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Bundesgesundheitsbl 2014 · 57:161–163 DOI 10.1007/s00103-013-1897-9 Online publiziert: 23. Januar 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 E. Swart 1  · D. Graf von Stillfried 2  · U. Koch-Gromus 3 1    Institut für Sozialmedizin und Gesundheitsökonomie (ISMG) Med.  Fakultät, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg 2  Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 3  Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg Kleinräumige  Versorgungsforschung Wo sich Wissenschaft, Praxis  und Politik treffen Gesundheitspolitik, die Krankenkassen und ihre Vertragspartner und nicht zu- letzt Versicherte und Patienten stehen vor der Herausforderung, unser Gesund- heitssystem an sich verändernde struktu- relle und finanzielle Rahmenbedingun- gen anzupassen. Die tektonische Kraft der demografischen Entwicklung, ins- besondere die damit einhergehende Bin- nenmigration mit der Entvölkerung länd- licher Räume wird spürbare Veränderun- gen in der Versorgung nach sich ziehen. Dies wird nicht ohne erhebliche Span- nung vor sich gehen. Einerseits erhält das Solidarprinzip in der gesetzlichen Kran- kenversicherung zunehmend eine räum- liche Dimension. Andererseits werden sich die Versorgungssysteme in ländli- chen Räumen und in Ballungsräumen zunehmend auseinander entwickeln. In ländlichen Räumen steht die Versorgung einer definierten Population mit ausge- dünnten Versorgungsstrukturen im Vor- dergrund. Insbesondere ländliche Regio- nen sehen sich untereinander im Wettbe- werb um rückläufige Arztzahlen. Schon heute erweisen sich die ländlichen Regio- nen aus diesem Grund als Entwicklungs- labore für experimentelle kostenträger- und teils sektorenübergreifende Struktur- und Prozessinnovationen. In den Bal- lungsräumen hingegen besteht potenziell ausreichend Redundanz für einen zuneh- menden Wettbewerb um Versicherte und Patienten innerhalb der Region. Der kleinräumigen Versorgungsfor- schung wird in diesem Zusammenhang insbesondere die Aufgabe zuwachsen, Politik, Vertragspartner und Öffentlich- keit darüber zu informieren, ob und ggf. wie eine größtmögliche Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in der medizini- schen Versorgung gewahrt bzw. wieder- hergestellt werden kann. Die kleinräu- mige Versorgungsforschung beschäftigt sich mit der Beobachtung und mit Erklä- rungsansätzen für die Determinanten der regionalen Heterogenität. In ihrem Fo- kus steht die sog. „letzte Meile“ des Ver- sorgungsgeschehens, nämlich das, was an Leistungen oder Versorgungsqualität beim Patienten ankommt. Hierbei nimmt sie – im Unterschied zum Blickwinkel der Qualitätssicherung – weniger die einzel- nen Leistungserbringer in den Blick, son- dern konzentriert sich auf räumlich abge- grenzte Patientenpopulationen. Methodisch geht es um die Frage, ob und inwieweit aus dem für viele überra- schenden Tatbestand überall anzutreffen- der kleinräumiger Versorgungsheteroge- nität Handlungsbedarf sowie Erkenntnis- se zur Verbesserung der Versorgungsqua- lität insgesamt abgeleitet werden können. Die kleinräumige Versorgungsforschung steht somit prototypisch für die Aufga- be, Erkenntnisse aus der Forschung in konkrete Handlungsempfehlungen und Maßnahmen für die gesundheitspolitisch Handelnden umzusetzen. Sie könnte da- mit der Raum sein, wo sich Wissenschaft und Praxis treffen. Dies setzt jedoch in der Gesundheitspolitik sowie bei Ver- tragspartnern, Ärzten und Patienten die Fähigkeit zu einer konstruktiven „Feh- lerkultur“ und die Bereitschaft voraus, an Best-Practice-Beispielen zu lernen. Diese Erkenntnis ist nicht neu, denn zumindest in den USA hat die kleinräu- mige Versorgungsforschung eine nun- mehr 40-jährige Tradition. Seit dem bahnbrechenden Artikel von Wennberg und Gittelson über die Auswirkungen unterschiedlicher Behandlungsstile in den Krankenhäusern Vermonts vor rund 40 Jahren haben sich die Forschungsfra- gen, Methoden und Ergebnisse sowie da- raus abgeleitete Implikationen für die Gesundheitspolitik kontinuierlich ent- wickelt. Wennbergs Forschergruppe am Dartmouth College hat gezeigt, dass die medizinische Versorgung ein popula- tionsbezogenes Feedbacksystem benö- tigt, um in Selbstreflexion des eigenen Handelns die Kriterien für eine ange- messene Versorgung zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Stets strebte Wenn- berg danach, die Grundlagen für verant- wortungsvolle Entscheidungen zu ver- bessern, um zufallsbedingte Entwicklun- gen korrigieren zu können. Damit führ- te Wennbergs Forschung zu einer Rei- he maßgeblicher Innovationen, wie z. B. patientenbezogene Entscheidungshilfen zur Indikationsstellung insbesondere bei Editorial 161 Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 2 · 2014|

