27
Idee der Welt Zum Verhältnis von Welt und Bild nach Kant * Thomas Khurana Zusammenfassung Der Begriff der »Welt« hat, wenn wir darunter das »Ganze aller Erscheinungen« verstehen, nicht den Status eines Begriffs, dem ein Gegenstand der sinnlichen Anschauung korrespondieren könnte. Er fungiert vielmehr als transzendentale Idee. Eine solche Idee, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft als notwendig für die Vereinigung unserer Erfahrung bestimmt, lässt sich »niemals im Bilde entwerfen« und bleibt »ein Problem ohne alle Auflösung«. Die Antinomien der reinen Vernunft entspringen für Kant gerade daraus, dass man Ideen dieser Art als Begriffe von gegebenen Gegenständen missdeutet. Dass Welt sich gegen eine derartige Vergegenständlichung sperrt, bedeutet jedoch nicht, dass sie überhaupt nicht im Medium der Anschauung zur Darstellung käme. Der Beitrag geht anhand von Kants Kritik der Urteilskraft der Weise nach, wie die Idee der Welt auf Anschauung und Einbildungskraft bezogen ist und wie Welt im Medium anschaulicher Darstellung zur Artikulation und Reflexion kommt. If we think of the world as the »whole of appearances«, its concept is not of such a kind that an object of sensible intuition could correspond to it. It rather possesses the form of a transcendental idea. Such an idea that Kant has described in the Critique of Pure Reason as necessary for the unity of our experience »can never be projected in an image« and »remains a problem without any solution«. For Kant, the antinomies of pure reason spring from the fact that we misconceive of ideas of this sort as concepts for objects given as such. The fact that the concept of »world« resists this kind of reification does not, however, entail that the world is not presented in the medium of intuition at all. With regard to Kant’s Critique of Judgment, this paper investigates the complex relation of the idea of »world« to intuition and imagination and the ways in which this idea is articulated and reflected in the medium of intuitive presentation. Die besondere Prominenz und Karriere des Weltbegriffs schlägt sich nicht zuletzt in einer Kaskade von Komposita nieder, zu deren Bildung der Weltbegriff im Diskurs der Moderne Anlass gegeben hat: »Weltbürger«, »Weltbild«, »Weltgesellschaft« sind nur drei beliebige Beispiele, die zeigen, wie »Welt« sich als ein Gesichtspunkt aufdrängt, unter dem alles mögliche betrachtet werden kann. Die offene Serie solcher Komposita verweist nicht nur auf den Rang und die Konjunktur des Weltbegriffs, sondern gibt zugleich einen ersten Anhaltspunkt für seinen besonderen Charakter: »Welt« fungiert in diesen zusammengesetzten Ausdrücken wie eine Vorsilbe, die die nachgestellten Termini in ihrem Charakter modifiziert. Was »Welt« ist, erfahren wir in diesen Fällen nicht direkt durch das freistehende Wort, dem ein bestimmter Gegenstand korrespondieren würde, sondern durch jene Modifikation, die der Ausdruck »Welt« den mit ihm verknüpften Ausdrücken beibringt. Diese Modifikation kann man näherungsweise als die einer Erweiterung und Entgrenzung bestimmen – eine Erweiterung, um genauer zu sein, die den Charakter des durch sie Modifizierten * Manuskriptfassung. Die endgültige Fassung erscheint demnächst in: Soziale Systeme 18 (2012).

Khurana Idee der Welt 04 2013 · 2013. 4. 24. · Thomas Khurana Zusammenfassung Der Begriff der »Welt« hat, wenn wir darunter das »Ganze aller Erscheinungen« verstehen, nicht

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  •  

    Idee der Welt

    Zum Verhältnis von Welt und Bild nach Kant*

    Thomas Khurana

    Zusammenfassung Der Begriff der »Welt« hat, wenn wir darunter das »Ganze aller Erscheinungen« verstehen, nicht den Status eines Begriffs, dem ein Gegenstand der sinnlichen Anschauung korrespondieren könnte. Er fungiert vielmehr als transzendentale Idee. Eine solche Idee, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft als notwendig für die Vereinigung unserer Erfahrung bestimmt, lässt sich »niemals im Bilde entwerfen« und bleibt »ein Problem ohne alle Auflösung«. Die Antinomien der reinen Vernunft entspringen für Kant gerade daraus, dass man Ideen dieser Art als Begriffe von gegebenen Gegenständen missdeutet. Dass Welt sich gegen eine derartige Vergegenständlichung sperrt, bedeutet jedoch nicht, dass sie überhaupt nicht im Medium der Anschauung zur Darstellung käme. Der Beitrag geht anhand von Kants Kritik der Urteilskraft der Weise nach, wie die Idee der Welt auf Anschauung und Einbildungskraft bezogen ist und wie Welt im Medium anschaulicher Darstellung zur Artikulation und Reflexion kommt. If we think of the world as the »whole of appearances«, its concept is not of such a kind that an object of sensible intuition could correspond to it. It rather possesses the form of a transcendental idea. Such an idea that Kant has described in the Critique of Pure Reason as necessary for the unity of our experience »can never be projected in an image« and »remains a problem without any solution«. For Kant, the antinomies of pure reason spring from the fact that we misconceive of ideas of this sort as concepts for objects given as such. The fact that the concept of »world« resists this kind of reification does not, however, entail that the world is not presented in the medium of intuition at all. With regard to Kant’s Critique of Judgment, this paper investigates the complex relation of the idea of »world« to intuition and imagination and the ways in which this idea is articulated and reflected in the medium of intuitive presentation.

    Die besondere Prominenz und Karriere des Weltbegriffs schlägt sich nicht zuletzt in einer Kaskade

    von Komposita nieder, zu deren Bildung der Weltbegriff im Diskurs der Moderne Anlass gegeben

    hat: »Weltbürger«, »Weltbild«, »Weltgesellschaft« sind nur drei beliebige Beispiele, die zeigen, wie

    »Welt« sich als ein Gesichtspunkt aufdrängt, unter dem alles mögliche betrachtet werden kann. Die

    offene Serie solcher Komposita verweist nicht nur auf den Rang und die Konjunktur des

    Weltbegriffs, sondern gibt zugleich einen ersten Anhaltspunkt für seinen besonderen Charakter:

    »Welt« fungiert in diesen zusammengesetzten Ausdrücken wie eine Vorsilbe, die die nachgestellten

    Termini in ihrem Charakter modifiziert. Was »Welt« ist, erfahren wir in diesen Fällen nicht direkt

    durch das freistehende Wort, dem ein bestimmter Gegenstand korrespondieren würde, sondern

    durch jene Modifikation, die der Ausdruck »Welt« den mit ihm verknüpften Ausdrücken beibringt.

    Diese Modifikation kann man näherungsweise als die einer Erweiterung und Entgrenzung

    bestimmen – eine Erweiterung, um genauer zu sein, die den Charakter des durch sie Modifizierten

                                                                                                                   * Manuskriptfassung. Die endgültige Fassung erscheint demnächst in: Soziale Systeme 18 (2012).

  •  

    nicht selten in Frage stellt. Während ein Bürger gewöhnlich eine Person ist, die einem bestimmten

    Staat angehört und mithin anderen, von diesem Staat unterschiedenen Staaten nicht angehört,

    erscheint der Weltbürger als einer, der gleichsam jedem Staat angehört und mithin zugleich keinem

    im exklusiven Sinne zuzurechen ist. Während ein Bild paradigmatisch als die Darstellung eines

    bestimmten Gegenstands oder Sujets aufgefasst wird, der oder das von anderen möglichen

    Gegenständen oder Sujets zu unterscheiden ist, bezeichnet das Weltbild ein ›Bild‹ von einer

    Gesamtheit, das über die Darstellung jedes bestimmten Gegenstands hinausweist. Und während man

    von Gesellschaften nicht selten im Plural gesprochen hat, um soziale Assoziationen zu bezeichnen,

    die in irgend einer Weise zeitlich, territorial oder kulturell begrenzt sind, wird mit dem Terminus der

    Weltgesellschaft eine soziale Entität postuliert, die alle anderen sozialen Systeme in sich befasst und

    durch eine innere Unendlichkeit gekennzeichnet ist, die ihre gegenständliche Darstellung zum

    Problem macht. Durch das Attachieren von »Welt« scheint in diesem Sinne aus bestimmten und

    begrenzten Gegenständen etwas zu werden, was seiner üblichen Grenzen beraubt ist und was, sofern

    diese Grenzen konstitutiv für die betreffende Entität waren, seinen Sinn auf unabsehbare Weise

    ändert: Es ist nicht ganz einfach zu sagen, was aus einem »Bürger« wird, der keinem einzelnen Staat

    exklusiv angehört, was ein »Bild« sein könnte, das über jeden einzelnen Gegenstand hinausweist und

    die Gesamtheit von Gegenständen vorstellt, und was unter einer »Gesellschaft« zu verstehen ist, die

    sich nicht von anderen Gesellschaften unterscheidet. »Welt« zeigt sich in diesem Sinne, so scheint es,

    nicht direkt und an sich selbst als ein umgrenzter Gegenstand bestimmter Art, sondern zunächst an

    der Entgrenzung, Erweiterung und mithin zugleich an der Problematisierung von bestimmten

    Gegenständen, die in die Dimension der Welt gestellt werden.

    Ich will der Intuition, dass Welt keinen Gegenstand meint, sondern Gegenstände in eine

    entgrenzende Dimension stellt, im Folgenden genauer nachgehen, indem ich Kants Begriff der

    »Welt« aus der Kritik der reinen Vernunft untersuche. Kant bestimmt Welt dort nämlich in der Tat im

    Sinne eines Erweiterungsbegriffs, der sich zwar auf entscheidende Weise an den Gegenständen der

    Erfahrung zeigt, nicht aber selbst als Gegenstand der Erfahrung geben lässt. Diese

    Ungegenständlichkeit der Welt ist bei Kant auf enge Weise damit verknüpft, dass Welt in einem

    problematischen Verhältnis zu anschaulicher Darstellung steht und als operativer Begriff expliziert

    wird. Anhand von Kants Idee der Welt ergibt sich so eine besondere Möglichkeit, die Frage nach

    dem komplexen Zusammenhang von Welt und Bild zu stellen, der sich für den modernen

    Weltbegriff ergibt. Der Kantische Betrachter sieht sich nicht mehr dem »Eidos der fertigen Welt«

    (Blumenberg 1981, 66) gegenüber, sondern existiert und operiert in einer Welt und im Hinblick auf

    eine Welt, der nur noch die komplexe Darstellung ihrer Undarstellbarkeit entsprechen kann. Dass

  •  

    Welt sich in diesem Sinne dagegen sperrt, im Bild als Gegenstand eingefasst zu werden, heißt jedoch nicht,

    dass sie einfach aus dem Blick geriete und von Formen bildlicher Konstitution unabhängig würde. Im

    Gegenteil, der moderne Begriff der Welt gewinnt sein Profil gerade in und durch Bilder. Er

    erschließt sich jedoch in einer solchen Bildlichkeit, die die Welt nicht selbst als Gegenstand der

    Erfahrung vorstellt, sondern die im Vorstellen von Gegenständen den irreduziblen Ausgriff auf

    einen Horizont zur Darstellung kommen lässt, der sich weder durch eine zusammenfassende

    Anschauung noch durch einen subsumierenden Verstandesbegriff einholen lässt und nur noch in

    einem spezifischen Zusammenspiel unserer Vermögen ästhetisch begreifen lässt.1

    Meine Überlegungen haben zwei Teile: Ich beginne zunächst damit, Kants Bestimmung der Welt

    als Idee aus der Kritik der reinen Vernunft nachzuzeichnen und Kants These der irreduziblen

    Unanschaulichkeit dieser Idee zu verdeutlichen (I). In einem zweiten Schritt werde ich versuchen

    anhand der Kritik der Urteilskraft herauszuarbeiten, inwiefern uns diese unanschauliche Idee dennoch

    gerade im Medium anschaulicher Darstellung wirklich wird (II). Ich schließe mit einer kurzen

    Bemerkung zur Welt als dem Ort der Disjunktion und der Vermittlung von Natur und Freiheit (III).

