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KLÖ G T J berlin NR. 49/JAHRGANG 18 OKTOBER 2001 TU BERLIN Mensch und Maschine

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Mensch undMaschine

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Roboter geistern durch unser Leben und schlüpfen auf derLeinwand sogar in unsere Körper. Mit der fortschreiten-den Technisierung unseres Alltags umgeben wir uns im-

mer mehr mit allerlei ausgetüftelten Maschinen. Wir passen unsihrem Entwicklungstakt an, gehorchen schon fast treu den Befeh-len aus dem Computer. Oder überholt uns die Entwicklung von an-derer Seite her – werden Maschinen immer menschenähnlicher undreagieren nach unseren bekannten Sozialmustern? Die Schnittstel-le zwischen Mensch und Maschine ist durchlässiger geworden undbirgt auch deshalb die Möglichkeit für neue Entwicklungen in sich.Die fußballspielenden Blechfiguren mit allerlei Chips bestückt oderdas intelligente Haus, dessen Kühlschrank die Regie über unserSpeiseangebot übernommen hat, sind zwei markante Beispieledafür. Wo diese Entwicklung einmal hingehen wird, bleibt abzu-warten. Auch die Dampfmaschine, das Automobil oder der Rech-ner waren zunächst bestaunte Einzelstücke, bevor sie ihren Sieges-zug antraten und unsere Arbeit und Freizeit gewaltig änderten.

Mit »Forschung Aktuell« wollen wir Ihnen die reale Welt ausunseren Laboren aufzeigen, die nicht minder spannend ist als dieScience fiction aus den Filmstudios. Die Forscherinnen und For-scher der Technischen Universität Berlin beschreiben in diesemMagazin ihre Projekte an der Schnittstelle zwischen Mensch undMaschine und erläutern damit ganz spezifische Problemlösungen –egal ob sie im Flugzeug, im Operationssaal, in der Produktions-halle oder im Haushalt notwendig sind. Egal ob sie am Computer-arbeitsplatz auftauchen, beim Autofahren oder bei der Kompositi-on von elektronischer Musik.

Dass die TU Berlin mit ihren mehr als 1000 Forschungsprojek-ten ein weites Feld ist, versteht sich von selbst. Wir bieten Ihnen mitdiesem Magazin eine Orientierungshilfe. Eine Orientierungshilfe,die zu neuem Wissen führt und Ihre Neugierde wecken soll. Aus die-sem Grund haben wir unser bewährtes und von vielen Leserinnen

und Lesern geschätztes Konzept beibehalten. Autorinnen und Au-toren aus unserem Haus stellen Ihnen ihre Forschungsarbeiten aufverständliche Weise dar. Daneben finden Sie verstreut über dasMagazin unsere Rubrik »RoboSpot«, in der wir Ihnen Interessan-tes und zumeist auch Amüsantes aus der Mensch-Maschine-Weltaufzeigen. Sie stoßen dabei nicht nur auf die Anfangsschwierigkei-ten der Rolltreppe, die ein Mann mit einem Holzbein versuchte zuüberwinden, sondern auch auf patente Frauen, die mit der Lösungihrer Alltagsschwierigkeiten zu Erfinderinnen wurden. Auch solcheIdeen werden Ihnen begegnen, die unser Leben zwar erleichternsollten, aber doch keinen Absatzmarkt fanden.

All das haben wir bewusst in der gedruckten Magazinform auf-bereitet. Denn eins lernten auch wir bei der eingehenden Beschäf-tigung mit dem Thema Mensch-Maschine: Es ist schwierig, sichder Macht der Technik zu entziehen. Einen Rat, der vom Compu-terpionier und TU-Absolventen Konrad Zuse stammt, wollen wirIhnen deshalb mit auf den Weg geben: »Wenn die Computer zumächtig werden, dann zieht den Stecker aus der Steckdose!« In die-sem Sinne wünschen wir Ihnen viel Spaß beim Lesen, Blättern undSchmökern in der TU-Wissenschaftswelt.