Kleinräumige Versorgungsforschung; Small-area health-care research;

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Page 1: Kleinräumige Versorgungsforschung; Small-area health-care research;

Bundesgesundheitsbl 2014 · 57:161–163DOI 10.1007/s00103-013-1897-9Online publiziert: 23. Januar 2014© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

E. Swart1 · D. Graf von Stillfried2 · U. Koch-Gromus3

1  Institut für Sozialmedizin und Gesundheitsökonomie (ISMG) Med. Fakultät, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

2 Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin3 Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg

Kleinräumige VersorgungsforschungWo sich Wissenschaft, Praxis und Politik treffen

Gesundheitspolitik, die Krankenkassen und ihre Vertragspartner und nicht zu-letzt Versicherte und Patienten stehen vor der Herausforderung, unser Gesund-heitssystem an sich verändernde struktu-relle und finanzielle Rahmenbedingun-gen anzupassen. Die tektonische Kraft der demografischen Entwicklung, ins-besondere die damit einhergehende Bin-nenmigration mit der Entvölkerung länd-licher Räume wird spürbare Veränderun-gen in der Versorgung nach sich ziehen. Dies wird nicht ohne erhebliche Span-nung vor sich gehen. Einerseits erhält das Solidarprinzip in der gesetzlichen Kran-kenversicherung zunehmend eine räum-liche Dimension. Andererseits werden sich die Versorgungssysteme in ländli-chen Räumen und in Ballungsräumen zunehmend auseinander entwickeln. In ländlichen Räumen steht die Versorgung einer definierten Population mit ausge-dünnten Versorgungsstrukturen im Vor-dergrund. Insbesondere ländliche Regio-nen sehen sich untereinander im Wettbe-werb um rückläufige Arztzahlen. Schon heute erweisen sich die ländlichen Regio-nen aus diesem Grund als Entwicklungs-labore für experimentelle kostenträger- und teils sektorenübergreifende Struktur- und Prozessinnovationen. In den Bal-lungsräumen hingegen besteht potenziell ausreichend Redundanz für einen zuneh-menden Wettbewerb um Versicherte und Patienten innerhalb der Region.

Der kleinräumigen Versorgungsfor-schung wird in diesem Zusammenhang insbesondere die Aufgabe zuwachsen, Politik, Vertragspartner und Öffentlich-keit darüber zu informieren, ob und ggf. wie eine größtmögliche Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in der medizini-schen Versorgung gewahrt bzw. wieder-hergestellt werden kann. Die kleinräu-mige Versorgungsforschung beschäftigt sich mit der Beobachtung und mit Erklä-rungsansätzen für die Determinanten der regionalen Heterogenität. In ihrem Fo-kus steht die sog. „letzte Meile“ des Ver-sorgungsgeschehens, nämlich das, was an Leistungen oder Versorgungsqualität beim Patienten ankommt. Hierbei nimmt sie – im Unterschied zum Blickwinkel der Qualitätssicherung – weniger die einzel-nen Leistungserbringer in den Blick, son-dern konzentriert sich auf räumlich abge-grenzte Patientenpopulationen.

