweise zu einem bestimmten Risiko für das Auftre-ten psychischer Störungen führt. Diese Risikofaktoreninteragieren jedoch auch mit einer Vielzahl protektiverFaktoren (manchmal auch mit Stressoren) und bestim-men so, ob das Kind sich in der Kindheit, währenddes Heranwachsens und im Erwachsenenalter normalund adaptiv entwickelt – oder ob abweichendes Ver-halten und psychische Störungen auftreten werden(siehe beispielsweise Masten, 2001; Rutter, 2001). Esist weiterhin wichtig, dass man für die Einsicht, wasgenau eigentlich „abweichend“ ist, ein gutes Verständ-nis der normalen menschlichen Entwicklung braucht.Das rasch wachsende Forschungsgebiet der Psycho-pathologie der Entwicklung untersucht anhand des

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  • 3 Kausale Faktoren und Sichtweisen

    Vergleichs und der Kontrastierung eines Zustandesmit den normalen und zu erwartenden entwicklungs-bedingten Veränderungen, was genau an jedem Punktder Entwicklung als abweichend anzusehen ist (siehezumBeispielRutter,2001).SokannbeispielsweiseeineausgeprägteFurchtvorderDunkelheitbei3–5-Jährigennicht als abweichend angesehen werden, da die meis-ten Kinder mindestens eine spezifische Furcht aufwei-sen, die sie bis ins frühe Jugendalter begleitet (Antonyet al., 1997; Barlow, 2002a). Eine intensive Furcht vorder Dunkelheit, die bei einem Schüler oder Studentenzu erheblicher Belastung und Vermeidungsverhaltenführt, wäre hingegen als Phobie zu betrachten.

    WIEDERHOLUNGSFRAGEN

    � Was ist eine notwendige Ursache, was eine hinreichendeund was eine beitragende Ursache?

    � Was ist das Diathese-Stress-Modell abweichenden Ver-haltens?

    � Geben Sie eine Definition der Begriffe protektiver Faktorund Resilienz mit Beispielen.

    � Erläutern Sie, warum Diathese-Stress-Modelle im Prinzipmultikausale Entwicklungsmodelle sind.

    Sichtweisen der Ursachenabweichenden Verhaltens 3.2Viele Studierende empfinden es als verwirrend, dassin den Verhaltenswissenschaften oft mehrere konkur-rierende Erklärungen für dieselben Sachverhalte exis-tieren. Allgemein ausgedrückt: Je komplexer das unter-suchte Phänomen ist, desto mehr Sichtweisen werdensich beim Versuch seiner Erklärung entwickeln – ob-wohl zwangsläufig nicht alle zutreffend sein können.In jedem Fall hilft eine bestimmte theoretische Sicht-weise dem Wissenschaftler dabei, seine Beobachtun-genzuorganisieren;darüberhinaus liefert sieeinDenk-schema, in das die beobachteten Daten eingeordnetwerden können, und legt bestimmte Schwerpunkte fürweitere Untersuchungen und Behandlung nahe. Aufsehr fundamentale Weise hilft sie auch bei der Bestim-mung der Arten potenzieller Ursachen, die stets zuerstuntersucht werden. Hierbei ist jedoch zu bedenken,dass jede Sichtweise ein theoretisches Konstrukt ist,das zu dem Zweck entwickelt wurde, Psychologen beider Untersuchung abweichenden Verhaltens eine Ori-entierungshilfe zu bieten. Dies führt möglicherweisezu dem Problem, dass die Anhänger einer bestimmtenSichtweise zu viel Vertrauen in deren Validität haben

    und in der Folge blind für alternative Interpretationenwerden.

    Wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, leistete Sig-mund Freud einen wichtigen Beitrag dazu, den Be-trachtungsschwerpunkt der Klinischen Psychologievon biologischen Krankheiten oder fehlender mora-lischer Standfestigkeit auf unbewusste mentale Pro-zesse innerhalb der Person zu lenken. In jüngster Zeithaben bei der Untersuchung abweichenden Verhal-tensscheinbardreiweitereVerlagerungenvonBetrach-tungsschwerpunkten parallel stattgefunden. Zuerst istein neuer biologischer Ansatz zu nennen, der leichtvonfrüherenTheorienabweicht;dieser istmittlerweiledie einflussreichste Kraft in der Psychiatrie und ziehtauch in der allgemeineren klinischen Forschung weiteKreise. Zweitens haben sich die behavioristischen undkognitiv-behavioristischen Sichtweisen für mancheempirisch orientierten Klinischen Psychologen sowieeinige Psychiater zu sehr einflussreichen Paradigmenentwickelt. Drittens hat eine soziokulturelle Sicht-weise unter Psychologen und Psychiatern, die sichfür die Auswirkungen soziokultureller Faktoren aufabweichendes Verhalten interessieren, an Bedeutunggewonnen. Langfristig gesehen weiß man jedoch ausbiologischen, psychosozialen und soziokulturellenForschungen, dass wahrscheinlich nur ein integrier-ter Ansatz etwas liefern kann, das einem umfassen-den Verständnis der Ursachen verschiedener Formenpsychischer Erkrankungen oder einer Möglichkeit zulangfristig wirksamer Behandlung nahekommt. In denletzten Jahren sind viele Theoretiker zu dem Schlussgekommen, dass nur eine integrative biopsychosozialeSichtweise der Tatsache Rechnung tragen kann, dassbiologische, psychosoziale und soziokulturelle Fakto-ren allesamt interagieren und eine Rolle bei der Psy-chopathologie und ihrer Behandlung spielen.

    Vor diesem Hintergrund wenden wir uns nun denwichtigsten theoretischen Sichtweisen zu. Wir werdenzunächst die Kernideen jeder Sichtweise darlegen, ge-folgt von Informationen über Versuche, ihre Validitätzu evaluieren. Schließlich werden wir jeweils die Ar-ten von kausalen Faktoren beschreiben, die in jedemder Modelle besonders betont werden.

    WIEDERHOLUNGSFRAGEN

    � Wie heißen die drei traditionellen Sichtweisen, die dieUntersuchung abweichenden Verhaltens in den letztenJahren dominiert haben?

    � Was ist das zentrale Konzept hinter der aktuelleren bio-psychosozialen Sichtweise?

    80

  • 3.3 Die biologische Sichtweise und biologische kausale Ursachen

    Die biologische Sichtweiseund biologische kausaleUrsachen 3.3Wiewir inKapitel2beiderBeschreibungderprogressi-venParalyseundihresZusammenhangsmitderSyphi-lis gesehen haben, werden psychische Störungen lautder traditionellen biologischen Sichtweise als Krank-heiten betrachtet, wobei viele der primären Symptomekognitiv, emotional oder verhaltensbezogen sind. Psy-chische Störungen werden hier also als Erkrankungendes zentralen Nervensystems, des autonomen Nerven-systems und/oder des endokrinen Systems betrachtet,dieentwederpathologischeProzessebegleitenoderde-ren direkte Folge sind. Früher hofften die Anhängerdieser Sichtweise, einfache biologische Erklärungenfür psychische Störungen zu finden. Heute sind sichdie meisten Klinischen Psychologen und Psychiater ei-nig, dass solche Erklärungen selten einfach sind, undviele erkennen an, dass psychosoziale und soziokultu-relle Faktoren ebenfalls eine Rolle spielen.

    Biologische oder organische Komponenten er-kannte man zuerst bei den Störungen, die mit Zerstö-rungen von Hirngewebe einhergehen. Diese Störungensind neurologische Störungen – das bedeutet, sie sinddie Folge einer Beeinträchtigung der Gehirnfunktiondurch physische oder biochemische Einflüsse, und siebewirken oft Veränderungen in der Psyche oder imVerhalten. So kann beispielsweise eine Schädigungbestimmter Hirnareale einen Gedächtnisverlust verur-sachen, und schlaganfallbedingte Schädigungen derlinken Gehirnhälfte können Depressionen nach sichziehen.

    Nichtsdestotrotz werden die meisten psychischenStörungen nicht per se durch neurologische Schädenverursacht. So kann beispielsweise ein biochemischesUngleichgewicht im Gehirn ohne Schädigung desNervengewebes psychische Störungen verursachen.Darüber hinaus können die Inhalte von Wahnvorstel-lungen und anderen abweichenden psychischen Zu-ständen wie Halluzinationen niemals auf einfache unddirekte Weise durch Schädigungen des Gehirns verur-sacht werden. Betrachten Sie beispielsweise eine Per-son mit Schizophrenie oder progressiver Paralyse, diebehauptet, Napoleon zu sein. Der Inhalt solcher Wahn-vorstellungen muss das Nebenprodukt der funktiona-len Integration unterschiedlicher neuronaler Struktu-ren sein, von denen einige durch die Persönlichkeitund Lernprozesse auf der Grundlage vorausgegange-

    � Ungleichgewichte des Neurotransmitter- und Hormon-haushalts im Gehirn

    � Genetische Vulnerabilitäten� Temperament� Cerebrale Dysfunktion und neuronale Plastizität

    Abbildung 3.3: Biologische kausale Faktoren

    ner Erfahrungen (beispielsweise die, gelernt zu haben,wer Napoleon war) „programmiert“ wurden.