An dieser Stelle bedanken wir uns für die tatkräftige Unterstützungbei allen Autorinnen und Autoren, besonders bei Prof. Dr. Klaus-Peter Timpe, dem Leiter des Zentrums Mensch-Maschine-Systemeder TU Berlin, für seinen fachlichen Rat und bei Dr. Lieselotte Kug-ler, Mitglied des Verwaltungsrates der Gesellschaft von Freundender TU Berlin und Direktorin des Deutschen TechnikmuseumsBerlin, für Ihre Unterstützung.

www-Portal:http://www-tu-berlin.de/forschung-aktuell

Lesen, Blättern und Schmökernin der Wissenschaftswelt der TU Berlin

Dr. Kristina R. Zerges,Leiterin Presse- undInformationsreferat([email protected])

Stefanie Terp,Dipl.-Journ.Pressereferentin([email protected])

Patricia Pätzold, M. A.Wissenschafts-journalistin([email protected])

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Liebe Leserinnen und Leser,

Profil zu zeigen, ist heute wichtiger denn je.Das gilt im besonderen Maße auch für unsals größte technische Hochschule Deutsch-lands. Wir müssen unsere Stärken bündelnund markante Punkte schaffen, die wiede-rum Schnittstellen nach innen wie nach au-ßen darstellen. Nach außen, um möglichstdie besten Kooperationspartner für unsereWissenschaftlerinnen und Wissenschaftlersowie den besten Nachwuchs zu gewinnen,und nach innen, um den Verflechtungsgradder Disziplinen den Anforderungen aus derGesellschaft – insbesondere auch vom Ar-beitsmarkt – anzupassen. Die Einrichtungvon fakultätsübergreifenden Forschungs-schwerpunkten gehört zum ausgewiesenenProgramm der TU Berlin. Diese organisie-ren sich quer zu unseren Fakultäten. Inter-disziplinarität wird somit der Boden berei-tet. Neben Verkehrstechnologie, Biotechno-logie, Fluidsystemtechnik, Architektur,Stadtforschung und Denkmalpflege oderWasser in Ballungsräumen gehört auch derBereich Mensch-Maschine-Systeme seitmehreren Jahren zu diesen ausgeprägtenund mehrmals positiv evaluierten Schwer-punkten.

Das Verhältnis zwischen Mensch undMaschine ist beispielhaft für eine rasanteEntwicklung. Angefangen von derDampfmaschine über den Computer bishin zur Künstlichen Intelligenz – wir sindin relativ kurzer Zeit Zeugen von Umwäl-zungsprozessen, die die Gesellschaft undsomit das Leben jedes einzelnen von unszum Teil massiv beeinflussen. Wie dieseProzesse unser künftiges Leben ändernwerden, zeigen unterschiedlich ein-drucksvolle Szenarien. Immer wiederstand und steht bei diesem Blick nachvorn die Beziehung zwischen Menschund Maschine im Mittelpunkt der Dis-kussionen. Von der sicheren Handhabungbis hin zur Bedrohung reicht dabei dasSpektrum unserer Erwartungen. Der rea-le Aspekt dieser Fantasien entsteht in denForschungslaboren der Universitäten undder Wirtschaft. Ideen von Ingenieuren bil-den meist den Anfang einer dieser umwäl-zenden Entwicklungen. An der TU Berlinarbeiten seit mehreren Jahren Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftler ander Schnittstelle Mensch-Maschine undsie leisten damit einen entscheidendenEntwicklungsbeitrag für unsere Gesell-schaft.