Methodisch geht es um die Frage, ob und inwieweit aus dem für viele überra-schenden Tatbestand überall anzutreffen-der kleinräumiger Versorgungsheteroge-nität Handlungsbedarf sowie Erkenntnis-se zur Verbesserung der Versorgungsqua-lität insgesamt abgeleitet werden können. Die kleinräumige Versorgungsforschung steht somit prototypisch für die Aufga-be, Erkenntnisse aus der Forschung in konkrete Handlungsempfehlungen und Maßnahmen für die gesundheitspolitisch Handelnden umzusetzen. Sie könnte da-

mit der Raum sein, wo sich Wissenschaft und Praxis treffen. Dies setzt jedoch in der Gesundheitspolitik sowie bei Ver-tragspartnern, Ärzten und Patienten die Fähigkeit zu einer konstruktiven „Feh-lerkultur“ und die Bereitschaft voraus, an Best-Practice-Beispielen zu lernen.

Diese Erkenntnis ist nicht neu, denn zumindest in den USA hat die kleinräu-mige Versorgungsforschung eine nun-mehr 40-jährige Tradition. Seit dem bahnbrechenden Artikel von Wennberg und Gittelson über die Auswirkungen unterschiedlicher Behandlungsstile in den Krankenhäusern Vermonts vor rund 40 Jahren haben sich die Forschungsfra-gen, Methoden und Ergebnisse sowie da-raus abgeleitete Implikationen für die Gesundheitspolitik kontinuierlich ent-wickelt. Wennbergs Forschergruppe am Dartmouth College hat gezeigt, dass die medizinische Versorgung ein popula-tionsbezogenes Feedbacksystem benö-tigt, um in Selbstreflexion des eigenen Handelns die Kriterien für eine ange-messene Versorgung zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Stets strebte Wenn-berg danach, die Grundlagen für verant-wortungsvolle Entscheidungen zu ver-bessern, um zufallsbedingte Entwicklun-gen korrigieren zu können. Damit führ-te Wennbergs Forschung zu einer Rei-he maßgeblicher Innovationen, wie z. B. patientenbezogene Entscheidungshilfen zur Indikationsstellung insbesondere bei

Editorial

161Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 2 · 2014  | 

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invasiven Therapieoptionen, der Dart-mouth Atlas of Health Care als bundes-weites Monitoring-Instrument bis hin zu den theoretischen Grundlagen für die in Obamas Gesundheitsreform zentralen „Accountable Care Organisations“.

In 40 Jahren hat sich der Ansatz kleinräumiger Versorgungsforschung zu einem international anerkannten For-schungsansatz entwickelt und führt in vielen Ländern zu konkreten Interventio-nen in der Gesundheitspolitik. Dies zeigt die zunehmende Zahl von Gesundheits-atlanten, die insbesondere in staatlichen Gesundheitssystemen auch zur indirek-ten Steuerung der Versorgung genutzt werden. Am weitestgehenden dürfte hier-bei die Initiative „Right Care“ des NHS in England sein. Auch in Deutschland entwickelt sich dieser Forschungsansatz. Dieses Schwerpunktheft nimmt deshalb die aktuelle Diskussion um Wege zu einer bedarfsgerechten, wohnortnahen, quali-tativen und finanzierbaren Gesundheits-versorgung zum Anlass für einen Über-blick über Methoden, Datenquellen, Er-kenntnisse und Implikationen der klein-räumigen Versorgungsforschung.