    Wir werden uns hier auf vier Kategorien von biologi-schen Faktoren konzentrieren, die besonders relevantfür die Entwicklung abweichenden Verhaltens zu seinscheinen: (1) Ungleichgewichte des Neurotransmitter-und Hormonhaushalts im Gehirn, (2) genetisch be-dingte Vulnerabilitäten, (3) Temperament und (4) cere-brale Dysfunktion und neuronale Plastizität. Jede die-ser Kategorien umfasst eine Anzahl von Zuständen, diedie Eigenschaften und die Funktion unseres Körpersbeeinflussen. Oft sind diese Zustände nicht unabhän-gig voneinander, und sie treten bei verschiedenen Per-sonen oft in unterschiedlicher Kombination auf.

    3.3.1 Ungleichgewichte desNeurotransmitter- undHormonhaushalts

    Damit das Gehirn angemessen funktionieren kann,müssenNeuronen(oderNervenzellen) in derLage sein,effizient miteinander zu kommunizieren. Der Ort derKommunikation zwischen dem Axon eines Neuronsund den Dendriten oder dem Zellkörper eines anderenNeurons ist die Synapse – ein winziger, mit Flüssig-keit gefüllter Spalt zwischen den Neuronen. Die inter-neuronalen Übertragungen werden durch Neurotrans-mitter bewerkstelligt – chemische Substanzen, diebei einem Nervenimpuls vom präsynaptischen Neu-ron in den synaptischen Spalt freigesetzt werden (fürDetails siehe „Aus der Forschung 3.1: Neuronale Über-tragung“). Es gibt viele verschiedene Arten von Neu-rotransmittern; manche erhöhen die Wahrscheinlich-keit dafür, dass das postsynaptische Neuron „feuern“(einen Nervenimpuls hervorbringen) wird, und an-dere hemmen den Nervenimpuls. Ob die neuronaleBotschaft erfolgreich zum postsynaptischen Neuronübertragen wird, hängt unter anderem von der Kon-zentration bestimmter Neurotransmitter innerhalb derSynapse ab.

    81

  • 3 Kausale Faktoren und Sichtweisen

    A U S D E R F O R S C H U N G 3 . 1Neuronale Übertragung und abweichendes Verhalten

    Ein Nervenimpuls, der im Grunde ein elektrischer Im-puls ist, breitet sich vom Zellkörper eines Neurons (ei-ner Nervenzelle) entlang des Axons aus. Obwohl je-des Neuron nur ein Axon hat, haben Axone an ihremEnde Verzweigungen namens Axonendigungen oderEndknöpfchen. Dies sind die Stellen, an denen Neu-rotransmitter in eine sogenannte Synapse freigesetztwerden – einen winzigen, flüssigkeitsgefüllten Spaltzwischen dem Endknöpfchen eines Neurons (dem prä-synaptischen Neuron) und dem Dendriten oder demZellkörper eines anderen Neurons (dem postsynapti-schen Neuron). Somit ist die Synapse der Ort neuro-naler Übertragung, also der Kommunikation zwischenNeuronen. Die daran beteiligten Neurotransmitter sindin synaptischen Vesikeln nahe den Endknöpfchen ge-speichert. Wenn ein Nervenimpuls ein Endknöpfchenerreicht, bewegen sich die synaptischen Vesikel zurpräsynaptischen Membran des Axons und setzen dieNeurotransmittersubstanz in die Synapse frei. Darauf-

    Nervenimpuls (elektrisch)

    Axon

    Axon

    Axon

    Zellkörper (Soma)

    Zellkörper (Soma)

    Dendriten

    Dendriten

    Dendrit oder Zellkörper

    Zellkern

    Endknöpfchen

    Endknöpfchen (Axonendigungen)

    Nervenimpuls

    Synapse

    Synapse

    Rezeptoren

    Vesikel setzen Neurotransmitter freifreigesetzte Neurotransmitter übertragen chemische Botschaft

    elektrischer Impuls wird ausgelöst oder gehemmt

    Neurotransmitter in Vesikeln

    Monoaminooxidase zersetzt Neurotransmitterpostsynaptisches Neuron

    postsynaptisches Neuronpräsynaptisches Neuron

    präsynaptisches Neuron

    Synapse (vergrößert)

    hin wirken die in die Synapse freigesetztenNeurotrans-mitter an der postsynaptischen Membran des Dendri-ten oder Zellkörpers des postsynaptischen Neurons, wosich spezialisierte Rezeptoren befinden, durch die dieNeurotransmitter ihre Information weitergeben. In derFolge lösen die Rezeptoren die Antwort der empfan-genden Zelle aus. Die Neurotransmitter können entwe-der das postsynaptische Neuron dazu anregen, einenNervenimpuls abzugeben, oder sie können die neuro-nale Übertragung hemmen. Beide Arten von neuronalerÜbertragung sind wichtig. Nachdem die Neurotransmit-tersubstanz in die Synapse freigesetzt wurde, bleibt siedort jedoch nicht für immer (sonst würde daspostsynap-tische Neuron trotz des Fehlens eines präsynaptischenNervenimpulses weiterfeuern). Manchmal werden dieNeurotransmitter von einem Enzym wie Monoamino-oxidase rasch zerstört, und manchmal werden sievon einem „Wiederaufnahme“-Mechanismus in Vesikelim synaptischen Endknöpfchen zurückbefördert – ein

    Reabsortionsprozess, bei dem dasEndknöpfchen die Neurotransmit-ter praktisch wieder aufsaugt. DasEnzym Monoaminooxidase liegtauch im präsynaptischen End-knöpfchen vor und kann dort über-mäßig produzierte Neurotransmit-ter zerstören.

    Zahlreiche Formen der Psycho-pathologie sind mit verschiede-nen Ungleichgewichten von Neu-rotransmittern und mit verändertenEmpfindlichkeiten der Rezeptorenassoziiert; daher ist es nicht überra-schend, dass viele der zur Behand-lung dieser Störungen verwende-ten Medikamente an der Synapseansetzen. Die Wirkung dieser Me-dikamente basiert dann beispiels-weise auf einer Erhöhung oder Sen-kung der Konzentration mancherNeurotransmitter im synaptischenSpalt, was entweder durch eineHemmung des Wiederaufnahme-prozesses oder durch eine Wirkungauf die Enzyme, die normalerweisedie Neurotransmittersubstanz zer-setzen, erreicht werden kann.

    Ungleichgewichte von Neurotransmittern

    DieÜberzeugung,dasseinNeurotransmitter-Ungleich-gewicht im Gehirn zu abweichendem Verhalten füh-

    ren kann, ist heute einer der grundlegenden Lehr-sätze der biologischen Sichtweise. Allerdings ist einNeurotransmitter-Ungleichgewicht nach einhelligerMeinung der meisten Forscher nur ein Teil der Ätio-

    82

  • 3.3 Die biologische Sichtweise und biologische kausale Ursachen

    logie der meisten Störungen, denn es kann manch-mal bereits durch psychischen Stress hervorgebrachtwerden. Biologisch gibt es mehrere Mechanismen, dieein Neurotransmitter-Ungleichgewicht hervorbringenkönnen (siehe die Abbildung in „Aus der Forschung3.1: Neuronale Übertragung“):

    � Der Neurotransmitter kann im Übermaß produziertund in den synaptischen Spalt freigesetzt werden,wodurch dort eine zu große Menge des betreffendenNeurotransmitters vorliegt.

    � Es können Dysfunktionen in den Prozessen auftre-ten, durch die Neurotransmitter nach ihrer Freiset-zung in den synaptischen Spalt normalerweise de-aktiviert werden. Diese Deaktivierung vollzieht sichentweder durch eine Wiederaufnahme des Neuro-transmitters aus dem synaptischen Spalt in das syn-aptische Endknöpfchen, oder durch die Zersetzungdurch bestimmte Enzyme, die in dem synaptischenSpalt und im präsynaptischen Endknöpfchen vor-handen sein können.

    � Schließlich können auch Störungen in den Rezep-toren des postsynaptischen Neurons auftreten, wo-durch diese entweder abnorm empfindlich oder ab-norm unempfindlich werden.