Vor allem an hochsensiblen Orten wie esKernkraftwerke, Operationssäle oder Flug-zeuge darstellen, sind Lösungen gefragt,die die Wechselwirkungen zwischenMensch und Maschine verbessern sollen.Auch die Geistes- und Sozialwissenschaf-ten, etwa die Linguistik, die Soziologie oderdie Psychologie, wenden sich gemeinsammit den Natur- und Ingenieurwissenschaf-ten diesen Themen zu. Interdisziplinaritätist dabei der Weg zu innovativen Konzep-ten. Dies ist unser Beitrag zum Jahr der Le-benswissenschaften. Denn neben Medizinund Biotechnologie sind es vor allem auchdie Forschungsergebnisse aus den fächer-übergreifenden Projekten der Mensch-Ma-schine-Systeme, die nicht nur die Umge-bung des Menschen verändern, sondernauch den Menschen selbst.

Die Lektüre unseres Forschungsmagazinssoll Ihnen Anregung und Spaß vermitteln,sich mit dieser spannenden Entwicklung zubeschäftigen.

tu berlin forschung aktuell 1/2001 mensch und maschine1

Editorial

Von Hans-Jürgen Ewers

Prof. Dr. Hans-JürgenEwers ist Präsident derTU Berlin

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Inhaltsverzeichnis»Forschung Aktuell«Lesen, Blättern und Schmökern in der Wissenschaftswelt der TU Berlinvon Dr. Kristina R. Zerges, Dipl-Journ. Stefanie Terp,Patricia Pätzold, M. A. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . U2

Editorialvon Prof. Dr. Hans-Jürgen Ewers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Kooperationen initiieren, Arbeitsplätze schaffenvon Prof. Dr. Kurt Kutzler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

Maschinen erobern unseren Alltag 5

Weit über die Grenzen hinausInterview mit dem Leiter des Zentrums Mensch-Maschine-SystemeProf. Dr. Klaus-Peter Timpe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

Der Mensch im Zentrum – Was das ZMMS noch zu bieten hat . . . . . . . . . . . 8

Kreative Wissensvermittlung mit »special effects«Das Deutsche Technikmuseum Berlin geht neue Wege, Technikim Spannungsfeld der gesellschaftlichen Entwicklung darzustellenvon Dr. Lieselotte Kugler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

Das Deutsche Technikmuseum Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

Die Entwicklung zwischen Fiktion und RealitätAn der TU Berlin gibt es seit vielen Jahren gediegene Forschung zurKünstlichen Intelligenzvon Prof. Dr. Bernd Mahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

RoboSpot: Wenn Roboter Fußball spielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

Berühmte TU-Absolventen: Ludwig Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Things that thinkMikrosysteme und Chips werden in Alltagsgegenstände eingebaut,um jederzeit an jedem Ort mit der Umwelt kommunizieren zu könnenvon Prof. Dr.-Ing. Dr. E. h. Herbert Reichl und Dipl.-Ing. Jürgen Wolf . . . . . 16

Der Faktor SpassTechnik kann in einer älter werdenden Gesellschaft helfen,die Selbstständigkeit länger zu erhalten. Eine Forschergruppeder TU Berlin befasst sich mit seniorengerechter Produktentwicklungvon Prof. Dr.-Ing. Lucienne Blessing und Dipl.-Ing. Tamara Elsner . . . . . . . . 20

Seniorenbeirat berät Forscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Stürze vermeiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Nächtliche Lektüre am StrassenrandNicht der Benutzer einer technischen Gebrauchsanweisungsoll heute Spezialist sein, sondern der Herstellervon Dr.-Ing. Thomas Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

RoboSpot: Kanonendonner nach Anleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

Vom Unikat zur Serie 27

Hardware aus dem Wilden WestenDer Siegeszug der Mathematik führte zur Entwicklung vollautomatischer Rechenmaschinen. Den ersten frei programmierbaren Computer Z3baute Konrad Zuse, der an der TH Berlin studiertevon Dr.-Ing. Horst Zuse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

Berühmte TU-Absolventen: Konrad Zuse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

RoboSpot: Fleißige Erfinder – Patente Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