Robra skizziert einleitend die weg-weisenden Erkenntnisse von Jack Wenn-berg und Kollegen nicht nur für das ame-rikanische Gesundheitssystem. Wenn-bergs zentraler Beitrag bestand darin, die scheinbare Objektivität des ärztli-chen Handelns zu hinterfragen. Die Ursa-chen der flächendeckend anzutreffenden kleinräumigen Variabilität der Versor-gung werden auf Unterschiede in Versor-gungsangeboten, ärztlichen Handlungs-mustern („physician practice styles“) und Patientenpräferenzen zurückgeführt. Für Deutschland leitet Robra daraus die For-derung nach einer systematischen Ver-sorgungswissenschaft und einer stärke-ren Nutzerorientierung ab.

Zorn liefert in Fortsetzung dieses in-haltlichen Einstiegs in das Thema einen Überblick über die Förderinitiative Ver-sorgungsforschung der Bundesärzte-kammer und ordnet die darin umgesetz-ten Einzelprojekte in die gesundheitspoli-tische Diskussion um eine bedarfsorien-tierte Versorgungsplanung ein. Der Bei-trag stellt einen Zusammenhang zwi-schen der Diskussion um Über-, Unter- und Fehlversorgung und der kleinräu-

migen Versorgungsforschung her. Wie schon Robra verdeutlicht auch Zorn den Zusammenhang zwischen der datenge-stützten Mikroebene der patientenbe-zogenen Versorgungsforschung und der Makroebene der gesundheitspolitischen Grundlagenentscheidungen auf Bundes- und Landesebene.

Die 2 folgenden Beiträge thematisie-ren methodische Aspekte der kleinräu-migen Versorgungsforschung. Sundma-cher et al. stellen statistische Methoden vor, die eine Einschätzung erlauben, ob eine grafische Verteilung von Kennwer-ten der Morbidität oder Inanspruchnah-me lediglich ein zufälliges Muster dar-stellt oder auf eine räumliche Autokorre-lation benachbarter regionaler Einheiten hindeutet.

Die Methoden erlauben weiter eine multivariate Modellierung der räum-lich dargestellten Kennwerte. Im Beispiel wird die Abhängigkeit der Häufigkeit am-bulant sensitiver Krankenhaushäufigkeit (ASK) von der Leistungsintensität im am-bulanten Sektor untersucht. Die Autorin-nen stellen dar, wie die stationäre ASK-Fallhäufigkeit mit dem Leistungsgesche-hen im vertragsärztlichen Sektor zusam-menhängt. Es lassen sich somit Deter-minanten des Leistungsgeschehens und räumliche Muster identifizieren. Im Rah-men der sektorenübergreifenden Versor-gungsplanung könnten diese Erkenntnis-se für Leistungsplanung und -steuerung genutzt werden.

Swart et al. diskutieren den Zugewinn, der sich aus der Zusammenführung von Primär- und Sekundärdaten für die klein-räumige Versorgungsforschung ergibt. Die Autoren beschreiben die sich wech-selseitig ergänzenden Informationen zum Versorgungsbedarf und Leistungsgesche-hen sowie deren Determinanten, die in direkten Erhebungsdaten und vor allem in Routinedaten der gesetzlichen Kran-kenversicherung stecken. Besonders Er-folg versprechend ist ein individuelles Datenlinkage von Primär- und Sekundär-daten, das aber methodisch, datentech-nisch und rechtlich hohe Anforderungen stellt, auf die explizit eingegangen wird. Mögliche Synergieeffekte eines individu-ellen Datenlinkage werden anhand eini-ger Beiträge aus diesem Schwerpunktheft beispielhaft erläutert.