    Neuronen, die empfindlich für einen bestimmten Neu-rotransmitter sind, liegen tendenziell räumlich dichtbeieinander und bilden neuronale Bahnen zwischenverschiedenen Teilen des Gehirns, die als chemi-sche Schaltkreise bezeichnet werden. Wie wir spä-ter sehen werden, scheinen verschiedene Störun-gen die Folge unterschiedlicher Neurotransmitter-Ungleichgewichte in unterschiedlichen Gehirnarealenzu sein (siehe beispielsweise Lambert & Kinsley, 2005;Thompson, 2000). Außerdem wird angenommen, dassdie Wirkung verschiedener medikamentöser Behand-lungen auf einer Korrektur dieser Ungleichgewichtebasiert. Beispielsweise scheint das oft gegen Depres-sion verschriebene Medikament Fluctin die Wieder-aufnahme von Serotonin zu verlangsamen und so dieZeit zu verlängern, die das Serotonin in der Synapseverweilt (siehe Kapitel 7 und 17).

    Obwohl bis heute über einhundert verschiedeneNeurotransmitter entdeckt wurden, sind vier Grup-pen davon besonders eingehend auf ihre Verbindungmit psychopathologischen Zuständen hin untersuchtworden: (1) Noradrenalin, (2) Dopamin, (3) Serotoninund (4) Gammaaminobuttersäure (auch als „GABA“bekannt; Lambert & Kinsley, 2005; Thompson, 2000).Die ersten drei gehören zu einer Klasse von Neuro-transmittern, die als sogenannte Monoamine bezeich-

    net werden, da sie metabolisch jeweils aus einer ein-zigen Aminosäure gebildet werden und eine Amino-gruppe enthalten (Monoamin bedeutet „eine Amino-gruppe“). Noradrenalin wird eine wichtige Rolle beiden Notfallreaktionen zugeschrieben, die unser Kör-per in akuten stressbehafteten oder gefährlichen Situa-tionen zeigt (siehe Kapitel 5 und 6). Dopamin spielteine Rolle bei der Schizophrenie (siehe Kapitel 14) undbei Suchtkrankheiten (siehe Kapitel 12). Serotonin hatwichtige Effekte auf die Art, wie wir denken und Infor-mationen aus unserer Umwelt verarbeiten (siehe bei-spielsweise Meneses, 1999, 2001), und auch auf unserVerhalten und unsere Stimmungslage. Somit ist es we-nig überraschend, dass es auch eine Rolle bei emotio-nalen Störungen wie Angststörungen und Depressionspielt, die in Kapitel 6 und 7 eingehender behandeltwerden. Gammaaminobuttersäure wird in Kapitel 6 er-örtert; dieser Neurotransmitter ist nicht nur stark ander Angstreduktion beteiligt, sondern ebenso an ande-renemotionalenZuständen,die vonhoherErregungge-kennzeichnet sind.

    Hormonelle Ungleichgewichte

    Einige Formen der Psychopathologie stehen mit einemhormonellen Ungleichgewicht in Verbindung. Hormo-ne sind chemische Botenstoffe, die von einer Reiheendokriner Drüsen in unserem Körper ausgeschüttetwerden. Jede endokrine Drüse produziert eine eigeneGruppe von Hormonen und setzt diese frei, worauf-hin sie sich durch den Blutkreislauf ausbreiten undverschiedene Teile des Gehirns und des Körpers be-einflussen. Unser zentrales Nervensystem ist mit demendokrinen System verbunden (im sogenannten neu-roendokrinen System), und zwar durch den Einflussdes Hypothalamus auf die Hirnanhangdrüse (auch alsHypophyse bezeichnet; siehe �Abbildung 3.4), diezentraleDrüsedesmenschlichenKörpers;dieseprodu-ziert eine Reihe von Hormonen, die die anderen endo-krinen Drüsen regulieren oder kontrollieren.

    Besonders wichtige hormonelle Interaktionen fin-den in der Hypothalamisch-Hypophysär-Adrenalen-Achse (HPA-Achse) statt.DieAktivierungdieserAchseumfasst:

    1 Botschaften werden in Form des Corticotropin-Re-leasing-Hormons (auch CRH, Corticotropin Releas-ing Factor/CRF, Corticoliberin) vom Hypothalamusan die Hypophyse übermittelt.

    2 Als Reaktion auf das CRH setzt die Hirnanhang-drüse das Adrenocorticotrope Hormon (ACTH)frei, das den corticalen Teil des Nebennierenmarks

    83

  • 3 Kausale Faktoren und Sichtweisen

    Hypothalamus

    Hypophyse

    Eierstöcke (bei der Frau)

    Bauchspeicheldrüse

    Hoden (beim Mann)

    Gonaden

    Schilddrüse

    Nebennieren

    Abbildung 3.4: Wichtige Drüsen im endokrinen System. Diese Ab-bildung zeigt einige der wichtigsten Drüsen des endokrinen Systems,die Hormone produzieren und in den Blutkreislauf freisetzen. Ebenfallsdargestellt ist die Hypothalamisch-Hypophysär-Adrenale-Achse (blauePfeile). Hypothalamus und Hirnanhangdrüse sind eng verbunden, undder Hypothalamus schickt periodisch hormonelle Signale an die Hirnan-hangdrüse (die zentrale Drüse des Körpers), die ihrerseits ein anderesHormon an den corticalen Teil des Nebennierenmarks (an der Spitze derNiere) sendet und so die Ausschüttung von Adrenalin und dem Stress-hormon Cortisol auslöst.

    (auf der Spitze der Niere) dazu anregt, Adrena-lin und das Stresshormon Cortisol zu produzieren.Cortisol versetzt den Körper in die Lage, Stress zubewältigen.

    3 Das Cortisol liefert wiederum negatives Feedbackan den Hypothalamus und die Hirnanhangdrüse,um deren Freisetzung von CRH und ACTH herab-zusetzen, was seinerseits die Freisetzung von Ad-renalin und Cortisol hemmt. Dieses System nutztalso negatives Feedback, ähnlich wie ein Thermo-stat bei der Temperaturregulierung.

    Wie später erläutert werden wird, sind Fehlfunktionendieses negativen Rückkopplungs-Systems an vielenFormen der Psychopathologie beteiligt, wie beispiels-weise an Depression und der posttraumatischen Be-lastungsstörung. Auch Ungleichgewichte in den Sexu-alhormonen (wie den männlichen Sexualhormonen,den Androgenen), die in den Gonaden gebildet wer-den, können zu abweichendem Verhalten beitragen.

    Darüber hinaus scheinen die Einflüsse der Gonaden-hormoneaufdieEntwicklungdeszentralenNervensys-tems zu einigen der Unterschiede zwischen Männernund Frauen in Bezug auf das Verhalten beizutragen(siehe beispielsweise Collaer & Hines, 1995; Hayward,2003; Money & Ehrhardt, 1972).

    3.3.2 Genetische Vulnerabilitäten

    Die oben beschriebenen biochemischen Prozesse wer-den ihrerseits durch Gene beeinflusst, die aus sehrlangkettigenDNA-Molekülenbestehenund sichanver-schiedenen Orten auf Chromosomen befinden. Chro-mosomen sind die kettenähnlichen Strukturen inner-halb des Zellkerns, die die Gene beherbergen. Genesind die Träger genetischer Information, die wir vonunseren Eltern und anderen genetischen Vorfahren er-ben. Obwohl weder das Verhalten noch psychischeStörungen ausschließlich von den Genen bestimmtwerden, gibt es starke Belege dafür, dass bei den meis-ten psychischen Störungen zumindest ein gewisser ge-netischer Einfluss vorhanden ist, der manchmal auchsehr stark sein kann (siehe zum Beispiel Jang, 2005;Plomin, DeFries et al., 2001). Einige genetische Ein-flüsse, wie grobe Merkmale des Temperaments, sindbereits bei Neugeborenen und Kindern offensichtlich.So sind manche Kinder von Natur aus eher schüch-tern und ängstlich, während andere eher kontaktfreu-dig sind (siehe beispielsweise Carey & DiLalla, 1994;Kagan, Snidman, McManis & Woodward, 2001). Diegenetischen Ursprünge anderer Vulnerabilitäten hin-gegen manifestieren sich erst im Heranwachsenden-oder Erwachsenenalter; dem Alter, in dem die meistenpsychischen Störungen erstmalig auftreten.