    I. Idee der Welt

    Kant bestimmt Welt in der Kritik der reinen Vernunft als »Inbegriff aller Erscheinungen« (Kant 1974b,

    A334/B391).2 Er charakterisiert den Status des Begriffs dabei so, dass er Welt als einen

    »Vernunftbegriff« oder auch als »Idee« bezeichnet. Der Begriff der »Welt« ist in diesem Sinne nicht

    schon auf der Ebene der reinen Formen unserer Anschauung – Raum und Zeit – einzuführen und

    auch nicht auf der Ebene der reinen Begriffe des Verstandes, die sich im Ausgang von den logischen

    Urteilsfunktionen explizieren lassen und das anschaulich Gegebene unter allgemeine Formen der

    Einheit bringen. Welt gibt es weder als bloße Form der Anschauung noch in Gestalt der

    verstandesmäßigen Synthesis des anschaulich Gegebenen. »Welt« bezeichnet vielmehr eine Einheit

                                                                                                                   1 An Kant lässt sich in diesem Sinne untersuchen, inwiefern man mit Niklas Luhmann sagen kann, dass »die Transzendentalphilosophie den naturalen kosmologischen Weltbegriff [...] gesprengt« hat und eben dies in enger Verbindung mit dem »Entstehen moderner ästhetischer Reflexion« geschah (Luhmann 2008a, 190): Kant formuliert in diesem Sinne einen Begriff der Welt, der sich einer einfachen Vergegenständlichung entzieht und nur noch in Formen ästhetischer Erfahrung zu einer angemessenen sinnlichen Darstellung und in Formen philosophischer Reflexion zu einer adäquaten begrifflichen Erfassung gelangen kann. Zu Luhmanns Beobachtung einer durch Kant exemplifizierten »Aufgabe des am Ding orientierten Weltbegriffs« und dessen Ersetzung durch die Idee der Unbeobachtbarkeit der Welt vgl. auch Luhmann (1997: 151); zu Luhmanns These, dass die moderne Kunst wesentlich der Beobachtung der Unbeobachtbarkeit der Welt gelte, siehe Luhmann (1995: 104; 191; 391; 2008: 312). 2 Zur Herausbildung des Weltbegriffs der ersten Kritik im Ausgang von Kants vorkritischen Schriften, auf die ich im Weiteren nicht eingehen werde, vgl. Falkenburg (2000, insbes. 135ff.).

  •  

    höherer Art. Welt ist für Kant ein Begriff, der sich erst auf der Ebene der Vernunft ergibt, die sich

    nicht unmittelbar auf Gegenstände und deren Anschauung bezieht (Kant 1974b, A306/B363),

    sondern vielmehr die Verstandesregeln unter Prinzipien zu bringen sucht. Der Begriff der Welt dient

    in diesem Sinne nicht unmittelbar der Herstellung der Einheit einer möglichen Erfahrung (i.e. einer

    Verstandeseinheit), sondern hat seine Funktion in der Herstellung von Einheit unter den Regeln des

    Verstandes. Welt bezieht sich mithin auf eine Einheit höherer Ordnung, die oberhalb einzelner

    durch Anschauung und Begriff konstituierter Gegenstände der Erfahrung anzusiedeln ist: das

    »Ganze aller Erscheinungen« (Kant 1977, A III).

    Der eigentümliche Grundsatz der Vernunft überhaupt, aus dem sich das Profil von »Welt« ergibt,

    lautet dabei: »zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die

    Einheit desselben vollendet wird« (Kant 1974b, A307/B364, Herv. hinzugef.). Die Vernunft macht dabei

    die folgende Annahme: »wenn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander

    untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben (d.i. in dem Gegenstande und

    seiner Verknüpfung enthalten)« (Kant 1974b, A307-308/B364). Die Vernunftbegriffe zielen auf die

    Erfassung dieser ganzen Reihe von Bedingungen und mithin des Unbedingten: die Erfassung von

    »etwas, worunter alle Erfahrung gehört, welches selbst aber niemals ein Gegenstand der Erfahrung

    ist: etwas worauf die Vernunft in ihren Schlüssen aus der Erfahrung führt, und wornach sie den Grad

    ihres empirischen Gebrauchs schätzt und abmißt« (Kant 1974b, A311/B367).

    Die Vernunftbegriffe, die somit auf die Erfahrung zwar bezogen sind, ohne aber direkt einem

    Gegenstand der Erfahrung korrespondieren zu können, nennt Kant »transzendentale Ideen« (Kant

    1974b, A311/B368). So wie die Kategorien sich in Kants Analyse aus der bloßen Form der Urteile

    des Verstandes ergeben, so sollen sich die Ideen aus der Form der Vernunftschlüsse (die kategorisch,

    hypothetisch und disjunktiv sein können) ergeben. Die Vernunftschlüsse haben den Charakter, dass

    sie einen Satz, der auch aus bloßer Erfahrung geschöpft sein könnte (wie »Cajus ist sterblich«) aus

    einen allgemeinen Satz (wie: »alle Menschen sind sterblich«) ableiten, indem sie die Bedingung des

    Erfahrungssatzes unter die Bedingung des allgemeinen subsumieren (»Cajus ist ein Mensch«): Der

    Satz, der auch durch empirisches Wissen über sein Subjekt begründet sein könnte, wird hier also auf

    das Gegebensein einer allgemeinen Bedingung gegründet. Insofern Cajus ein Mensch ist und alle

    Menschen sterblich sind, ist Cajus sterblich. Der mögliche Erfahrungssatz fungiert so als Konklusion

    aus zwei Prämissen und kann so charakterisiert werden, dass er ein allgemeines Prädikat (»ist

    sterblich«) auf einen bestimmten Gegenstand restringiert, während der Obersatz sich auf eine

    »Allgemeinheit (Universalitas)« (Kant 1974b, A322/B379) bezieht. Wenn die Vernunft also einen

    möglichen Satz der Erfahrung im Rahmen eines Vernunftschlusses abzuleiten sucht, dann tut sie

  •  

    dies, indem sie ihn als einen speziellen Fall einer allgemeinen Bedingung vorstellt. Dabei kann für die

    in einem solchen Schluss in Anspruch genommene allgemeine Bedingung prinzipiell ein weiterer

    Ableitungsversuch gemacht werden, indem der Obersatz selbst als Konklusion aus weiteren

    Prämissen dargestellt wird und die allgemeine Bedingung als spezieller Fall einer noch allgemeineren

    Bedingung gedacht wird. So geht die Vernunft auf immer allgemeinere Bedingungen und zielt

    letztlich auf die »Totalität der Bedingungen« (Kant 1974b, A322/B379). Der transzendentale

    Vernunftbegriff, der die Operationen der Vernunftschlüsse fundiert, ist mithin, wie Kant sagt, der

    Begriff »der Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten«, oder mit anderen Worten der

    »Begriff des Unbedingten, sofern er einen Grund der Synthesis des Bedingten enthält« (Kant 1974b,

    A322/B379).

    Ich will mich hier nicht damit auseinandersetzen, wie man die Herleitung der Vernunftbegriffe

    aus der Form der Vernunftschlüsse bei Kant genau zu verstehen und zu bewerten hat; mir geht es in

    diesem Kontext zunächst nur darum, den Status und die Ebene der transzendentalen Idee der Welt

    bei Kant zu charakterisieren: Mit dem Begriff der Welt bezieht sich die Vernunft auf einen Inbegriff

    einer Totalität von Bedingungen, das heißt auf den »Begriff des Unbedingten, sofern er einen Grund

    der Synthesis des Bedingten enthält«. Ein solcher Begriff ist, wie Kant hervorhebt, »kein in einer

    Erfahrung brauchbarer Begriff, weil keine Erfahrung unbedingt ist« (Kant 1974b, A326/B383). Der

    Begriff zielt stattdessen darauf, »alle Verstandeshandlungen, in Ansehung eines jeden Gegenstandes,

    in ein absolutes Ganzes zusammenzufassen« (Kant 1974b, A327/B383). Der objektive Gebrauch der

    Vernunftbegriffe ist in diesem Sinne »jederzeit transzendent« (Kant 1974b, A327/B383). Wenn wir uns

    Kants inhaltliche Charakterisierung des Begriffs der Welt vor Augen führen, können wir uns leicht

    verdeutlichen, warum dieser Begriff keinen einfach gegenständlichen Gebrauch hat: Welt ist für Kant

    »der Inbegriff aller Erscheinungen« (Kant 1974b, A419/B447; A506/B535), »Inbegriff aller

    Gegenstände möglicher Erfahrung« (Kant 1977c, A311), das mathematische oder dynamische

    »Ganze aller Erscheinungen und die Totalität ihrer Synthesis« (Kant 1974b, A418/B446), »die

    absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung« (Kant 1974b, A334/B391). Wenn die Welt in

    diesem Sinne die Einheit oder Ganzheit aller Erscheinungen – genauer: ihren mathematischen oder

    dynamischen Bedingungszusammenhang – bezeichnen soll, so leuchtet ein, dass dem Begriff kein

    einzelner Gegenstand der Erfahrung korrespondieren kann und der Begriff sich auch nicht direkt auf

    die Herstellung der Einheit eines Erfahrungsgegenstandes bezieht, wie dies Verstandesbegriffe tun:

    »[D]as Ganze möglicher Erfahrung ist kein Gegenstand der Erfahrung« (Kant 1928, 354). »Welt« ist

    mithin ein Einheitsbegriff höherer Ordnung, dem – wie Kant in seiner Definition von Idee explizit

    sagt – »kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann« (Kant 1974b,

  •  

    A327/B383). Das bedeutet dann allerdings auch, wie Kant hervorhebt, dass man eine Idee wie die

    der Welt »niemals im Bilde entwerfen« kann (Kant 1974b, A328/B384, Herv. hinzugef.).

    Kant pointiert dies in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik dadurch, dass er die

    kosmologische Idee der Welt »das merkwürdigste Phänomen« (Kant 1977a, §50) der reinen Vernunft

    nennt. Zwar nimmt sie »ihr Objekt jederzeit nur in der Sinnenwelt« und erscheint »sofern

    einheimisch und nicht transzendent«, folglich bis dahin noch gar nicht als »Idee« (Kant 1977a, §50;

    vgl. Kant 1974b, A420/B447).3 Auf der anderen Seite »erweitert doch die kosmologische Idee die

    Verknüpfung des Bedingten mit seiner Bedingung [...] so sehr, daß Erfahrung ihr niemals

    gleichkommen kann« (Kant 1977a, §50). Obwohl sich die Idee der Welt also auf die Sinnenwelt

    bezieht, hat sie eine solche Form, dass sie notwendig unanschaulich und ungegenständlich wird. Als

    Gesamt des Anschaulichen, als das Ganze der Gegenstände möglicher Erfahrung ist sie selbst

    unanschaulich und ungegenständlich.

    Diese Unanschaulichkeit der Idee, diese fehlende Möglichkeit »in concreto [...] kongruent [...]

    gegeben« zu werden (Kant 1974b, A327/B384), könnte zu dem Verdacht führen, die Idee sei nichtig

    oder überflüssig, sie sei »willkürlich erdichtet«. Dies sei aber – so Kant – keineswegs der Fall: die

    Ideen werden nicht willkürlich produziert, sondern werden durch die »Natur der Vernunft« selbst

    aufgegeben (Kant 1974b, A327/B384); und sie sind nicht überflüssig oder funktionslos, sondern

    leiten den Verstand bei seinem »ausgebreiteten und einhelligen Gebrauch« (Kant 1974b, A329/B385)

    an und können womöglich gar einen Übergang zwischen den Naturbegriffen der theoretischen

    Vernunft und dem Freiheitsbegriff der praktischen Vernunft vorbereiten.4

    Wenn Welt in diesem Sinne eine Idee ist, die sich nicht in einem Bild entwerfen lässt – wie dann

    können wir diese Idee selbst vorstellen und wie manifestiert sie sich in unserer

    Erfahrungserkenntnis? Wenn das Korrelat einer transzendentalen Idee etwas ist, von dem man

    keinen Verstandesbegriff haben kann »welcher in einer möglichen Erfahrung gezeigt und anschaulich

    gemacht werden kann« (Kant 1974b, A338-9/B396), so könnte es fast so scheinen, als sei dieses

    Korrelat gänzlich unbegreiflich. Kant meint jedoch, es sei treffender zu sagen, wir hätten von dem

                                                                                                                   3 Für Kants Weltbegriff in der ersten Kritik ist es bedeutsam, dass »die Einteilung der Gegenstände in Phaenomena und Noumena, und der Welt in eine Sinnen- und Verstandeswelt [...] in positiver Bedeutung gar nicht zugelassen werden« kann (Kant 1974b, A255/B311, Herv. hinzugef.). Das Ding an sich ist in theoretischer Hinsicht ein der Erscheinung strikt korrelativer und rein negativer Begriff wie die intelligible Welt zunächst »nichts als der allgemeine Begriff einer Welt überhaupt« ist, »in welchem man von allen Bedingungen der Anschauung derselben abstrahiert« (Kant 1974b, A433/B461). Von einer intelligiblen Welt in einem »positiven« Sinne lässt sich Kant zufolge erst in Rahmen der praktischen Philosophie wieder sprechen, die mit unserer transzendentalen Freiheit unsere Existenz als intelligibles Wesen aufweisen will und mit dem Sittengesetz das Grundgesetz der intelligiblen Welt zu bestimmen sucht (vgl. Kant 1974a, A188). 4 Siehe dazu Kant (1974b, A329/B385-86). Ich komme darauf unter III nochmals kurz zurück.