Die Berliner Schule der PsychotechnikAnfang des vorigen Jahrhunderts erhöhte sich mit neuen, effektiven Maschi-nen die Güterproduktion sprunghaft. Soziologie und experimentelle Psycholo-gie begannen, sich mit den Auswirkungen auf den Menschen zu befassenvon Prof. em. Dr. h. c. mult. Dr. Dr.-Ing. E. h. Dr.-Ing. Günter Spur undDipl.-Pol. Sabine Voglrieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

RoboSpot: Erfindergeist auf dem Holzweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

Homo automobilis oder: Das Benzin aus der ApothekeDas Automobil hat unsere Gesellschaft verändert wie kaum eineandere Maschinevon Prof. Dr. Wolfgang König . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

Risiken an der Schnittstelle 39

Qualitätsmanagement im KrankenhausFehlerhafte Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine kann imOperationssaal tödlich sein. Ein interdisziplinärer Forschungsschwerpunktder TU Berlin beschäftigt sich mit Sicherheit und Kooperation insoziotechnischen Systemenvon Prof. Dr. Wolfgang Friesdorf und Dipl.-Psych. Frank Ritz. . . . . . . . . . . . 40

Ein Kompass durch das Innere der MaschineEin TU-Projekt entwickelt ein Unterstützungssystem, das hilft, Fehlerund Störungsursachen in komplexen Maschinensystemen zu finden.Es soll gleichzeitig die Kompetenz des Instandhaltungspersonals fördernvon Prof. Dr. Klaus-Peter Timpe, Dr.-Ing. M. Sc. (USA) Ruth Marzi,Dipl.-Ing. Peter John . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

RoboSpot: Maschinelle Lernhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

Wenn die Zeit davonläuftEine Nachwuchsgruppe der Volkswagen-Stiftung beschäftigt sich an derTU Berlin mit der Simulation menschlichen Verhaltens in komplexen Auf-gabenumgebungen. Sie entwickelt Modelle, um das Verhalten von Systemenvorhersehen zu können, in denen Mensch und Maschine eine Einheit bildenvon Dr.-Ing. Leon Urbas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

RoboSpot: Lächelnde Computerstimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

Die Technik handelt mitDie Grenze zwischen menschlichem Handeln und technischen Abläufenist unscharf. Sozionik-Forscher an der TU Berlin entwickeln ein Konzept des»verteilten Handelns«von Prof. Dr. Werner Rammert und Dr. Ingo Schulz-Schaeffer . . . . . . . . . . . . 49

Was will Sozionik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

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Signale zwischen Himmel und Erde 53

Über Sektorengrenzen hinwegIm Luftraum wird es immer enger. Ein neues Luftverkehrs-Management-Konzept und neu gestaltete Fluglotsen-Arbeitsplätze sollen zukünftig mehrSicherheit gewährleistenvon Prof. Dr.-Ing. Manfred Fricke und Dipl.-Ing. Hans-Gerhard Giesa . . . . . 54

Flugzeuge zum WohlfühlenViele Faktoren nehmen Einfluss darauf, wie sich Passagiere im Flugzeug fühlenund ob ihnen die Maschine Sicherheit vermittelt. Im Auftrag eines Flugzeug-herstellers untersuchten TU-Psychologen, welche das sindvon Prof. Dr. Arnold Upmeyer und Jordis Zühlke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

Gut gerutscht ist fast gerettetDie zweite Etage des neuen Airbus A 380 muss im Notfall innerhalb von90 Sekunden zu evakuieren sein. Psychologen der TU Berlin untersuchtenpsychologische Effekte der upper-deck-Höhe auf das Verhalten der Passagierevon Prof. Dr. Helmut Jungermann, Dr. phil. Katrin Fischer,Dipl.-Psych. Lisa Behrendt, Dipl.-Psych. Boris Gauss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

Ohne Gefahr für Mensch und UmweltIm Flugsimulator des Zentrums für Flugsimulation Berlin stehen derTU Berlin 500 Simulatorstunden jährlich zur Verfügung, um neue Erkenntnisseüber die Interaktion von Mensch und Maschine im Cockpit zu gewinnenvon Prof. Dr.-Ing. Gerhard Hüttig und Dipl.-Ing. Oliver Lehmann. . . . . . . . . 63