    Normale menschliche Zellen haben 46 Chromoso-men, die das genetische Material beinhalten. Diesesenkodiert das Spektrum an Möglichkeiten für die Ent-wicklung und das Verhalten während der Lebens-spanne (siehe�Abbildung 3.5). Das normale Erbmate-rial besteht aus 23 Chromosomenpaaren, wobei jeweilsein Chromosom innerhalb eines Paares von der Mutterund eines vom Vater stammt. 22 dieser Chromosomen-paare bestimmen durch ihre biochemische Wirkungdie allgemeinen anatomischen und physiologischenMerkmale. Das verbleibende Paar, das Geschlechts-chromosom, bestimmt das Geschlecht des Individu-ums. Bei einer Frau sind beide Geschlechtschromoso-men – eines von jedem Elternteil – X-Chromosomen.Bei Männern ist das Geschlechtschromosom von derMutter ein X-Chromosom, das vom Vater jedoch einY-Chromosom.

    84

  • 3.3 Die biologische Sichtweise und biologische kausale Ursachen

    Abbildung 3.5: Menschliche Chromo-somenpaare. Ein menschlicher Mann hatnormalerweise 22 Autosomen (Chromoso-menpaare, die nicht zu den Geschlechts-chromosomen oder Gonosomen gehören),ein X- und ein Y-Chromosom.

    Entwicklungsgenetische Forschungen haben gezeigt,dass Abweichungen in der Struktur oder der Anzahlder Chromosomen mit schweren Gebrechen oder Stö-rungen assoziiert sind. So ist das Down-Syndrom, wel-ches mit einer geistigen Behinderung und physischenMerkmalen wie einer schräg stehenden Lidachse undeinerMuskelhypotonieeinhergehenkann, dieFolgeei-nerTrisomie.EineTrisomie ist eineGruppevondreian-stelle von zwei Chromosomen, die im Falle des Down-Syndroms im 21. Chromosom vorliegt; nähere Infor-mationen zu diesem Thema finden sich in Kapitel 16.Beim Down-Syndrom ist das überzählige Chromosomdie primäre Ursache der Krankheit.

    Auch in den Geschlechtschromosomen können An-omalien vorliegen und eine Vielzahl von Komplika-tionen verursachen, wie beispielsweise mehrdeutigeGeschlechtsmerkmale. Fortschritte in der Forschunghaben uns in die Lage versetzt, chromosomale Abwei-chungenschonvorderGeburtzuentdecken, sodasswirjetzt ihre Auswirkungen auf die weitere Entwicklungund das Verhalten untersuchen können.

    Persönlichkeitsmerkmale und psychische Störun-gen werden jedoch typischerweise nicht per se vonchromosomalen Abnormalitäten beeinflusst, sondernvon Abnormalitäten in einigen der Gene auf den Chro-mosomen. Obwohl man oft davon hört, dass „das Gen“für eine bestimmte Störung nun gefunden worden sei,sindVulnerabilitäten fürpsychischeStörungenfast im-mer polygenisch, was bedeutet, dass sie von multiplenGenen beeinflusst werden. Mit anderen Worten, einePerson mit einer genetischen Vulnerabilität hat nor-malerweise eine große Anzahl von Genen geerbt, die

    in ihrer Gesamtheit fehlerhaftes Erbgut repräsentierenund auf irgendeine additive oder interaktive Art undWeise zusammenwirken (siehe unter anderem Plomin,1990; Plomin et al., 2001). Diese fehlerhaften Gene kön-nenbeispielsweisezustrukturellen Abnormalitäten imzentralenNervensystem,zuFehlern inderRegulierungder Hirnchemie und des hormonellen Gleichgewichtsoder zu übermäßig starken oder schwachen Antwortendes vegetativen Nervensystems führen, das an der Re-gulierung vieler emotionaler Reaktionen beteiligt ist.

    In der Klinischen Psychologie manifestieren sichgenetische Einflüsse selten in einer einfachen undüberschaubaren Weise. Der Grund ist, dass das Ver-halten, anders als manche physischen Eigenschaf-ten wie die Augenfarbe, nicht ausschließlich durchdie genetische Ausstattung determiniert wird: Es iststattdessen ein Produkt der Interaktion des Organis-mus mit der Umwelt. Mit anderen Worten, die Genekönnen das Verhalten nur indirekt beeinflussen. Die„Genexpression“ ist normalerweise nicht einfach dieFolge der in der DNA enkodierten Informationen, son-dern stattdessen das Endprodukt eines kompliziertenProzesses, der von der internen (auch intrauterinen)und externen Umgebung kontrolliert wird. Tatsäch-lich können Gene als Reaktion auf Umwelteinflüssewie Stress „angeschaltet“ oder „abgeschaltet“ werden(siehe beispielsweise Dent, Smith & Levine, 2001; Jang,2005; Sanchez, Ladd & Plotsky, 2001).

    DiespezifischenMerkmale dergenetischenAusstat-tung variieren erheblich. Außer bei eineiigen Zwillin-gen beginnen keine zwei Menschen das Leben mit der-selben genetischen Ausstattung. Vererbung liefert also

    85

  • 3 Kausale Faktoren und Sichtweisen

    nicht nur die Möglichkeiten für Entwicklung und Ver-halten, die typisch für die Spezies sind, sondern istauch eine wichtige Quelle interindividueller Unter-schiede. Vererbung bestimmt nicht die BesonderheitenmenschlichenVerhaltens, sonderndieBandbreiten, in-nerhalb derer charakteristisches Verhalten durch um-weltbedingte oder experimentelle Einflüsse verändertwerden kann. Beispielsweise kann ein mit einer Dispo-sition für Introvertiertheit zur Welt gekommenes Kindsich zu einer mehr oder weniger introvertierten Personentwickeln, abhängig von vielen verschiedenen Erfah-rungen während des Heranwachsens, doch es ist un-wahrscheinlich, dass es jemals wirklich extrovertiertsein wird.

    Die Beziehung zwischen Genotyp und Phänotyp

    Die vollständige genetische Ausstattung einer Personwird als ihr Genotyp bezeichnet. Die beobachtetenstrukturellen und funktionalen Merkmale, die aus derInteraktionzwischen dem Genotyp und der Umwelt re-sultieren, bilden den sogenannten Phänotyp. In man-chen Fällen übt eine genotypische Vulnerabilität, diebei der Geburt gegeben ist, ihren Einfluss auf den Phä-notyp erst viel später in der Lebensspanne aus. In vie-len anderen Fällen formt der Genotyp die Umwelter-fahrungeinesKindesundbeeinflusstdenPhänotypaufeine andere wichtige Weise. Beispielsweise könnte einKind mit einer genetischen Prädisposition für aggressi-vesVerhaltenvonseinenFreundenindenerstenSchul-jahren eben wegen derartigen Verhaltens zurückgewie-sen werden. Diese Zurückweisung kann dazu führen,dass das Kind sich in späteren Schuljahren mit ähn-lich aggressiven und straffälligen Kindern abgibt, waszu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für ein vollstän-dig kriminelles Verhalten im Jugendalter führt. Wennder Genotyp die Umwelterfahrungen eines Kindes aufdiese Weise formt, spricht man von einer Genotyp-Umwelt-Korrelation.

    Genotyp-Umwelt-Korrelation

    Forscher haben drei bedeutende Wege entdeckt, wieder Genotyp eines Individuums dessen Umwelt beein-flussen kann (Jang, 2005; Plomin et al., 2001; Scarr &McCartney, 1983).

    � Der Genotyp kann aufgrund der genetischen Ähn-lichkeit zwischen Eltern und Kindern einen soge-nannten passiven Effekt auf die Umwelt ausüben.Beispielsweise könnten hochintelligente Eltern ih-rem Kind ein hochgradig anregendes Umfeld bieten

    und so eine Umgebungssituation schaffen, die mitder genetischen Ausstattung des Kindes für hohe In-telligenz in positiver Weise interagiert.

    � Der Genotyp des Kindes kann bestimmte Reaktio-nen im sozialen und physischen Umfeld hervor-rufen – dies ist ein sogenannter evokativer Effekt.Beispielsweise rufen fröhliche Babys positivereReaktionen von anderen hervor als passive, unemp-fängliche Babys (Lytton, 1980). Ebenso können mu-sikalisch talentierte Kinder in der Schule für beson-dere Förderung ausgewählt werden (Plomin et al.,2001).

    � DerGenotypkanneinen aktivenEinflussauf dieFor-mung der Umwelt ausüben – ein sogenannter akti-ver Effekt. In diesem Fall sucht sich das Kind einewesensverwandte Umwelt oder baut sie sich auf,was man auch als „Nischenbildung“ bezeichnet. Sokönnten extrovertierte Kinder die Gesellschaft an-derer Kinder suchen und dadurch ihre vorhandeneTendenz zu kontaktfreudigem Verhalten verstärken(Baumrind, 1991; Plomin et al., 2001).