  •  

    Objekt, das der Idee korrespondiert, zwar keine Kenntnis, aber doch einen – wenn auch

    problematischen – Begriff (Kant 1974b, A339/B397). Dieser Begriff zeigt sich operativ in unseren

    Erkenntnisvollzügen, indem er den Verstandesgebrauch anleitet. Die notwendige Gefahr, der dieser

    operative Weltbegriff dabei ausgesetzt ist, ist die einer Verdinglichung: Die Vernunftschlüsse führen

    uns auf Ideen und mithin auf etwas, »dem wir [...] durch einen unvermeidlichen Schein objektive

    Realität« (Kant 1974b, A339/B397) geben. Da die Vernunft ein »bloß logisches Prinzip der Synthese

    von Erscheinungen« in eine »Existenzbehauptung« verwandelt (Förster 2010, 48) ergibt sich das, was

    Kant ein »Blendwerk von objektiven Behauptungen« nennt. Die drei Ideen der Vernunft, die einer

    solchen Verdinglichung – einem Schein objektiver Realität – ausgesetzt sind, sind die »absolute

    (unbedingte) Einheit des denkenden Subjekts« (Seele), »die absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der

    Erscheinung« (Welt), die »absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt« (Gott)

    (Kant 1974b, A334/B391). Während die erste Idee zu einem Paralogismus Anlass gibt, erzeugt die

    zweite eine Reihe von Antinomien; die dritte bringt ein Ideal hervor. Ich wende mich nur der

    zweiten Idee, der der Welt, und den Antinomien zu, die sie erzeugt.5

    Die Antinomien verdienen an dieser Stelle unsere Aufmerksamkeit, weil sie zeigen, dass die Idee

    der Welt nicht einfach zu einer falschen Reifizierung Anlass gibt, sondern die Vernunft sich durch

    die Reifizierung in Widersprüche verstrickt, die sie nicht auflösen kann. Während für die Idee der

    Seele und die Idee Gottes gilt, das uns nichts unmittelbar daran hindert »diese Ideen auch als objektiv

    und hypostatisch anzunehmen« (Kant 1974b, A673/B701) und ihre Schemata als »Analoga von

    wirklichen Dingen« (Kant 1974b, A674/B702) zu nehmen, gilt für die kosmologische Idee der Welt,

    dass sie sich auf ganz besondere Weise gegen die Hypostasierung und die – sei es auch bloß

    hypothetisch verstandene – Analogie zu einem Ding sperrt. Wenn ich nämlich die Welt als einen an

    sich bestehenden Gegenstand von objektiver Realität behandele,6 glaube ich, sie müsse entweder

                                                                                                                   5 Dass die Ideen von Gott und der Seele sich jeweils auf etwas beziehen, das kein üblicher Gegenstand der Erfahrung sein kann, scheint für viele Leser offensichtlich. Es ist vor diesem Hintergrund wichtig zu unterstreichen, dass Kant von der Welt Analoges behaupten will: ihr Gegenstandscharakter und ihre Existenz ist mindestens ebenso problematisch wie die Gottes und der Seele. Mir scheint, dass die Radikalität dieser These häufig übersehen wird. 6 Das Grundproblem, das zu den Antinomien führt, liegt in diesem Sinne in einer bestimmten Vergegenständlichung der Welt: dem Auffassen der Totalität von Bedingungen als einem gegebenen Ganzen. Die naheliegendste Gestalt dieser Vergegenständlichung ist die Vorstellung der Welt als eines empirischen Gegenstandes. Da die Welt der Inbegriff aller Gegenstände möglicher Erfahrung sein soll, ist leicht ersichtlich, dass dies eine ungeeignete Vorstellung ist (vgl. Kants Feststellung, dass der Idee kein »wirklicher Gegenstand« entspreche (Kant 1974b, A482/B510); dass die kosmologischen Ideen »es gar nicht verstatten, daß ihnen ein kongruierender Gegenstand in irgendeiner möglichen Erfahrung gegeben werde« (Kant 1974b, A462/B490); und dass die »Amphibolie zu verhüten« sei, »die eure Idee zu einer vermeintlichen Vorstellung eines empirisch Gegebenen« macht (Kant 1974b, A484/B512)). Aber auch die Vorstellung der Welt als eines Dings an sich scheint eine unzulängliche Vergegenständlichung (Kant bezeichnet die Vorstellung, dass »die Welt [...] ein Ding an sich selbst sei«, explizit als »transzendentalen Schein« (Kant 1974b, A504/B532)): Wenn die Welt das Ganze der Erscheinungen meint, dann lässt sie sich nicht mit einem Ding an sich unter Absehung von seiner Erscheinung

  •  

    durch einen Anfang in der Zeit und im Raum begrenzt sein oder aber keinen Anfang und keine

    solchen Grenzen haben; die Welt setze sich letztlich aus unteilbaren Einheiten zusammen oder aber

    sie sei unendlich teilbar und enthalte nichts Einfaches; dass zur Erklärung der Erscheinungen der

    Welt neben der Kausalität nach Gesetzen der Natur auch eine Kausalität aus Freiheit angenommen

    werden müsse, oder aber dass alles nach Gesetzen der Natur geschehe; und schließlich, dass zur Welt

    ein schlechthin notwendiges Wesen gehöre oder aber kein schlechthin notwendiges Wesen in oder

    außerhalb der Welt angenommen werden könne (vgl. Kant 1974b, A481/B509). Mit Blick auf all

    diese Fragen gelangt die Vernunft zunächst nicht zu einer Antwort, da sie jeweils für die These

    ebenso wie für die Antithese zwingende Gründe glaubt anführen zu können. Die Vernunft schwankt

    so in all diesen Fragen zwischen Thesis und Antithesis, zwischen einem Dogmatismus der reinen

    Vernunft und einem reinen Empirismus. Erst die kritische Methode kann hier Kant zufolge Abhilfe

    schaffen: Sie verdeutlicht, dass für den Fall der ersten beiden Antinomien, die den mathematischen

    Weltbegriff betreffen, gilt, dass weder die These noch die Antithese haltbar ist,7 während für die

    beiden Antinomien des dynamischen Weltbegriffs gilt, dass These und Antithese recht besehen

    nebeneinander bestehen können.8 Beides lässt sich erst einsehen, wenn wir erkennen, dass der Idee

    kein Gegenstand entspricht, von dem sich mit Recht in der Form exklusiver Alternativen jene Fragen

                                                                                                                   

    identifizieren. Man vergleiche hierzu die folgende Bemerkung Kants: »Da nun hier lediglich von einem Dinge als Gegenstande einer möglichen Erfahrung und nicht als einer Sache an sich selbst die Rede ist, so kann die Beantwortung der transzendenten kosmologischen Frage, außer der Idee sonst nirgend liegen, denn sie betrifft keinen Gegenstand an sich selbst; und in Ansehung der möglichen Erfahrung wird nicht nach demjenigen gefragt, was in concreto in irgendeiner Erfahrung gegeben werden kann, sondern was in der Idee liegt, der sich die empirische Synthesis bloß nähern soll: also muß sie aus der Idee allein aufgelöst werden können« (Kant 1974b, A479/B507). Die Idee der Welt geht von diesem oder jenem Gegenstand der Erfahrung aus und fragt über ihn hinaus nach seinem Bedingungszusammenhang. Die Idee entspricht so weder einem konkreten einzelnen Gegenstand in der Erscheinung, noch einem Gegenstand an sich. Das, worauf sie sich bezieht, kann nur als ein »Gegenstand« besonderer Art verstanden werden: ein »Gegenstand in der Idee«. 7 Die Prädikate von Thesis und Antithesis widerstreiten sich zwar potentiell, aber dasjenige, dem sie attribuiert werden sollen – »Welt« – ist kein Substrat, dem diese Prädikate überhaupt zukommen könnten. Daher laufen die Beweise der Antinomien, die apagogisch verfahren (die These beweisen wollen, indem die Unhaltbarkeit der Antithese gezeigt wird und umgekehrt) ins Leere. Diese Beweise wären nur aussagekräftig, wenn These und Antithese eine exklusive Disjunktion bildeten, was sie aber mit Blick auf den besonderen Gegenstand in der Idee nicht tun. Vgl. zu der hier zugrundeliegenden Unterscheidung von logischem und dialektischem Widerspruch, die für Hegels Logik, trotz seiner scharfen Kritik an den Antinomien, von erschließender Bedeutung ist Wolff (1979). 8 Wieder ist es der besondere Charakter desjenigen, von dem Thesis und Antithesis gelten sollen, der ermöglicht, dass das, was in einem logischen Widerspruch zu stehen scheint, vereinbar wird: Sofern die Welt der Inbegriff der Erscheinungen ist, bezieht sie sich auf Gegenstände der Erfahrungen, denen als Erscheinungen ein Ding an sich korreliert (über das wir positiv nichts aussagen können, das aber als Grenzbegriff für Kant unverzichtbar ist). Durch diese intelligible Rückseite der Gegenstände der Welt (Kant spricht von einer »doppelten Seite«: Kant 1974b, A538/B566), ist es möglich, dass These und Antithese zusammenbestehen können: Einerseits gilt, dass die Welt als Sinnenwelt allein durch Kausalität nach Gesetzen der Natur bestimmt ist und in ihr kein absolut notwendiges Wesen angetroffen werden kann; andererseits aber mag es eine nicht-empirische, als bloß intelligibel zu denkende Bedingung der ganzen Reihe der Erscheinungen geben und dem Ding an sich könnte Kausalität aus Freiheit zukommen. Sofern also die Welt eine »doppelte Seite« besitzt, können These und Antithese beide »in verschiedener Beziehung« (Kant 1974b, A560/B588) auf sie zutreffen.

  •  

    stellen lassen, die die Dialektik aufwirft, sondern nur ein »Gegenstand« ganz besonderer Art: ein

    »Gegenstand in der Idee«. Die Fragen, die die Antinomien aufwerfen, haben gerade nicht den

    Charakter – wegen einer unvermeidlichen Unwissenheit oder unergründlichen Tiefe der Aufgabe

    (Kant 1974b, A477/B505) – unbeantwortbar zu sein. Sie können eine Antwort erhalten, gerade weil

    sie sich auf einen »Gegenstand« beziehen, »der nirgends anders als in unseren Gedanken gegeben

    werden kann, nämlich die schlechthin unbedingte Totalität der Synthesis der Erscheinungen. Wenn

    wir darüber aus unseren eigenen Begriffen nichts Gewisses sagen und ausmachen können, so dürfen

    wir nicht die Schuld auf die Sache schieben, die sich uns verbirgt [...], sondern wir müssen die

    Ursache in unserer Idee selbst suchen, welche ein Problem ist, das keine Auflösung verstattet, und

    wovon wir doch hartnäckig annehmen, als entspreche ihr ein wirklicher Gegenstand« (Kant 1974b,

    A481-82/B 509-10).