RoboSpot: MARVIN als Retter für Drei-D-Jobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

Die Schuldfrage – Mensch oder Maschine 65

Ist der Mensch ein Risikofaktor?Spektakuläre Unfälle in großtechnischen Systemen – Zug-, Fähr- undKernreaktorunglücke – zeigen, wie wichtig heute nicht nur Arbeits-,sondern auch Systemsicherheit ist. Und die hängt zu einem Großteil vonmenschlichem Verhalten ab. Psychologen sind gefragte Forschungspartnervon Prof. Dr. Dr. h.c. Bernhard Wilpert und Dr. Babette Fahlbruch . . . . . . . . 66

RoboSpot: Den Kindern zuliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

Sichere Züge mit 400 km/hKatastrophale Zwischenfälle im Schienenverkehr trotz immer neu eingebauterSicherheitsebenen liefern der Wissenschaft ständig neue Herausforderungenvon Prof. Dr.-Ing. habil. Jürgen Siegmann und Dipl.-Ing. Lutz Hübner . . . . . 70

Das Mass der GeistesblitzeAuch die Unterforderung des Geistes kann die Arbeits- und Systemsicherheitgefährden. Am Beispiel der Flugsicherung entwickeln Forscher der TU Berlinein Modell, um die mentale Beanspruchung zu messenvon Prof. Dr. Klaus Eyferth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

RoboSpot: Jagdhelfer, Kämpfer, Heinzelmännchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

Der gläserne AutofahrerDie so genannten Assistenzsysteme greifen heute zunehmend in dieEntscheidungen des Autofahrers ein. Der Ruf nach mehr »menschen-orientierter« Fahrzeugentwicklung wird immer lautervon Dr. Thomas Jürgensohn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

Alternativen zur Maus 79

Sprechende HändeEine Forschergruppe der TU entwickelte einen Sensorhandschuhmit fünf Fingern, der messen, prüfen und sogar Gebärdenspracheinterpretieren kannvon Prof. Dr.-Ing. Günter Hommel und Dipl.-Inform. Wolfgang Brandenburg 80

Wenn der Computer uns beobachtetMit dem Computer in Blickkontakt zu treten, muss nicht mehr ein bloßesStarren auf den Bildschirm sein. Er kann bereits Blicke aufnehmen,verarbeiten und daraufhin Befehle ausführenvon Dipl.-Psych. Katharina Seifert und Dr.-Ing. Siegmund Pastoor . . . . . . . . 82

Wie Technik gesprochene Worte erkennen kannWie kann man dem Computer beibringen, Sprache zu verstehen? EineForschergruppe der TU Berlin entwickelt ein sprachgesteuertes System, dasvor allem motorisch behinderten Menschen von großem Nutzen sein kannvon Dr.-Ing. M. Sc. (USA) Ruth Marzi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

Wer sucht, der soll auch findenIn das World-Wide-Web werden täglich immer mehr Informationen einge-speist, die oft so schlecht gestaltet sind, dass der Interessierte sie nicht findet.Die Kognitionspsychologie leistet einen wertvollen Beitrag zum optimalenDesign solcher Hypermediasystemevon Dr. Manfred Thüring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

RoboSpot: Marskrümel und Fußmaus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

RoboSpot: Teufel, Titan und Tieftaucher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

Roboter mit Kunstverstand 89

Das erste PasswortDas Thema Mensch-Maschine, Maschinenmensch war seit denAnfängen des Kinos ein prominenter Filmstoff und ist es noch heutevon Dr. Clemens Schwender. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

RoboSpot: Metropolis und Co. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