    Genotyp-Umwelt-Interaktion

    An den gerade erörterten Genotyp-Umwelt-Korrelatio-nen wird deutlich, welche Effekte die Gene auf denEinfluss eines Kindes auf seine Umwelt haben können.Dieser Vorgang wird jedoch interessanterweise nochdurch die Tatsache verkompliziert, dass Menschen mitunterschiedlichen Genotypen unterschiedlich emp-findlich oder empfänglich für Umwelteinflüsse seinkönnen; dies bezeichnet man als Genotyp-Umwelt-Interaktion. Ein wichtiges Beispiel zeigt sich an einerKrankheit namens Phenylketonurie (PKU; siehe Kapi-tel 16). Kinder mit PKU reagieren in anderer Weise alsnormale Kinder auf alltägliche Lebensmittel, die Phe-nylalanin enthalten, da sie diese Aminosäure nicht zuTyrosin abbauen können und ein Überangebot an Phe-nylalanin das Gehirn schädigt (Jang, 2005; Plomin etal., 2001). Glücklicherweise kann die Intelligenzmin-derung verhindert werden, wenn das Kind vom Säug-lingsalter an bis zum Abschluss der Hirnreifung eineDiät einhält, in der Nahrungsmittel, die Phenylalaninenthalten, vermieden werden.

    Ein weiteres Beispiel für eine Interaktion zwischenGenotyp und Umwelt sind Menschen, die ein gene-tisches Risiko für Depression aufweisen. In Studienkonnte gezeigt werden, dass Menschen mit einer ge-netischen Prädisposition mit höherer Wahrscheinlich-keit eine Depression als Reaktion auf stressbehafteteLebensereignisse entwickeln als Menschen ohne diese

    86

  • 3.3 Die biologische Sichtweise und biologische kausale Ursachen

    Prädisposition, die genau denselben Einflüssen ausge-setzt sind (Kendler, Kessler et al., 1995; Moffitt, Caspi& Rutter, 2005; Silberg, Rutter, Neale & Eaves, 2001).In einer wegweisenden Studie mit fast 850 Probanden,die seit ihrem dritten Lebensjahr beobachtet wurden,fanden die Forscher Belege für eine Genotyp-Umwelt-Interaktion. An dieser waren zwei Varianten eines be-stimmten Gens beteiligt, das eine Rolle bei der Über-tragung des Neurotransmitters Serotonin spielt. DasVorhandensein jederderbeiden Varianten imErbgutei-ner Person beeinflusste im Vergleich zur anderen dieWahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer klini-schen Depression zwischen dem 20. und 30. Lebens-jahr, jedoch nur in Verbindung mit Stress (Caspi, Sug-den, Moffitt et al., 2003). Spezifisch hatten Individuenmit einer Variante des Gens (dem kurzen Allel), dievierodermehrstarkenStressorenausgesetzt waren,diedoppelte Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einerDepression gegenüber Individuen mit der anderen Va-riante des Gens, die ebenfalls vier oder mehr starkenStressorenausgesetztwaren (sieheKapitel7 fürweitereInformationen). Seit damals konnte dieses Ergebnis-muster in vier weiteren Studien repliziert werden, undin lediglich einer publizierten Studie schlug die Repli-kation der Ergebnisse fehl (siehe Moffitt et al., 2005).

    Methoden für die Untersuchung genetischerEinflüsse

    Obwohl langsam erste Erfolge bei der Identifizierungfehlerhaften Erbguts erzielt werden, ist man doch größ-tenteils noch nicht in der Lage, einen Zusammenhangzwischen spezifischen Gendefekten und psychischenStörungen herzustellen. Daher basieren die meisten In-formationen in Bezug auf die Rolle genetischer Fakto-ren nicht auf der Untersuchung von Genen, sondernauf Untersuchungen an miteinander verwandten Per-sonen. In der Verhaltensgenetik , die sich auf die Verer-bung psychischer Störungen und anderer Aspekte derpsychischen Funktionen des Menschen konzentriert,werden traditionell drei Hauptmethoden angewendet:(1) die Untersuchung der Familiengeschichte, (2) dieZwillingsforschung und (3) Adoptionsforschung. Injüngerer Zeit wurden zwei weitere Methoden entwi-ckelt, die sogenannten Kopplungsanalysen und Asso-ziationsanalysen.

    Die Untersuchung der Familiengeschichte erfor-dert es, dass ein Forscher stichprobenartig Verwandtejedes Probanden (dem Subjekt, oder Träger des be-treffenden Merkmals beziehungsweise der betreffen-den Störung) beobachtet, um zu prüfen, ob die Inzi-denz proportional zum Verwandtschaftsgrad wächst.

    Zusätzlich wird die Inzidenz des Merkmals in derNormalbevölkerung zur Kontrolle mit derjenigen beiden Verwandten der Probanden verglichen. Der größteNachteil dieser Methode liegt darin, dass Personen, dieeine größere genetische Ähnlichkeit aufweisen, in derRegel auch ähnlichere Umfelder haben; dadurch wirdes schwierig, genetische und umweltbedingte Effektezu trennen.

    Die Zwillingsforschung ist der zweite Ansatz zurUntersuchung genetischer Einflüsse auf abweichen-des Verhalten. Eineiige (monozygote) Zwillinge ha-ben dieselbe genetische Ausstattung, da sie sich auseiner einzigen Zygote, oder befruchteten Eizelle, ent-wickeln. Wenn eine bestimmte Störung oder ein be-stimmtes Merkmal also komplett erblich bedingt wäre,so müsste die Konkordanzrate – die Rate an Zwillin-gen, die die Störung oder das Merkmal gemeinsam ha-ben – bei 100 Prozent liegen. Das heißt, wenn ein ein-eiiger Zwilling eine bestimmte Störung hätte, so hätteder andere sie ebenfalls. Es gibt im DSM-IV-TR jedochkeine Formen der Psychopathologie, die derart hoheKonkordanzraten bei eineiigen Zwillingen aufweisen;man kann also mit Sicherheit sagen, dass keine psychi-sche Störung ausschließlich erblich bedingt ist. Wiewir jedoch sehen werden, gibt es relativ hohe Konkor-danzraten für einige häufige und schwere Formen derPsychopathologie bei eineiigen Zwillingen. Diese Kon-kordanzraten sind besonders bedeutsam, wenn sie sichvon denen von zweieiigen Zwillingen unterscheiden.Zweieiige (dizygote) Zwillinge haben nicht mehr gene-tische Gemeinsamkeiten als andere Kinder von dem-selben Elternpaar, da sie sich aus zwei verschiedenenbefruchteten Eizellen entwickeln. Man kann also beiStörungen mit einer starken genetischen KomponenteniedrigereKonkordanzratenbeizweieiigen (ZZ)gegen-über eineiigen (EZ) Zwillingen erwarten. Somit kön-nen also Erkenntnisse über die genetische Übertragungeines Persönlichkeitsmerkmals oder einer Störung ge-wonnenwerden, indemmandieKonkordanzratenzwi-schen eineiigen und zweieiigen Zwillingen vergleicht.Beidenmeistender imFolgendenerörterten Störungensind die Konkordanzraten bei zweieiigen Zwillingenbedeutend niedriger als bei eineiigen Zwillingen.

    Einige Forscher haben argumentiert, dass höhereKonkordanzraten in Bezug auf eine bestimmte Störungbei eineiigen gegenüber zweieiigen Zwillingen keinschlüssigerBeweis für einen genetischen Einflusssind,da immer die Möglichkeit besteht, dass eineiige Zwil-lingevonihrenElternauchinähnlicherer Weisebehan-delt werden als zweieiige Zwillinge (Bouchard & Prop-ping, 1993; Torgersen, 1993). Jedoch gibt es ziemlichstarke Belege dafür, dass genetische Ähnlichkeit wich-

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  • 3 Kausale Faktoren und Sichtweisen

    Eineiige Zwillinge, die an der Minnesota Study of Twins Reared Apartan der Universität von Minnesota teilgenommen haben (hier mit Dr.Nancy Segal, einer der Leiterinnen des Forschungsprojekts). Mark New-man (links) und Gerry Levey (rechts) wurden bei der Geburt getrennt undvon verschiedenen Eltern aufgezogen. Beide leisteten – in zwei verschie-denen Städten in New Jersey – aufopferungsvolle Arbeit als Feuerwehr-leute und trafen sich, nachdem einer der beiden auf einem Treffen vonFeuerwehrleuten für den anderen gehalten worden war. Beide hattenhochgradig ähnliche Haarausfallmuster und waren etwas über 1,90 mgroß. Sie tranken beide gern Budweiser-Bier (wobei sie beim Trinkenjeweils den kleinen Finger unter die Dose hielten) und mochten gernchinesisches und italienisches Essen. Beide waren Raucher, bis einer vonbeiden kürzlich das Rauchen aufgegeben hatte. Auch gingen beide gernjagen und fischen und trugen stets ein Messer bei sich. Solche geradezuunheimlichen Ähnlichkeiten zwischen getrennt aufgezogenen Zwillin-gen wurden auch in vielen weiteren Fällen beobachtet (Segal, 2005).

    tiger ist als die Ähnlichkeit im Verhalten der Eltern(siehe z. B. Hettema, Neale & Kendler, 1995; Jang, 2005;Plomin et al., 2001). Um eine ideale Untersuchungdes Einflusses genetischer Faktoren auf die Psycho-pathologie durchführen zu können, benötigt man ein-eiigeZwillinge,die getrenntvoneinander insehrunter-schiedlichen Umgebungen aufgewachsen sind. Leiderist es extrem schwierig, solche Zwillinge zu finden (inden USA beispielsweise gibt es wahrscheinlich nur einpaar Hundert Paare), und so wurden nur einige wenigekleine Studien durchgeführt.