    Die Antinomien, zu denen die kosmologischen Ideen uns verleiten, ergeben sich dabei in Kants

    Analyse aus einem Schluss, in dem wir zwischen transzendentaler und empirischer Bedeutung

    schwanken, so dass wir eine falsche Vorstellung von der »Totalität der Bedingungen« bilden, die wir

    als Welt vorstellen. Die Vernunft geht in ihrer fehlerhaften Überlegung von folgender Annahme aus:

    »Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen desselben gegeben«

    (Kant 1974b, A497/B525, Herv. hinzugef.). Wenn das Bedingte und seine Bedingungen Dinge an

    sich selbst wären, so wäre in der Tat richtig, dass mit dem Bedingten zugleich und ohne weiteres

    dessen Bedingungen gegeben sind. Wenn das Bedingte aber ein uns empirisch Gegebenes ist, dann

    ist uns der Regressus in der Reihe der Bedingungen zu demselben lediglich aufgegeben. Die

    Bedingungen sind mit dem Bedingten nicht gleichsam ohne weiteres mitgegeben. Der dialektische

    Vernunftschluss nun aber setzt für ein empirisch gegebenes Bedingtes die Bedingungen und ihre

    Reihe »gleichsam unbesehen« (Kant 1974b, A500/B528) voraus. Diese sind im Reich der Erfahrung

    aber nicht zeitlos, sondern notwendig sukzessiv gegeben. Die Totalität der Synthesis kann hier nicht

    vorausgesetzt werden, weil die Glieder der Reihe hier nur »durch den sukzessiven Regressus möglich

    sind, der nur dadurch gegeben ist, daß man ihn wirklich vollführt« (Kant 1974b, A500-01/B529, Herv.

    hinzugef.). Die Welt existiert eben darum nicht als ein an sich unendliches oder an sich endliches

    Ganzes, weil sie, wie Kant im Weiteren zu zeigen versucht, »gar nicht an sich (unabhängig von der

    regressiven Reihe meiner Vorstellung) existiert« (Kant 1974b, A505/B533, Herv. hinzugef.): »Sie ist

    nur im empirischen Regressus der Reihe der Erscheinungen und für sich selbst gar nicht anzutreffen«

    (Kant 1974b, A505/B533). Wenn der Regressus selbst immerzu ein bedingter ist, dann ist die Welt

    mithin niemals ganz gegeben und die Welt ist also »kein unbedingtes Ganzes, existiert also auch nicht

    als ein solches, weder mit unendlicher, noch endlicher Größe« (Kant 1974b, A505/B533). Die Reihe

  •  

    der Bedingungen ist nicht an einem vor allem Regressus gegebenen Ding anzutreffen, sondern nur im

    Regressus gegenwärtig.

    Die Antinomie entsteht mit anderen Worten dadurch, dass die Idee der absoluten Totalität, die

    nur als eine Bedingung der Dinge an sich selbst Gültigkeit hätte, auf Erscheinungen angewandt wird

    (Kant 1974b, A506/B534) und so die Vorstellung von der Welt als einem gegebenen Ganzen erzeugt

    wird. Durch die kosmologischen Ideen wird aber kein Maximum der Reihe von Bedingungen, kein

    positiver Begriff einer Totalität gegeben; ein solches Maximum der Reihe von Bedingungen wird im

    Regressus derselben vielmehr aufgegeben. Es ist von Bedeutung, hier genau auf Kants Formulierung zu

    achten: Man könnte vermuten, dass die Idee der Welt gar kein Maximum oder gar keine Totalität der

    Bedingungen enthält, sondern ein bloßes Und-so-Weiter. Kant sagt hier aber, dass im Und-So-Weiter

    durchaus das Streben nach einem Maximum oder einer Totalität aufgegeben sei. Das heißt, wir

    können die Welt auch nicht dadurch anschaulich machen, dass wir uns eine bloße offene Reihe von

    Bedingungen vorstellen. Die Welt zeigt sich in einer Reihe, die zum Unbedingten fortgeht, wenngleich sie

    es nie erreichen kann (Kant 1974b, A510/B538). Das aber macht die Frage, wie wir uns die Idee der

    Welt vorstellen, noch mal dringlicher: Wie ist in der Fortsetzung der Reihe die Hinsichtnahme der Reihe

    auf eine Totalität oder ein Maximum erkennbar, obwohl dieses nicht – oder nur um den Preis eines

    Blendwerks objektiver Behauptungen – durch einen Gegenstand veranschaulicht werden kann?

    Kant beschreibt in der Kritik der reinen Vernunft zunächst vor allem die ungegenständliche,

    abstrakte Regel, unter die die Synthesis der Bedingungen gestellt wird. In diesem Sinne erschiene die

    Welt nicht als in den einzelnen Erfahrungen von Gegenständen in der Welt gegenwärtig, sondern

    nur in der Forderung der Vernunft, in der Reihe der Bedingungen der Erscheinungen unablässig

    weiter zurückzugehen. In dem Imperativ, hinter jeder Erscheinung immer weiter ihre Bedingungen

    aufzusuchen, schiene die Weltlichkeit dieser Erscheinungen auf. Die Verwirklichung dieser

    Vernunftregel bedient sich dabei in Kants Beschreibung durchaus einer anschaulichen Gestalt; diese

    aber scheint ganz in der Vernunft selbst zu wurzeln und eine problematische Täuschung

    unweigerlich nahezulegen: Die Vernunftideen wirken Kant zufolge wie ein focus imaginarius, auf den

    hin der Verstand ausgerichtet wird: ein Brennpunkt, mit Blick auf den »die Richtungslinien aller [...]

    Regeln [des Verstandes] in einen Punkt zusammenlaufen« (Kant 1974b, A644/B672). Dieser focus

    imaginarius geht mit der Täuschung einher, als »wenn diese Richtungslinien von einem Gegenstande

    selbst, der außer dem Felde empirisch möglicher Erkenntnis läge«, ausgingen (Kant 1974b,

    A644/B672). Die Weise, wie uns diese Forderung der Vernunft gegenwärtig wäre, das anschaulich

    Gegebene in die Dimension der Welt zu stellen, hätte so einen entweder abstakten Charakter (als

    bloße Devise der Vernunft) oder einen falsch vergegenständlichenden Charakter (als imaginäres

  •  

    übersinnliches Objekt).

    Wenn es sich aber so verhielte, könnte die Idee der Welt dann je wirklich Anhalt in unserer

    empirischen Erfahrung finden? Es scheint in Kants Darstellung in der ersten Kritik zunächst so, als

    bliebe uns nur die Möglichkeit, die Idee der Welt entweder nur abstrakt vorzustellen und so Gefahr

    zu laufen, dass ein unendlicher Abstand zwischen die Idee und die anschauliche Erfahrung tritt, der

    jede Orientierung durch diese Idee fragwürdig machen muss, oder aber die Idee auf eine Weise zu

    vergegenständlichen, die ihrem transzendenten Charakter nicht gerecht wird und uns in einer

    falschen Weise orientieren würde. Wenn uns aber die Idee der Welt tatsächlich, wie Kant sagt, in

    unserer Erfahrung aufgegeben ist, dann muss es eine Weise geben, in der die Idee der Welt in unserer

    anschaulichen Erfahrung selbst operativ wirksam ist und anschaulich gegenwärtig wird. Mir scheint

    nun, dass Kants dritte Kritik weiterführende Hinweise darauf enthält, wie sich (i) Welt in der

    anschaulichen Erfahrung selbst artikuliert, wie also unsere anschauliche Erfahrung innerlich als

    weltlich bestimmt werden kann und nicht nur äußerlich unter der abstrakten Idee der Welt steht, und

    (ii) welche Formen anschaulicher Darstellung oder Reflexion von Welt denkbar sind, die über

    Formen ihrer bloß illusionären Vergegenständlichung hinausgehen.9 Diesen Hinweisen will ich nun

    im zweiten Teil meiner Überlegungen nachgehen

                                                                                                                   9 Anders als das Verhältnis von Anschauung und Verstandesbegriff steht das Verhältnis von anschaulicher Erfahrung und Vernunftbegriff nicht im Zentrum der gegenwärtigen Kant-Literatur. Mir scheint aber, dass sich mit Blick auf das Verhältnis von Vernunft und sinnlicher Erfahrung ein analoges Problem ergibt wie dasjenige, das gegenwärtig mit Blick auf das Verhältnis von Anschauung und Verstandesbegriff in Auseinandersetzung mit Zwei-Stufen-Modellen der sinnlichen Erfahrung ausgiebig diskutiert wird. Solche Modelle legen in unterschiedlicher Weise nahe, dass sich für Kant Erkenntnis so darstellt, dass uns durch die Anschauung zunächst ein nichtbegrifflicher Gehalt gegeben wird, der sodann in einem zweiten Schritt durch den Verstand dann erst begrifflich artikuliert wird. Legt man eine solche Beschreibung zugrunde, dann kommt der Verstand auf gewisse Weise immer schon zu spät, weshalb verschiedene zeitgenössische Autoren zu zeigen versuchen, inwiefern in der Synthesis der Anschauung bereits, wie Kant an entscheidenden Stellen im Leitfaden und der transzendentalen Deduktion nahelegt (vgl. insbes. Kant 1974b, A79/B104-105), dieselbe Funktion der Synthesis am Werk ist wie in den Urteilen des Verstandes. (Dass der Verstand womöglich ebenso ursprünglich auf seine anschauliche Artikulation angewiesen ist, dass also in ihm bereits »dieselbe« Funktion wie in der Anschauung am Werk ist, wird seltener in Erwägung gezogen, könnte aber mit einer komplementären Stoßrichtung ausgeführt werden). Mit Blick auf das Verhältnis von Vernunft und sinnlicher Erfahrung scheint mir nun, dass die übliche, von Kant in der ersten Kritik deutlich nahegelegte Lesart, erneut zu einem Zwei-Stufen-Modell führen würde, demgemäß zunächst ein anschaulich Gegebenes durch die Begriffe des Verstandes synthetisiert werden muss, bevor es dann durch die Vernunft unter Prinzipien gebracht und geordnet wird. Dieses Modell scheint aber erneut problematisch, insofern in diesem Fall die Vernunft immer schon zu spät kommt, um die Einheit und Systematizität der Erfahrung herzustellen. Ein Indiz dafür, dass Kant selbst hier ein Problem gesehen hat, kann man darin finden, dass Kant die Probleme der Systematizität des Erkennens, die er in der ersten Kritik allein als ein Problem der Vernunft diskutiert hat, in der dritten Kritik anhand der reflektierenden Urteilskraft als Problem der empirischen Begriffsbildung bestimmt hat. Ein Zwei-Stufen-Modell mit Blick auf das Verhältnis von Vernunft und sinnlicher Erfahrung infrage zu stellen, heißt dabei aus meiner Perspektive nicht allein, dass die Vernunftorientierung in den Operationen der sinnlichen Erfahrung selbst schon gegenwärtig sein muss, sondern zugleich umgekehrt, dass die Operationen der Vernunft selbst auf das Wirken von Anschauung und Einbildungskraft angewiesen sind.

  •  

    II. Idee und Bild

    Wenn die Welt Idee in dem Sinne ist, den wir angedeutet haben, dann heißt dies zunächst, dass es

    eine Weise gibt, in der sie nicht »im Bilde entworfen« werden kann: Wir können sie nicht in Form

    eines umgrenzten Gegenstandes der Erfahrung anschaulich machen, da wir so verfehlen, was »Welt«

    als das »Ganze aller Erscheinungen« eigentlich ist. Wenn wir versuchen, die Welt dergestalt dingfest

    zu machen, verstricken wir uns überdies in Antinomien, aus denen wir uns nicht mehr befreien

    können. Wir können den Versuch machen, sie als überempirischen Gegenstand vorzustellen, auf den

    hin alle empirischen Gegenstände orientiert sind; aber auch hier handelt es sich um eine letztlich

    problematische, wenngleich regulativ nützliche Täuschung. Nur wenn wir einsehen, dass die Welt gar

    nicht die Form eines Gegenstands hat, sondern die Form einer unablässigen Aufgabe und Forderung

    an unsere Erfahrung, können wir darüber hinausgelangen, den Widersprüchen der Antinomien und

    den Blendwerken der Vernunft hilflos zu erliegen.