Stock et al. schlagen eine Brücke von der Methodik zur Versorgungspraxis und zur Gesundheitspolitik. Sie thema-tisieren die Rolle der Präferenzen der maßgeblichen Akteure im Versorgungs-alltag, nämlich der behandelnden Ärzte und der Patienten als Konsumenten von Versorgungsleistungen. Auf den Analy-sen von Wennberg aufbauend, argumen-tieren die Autoren, dass die Kenntnis von Versorgungspräferenzen für die Gestal-tung und kontinuierliche Weiterentwick-lung regionaler und bedarfsgerechter Versorgungsstrukturen maßgeblich ist. Diese Präferenzstrukturen erweisen sich als wichtigste Determinante der jenseits von Morbiditätsunterschieden liegenden „unerwünschten“ regionalen Variationen in der Versorgung. Da aber Präferenzen nicht regelhaft in Routinedaten verfügbar sind, bedarf es zu deren Erhebung spezifi-scher qualitativer und quantitativer Ver-fahren und deren Verzahnung in einem Methodenmix. Nach Auffassung der Au-toren kann es so gelingen, Fehlallokatio-nen sowie Über-, Unter- und Fehlversor-gung zu differenzieren und ggf. gegenzu-steuern.

Eine neue Betrachtungs- und metho-dische Herangehensweise bei der regio-nalen Analyse des Versorgungsgesche-hens diskutieren von Stillfried und Czihal. Ihre Arbeit zielt darauf, die Bedeutung regional verteilter Einflussvariablen und individueller Handlungsweisen besser unterscheiden zu können. Dahinter steht die Zielsetzung, dass unerwünschte re-gionale Versorgungsunterschiede nur dann wirksam modifiziert werden kön-nen, wenn die hierfür ursächlich Han-delnden informiert werden können. Sie schlagen deshalb vor, ergänzend zu einer räumlich-administrativen Abgrenzung von Populationen eine funktionale Ab-grenzung vorzunehmen, sodass die je-weils von einer bestimmten Anzahl medi-zinischer Einrichtungen behandelten Pa-tienten eine Population bilden. Die ver-sorgenden Einrichtungen bilden so ihrer-seits Gemeinschaften (sog. Versorgungs-gemeinschaften), deren Handeln durch Indikatoren des Versorgungsgeschehens abgebildet werden kann. Der Beitrag er-läutert das Grundprinzip des neuen Ver-fahrens und unterbreitet Vorschläge für eine methodische Prüfung seiner Eig-

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nung. Die Autoren versprechen sich von diesem Ansatz nicht nur eine bessere Dif-ferenzierung zwischen (fixen) exogenen und (veränderbaren) endogenen Deter-minanten der Versorgungsvariabilität, sie sehen darin auch eine Möglichkeit, Maß-nahmen zur Reduktion unerwünschter Variationen gezielter vorzunehmen.

Versorgungsanalysen benötigen kon-krete Daten und Berichtsysteme und zu deren Vervielfältigung geeignete Publi-kationsplattformen. Dies ist Gegenstand von 2 weiteren Beiträgen. Kopetsch und John stellen zunächst das elektronische Gesundheitsinformationssystem (eGIS) der Kassenärztlichen Bundesvereinigung vor. Der Aufbau dieser Datenbank wurde motiviert durch Überlegungen zur Ver-besserung der Niederlassungsberatung für Vertragsärzte sowie durch die Not-wendigkeit, Einflussfaktoren auf die Ent-wicklung des vertragsärztlichen Versor-gungsbedarf für die Zwecke einer refor-mierten Bedarfsplanung zur räumlichen Steuerung der vertragsärztlichen Kapazi-täten zu identifizieren. Die im eGIS zu-sammengeführten Daten entstammen u. a. der amtlichen Statistik, Arzt- und Krankenhausverzeichnissen sowie ambu-lanten Abrechnungs- und Verordnungs-daten. Im Einzelnen werden die Darstel-lungs- und Analysemöglichkeiten von eGIS vorgestellt und an Beispielen erläu-tert.