    Die dritte Methode der Untersuchung genetischerEinflüsse ist die Adoptionsforschung. Bei einer Vari-ante dieser Methode werden die biologischen ElternvonIndividuenmiteinerbestimmtenStörung (diekurznach der Geburt adoptiert wurden) mit den biologi-schen Eltern von Personen ohne diese Störung (dieebenfalls kurz nach der Geburt adoptiert wurden) ver-glichen, um jeweils die Erkrankungsraten zu bestim-men. Wenn es einen genetischen Einfluss gibt, so soll-ten sich höhere Erkrankungsraten bei den biologischenVerwandten von Personen mit der Störung als bei de-

    nen der Personen ohne die Störung zeigen. Bei eineranderen Variante vergleichen die Forscher die Erkran-kungsraten in Bezug auf eine bestimmte Störung beiden in andere Familien adoptierten Kindern von El-tern, die selbst an einer bestimmten Störung leiden, mitdenen von in andere Familien adoptierten Kinder vonnormalen Eltern. Wenn es einen genetischen Einflussgibt, so sollten sich bei den in andere Familien adop-tierten Kindern von Eltern, die an dieser Störung lei-den, höhere Erkrankungsraten zeigen.

    Natürlich gibt es bei der Auswertung jeder dieserMethoden Schwierigkeiten. Wenn allerdings alle dreiMethoden in einer Studie angewendet wurden unddie Ergebnisse konvergieren, lassen sich einigermaßensichere Rückschlüsse bezüglich des genetischen Ein-flusses auf eine Störung ziehen (Plomin et al., 2001;Rutter, 1991). Einige der Fehlannahmen über geneti-sche Studien und Psychopathologie werden im Kasten„Fortschritte des Denkens 3.2“ behandelt.

    Die Trennung von genetischen undumweltbedingten Einflüssen

    Da jede der drei Arten von Vererbungsstudien dieVererbung bis zu einem gewissen Grad von der Um-welt trennt, erlauben sie auch die Untersuchung desEinflusses von umweltbedingten Faktoren, und so-gar die Unterscheidung zwischen „gemeinsamen“ und„individuellen“Umwelteinflüssen (Jang,2005;Plomin& Daniels, 1987; Plomin et al., 2001). Gemeinsame Um-welteinflüsse sind solche, die alle Kinder innerhalb ei-ner Familie gleichermaßen betreffen, wie Mangel anWohnraum, Armut und manchmal Familienstreitig-keiten. Individuelle Umwelteinflüsse sind solche, indenen sich verschiedene Kinder aus derselben Fami-lie unterscheiden. Diese beinhalten einzigartige Erfah-rungen in der Schule und außerdem einzigartige Merk-male des häuslichen Umfelds, wie wenn die Eltern einKind qualitativ anders behandeln als ein anderes. EinBeispiel wären streitende und sich einander gegenüberfeindselig verhaltende Eltern, die einige Kinder in ih-ren Konflikt hineinziehen, während andere Kinder inder Lage sind, sich rauszuhalten (Plomin et al., 2001;Rutter et al., 1993). Bei vielen wichtigen psychischenEigenschaften scheinen individuelle Umwelteinflüssegrößeres Gewicht zu haben – das bedeutet, die Erfah-rungen, die spezifisch für ein Kind sind, können dasVerhalten und die Einstellungen dieses Kindes mehrbeeinflussen als die Erfahrungen, die alle Kinder in derFamilie machen (Jang, 2005; Plomin et al., 2001; Rutter,1991).

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  • 3.3 Die biologische Sichtweise und biologische kausale Ursachen

    F O R T S C H R IT T E D E S D E N K E N S 3 .2Gene, Umwelt und Psychopathologie: Eine neue Betrachtung eines alten Themas

    Es gibt reichlich Fehlannahmen und Stereotypen überStudien des genetischen Einflusses auf Verhalten, Per-sönlichkeitsmerkmale und Psychopathologie. Einigeder wichtigeren werden hier dargestellt (Plomin et al.,2001; Rutter, 1991; Rutter et al., 1993).

    1 Fehlannahme: Starke genetische Effekte bedeutenzwangsläufig, dass Umwelteinflüsse unbedeutendsind. Tatsache: Selbst bei Persönlichkeitsmerkma-len oder Störungen mit einer starken genetischenKomponente können Umwelteinflüsse einen gravie-renden Einfluss auf ihre Ausprägung haben. Körper-größe beispielsweise ist in hohem Maße genetischdeterminiert, dennoch haben ernährungsbedingteFaktoren einen starken Einfluss auf die tatsächli-che Körpergröße, die eine Person erreicht. Zwischen1900 und 1960 stieg die durchschnittliche Körper-größe bei Jungen in London nur durch verbesserte Er-nährung um etwa zehn Zentimeter (Tizard, 1975).

    2 Fehlannahme: Gene bestimmen die Grenze des Ent-wicklungspotenzials. Tatsache: Das Potenzial kannsich ändern, wenn sich die Umgebung ändert, wiedas obenstehende Beispiel mit der Körpergröße ver-anschaulicht. Ein weiteres Beispiel sind Kinder aussozial benachteiligten Familien, die adoptiert undvon sozial bevorteilten Eltern aufgezogen werden.DieseKinderhabeneinenimDurchschnitt12Punktehöheren IQ als die Kinder, die im sozial benachtei-ligten Umfeld aufgezogen wurden (Capron & Duyme,1989; Plomin et al., 2001).

    3 Fehlannahme: Genetische Strategien sind sinnlosfür die Untersuchung von Umwelteinflüssen. Tat-sache: Das Gegenteil trifft zu, da genetische For-schungsstrategien kritische Prüfungen der Umwelt-einflüsse auf Persönlichkeit und Psychopathologiedarstellen. Beispielsweise veranschaulicht die Tat-sache, dass eineiige Zwillinge zwar identische Genehaben, die Konkordanzraten aber dennoch unter100 Prozent legen, die Bedeutung von Umweltein-flüssen, besonders von denen getrennter Umgebun-gen (Bouchard & Loehlin, 2001; Jang, 2005; Plominet al., 2001).

    4 Fehlannahme: Gene und Umwelt wirken getrenntvoneinander. Tatsache: Genetische Effekte „wirken

    hauptsächlich durch ihren Effekt auf die Empfäng-lichkeit für Umwelteinflüsse“ (Rutter, 1991; S. 129).Beispielsweise entwickeln Kinder, die mit der Stoff-wechselkrankheit Phenylketonurie (PKU) geborenwurden, die Erkrankung nur, wenn sie durch ihreUmwelt mit phenylalaninhaltiger Nahrung versorgtwerden. Außerdem beeinflussen Gene die Erfahrun-gen,dieMenschenmachen.Dies istsofortoffensicht-lich, wenn man bedenkt, welchen Effekt Geschlecht,IQ und Temperament auf die Lebenserfahrungen ha-ben (Jang, 2005; Plomin et al., 2001).

    5 Fehlannahme: Genetische Effekte lassen mit zuneh-mendem Alter nach. Tatsache: Obwohl viele Leutedavon ausgehen, dass genetische Effekte bei der Ge-burt maximal sein sollten und Umwelteinflüsse mitzunehmendem Alter an Gewicht gewinnen, ist nunklar, dass dies nicht immer zutrifft (Carey, 2003;Plomin, 1986). In Bezug auf Körpergröße, Gewichtund IQ sind zweieiige Zwillinge sich in der frühenKindheit fast ebenso ähnlich wie eineiige Zwillinge,jedoch entwickeln die zweieiigen Zwillinge im Laufder Zeit größere Unterschiede. Aus unbekanntenGründen gewinnen viele genetische Einflüsse aufpsychologische Merkmale bis in die mittlere Kind-heit oder sogar bis ins junge Erwachsenenalter an Ge-wicht. Darüber hinaus zeigen sich andere genetischeEffekte erst im fortgeschrittenen Lebensalter, wie imFalle der Chorea Huntington, die in Kapitel 15 einge-hender behandelt wird.