    Wenn die Welt somit kein Gegenstand der Erfahrung ist, aber zugleich doch wesentlich in der

    Erfahrung ihren eigentlichen Ort hat, insofern sie sich auf die Sinnenwelt bezieht, die Bildung

    unserer empirischen Erkenntnis anleitet und die Totalität der Bedingungen angibt, »worunter alle

    Erfahrung gehört«, dann stellt sich die Frage, in welcher Weise sich in unserer sinnlichen Erfahrung

    ihre Weltlichkeit immanent kenntlich macht und welche Formen sinnlicher Erfahrung es geben

    kann, die die Weltlichkeit unserer Erfahrung ausdrücklich machen, exponieren und reflektieren. Ich

    denke, dass sich in Kants Beschreibung der ästhetischen Erfahrung in der Kritik der Urteilskraft

    Hinweise darauf finden lassen, wie Welt auf operative Weise in Formen der anschaulichen Erfahrung

    wirksam ist und wie diese Weltlichkeit in ästhetischen Erfahrungen zur anschaulichen Reflexion

    gelangt.10 Wenn man die Frage, wie Welt sich durch Bilder geben lässt, an die dritte Kritik richtet,

    dann lautet die dortige Antwort, dass sich die Welt zwar nicht als solche gegenständlich abbilden lässt,

    dass sich die Weltlichkeit der Erfahrung aber durchaus in Bildern exponieren lässt, die diese

    Weltlichkeit durch das Scheitern ihrer Vergegenständlichung und durch die Darstellung von

                                                                                                                   10 Ich werde mich daher im folgenden Kants dritter Kritik etwas genauer zuwenden. Dies tue ich nicht, um den kosmologischen Weltbegriff der ersten und den teleologischen Weltbegriff, der im zweiten Teil der dritten Kritik zum Tragen kommt, miteinander zu vergleichen oder einander zu assimilieren. Ich richte meinen Blick hier vielmehr auf die dritte Kritik, um die dortige Charakterisierung anschaulicher Erfahrung daraufhin zu untersuchen, wie sie uns die anschauliche Wirksamkeit und reflexive Präsenz von Weltlichkeit genauer zu erfassen erlaubt. Die erste Kritik hatte sich wesentlich in der kritischen Auskunft über die Formen falscher Vergegenständlichung der Welt erschöpft, ohne näher zu zeigen, wie Welt in unserer anschaulichen Erfahrung operativ oder reflexiv präsent werden kann. Ohne behaupten zu wollen, dass die dritte Kritik sich diese Fragen explizit vorlegt, will ich zeigen, dass sich die Kritik der Urteilskraft mit Gewinn auf diese Fragen beziehen lässt.

  •  

    ästhetischen Ideen hervorkehren. Wenn dies geschieht, dann ergibt sich eine bestimmte Form der

    ästhetischen, reflexiven Lust, die nicht ein Vergnügen am Angenehmen oder eine Billigung des

    Sittlich-Guten ist, sondern ein interesseloses Wohlgefallen an der »bloßen Darstellung« (Kant 1974c,

    §23 B74) und dem Verhältnis unserer Erkenntnisvermögen – in diesem Falle: an dem Verhältnis von

    Einbildungskraft und Vernunft, von Bild und Idee.

    Ich werde im Folgenden zwei Figuren ästhetischer Darstellung untersuchen, die mit Blick auf die

    operative Wirksamkeit und die reflexive Präsenz von Welt aufschlussreich sind: (1) die Figur des

    Erhabenen, in deren Erörterung Kant explizit auf die Idee der Welt zurückkommt, und (2) die Figur

    der »ästhetischen Ideen«, die laut Kant als ein Pendant der Vernunftideen im Medium sinnlicher

    Darstellung betrachtet werden können.

    II.1 Das Erhabene

    Das Erhabene ist an einem Gegenstand zu finden, sofern »Unbegrenztheit an ihm oder durch dessen

    Veranlassung vorgestellt und doch Totalität derselben hinzugedacht wird« (Kant 1974c, §23 B75):

    Etwas, das schlechthin oder absolut groß erscheint und so unsere Fassungskraft übersteigt, dabei

    aber auf die Idee einer Totalität bezogen wird, erscheint uns erhaben. So wie das Schöne einen

    unbestimmten Verstandesbegriff impliziert, so erscheint das Erhabene, wie Kant sagt, als

    »Darstellung eines [...] Vernunftbegriffs« (Kant 1974c, §23 B75). Die Analogie zum von Kant zuvor

    bereits erörterten Schönen soll hier gewiss die Figur des Erhabenen verständlicher machen. Es ist

    aber nicht zu übersehen, dass die Beschreibung des Erhabenen als Darstellung eines Vernunftbegriffs

    in ungleich stärkerer Spannung zu Kants Systematik steht, als die Fassung des Schönen als

    Darstellung eines unbestimmten Verstandesbegriffs. Denn Darstellung definiert Kant allgemein in

    der Einleitung der Kritik der Urteilskraft als den Akt, »dem Begriffe eine korrespondierende

    Anschauung zur Seite zu stellen« (Kant 1974c, B XLIX). Beim Schönen liegt die Schwierigkeit darin

    zu verstehen, was es heißen könnte, eine Anschauung zu geben, die einem selbst unbestimmten Begriff

    korrespondiert; aber dass insgesamt zu einem Verstandesbegriff eine Anschauung gegeben werden

    kann, ist nichts Überraschendes. Beim Erhabenen aber fragt sich, wie überhaupt Darstellung

    geschehen soll, wenn es denn richtig ist, dass es für einen Vernunftbegriff keine korrespondierende

    Anschauung gibt, wie die Kritik der reinen Vernunft ausgeführt hatte und wie die Kritik der Urteilskraft

    nochmals bestätigen wird. Die Lösung liegt darin, dass das Erhabene durch eine Form der negativen

    Darstellung gekennzeichnet ist: Durch das Scheitern der Darstellung, die »Unangemessenheit selbst

    der größten Bestrebung unserer Einbildungskraft« (Kant 1974c, §26 B93) für das Absolut-Große,

    wird die undarstellbare Vernunftidee indirekt dargestellt. Es kommt also im Medium der sinnlichen

  •  

    Anschauung zu einer Darstellung der Undarstellbarkeit der Idee.

    Die Darstellung gerät so auf eine besondere Weise reflexiv und indirekt. Erhaben ist daher

    letztlich auch nicht der Darstellungsgegenstand selbst, an dem sich ein Scheitern der Darstellung

    vollzieht, das auf die Idee verweist, denn »das eigentlich Erhabene kann in keiner sinnlichen Form

    enthalten sein« (Kant 1974c, §23 B77). Nicht der Gegenstand ist letztlich erhaben, er induziert

    vielmehr durch seine Unbegrenztheit auf komplexe Weise ein Gefühl des Erhabenen.11 Das

    Erhabene, das ästhetische Lust bereitet, wird hierbei nicht einfach durch das bloße Scheitern von

    Darstellung evoziert, sondern ergibt sich aus einem Scheitern besonderer Art, das zur sinnlichen

    Darstellung der Unangemessenheit jeder Form der Darstellung von Ideen der Vernunft wird. Das

    Gefühl des Erhabenen ergibt sich, wenn die Vorstellung eines Gegenstands (der Natur) »das Gemüt

    bestimmt, sich die Unerreichbarkeit der Natur als Darstellung von Ideen zu denken« (Kant 1974c, B115). Die

    Weise, in der dieser Gegenstand über mein Fassungsvermögen hinaus ist, die Weise also, wie er

    »weltlich« ist und die unerreichbare Totalität der Welt vorscheinen lässt, fasse ich als eine Darstellung

    der Idee der Welt auf.

    Wie aber kommt im Erhabenen nun genau die Unangemessenheit der Darstellung zur

    Darstellung? Der Ausgangspunkt liegt für Kant zunächst in der Beobachtung, dass das, was wir

    erhaben nennen, schlechthin groß ist. Damit beziehen wir uns nicht darauf, dass es überhaupt eine

    Größe hat (quantitas ist) oder dass es relativ auf anderes größer ist. Schlechthin groß meint vielmehr

    etwas, das absolut, für sich selbst »groß« ist, und zwar insofern als wir für dasselbe keinen

    angemessenen Maßstab außer ihm kennen, sondern diesen nur in ihm selbst finden können. Man

    kann dies auch so explizieren, dass erhaben das ist, in Vergleichung mit dem alles andere klein ist

    (Kant 1974c, § 25 B84). In der Natur aber gebe es nichts, das so groß wäre, dass es nicht in

    Vergleichung mit anderem klein, und nichts, das so klein wäre, dass es nicht in Vergleich mit

    anderem groß erscheinen könne. Teleskope und Mikroskope hätten uns darüber belehrt. In diesem

    Sinne kann nichts, was Gegenstand der Sinne sein kann, eigentlich erhaben sein. Aber der Gebrauch,

    den die Urteilskraft von bestimmten Gegenständen der Sinne macht, kann etwas zu Bewusstsein

    bringen, das absolut groß ist.

    Das geschieht in der sinnlichen Darstellung paradigmatisch durch die Präsentation von

    Gegenständen, die »für alle Darstellung beinahe zu groß« sind (Kant 1974c, §26 B89): die Pyramiden,

    der Petersdom im Moment unseres Eintritts, die rohe, kolossalische Natur (Berge, Abgründe, die

    tobende See) – also kurz: überwältigende Naturerscheinungen oder -vorgänge und gigantische

                                                                                                                   11 Erhaben im eigentlichen Sinne sind laut Kant nur die Ideen der Vernunft selbst (Kant 1974c, §23 B77).

  •  

    Bauten. Unsere Einbildungskraft stößt an diesen Gegenständen, wenn wir uns im richtigen Abstand

    zu ihnen befinden, an eine Grenze ihrer Fassungskraft. Das was es hier aufzufassen gilt, überfordert

    das Vermögen unserer Einbildungskraft, es noch zusammenzufassen. Die beiden Operationen, die die

    Einbildungskraft mit Blick auf die ästhetische Größenschätzung vollziehen muss, zeigen sich hier in

    ihrer Differenz und Spannung: Während die Auffassung ins Unendliche fortgehen kann, da sie

    sukzessiv verfährt, gerät die Zusammenfassung bald an ihre Grenze und erreicht ein Maximum, über

    das hinaus sie nicht erweitert werden kann. Wenn die Grenze des Komprehensionsvermögens

    erreicht zu sein scheint, an dem Gegenstand aber immer noch weitere Momente aufzufassen sind,

    um ihm tatsächlich ganz zu erfassen, dann können diese noch unerfassten Momente nur noch in die

    Zusammenfassung einbezogen werden, indem früher Aufgefasstes »erlischt«; die Zusammenfassung

    ist in einem solchen Falle also »nie vollständig« (Kant 1974c, §26 B88).12

    Für die durch die Einbildungskraft vollzogene Operation der Zusammenfassung gibt es in diesem

    Sinne also ein Größtes, über welches sie nicht hinauskommen kann. Von diesem Größten sagt Kant,

    dass es die Idee des Erhabenen bei sich führe. Das tut es aber nicht in dem Sinne, dass in diesem

    Größten – in diesem Maximum – die Idee der Totalität einfachhin verkörpert wäre, die wir als

    Vernunftbegriff kennen. Es geschieht vielmehr in einem komplexeren Sinne: Dieses Größte gibt 1.

    eine Art Vorschein der Idee der Totalität, sofern es als »absolutes Maß, über das kein größeres

    subjektiv [...] möglich sei, beurteilt wird« (Kant 1974c, §26 B86). In diesem Vorschein liegt eine

    irreduzible Leistung der Einbildungskraft; die Größenschätzung des Verstandes verfährt im

    Unterschied dazu immer nur additiv und progressiv, gründet so zuletzt notwendig auf einer

    ästhetischen Größenschätzung, die das Grundmaß gibt (Kant 1974c, §26 B86). 2. Zugleich erweist

    sich dieses Größte der Einbildungskraft als unzureichend, um den Gegenstand zusammenzufassen,

    der sich den Sinnen darbietet. Dadurch ergibt sich 3. »ein Gefühl der Unangemessenheit [der]

    Einbildungskraft für die Ideen eines Ganzen, um sie darzustellen, worin die Einbildungskraft ihr

    Maximum erreicht und bei der Bestrebung, es zu erweitern, in sich selbst zurücksinkt« (Kant 1974c,

    §26 B88). 4. Erst dadurch wird ein rührendes Wohlgefallen erzeugt, das sich daraus ergibt, dass das

    Subjekt an diesem Punkt erfährt, dass hier etwas über alle Sinne hinausreicht, das sich durch dass

    Subjekt nicht anschauen oder einbilden, wohl aber, durch dieses denken lässt.