Dass kleinräumige Unterschiede bei Versorgungsbedarf, Morbidität und In-anspruchnahme per se nicht gut oder schlecht sind, sondern zunächst eine wichtige Informationsquelle darstellen, verdeutlicht Mangiapane anhand des Ver-sorgungsatlasses des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung. Der Ver-sorgungsatlas steht unter dem Motto In-formieren – Diskutieren – Handeln und wird als offene Forschungs- und Diskus-sionsplattform verstanden, die der For-schung ebenso wie den Entscheidungs-trägern in der Gesundheitspolitik Daten und Analysen zu aktuellen Versorgungs-problemen für einen öffentlichen Diskurs bereitstellen will. Im Beitrag werden die Themenpalette sowie deren einheitliche Elemente (Einleitung, Tabelle, Karte, Dia-gramm, Bericht, Kommentar) an Beispie-len erläutert.

Das Sonderheft schließt mit der Er-örterung der Bedeutung kleinräumiger Variationen für Prävalenz und Behand-lung depressiver Erkrankungen. Der Bei-trag von Melchior et al. greift dabei vielfäl-tige Aspekte der kleinräumigen Versor-gungsforschung aus den anderen Beiträ-gen auf und stellt diese in den konkreten Kontext von diagnosebezogenen Über-legungen zur Verbesserung und Homo-genisierung der Behandlungsstrukturen und -prozesse. Konkret werden Betrach-tungsebenen regionaler Variationen und daraus abgeleitete Implikationen für die Versorgungsforschung erörtert, ebenso wie potenzielle Datenquellen (Primär-erhebungen, GKV-Sekundärdaten) und methodische Herausforderungen bei der empirischen Beschreibung und analyti-schen Erklärung von Versorgungshetero-genität. Es wird deutlich, dass es bei der regionalen Versorgungsforschung dar-um geht, unabweisbare Variation (z. B. aufgrund objektiver Bedarfsunterschie-de) von unerwünschter und vermeidba-rer Variation (etwa aufgrund von Unter-schieden in Diagnosestellung und Thera-pie) zu trennen und daraus Handlungs-konsequenzen für Versorgungsplanung und -steuerung abzuleiten.

Dieses Schwerpunktheft soll Ihnen die spezifischen Fragestellungen, Metho-den und Verbindungen zwischen Wissen-schaft und Praxis bei kleinräumigen Ana-lysen des Versorgungsgeschehens nahe-bringen. Die Bedeutung dieser Betrach-tungsweise wird durch die notwendige Diskussion um die bedarfsgerechte Aus-gestaltung unseres Gesundheitssystems weiter steigen. Vor dem Hintergrund be-grenzter finanzieller Ressourcen und den Herausforderungen des demografischen Wandels wird eine Stärkung dieser For-schungsrichtung in den nächsten Jahren erforderlich sein, wenn wir sehen und gestalten wollen, wie unser Versorgungs-system „auf der letzten Meile“ wirklich wirkt.

Wir wünschen Ihnen viel Spaß und Anregung bei der Lektüre.

Ihre

Dr. Enno Swart

Dr. Dominik Graf von Stillfried

Prof. U. Koch-Gromus

Korrespondenzadresse

Dr. E. SwartInstitut für Sozialmedizin und  Gesundheitsökonomie (ISMG) Med. Fakultät,  Otto-von-Guericke-Universität MagdeburgLeipziger Str. 44,  39120 [email protected]

Dr. D. Graf von StillfriedZentralinstitut für die  kassenärztliche  Versorgung in der  Bundesrepublik DeutschlandHerbert-Lewin-Platz 3, 10623  [email protected]

Prof. Dr. Dr. U. Koch-GromusInstitut und Poliklinik für  Medizinische Psychologie,  Universitätsklinikum  Hamburg-EppendorfMartinistr. 52,      20246  [email protected]

Interessenkonflikt.  E. Swart, D. Graf von Stillfried und U. Koch-Gromus geben an, dass kein Interessen-konflikt besteht.

163Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 2 · 2014  |