    6 Fehlannahme: Störungen, die sich in Familien häu-fen, müssen genetisch bedingt sein, und solche, diesich nicht in Familien häufen, sind auf keinen Fallgenetisch bedingt. Tatsache: Es gibt viele Beweisegegen diese Fehlannahmen. Beispielsweise scheintsich juvenile Delinquenz in manchen Familien zuhäufen, und dennoch scheint dies eher an umwelt-bedingten denn an genetischen Einflüssen zu liegen(Plomin et al., 2001). Im Gegensatz dazu ist Autis-mus eine so seltene Erkrankung, dass sie nicht ge-häuft in Familien aufzutreten scheint (lediglich etwadrei Prozent aller Geschwister leiden an dieser Stö-rung), und dennoch scheint es sehr starke genetischeEinflüsse zu geben (Plomin et al., 2001; Rutter et al.,1993).

    Kopplungs- und Assoziationsanalysen

    Zwei der neueren molekulargenetischen Verfahren zurUntersuchung genetischer Einflüsse auf psychischeStörungen sind Kopplungsanalysen und Assoziations-analysen. Während die oben beschriebenen Methodenversuchen, das Ausmaß des genetischen Einflusses auf

    verschiedene Störungen quantitativ abzuschätzen, be-steht das Ziel von Kopplungs- und Assoziationsanaly-sen in der genauen Lokalisation von Genen, die für psy-chische Störungen verantwortlich sind. An derartigeForschungen sind große Erwartungen geknüpft, da dieBestimmung der Position der Gene für bestimmte Stö-

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  • 3 Kausale Faktoren und Sichtweisen

    rungen vielversprechende Hinweise für neue Behand-lungsformenundsogar fürdiePrävention dieserKrank-heiten liefern könnte.

    Kopplungsanalysen in Bezug auf psychische Stö-rungen konzentrieren sich auf einige derzeit bekannteLokalisationen von Genen auf Chromosomen, die fürandere ererbte physische oder biologische Merkmale(wie Augenfarbe, Blutgruppe etc.) verantwortlich sind.Beispielsweise könnten Forscher eine große Familien-studie zur Schizophrenie durchführen und dabei allebekannten Verwandten einer Person mit Schizophre-nie mehrere Generationen zurück durchleuchten. Zurselben Zeit könnten sie auch etwas wie die Augenfarbejeder Person erfassen (ebenso den diagnostischen Sta-tus). Die Augenfarbe könnte ausgewählt werden, weilsie einen bekannten genetischen Marker auf einem be-stimmten Chromosom besitzt. Wenn die Forscher nunherausfänden, dass die familiären Muster für Schizo-phrenie eng mit den familiären Mustern für die Au-genfarbe innerhalb desselben Familienzweiges zusam-menhängen, könnten sie schließen, dass ein Gen mitEinfluss auf Schizophrenie sehr nahe bei dem bekann-ten genetischen Marker für die Augenfarbe (also auchauf demselben Chromosom) liegen muss. Mit anderenWorten, in diesem Fall würde man also bei allen Mit-gliedern eines bestimmten Familienzweiges mit Schi-zophrenie dieselbe Augenfarbe (beispielsweise blau)erwarten, während alle Mitglieder eines anderen Fami-lienzweiges ohne Schizophrenie vielleicht braune Au-gen hätten.

    Obwohl eine Reihe der in den letzten 20 Jahren ver-öffentlichten Studien mittels Kopplungsanalysen Be-lege für beispielsweise die Lokalisation eines Gens fürdie bipolare Störung auf Chromosom 11 (siehe bei-spielsweise Egeland et al., 1987) und von Genen fürSchizophrenie auf bestimmten Teilen der Chromoso-men 22, 8, 6 und 1 (siehe zum Beispiel Heinrichs, 2001)lieferten, gelang es in zahlreichen anderen Studiennicht, diese Ergebnisse zu replizieren. Daher werdendie meisten Ergebnisse derzeit als nicht schlüssig er-achtet (siehe Carey, 2003; Jang, 2005). Die Probleme mitder Reproduzierbarkeit der Ergebnisse basieren zumTeil darauf, dass die meisten dieser Störungen von vie-len verschiedenen Genen beeinflusst werden, die aufdiverse Chromosomen verteilt sind. Bis heute warendie meisten Kopplungsanalysen am erfolgreichsten da-bei,diegenetischenEinflüsse beiKrankheiten wieCho-rea Huntington zu identifizieren, die sich auf den De-fekt eines einzigen Gens zurückführen lassen (Carey,2003; Plomin et al., 2001).

    Assoziationsanalysen beginnen mit einer großenGruppe von Individuen mit und ohne eine bestimmte

    Störung. Die Forscher vergleichen dann die Häufigkei-ten bestimmter genetischer Marker bei Personen mitund ohne diese Störung, von denen bekannt ist, dasssie sich auf bestimmten Chromosomen befinden (wieAugenfarbe,Blutgruppeetc.).Wenneineroder mehrerederbekanntengenetischenMarkerbeiPersonenmitderStörung viel häufiger auftritt als bei Personen ohne dieStörung, so kann daraus geschlossen werden, dass ei-nes oder mehrere der Gene mit Einfluss auf die Störungauf demselben Chromosom liegen. Ein idealer Start-punkt für diese Suche nach Genen mit Einfluss auf dieStörung sind bekannte Gene, die bei den an der Störungerkrankten Personen für das Zusammenbrechen ir-gendeines biologischen Prozesses verantwortlich sind(siehe Moffitt et al., 2005). So wurde beispielsweisein einer Studie festgestellt, dass die genetischen Mar-ker für bestimmte Aspekte des Dopaminstoffwechselsbei hyperaktiven Kindern signifikant häufiger auftre-ten als bei normalen Kindern. Dies führte die Forscherzu dem Schluss, dass einige der Gene, die Hyperakti-vität verursachen, nah an den bekannten genetischenMarkern für den Dopaminstoffwechsel lokalisiert sind(Thapar, Holmes, Poulton & Harrington, 1999; siehePlomin et al., 2001). Bei der Identifikation kleiner Ef-fekte irgendeines bestimmten Gens auf die meisten derpolygenisch verursachten psychischen Störungen sindAssoziationsanalysen erfolgversprechender als Kopp-lungsanalysen.

    Insgesamt bieten die beschriebenen molekularge-netischen Untersuchungen bei der Suche nach neuenPräventions-oderBehandlungsansätzenenorme Chan-cen. Da die Ergebnisse der Untersuchungen jedoch nursehr schwer zu replizieren sind, ist man von verwert-baren Resultaten noch weit entfernt.

    3.3.3 Temperament

    Der Begriff Temperament beschreibt die Reaktivitätund die charakteristischen Merkmale der Selbstregula-tion eines Kindes. Wenn von unterschiedlichem Tem-perament bei Säuglingen die Rede ist, so bezieht sichdies auf sichtbare Unterschiede in den charakteristi-schen emotionalen und physiologischen Erregungsre-aktionen auf unterschiedliche Stimuli sowie auf dieTendenz, sich bestimmten Erlebnissituationen zu nä-hern, sie zu vermeiden oder sich mit ihnen zu befas-sen (Rothbart, Derryberry & Hershey, 2000). MancheSäuglinge werden bereits durch leise Geräusche auf-geschreckt oder weinen schon, wenn ihnen die Sonneins Gesicht scheint; andere sind gegenüber solchenStimuli scheinbar völlig unempfindlich. Diese Verhal-

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  • 3.3 Die biologische Sichtweise und biologische kausale Ursachen

    tensweisen werden in hohem Maße von genetischenFaktoren beeinflusst, doch prä- und postnatale Um-weltfaktoren spielen ebenso eine Rolle bei ihrer Ent-wicklung (Goldsmith, 2003; Rothbart et al., 2000).