                                                                                                                   12 Man kann sich das Problem leicht an Kants eigenen Sätzen illustrieren, die zwar Teil für Teil aufgefasst werden können, oft aber so lang und komplex sind, dass die anfangs aufgefassten Momente bereits erlöschen, »ehe die Einbildungskraft die letzteren aufgenommen hat« (Kant 1974c, §26 B88), so dass es kaum gelingt, die ganze Folge von Momenten zusammenzuhalten und so den Gehalt des Ganzen zu erfassen. – Dass die von Kant beschriebene Dialektik von Auffassung und Zusammenfassung, von apprehensio und comprehensio an die Phänomenologie des Lesens erinnert, darauf hat bereits Paul de Man hingewiesen (de Man 1993, 19).

  •  

    Entscheidend in unserem Zusammenhang ist nun nicht allein der letzte Schritt und das

    Wohlgefallen, dass das Subjekt daran findet, dass es zu denken vermag, was es nicht zu sehen

    bekommt, sondern vielmehr das richtige Verständnis der vorangehenden Schritte. Kant stellt es

    manchmal so dar, als ginge die Erfahrung des Erhabenen letztlich ganz auf die Vernunft zurück, von

    der der »Anspruch auf absolute Totalität« erst ausgeht, an dem die Einbildungskraft dann scheitert.

    Kant verweist auf die »Stimme der Vernunft« (Kant 1974c, §26 B91), die vom Gemüt fordert, für alle

    Größen Zusammenfassung in einer Anschauung zu leisten. Diese Bemerkungen sollten uns aber

    nicht dazu verleiten, den eigenen Beitrag der Einbildungskraft hier zu unterschätzen. Nur durch das

    Fassungsvermögen der Einbildungskraft kann uns Totalität anschaulich vorgestellt werden und eine

    Größe gegeben werden, die in gewissem Sinne »absolut« genannt werden kann (das Grundmaß der

    ästhetischen Größenschätzung). Daraus folgt, dass nicht nur die Vernunft mit ihrer intellektuellen

    Größenschätzung, sondern auf andere Weise auch schon die Einbildungskraft über die

    mathematische Größenschätzung des Verstandes hinausgeht. Genau in dem Maße, wie dies zutrifft,

    gibt die Einbildungskraft einen Vorschein der Absolutheit der Idee zu erkennen (Schritt 1). Zum

    zweiten ist schon im eigenen Bestreben der Einbildungskraft die Forderung nach Zusammenfassung

    sukzessiv erfahrener Größen gegenwärtig. Die »Bestrebung zur Zusammenfassung, die das

    Vermögen der Einbildungskraft überschreitet« (Kant 1974c, §26 B93), ergibt sich in der ästhetischen

    Größenschätzung und gehört zur Einbildungskraft selbst. Durch dieses Bestreben beweist die

    Einbildungskraft selbst »eine Beziehung auf etwas Absolut-Großes« (Kant 1974c, §27 B98). Kant

    spricht mit Blick auf die zusammenfassende Operation der Einbildungskraft explizit von einer

    comprehensio aesthetica und mithin einer sinnlichen Form des Begreifens.13 Die Einbildungskraft kann die

    »Stimme der Vernunft«, so könnte man schließen, nur »hören« und ihrer Forderung sich zu erweitern

    folgen, insofern ihr das Bestreben zur Zusammenfassung selbst schon innewohnt (Schritt 3). Die

    Einbildungskraft selbst, nicht erst die Vernunft, strebt danach, einer bestimmten Form von Totalität

                                                                                                                   13 Das ist eine bemerkenswerte Charakterisierung, die auf Verschiebungen gegenüber der ersten Kritik hindeutet. Wenn man eine Entsprechung zur ästhetischen Auffassung und Zusammenfassung in der ersten Kritik sucht, so liegt es zunächst nahe, an die zwei Momente des »Durchlaufens« und des »Zusammennehmens« in der Synthesis der Apprehension in der A-Deduktion zu denken (so etwa Longuenesse 1998, 273, Fn. 67); man mag einwenden, dass die Entsprechung der Zusammenfassung eher in der Synthesis der Reproduktion zu suchen ist (vgl. hierzu Makkreel 1984, 305). Entscheidend ist aber vor allem, dass Kant in der ersten Kritik für beide Synthesen noch nicht von Begreifen spricht. Erst mit der Verstandesleistung der »Synthesis der Rekognition im Begriffe« kommt es zur Komprehension, während die dritte Kritik nun schon die durch die Einbildungskraft geleistete Zusammenfassung als »ästhetisches Begreifen« bestimmt. (Man findet die Rede vom »ästhetischen Begreifen« auch in einer Notiz aus dem Zeitraum 1788-90 – siehe Kant (1928, 318-320); ein weiteres Vorkommen von »Zusammenfassung« findet sich in einer viel diskutierten Stelle der ersten Kritik zum Raum als formaler Anschauung – siehe Kant 1974b, B160-1).

  •  

    gerecht zu werden.14 Zwar scheitert die Einbildungskraft im Fall des Erhabenen notwendig an

    diesem Anspruch, im Scheitern an diesem aber bezeugt sie den Anspruch selbst und verweist erst

    dadurch auf das Ganze in seiner Undarstellbarkeit. Und so spricht Kant nicht allein davon, dass die

    Einbildungskraft hier unter der Forderung oder als Werkzeug der Vernunft operiert; er hebt zugleich

    in umgekehrter Perspektive hervor, dass die ästhetische Erfahrung des Erhabenen allererst die Ideen

    der Vernunft »erweckt« (Kant 1974c, B116) oder »rege macht« (Kant 1974c, §23 B77), ja sogar: dass

    das ästhetische Urteil des Erhabenen sich »als Quell der Ideen« zeigt (Kant 1974c, § 27 B101).

    Ich unterstreiche diese andere Blickrichtung, selbst wenn sie in Kants Behandlung nicht immer im

    Vordergrund steht, weil mir scheint, dass uns die Idee der Welt mit Kant auf andere Weise operativ

    wirklich wird, wenn wir ihre Wirkung so erfahren, dass sie sich aus dem Bestreben der anschaulichen

    Erfahrung selbst ergibt und nicht nur als Forderung im Prozess der vernünftigen Ordnung von

    Verstandeshandlungen auftritt. In jedem Falle scheint die bloß durch Vernunft erschlossene Idee der

    Welt anfällig für den Verdacht, es handele sich bei ihr um eine bloße Erdichtung. Zwar versucht

    Kant die Idee als Vernunftbegriff aus der Form vernünftigen Schließens abzuleiten und so als

    notwendig zu erweisen, aber die Angemessenheit dieser Form für die Ordnung in unserer Erfahrung

    steht ja nicht zuletzt wegen der Antinomien der Vernunft in Frage. Insofern erscheint es als ein

    Desiderat, aufzuzeigen, in welcher Weise es im sinnlichen Erfahren selbst zu einer Art Provokation,

    einem Hervorrufen oder Erwecken der Idee kommen mag, und eine mögliche anschauliche

    Darstellung zu verdeutlichen, die an die Stelle der falschen Verdinglichung der Idee im Sinne eines

    einfachen, konstituierten Gegenstands der Erfahrung treten kann. In diesem Sinne scheint es der

    Idee der Welt wesentlich, dass im Bild und durch das Bild erfahren wird, dass sie nicht »im Bild entworfen«

    werden kann. Die Weltlichkeit der Erfahrung kann keine bloße Zutat der Vernunft sein, die den

    Erfahrungsgegenständen einen Gegenstand anderer Art – die Welt – zur Seite setzt, sondern sie

    muss sich im Inneren der Erfahrung selbst erweisen.

    Diese Weltlichkeit im Inneren der Erfahrung zeigt sich auf besondere Weise an der

    Einbildungskraft mit ihrer grundlegenden Dialektik aus Auffassung und Zusammenfassung, mit ihrer

    doppelten Tendenz unendlich weiterzuschreiten und zugleich jeweils zur Ganzheit

    zusammenzufassen. Wenn die Einbildungskraft etwas Sukzessiv-Aufgefasstes in einen Augenblick

    zusammenzufassen versucht, dann tut sie damit dem inneren Sinn bereits, wie Kant schreibt,

    »Gewalt« an und verhält sich auf gewisse Weise zweckwidrig, wenngleich im Sinne der

                                                                                                                   14 Wenn es stimmt, dass sich das Gefühl des Erhabenen in uns »ohne zu vernünfteln, bloß in der Auffassung« ergibt, wie Kant explizit sagt (sieht Kant 1974c, §23 B76, Herv. hinzugef.), dann kann sich das Erhabene nicht aus einer von außen hinzutretenden Forderung ergeben.

  •  

    Größenschätzung auch wiederum zweckmäßig (Kant 1974c, §27 B100). An der Ausbildung eines

    Augenblicks oder, wie wir auch sagen könnten: eines Bildes, in dem verschiedene Momente einer

    Sukzession zusammengefasst sind und simultan werden, zeigt sich auf embryonale Weise bereits das

    Hinausgehen über die Sinne, dass die Erkenntnis verlangt.15 Schon das sinnliche Anschauen muss,

    um überhaupt anschauen zu können, seinem eigenen Medium, dem inneren Sinn, Gewalt antun.

    Anders ausgedrückt: dieses Medium besteht als Medium der Erfahrung nur in einer widerwendigen

    Bewegung. Um überhaupt einen Augenblick zu konstituieren, das heißt den inneren Sinn der Zeit als

    solchen zu erfahren, muss sich die Einbildungskraft schon gegen diesen Zeitsinn kehren.

    Was durch die doppelte Bewegung der Einbildungskraft – das progressive Auffassen und das

    regressive Zusammenfassen – entsteht, ist präzise das, was man in einem formalen Sinne als »Bild«

    bestimmen könnte:16 eine Konfiguration, die wesentlich durch ein »Wechselspiel« von Sukzession

    und Simultaneität konstituiert wird.17 Eben in dem Maße, wie ein solches Bild eine voranschreitende

    Bewegung der Sukzession mit einer totalisierenden Bewegung der Zusammenfassung vereint,

    impliziert es die Bewegung der Welt: das Voranschreiten von jedem Bedingten zu seinen

    Bedingungen bis hin zum Grenzwert einer Totalität von Bedingungen, die aber nie einzuholen ist.

    Dieser Ausgriff deutet sich mit der comprehensio aesthetica schon im kleinsten als ein Kraft- oder

    Gewaltakt an, als ein Akt also, der über sich selbst hinausgeht. Welt erscheint an dieser Stelle im

    Keim als Unauflöslichkeit der Dialektik von voranschreitender Auffassung und simultaneisierender

    Zusammenfassung.18 Wenn diese Analyse zutrifft, dann ist uns Welt zwar nicht als ein Gegenstand im

    Bild, aber doch im Keim wesentlich als Bild gegeben: als Dialektik von Auffassen und

    Zussammenfassung und als unabschließbare Bewegung der Totalisierung. Dass unsere Erfahrung

    weltlich ist, würde in diesem Sinne besagen, dass sie wesentlich durch eine bildliche Form der

    Einheitsbildung charakterisiert ist, die sich notwendig in einer Dialektik von Auffassen und

    Zusammenfassen entfaltet. Im Erhabenen tritt diese Dialektik explizit hervor: Das ästhetische

    Komprehensionsvermögen gibt uns einen Vorschein der Totalität der Welt und erweist sich zugleich

                                                                                                                   15 Vgl. zu dieser ubiquitären Erhabenheit, die letztlich allen Erfahrungen unter Zeitbedingungen eignet: Hamacher (2006, 81). 16 Vgl. dazu Kants Redeweise, dass die Einbildungskraft »das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild« bringt (Kant 1974b, A120). 17 Vgl. hierzu maßgeblich Gottfried Boehm (1987: 20ff.). 18 Mit Blick auf Kants Systematik ist die Tatsache bemerkenswert, dass die Einbildungskraft gemäß der dritten Kritik bereits als solche »das Zugleichsein anschaulich macht« (Kant 1974c, §27 B99), indem sie ein ästhetisches Begreifen bewerkstelligt. Die erste Kritik war dagegen von der These ausgegangen, dass die Anschauung immer nur sukzessiv ist und Gleichzeitigkeit sich daher nur indirekt durch die Anschauung zweier entgegengesetzter Abfolgen und die Verwendung des Verstandesbegriffs der Wechselwirkung erfahren lässt (Kant 1974b, A211/B256ff.), nicht aber direkt anschauen lässt.

  •  

    als unzureichend zu ihrer Darstellung, wodurch wir veranlasst werden, uns eine unbegrenzte

    Totalität, eine unendliche Einheit ohne gegebene Ganzheit zu denken, die über jede Form sinnlicher

    Zusammenfassung hinaus geht.

    II.2 Ästhetische Ideen

    Die Erörterung des Erhabenen hat gezeigt, dass es zwar nicht zu einer adäquaten

    Vergegenständlichung der Idee kommen kann, aber doch zu einer anschaulichen Darstellung ihrer

    Undarstellbarkeit. Darüber hinaus führt Kant nun in der Kritik der Urteilskraft noch eine weitere Figur

    ein, die eine komplexe Form der Darstellung der Idee verspricht: einen neuen Typ von Idee, den er

    »ästhetische Idee« nennt und von den Vernunftbegriffen unterscheidet.19 Während ein

    Vernunftbegriff darum nicht Erkenntnis werden kann, weil er einen Begriff bezeichnet, dem niemals

    eine Anschauung entsprechen kann, können ästhetische Ideen niemals Erkenntnis werden, weil es

    sich umgekehrt um Anschauungen handelt, zu denen sich niemals ein adäquater Begriff finden lässt.

    Die ästhetische Idee ist in diesem Sinne das Gegenstück oder Pendant zum Vernunftbegriff.

    Während die ästhetische Idee eine inexponible Vorstellung ist – eine Vorstellung, die nicht durch

    einen Begriff exponiert werden kann –, stellt die Vernunftidee einen indemonstrablen Begriff dar –

    einen Begriff, der nicht in der Anschauung demonstriert werden kann. Beide sollen dabei aus

    gewissen Prinzipien der Erkenntnisvermögen erzeugt werden und nicht in irgendeiner Weise sich

    willkürlich oder grundlos ergeben. Während bei den Vernunftideen Anschauung und

    Einbildungskraft den Begriff der Vernunft nicht erreichen, bleibt bei den ästhetischen Ideen der

    Verstand hinter der Anschauung der Einbildungskraft zurück. In beiden Fällen zeigt sich auch ein

    Bestreben oder Ringen des jeweils unzulänglichen Vermögens: Während die Einbildungskraft sich zu

    erweitern versucht, um die Idee des Ganzen anschaulich auf- und zusammenzufassen, gibt die

    ästhetische Idee viel zu denken und belebt das Vermögen der Begriffe als ganzes, das die ästhetische

    Idee zu begreifen sucht, wenn es darin auch nicht zum Abschluss gelangt. Dabei zeigt sich im Falle

    der ästhetischen Ideen wie im Falle der Vernunftbegriffe jeweils ein eigentümlicher Überschuss über die

    Verstandesbegriffe: eine Form der Ordnung, die über das, was wir durch die dem Verstand

                                                                                                                   19 Die Rede von einer ästhetischen – also: unbegrifflichen – Idee mag zunächst fragwürdig erscheinen, da es die klare Abfolge von Kants Stufenleiter der Vorstellungsarten zu verwirren scheint und seiner Redeweise von einem Aufsteigen der Erkenntnis, die von den Sinnen anhebt, von da zum Verstand voranschreitet und bei der Vernunft endet (Kant 1974b, A298/B355), entgegensteht. Es ist aber daran zu erinnern, dass Kant bereits in der Kritik der reinen Vernunft die Ideen verschiedentlich als Analoga von Schemata (Kant 1974b, A670/B698ff.) charakterisiert und mithin den Produkten der Einbildungskraft implizit parallelisiert hatte. Kant präzisiert nun die mögliche Parallele, indem er ein Moment klarer herausarbeitet, das den Vernunftbegriffen und den ästhetischen Ideen gemeinsam ist: ein Hinausgehen über die Form der Verstandeseinheit.

  •  

    entnommenen Naturbegriffe erfassen können, hinausgeht. In den ästhetischen Ideen wie in den

    Vernunftbegriffen scheint in diesem Sinne eine Totalität von Bedingungen oder ein Zusammenhang

    gegenwärtig, den wir nicht in den Grenzen einer Verstandeseinheit erfassen können.

    Die Parallelität der ästhetischen und der rationalen Ideen und ihre gleichzeitige Gegenläufigkeit –

    den rationalen mangelt es an Anschauung, den ästhetischen am Begriff – führt Kant zu der These,

    dass beide Typen von Ideen sich gewissermaßen ergänzen könnten und die ästhetischen Ideen einer

    »Darstellung der Vernunftbegriffe (der intellektuellen Ideen)« nahe kommen (Kant 1974c, §49 193-

    4). Die ästhetischen Ideen streben nach etwas über der Erfahrungsgrenze hinaus Liegendem, eifern

    dem »Vernunft-Vorspiele in Erreichung eines Größten« (Kant 1974c, §49 193-4) nach und versuchen

    dies in einer Vollständigkeit sinnlich zu machen, für die sich in unserer diskursiven Erfahrung der

    Natur kein Beispiel findet. In der Weise, in der ästhetische Ideen »mehr denken lassen, als man in

    einem durch Worte bestimmten Begriff ausdrücken kann« (Kant 1974c, §49 B195) bieten sie etwas

    dar, was einer »Vernunftidee statt logischer Darstellung« dienen kann. Der paradigmatische Fall einer

    ästhetischen Idee wird so vorgestellt, dass einem Begriff eine Vorstellung der Einbildungskraft

    beigesellt oder unterlegt wird, die zwar »zu seiner Darstellung gehört, aber für sich allein so viel zu

    denken veranlasst, als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen lässt« und mithin

    den Begriff so auf »unbegrenzte Art ästhetisch erweitert« (Kant 1974c, §49 B194). Durch diese

    ästhetische Erweiterung oder Überbordung dessen, was sich in dem Begriff fassen lässt, versetzt die

    Einbildungskraft das Vermögen intellektueller Ideen »in Bewegung« und bringt diese Ideen, die

    ihrerseits aus einer Erweiterung oder »Befreiung« von Verstandesbegriffen (Kant 1974b,

    A409/B435) hervorgehen, auf gewisse Weise zur Darstellung.

    Wir finden so in Gestalt der ästhetischen Ideen – ebenso wie in der Figur des Erhabenen – ein

    Erweitern und Hinausgehen über Grenzen des Darstellungsvermögens; in diesem Falle wird aber das

    Vermögen der Begriffe erweitert, indem von dem Stoff der Einbildungskraft produktiver Gebrauch

    gemacht wird. Kant beschreibt die Tätigkeit so, dass die Einbildungskraft aus dem Stoff, den ihr die

    wirkliche Natur gibt, gleichsam eine andere, zweite Natur schafft (Kant 1974c, §49 B193). Die hier

    aktive produktive Einbildungskraft betätigt sich mithin in etwas, das man Bildung nennen könnte. Sie

    erzeugt eine Darstellung von Ideen der Vernunft, indem sie den Stoff, den ihr die Natur gibt,

    umbildet und ihm eine Ordnung und Einheit mitteilt, die über das hinausgeht, was sich durch die

    Verstandesbegriffe erfassen lässt. Der Natur wird hier so eine »Ansicht« gegeben, »die sie nicht von

    selbst, weder für den Sinn noch für den Verstand in der Erfahrung darbietet«, und wird dadurch »als

    Schema des Übersinnlichen« gebraucht (Kant 1974c, §53 B215). Diese produktive Einbildungskraft

    scheint mithin in gewissem Sinne »weltbildend« zu wirken: indem sie die Natur derart transformiert,

  •  

    das in ihr ein Weltzusammenhang hervortritt und Wirklichkeit gewinnt, der in Gestalt der

    Vernunftidee der Welt nur als Forderung zu weiterer Erkenntnis auftrat.20 Die Kunst des Genies

    stellt in diesem Sinne durch ästhetische Ideen nicht nur die theoretische Idee der Welt vor, sondern

    verweist auf gewisse Weise schon auf die praktische Idee der Welt: die »moralische Welt« (Kant

    1974b, A808/B836), das »Reich der Zwecke« (Kant 1974, B71ff.) oder auch die »reine

    Verstandeswelt« unter dem Grundgesetz der Autonomie (Kant 1974a, A 75), deren »Gegenbild« wir

    in der Sinnenwelt verwirklichen sollen (vgl. hierzu auch Förster 2010, 143ff.)

     

    III. Weltbildung

    Ich habe versucht darzustellen, dass man Kants Kritik der reinen Vernunft einen bemerkenswerten

    Weltbegriff entnehmen kann, der sich dadurch auszeichnet, dass er mit Blick auf die Gefahren einer

    Vergegenständlichung gebildet ist. Kant unterstreicht, dass der Weltbegriff sich nicht etwa an einer

    gegenständlichen Vorstellung von der Welt als Ganzer, sondern an der immer weiter gehenden

    Bestimmung der innerweltlichen Gegenstände zeigt, die auf die Totalität ihrer Bedingungen befragt

    werden, einer Totalität, die stets nur Horizont bleiben kann. Während diese Bestimmungen zunächst

    zu der Annahme führen könnte, dass es von Welt überhaupt keine anschauliche Darstellung geben

    kann oder darf und »Welt« allein in Form einer logischen Forderung der Vernunft fungiert, zeigt sich

    bei Kant im Gegenteil, dass sich dieser Weltbegriff operativ in der Grundstruktur der anschaulichen,

    bildgebenden Erfahrung niederschlägt und in bestimmten komplexen ästhetischen Formen

    anschaulich darstellen lässt. Während das Erhabene die Ideen indirekt und negativ zur Darstellung

    bringt, indem es durch ein Scheitern anschaulicher Darstellung die Undarstellbarkeit der Ideen

    darstellt, kommt es anhand der ästhetischen Ideen gleichsam zu einer approximativen positiven

    Darstellung der Vernunftideen im Medium anschaulicher Erfahrung: Durch die grundlegende

    Umbildung der Anschauung, die über jede Einhegung durch den Begriff hinausgeht, zeigt sich eine

    Form der Sinnlichkeit, die der Transzendenzqualität der Ideen anschaulich korrespondiert. In dem

    Maße, wie die ästhetischen Ideen die Vernunftideen – zumindest andeutungsweise – positiv

    ‚darstellen‘, berühren wir hier das Problem der Verwirklichung von Vernunftideen. Die Frage nach

    der Verwirklichung einer bestimmten Vernunftidee – namentlich der Idee der Freiheit – ist nun ein

                                                                                                                   20 Wir berühren hier einen Sinn von Welt, den Heidegger in Abhebung von Kants kosmologischem Weltbegriff den Weltbegriff in »existenzieller Bedeutung« genannt und wesentlich auf Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht bezogen hat (Heidegger 1995, 27, 33; Heidegger 1996, 308).

  •  

    grundlegendes Problem von Kants praktischer Philosophie, die nicht nur durch das Faktum der

    Vernunft aufzuweisen versucht, dass wir frei sind, und die Form dieser Freiheit als Autonomie näher

    bestimmen will, sondern auch die Frage nach der Verwirklichung des Reichs der Freiheit und also

    der Bestimmung der Sinnenwelt durch eine Idee stellt.

    Die Schwelle, an der Naturbegriffe und Freiheitsbegriff aufeinandertreffen, ist in der Idee der

    Welt, wie Kant sie in der ersten Kritik bestimmt hatte, bereits impliziert. Ich hatte im Vorbeigehen

    erwähnt, dass die Idee der Welt – die Idee einer Totalität der Bedingungen – bei Kant auf zwei

    Weisen artikuliert wird: zum einen als mathematische Totalität, zum anderen als dynamische.