    Das frühkindliche Temperament wird als die Ba-sis der Persönlichkeitsentwicklung angesehen. Im Al-ter von etwa zwei bis drei Monaten lassen sich fünfgrobe Dimensionen des Temperaments identifizieren:Furchtsamkeit, Reizbarkeit und Frustration, positiverAffekt, Aktivität und Aufmerksamkeitsspanne; wo-bei einige dieser Eigenschaften sich später entwickelnals andere. Die später entwickelten scheinen mit dreiwichtigen Dimensionen der Persönlichkeit im Erwach-senenalter zusammenzuhängen: (1) Neurotizismusoder negative Emotionalität, (2) Extraversion oder po-sitive Emotionalität sowie (3) Zwang (Gewissenhaftig-keit und Liebenswürdigkeit; Rothbart & Ahadi, 1994;Watson, Clark & Harkness, 1994). Die Dimensionenvon Furchtsamkeit und Reizbarkeit beim Kind korre-spondieren mit dem Neurotizismus im Erwachsenen-alter – der Neigung zu negativem Affekt. Positiver Af-fekt und möglicherweise auch Aktivität im Kindesalterscheinen hingegen mit Extraversion im späteren Lebenin Zusammenhang zu stehen; die Aufmerksamkeits-spanne ihrerseits mit Zwang oder Selbstkontrolle. Zu-mindest einige Aspekte des Temperaments zeigen zwi-schen dem späten ersten Lebensjahr und der mittlerenKindheit eine gewisse Stabilität, obwohl das Tempera-ment sich auch ändern kann (siehe beispielsweise Foxet al., 2005; Kagan, 2003; Rothbart et al., 2000).

    Wie im Falle der Genotyp-Umwelt-Korrelation hatauch das Temperament eines Säuglings oder Klein-kindsstarkeAuswirkungenaufvielewichtigeEntwick-lungsprozesse (Rothbart & Ahadi, 1994; Rothbart et al.,2000). Ein Kind mit einem furchtsamen Temperamentbeispielsweise hat viele Gelegenheiten für eine klassi-sche Konditionierung der Furcht auf Furcht erregendeSituationen; später könnte es dann lernen, diese ge-fürchteten Situationen zu vermeiden. Neuere Befundelegen nahe, dass das Kind mit besonders hoher Wahr-scheinlichkeit eine Furcht vor sozialen Situationenentwickelt (Kagan, 2003; Schwartz, Snidman & Kagan,1999). Ein Kind mit einer niedrigen Schwelle für dasEmpfinden von Leid könnte lernen, seine Empfindun-gen zu regulieren, indem es das Ausmaß der Stimula-tion niedrig hält; ein Kind mit einem hohen Schwellehingegen könnte seine eigene Erregung noch aktiv stei-gern (Rothbart et al., 2000).

    Es ist nicht überraschend, dass das TemperamentauchdenWegfürdieEntwicklung verschiedensterFor-men der Psychopathologie im späteren Leben bereitet.So wurden beispielsweise Kinder, die in vielen Situa-

    Ein Kind mit einem furchtsamen und ängstlichen Temperament kannbereits unter kleinen Veränderungen in der Umwelt stark leiden; wennEltern es in einen Kindergarten bringen, wo es mit vielen anderen Kin-dern konfrontiert ist.

    tionen furchtsam waren, von Kagan und seinen Mit-arbeitern als verhaltensgehemmt bezeichnet. DiesesPersönlichkeitsmerkmal hat eine starke erbliche Kom-ponente (Kagan, 2003), und wenn es stabil ist, so istes ein Risikofaktor für die Entwicklung von Angststö-rungen in der späteren Kindheit und möglicherweiseauch im Erwachsenenalter (siehe zum Beispiel Fox etal., 2005; Kagan, 2003). Umgekehrt haben zweijährigeKinder mit hochgradig ungehemmtem Temperament,die kaum Furcht vor irgendetwas zeigen, später mögli-cherweiseSchwierigkeitenbeimErlernen sozialerNor-men von ihren Eltern oder der Gesellschaft (Frick et al.,2003;Rothbart,Ahadi &Evans,2000).Eskonntegezeigtwerden, dass diese Kinder im Alter von 13 Jahren einaggresiveres und delinquenteres Verhalten an den Taglegen (Schwartz, Snidman & Kagan, 1996). Wenn dannnoch ein feindseliges Umfeld hinzukommt, ist mögli-cherweise der Weg für die Entwicklung einer Verhal-tensstörung und antisozialen Persönlichkeitsstörungfrei (Harpur, Hart & Hare, 1993).

    3.3.4 Cerebrale Dysfunktion undneuronale Plastizität

    Wie bereits früher in diesem Kapitel erwähnt, sind spe-zifische Hirnläsionen mit beobachtbaren Schäden amNervengewebe nur sehr selten die primäre Ursachepsychiatrischer Störungen. In den letzten Jahrzehntengab es jedoch große Fortschritte im Verständnis dessen,wie subtilere Schädigungen der Struktur oder Funk-tion des Gehirns an psychischen Störungen beteiligt

    91

  • 3 Kausale Faktoren und Sichtweisen

    sind. Einige dieser Fortschritte basieren auf der bes-seren Verfügbarkeit moderner bildgebender Verfahrenzur Untersuchung von Struktur und Funktion des Ge-hirns (siehe Kapitel 4 für weitere Details). Diese undandere Verfahren haben gezeigt, dass die genetischenProgrammefürdieEntwicklungdesGehirnsnicht sori-gide und deterministisch sind, wie man früher glaubte(siehe beispielsweise Gottesman & Hanson, 2005; Nel-son & Bloom, 1997; Thompson & Nelson, 2001). Viel-mehr gibt es ein beträchtliches Ausmaß an neurona-ler Plastizität; der Fähigkeit des Gehirns, durch eineVeränderung der eigenen Organisation und/oder Funk-tionsweise flexibel auf prä- und postnatale Erfahrun-gen,Stress,Ernährung, Krankheiten,Drogen,Reifungs-prozesse und viele weitere Dinge zu reagieren. Da-beikönnenvorhandeneneuronale Schaltkreise modifi-ziert oder neue generiert werden (siehe beispielsweiseKolb, Gibb & Robinson, 2003), und die daraus resul-tierenden Effekte können – abhängig von den Umstän-den – für den betreffenden Menschen oder das Tier vor-teilhaft oder auch nachteilig sein.

    Ein Experiment an Ratten lieferte ein Beispiel fürpositive Effekte pränataler Erfahrungen: Wenn träch-tige Muttertiere die Tragezeit in komplexen und reich-haltigen Umgebungen verbracht hatten, waren ihreNachkommen widerstandsfähiger gegenüber den Aus-wirkungen von Hirnverletzungen in der frühen Ent-wicklung (Kolb et al., 2003). Die negativen Effektepränataler Erfahrungen zeigten sich in einem ande-ren Experiment, in dem trächtige Affenweibchen un-vorhersehbaren lauten Geräuschen ausgesetzt wur-den; die Nachkommen dieser Tiere zeigten daraufhingroße Nervosität im Verhalten und wiesen auch neuro-

    Umwelt (physikalisch,sozial, kulturell)

    Verhalten

    neuronale Aktivität

    genetische Aktivität

    Individuelle Entwicklung

    Bidirektionale Einflüsse

    Abbildung 3.6: Bidirektionale Einflüsse. Eine systemische Betrach-tungsweise der psychobiologischen Entwicklung.Quelle: Gilbert Gottlieb, aus Individual Development and Evolution:The Genesis ofNovel Behavior. New York: Oxford University Press, 1992. Nachdruck mit Geneh-migung von Lawrence Erlbaum Associates.

    chemische Abnormalitäten auf (insbesondere erhöhteSpiegel an zirkulierenden Katecholaminen; Schneider,1992). Zahlreiche postnatale Umwelteinflüsse könnensich ebenfalls auf die Hirnentwicklung bei Säuglingenund Kleinkindern auswirken (Nelson & Bloom, 1997;Thompson & Nelson, 2001). So wird beispielsweisedie Bildung neuer neuronaler Verbindungen (Synap-sen) nach der Geburt drastisch von den Erfahrungendes jungen Organismus beeinflusst (siehe unter ande-rem Greenough & Black, 1992; Rosenzweig et al., 2002).Derartige Auswirkungen der Umwelt auf das Nerven-system zeigen sich weiterhin im Vergleich von Ratten,die in reichhaltigen Umgebungen aufgezogen wurden,mit Ratten, die in reizarmen Umgebungen aufgezogenwurden: Die Ratten aus der reichhaltigen Umgebungverfügen nicht nur eine höhere Nervenzelldichte undgrößere Nervenzellen in einigen Bereichen des Cor-tex, sondern auch über mehr Synapsen pro Neuron.Da die neuronale Plastizität in gewissem Ausmaß überdie gesamte Lebensspanne hinweg gegeben ist, findendieselben neuronalen Veränderungen auch bei älterenTieren statt, wenn sie in eine reichhaltigere Umwelt ge-langen; allerdings in geringerem Ausmaß (siehe Lam-bert & Kinsley, 2005).

    Die Implikationen dieser Arbeiten führten zunächstzu der Forderung, Kindern ein möglichst reichhaltigesUmfeld zu bieten. In der Folge zeigte sich jedoch, dassnormale Lebensbedingungen in der Kindheit und für-sorgliche Eltern bereits optimal sind. Die tatsächlicheKernaussagederneuerenForschungsarbeiten ist s