    Während die mathematische sich auf die Synthesis des Gleichartigen bezieht, bezieht sich die

    dynamische auf einen Zusammenhang des Ungleichartigen: In der mathematischen Verknüpfung

    kommen immer wieder nur sinnliche Bedingungen vor, die das sinnlich Bedingte konditionieren; in

    der dynamischen Verbindung wird hingegen die Frage aufgeworfen, ob es auch intelligible

    Bedingungen – in Gestalt der Kausalität aus Freiheit oder in Gestalt eines Wesens aller Wesen – gibt.

    Da diese Frage von Kant so aufgelöst wird, dass ein vollständiger sinnlicher

    Bedingungszusammenhang und intelligible Ursachen zusammen bestehen können, zeigt sich die

    Welt hier in einem eigentümlichen Doppelcharakter als Sinnenwelt und – zumindest potentiell,

    wenngleich hier noch völlig unbestimmt – als Verstandeswelt.21 Während die Auflösung der

    Antinomien alleine das mögliche Nebeneinanderbestehen sinnlicher und intelligibler Bedingungen

    aufgewiesen hatte, übernahm die zweite Kritik die Aufgabe zu erweisen, inwiefern Kausalität aus

    Freiheit für die praktische Vernunft gegeben ist und diese intelligible Bedingung also tatsächlich

    existiert. Die dritte Kritik hatte sich schließlich der Aufgabe gestellt, die Kluft, die das Gebiet der

    Naturbegriffe (i.e. die Sinnenwelt) vom Gebiet des Freiheitsbegriffs trennt, als handele es sich um

    zwei Welten, zu überbrücken, damit deutlich werde, wie der Freiheitsbegriff sich in der Sinnenwelt

    verwirklichen könne.22 Kants Bestimmungen zum Erhabenen und zu den ästhetischen Ideen, die uns

                                                                                                                   21 Dieser Doppelcharakter verweist auf eine weitere Hinsicht, in der »Welt« nicht mehr die Form eines Gegenstands besitzen kann: Kant entgrenzt den Begriff der Welt nicht nur horizontal im Sinne eines Bedingungszusammenhangs sinnlicher Bedingungen, der sich nie einholen lässt, sondern erweitert sie zugleich vertikal, indem er darauf verweist, dass der Sinnenwelt potentiell intelligible Bedingungen unterliegen, die theoretisch nicht weiter zu bestimmen sind. 22 In diesem Zusammenhang wird jener Weltbegriff bedeutsam, den Klaus Düsing im Ausgang von der dritten Kritik als Kants »teleologischen Weltbegriff« beschrieben hat (Düsing 1986): »die Welt, als ein nach Zwecken zusammenhangendes Ganzes« (Kant 1974c, §86 B413). Um zu erläutern, wie die »moralische Welt« (Kant 1974b, A 808/B836) oder auch das »Reich der Zwecke« (Kant 1974, B71ff.) in der Sinnenwelt realisiert werden kann, wird es für Kant nötig aufzuweisen, inwiefern die Sinnenwelt der Form der Zweckmäßigkeit nicht gänzlich fremd ist. Lebendige Wesen, die einen wesentlichen Teil der natürlichen Welt bilden, uns aber zugleich nötigen, sie unter Zugrundelegung des Prinzips der Zweckmäßigkeit zu beurteilen, erhalten dabei eine entscheidende Scharnierfunktion. Wenn wir dergestalt »in der Welt Zweckanordnungen antreffen« (Kant 1974c, §86 B413) und nach dem Prinzip der Vernunft von den jeweils bedingten

  •  

    zeigen, wie sich die undarstellbare Idee der Welt dennoch im Medium der anschaulichen Darstellung

    manifestieren lässt, stehen im Zusammenhang mit diesem Problem: zu zeigen, inwiefern das Reich

    der Freiheit in der Sinnenwelt gegenwärtig sein kann und wie die Idee der Welt nicht nur als

    regulative Idee unsere Verstandesvollzüge anleiten kann, sondern zugleich in Form einer praktischen

    Idee (als »moralische Welt« oder »Reich der Zwecke«) fungieren kann, die wir in der Sinnenwelt zu

    realisieren suchen. Der Aufweis der anschaulichen Darstellbarkeit der Vernunftideen bereitet auf

    gewisse Weise den Gedanken an die Möglichkeit der Verwirklichung von Ideen im Praktischen vor

    und legt dabei die Frage nahe, inwiefern die Verwirklichung der praktischen Idee der Freiheit selbst

    eine ästhetische Infrastruktur erfordert: Formen einer praktischen Einbildungskraft, die die sinnliche

    Verwirklichung dieser Idee vollziehen.

    Damit erreichen wir nun aber ein Problem, das weit über das hinausreicht, was ich hier

    untersuchen wollte: Kants theoretischen Weltbegriff und seine komplexe Beziehung zur

    Anschauung. Auch wenn wir alle Fragen danach zurückstellen, inwiefern die Welt das Ergebnis

    unserer freien Handlungen ist und durch uns gebildet wird, und uns ganz auf die uns

    gegenüberliegende Sinnenwelt beschränken, gilt bereits, dass die Welt als »Inbegriff der

    Erscheinungen« einen ungegenständlichen Charakter besitzt und nicht mehr unter dem Bild einer

    gegebenen Ganzheit vorgestellt werden kann. Kant unterstreicht in eben diesem Sinne, dass die Welt

    »niemals im Bilde entworfen werden kann«. Was ich im Vorstehenden jedoch hervorzuheben

    versucht habe, ist, dass dies in keiner Weise bedeutet, dass die Idee der Welt einfach unabhängig von

    der Form unserer anschaulicher Erfahrung begriffen werden kann. Dass die Welt niemals im Bilde

    entworfen werden kann, meint: dass wir niemals einen ihr korrespondieren Gegenstand in den

    Sinnen geben können. Wenn wir unter »Bild« nun aber nicht die einzelne sinnliche Gestalt – den

    sinnlich konstituierten und präsenten Gegenstand – verstehen, sondern vielmehr die ganze komplexe

    Bewegung des Darstellens, die Kant an den Operationen unserer Einbildungskraft aufgewiesen hat,

    dann kann deutlich werden, dass Welt in entscheidender Weise gerade bildlich hervortritt. Das gilt

    nach unserer Analyse sowohl für die bloß implizite und elementare Weltlichkeit unserer Erfahrung

    wie auch für die explizite reflexive Darstellung der Idee der Welt in ästhetischen Erfahrungen. In der

    doppelten Bewegung sinnlichen Auffassens und Zusammenfassens, die immer wieder über sich

    selbst hinaustreibt, ist in all unserer anschaulichen Erfahrung ein Modus der Zusammenhangsbildung

    am Werk, der implizit auf Welt verweist: auf eine Einheit, auf die ständig ausgegriffen wird, ohne sie

                                                                                                                   

    Zwecken zu einem unbedingten Zweck voranzuschreiten versuchen, dann werden wir schließlich auf den genannten teleologischen Weltbegriff geführt.

  •  

    je gegenständlich als Ganzheit abschließen und vor Augen stellen zu können. In der doppelten

    Bewegung von Auffassung und Zusammenfassung werden wir so – mit Kants Ausdruck –

    »veranlasst«, im Hinblick auf eine Einheit ohne Ganzheit zu operieren, die sich weder direkt

    anschauen noch verstandesmäßig begreifen lässt. In der Figur des Erhabenen und im Ausdruck

    ästhetischer Ideen kommt diese Dimension unserer Erfahrung in komplexen Typen von Bildern

    explizit zu Darstellung. Die Bilder des Erhabenen und der ästhetischen Ideen können an den

    Gegenständen der Erfahrung die Dimension der Welt hervortreten lassen, indem sie über das

    anschaulich zusammenfassbare Ganze oder das begrifflich Erfassbare explizit hinausweisen und auf

    einen Zusammenhang ausgreifen, der nicht mehr als gegenständliche Ganzheit erscheinen kann.23

    Während in Bildern, die das Erhabene evozieren, das Scheitern der sinnlichen Komprehension uns

    veranlasst, eine Totalität zu denken, die über alles sinnliche Zusammenfassen hinausgeht, stellen uns

    Bilder, die ästhetische Ideen ausdrücken, im Medium der Anschauung etwas vor, das mehr zu

    denken veranlasst, als sich jemals »in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt« (Kant 1974c,

    §49 B194).

    Will man vor dem Hintergrund unserer Überlegungen näher verstehen, inwiefern Welt im

    modernen Sinne – also Welt im Sinne einer unendlichen Einheit ohne gegebene Ganzheit, einer

    Einheit der Differenz – durch Bilder erzeugt oder erschlossen werden kann, so muss man darauf

    insistieren, dass Bilder nicht allein aus dem bestehen, was in ihnen entworfen sein mag: nicht allein

    aus den durch sie sinnlich gegebenen Gegenständen. Wir können erst sehen, inwiefern Bilder unsere

    Erfahrung in die Dimension der Welt stellen, wenn wir stattdessen das Bild selbst als den Austrag

    einer Dialektik von Anschauung und Idee, Bedingtem und Unbedingtem, Endlichem und

    Unendlichem begreifen. Wenn es richtig ist, dass Bilder uns in eine Dialektik von Auffassung und

    Zusammenfassung einbinden, in der wir auf eine Ganzheit ausgreifen, die wir nie vor Augen bringen

    können, ohne uns dadurch auf eine noch weiter ausgreifende ‚Einheit‘ zu beziehen, dann erscheinen

    Bilder in einem besonderen Sinne dazu disponiert, in uns die Idee der Welt zu erwecken und diese

    Idee in ihrer Undarstellbarkeit reflexiv zur Darstellung zu bringen. Indem Kant Welt als Idee

                                                                                                                   23 Wenn Welt das Ganze aller Erscheinungen bezeichnet, dann kann sie nicht als eine Erscheinung unter anderen erscheinen, sondern lediglich an den Erscheinungen als die Einheit ihrer Differenz. Die Einheit der Welt – eine Einheit, die keine gegebene Ganzheit ist, aber auch nicht bloß: Summe oder Aggregat (vgl. hierzu Luhmann 1984: XXX) – durch den Begriff der »Einheit der Differenz« zu denken, ist ein Vorschlag, der auf Niklas Luhmann zurückgeht. Vergleiche hierzu Luhmanns unterscheidungstheoretischen Weltbegriff, demgemäß Welt als die Einheit der Differenz von Bezeichnung und Unbezeichnetem, von marked und unmarked space verstanden werden kann. Als solche stellt die Welt einen »Letzthorizont« sinnhaften Beobachtens (Luhmann 1984: 105) dar, der durch jeden Versuch der Beobachtung nur weiter hinausgeschoben werden kann und selbst uneinholbar bleibt. Die Welt bleibt in diesem Sinne »unbeobachtbar«, ihr Sinn »kann nur in der Selbstreflexion des Formgebrauchs sinnhafter Operationen symbolisiert werden.« (Luhmann 1997, 55; siehe auch: Luhmann 1984: 105ff.; 1995: 50ff.)

  •  

    bestimmt hat, hat er darauf aufmerksam gemacht, dass Welt weder als eine gegenständliche Ganzheit

    zu verstehen ist, die sich anschauen lässt, noch als eine Allgemeinheit, die sich durch einen

    Verstandesbegriff begreifen lässt, sondern vielmehr als eine Einheit, die uns in unserer Erfahrung

    aufgegeben ist, ohne je als Ganzheit eingeholt zu werden. Was wir hier im Rückgang auf Kants dritte

    Kritik und zugleich über Kant hinaus nahelegen wollten, ist, dass der Modus, indem wir eine solche

    ‚Einheit‘ ästhetisch zu begreifen suchen können, gerade das Bild ist.

  •  

    Literatur Blumenberg, Hans (1981): Die Genesis der kopernikanischen Welt: Die Zweideutigkeit des Himmels. Eröffnung der Möglichkeit eines Kopernikus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Boehm, Gottfried (1987): Bild und Zeit. S. 1-23 in: Hannelore Paflik (Hrsg.), Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft. Weinheim: Acta Humaniora. De Man, Paul (1993): Phänomenalität und Materialität bei Kant. S. 9-38 in: Paul de Man, Die Ideologie des Ästhetischen. Hrsg. v. Christoph Menke. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Düsing, Klaus (1986): Die Teleologie in Kants Weltbeg