RoboSpot: Die Kurzweil’sche Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

Von Update zu UpdateAnders als zu Mozarts Zeiten ändert sich das Instrument der elektro-nischen Musik – der Computer – heute ständig, was nicht nur Lehre undForschung viele Schwierigkeiten bereitet. Die TU Berlin verfügt über eineinzigartiges Studio für Produktion und Forschung auf dem Gebiet derelektronischen Musikvon Dipl.-Ing. Folkmar Hein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Musikalische AutomatisierungAuch in der Musik begannen Menschen schon früh mit Versuchen zur Automa-tisierung. Heute ist die Arbeit der Komponisten elektronischer Musik zu glei-chen Teilen in der Musik wie in der Ingenieurskunst angesiedeltvon Dr. Martha Brech . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

RoboSpot: Fehlende Komponisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . U3

Inhaltsverzeichnis

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Die Bündelung von Kompetenzen inausgewählten Forschungsschwer-punkten charakterisiert bereits

jetzt unsere bestehende Struktur. Sie wird ei-nerseits geprägt durch das Wirken von ausge-wiesenen Wissenschaftler-Persönlichkeitenund andererseits ausgebaut durch zukunfts-trächtige und innovative Themenfelder.Durch den Generationswechsel bei unserenHochschullehrerinnen und Hochschullehrerngewinnen wir zudem junge hochqualifizierteWissenschaftlerinnen sowie Wissenschaftlerund damit neue Köpfe für neue Ideen.

Doch die Konkurrenz unter den Hochschu-len beschränkt sich nicht nur auf das He-rausstellen der wissenschaftlichen Stärken,sie findet vor allem auch in der Auseinan-dersetzung um die finanziellen Ressourcenstatt. Dem Wettbewerb folgt die Profilbil-dung der Hochschulen, deren Grundlageein gesichertes Budget ist. Auf ihm müssendie Bausteine unseres Hauses fest stehen.Die Ausstattung des TU-Haushaltes durchdie Berliner Hochschulverträge ist eine un-

zureichende Grundausstattung, die wirdurch das Erschließen anderer Finanztöpfekräftig erweitern müssen. Unsere Reaktionauf die technologiepolitische Strategie desLandes zur Standortprofilierung ist einwichtiger Schritt in diese Richtung. DieWissenschaftsstadt Berlin muss sich alsweltweit angesehener Anbieter innovativerLösungen in spezifischen Technologieberei-chen oder Marktsegmenten etablieren. Indiesen Feldern entstehen die Anknüpfungs-punkte zwischen Wissenschaft, Wirtschaftund Politik, die – nicht nur angeschobenmit dem Geld aus der öffentlichen Hand –künftige alternative Finanzierungsmög-lichkeiten erlauben. Je höher der Verflech-tungsgrad zwischen den Akteuren ist, umso mehr Vorteile entspringen ihm. Dieseheißen für uns ganz konkret: Drittmittelvo-lumen erhöhen, Forschungskooperationeninitiieren, Arbeitsplätze schaffen, aber auchGrundlagenforschung sichern.

Um die dafür vorgesehenen Gelder desLandes nutzen zu können, sollten wir unse-

re wissenschaftliche Projektausrichtungnach den Ressourcen ausrichten, insbeson-dere dort, wo das Land Wissenschafts-,Wirtschafts- oder Technologiekernpunktedefiniert. Forschungsschwerpunkte alstemporäre Querschnittseinrichtungen zurFakultätsstruktur sind dabei für uns dasgeeignete Mittel, um dort anzuknüpfen undin höchst attraktive Technologie- und Wirt-schaftsfelder einzudringen. Eine Heraus-forderung, die gerade für eine technischeHochschule sehr attraktiv ist.

Wir leben heute in der Zeit von Systemen,die ein ganzheitliches, ein interdisziplinäresHerangehen erfordern. Unsere Kooperati-onspartner – insbesondere in der Wirt-schaft – verlangen immer mehr nach sys-temübergreifenden Lösungen. Die Syner-gien aus der Zusammenarbeit von Inge-nieur-, Natur-, Wirtschafts-, Geistes- undSozialwissenschaftlern sind hier der Motorfür innovative Ergebnisse, die immerschneller den Weg aus den Laboren finden.Sei es die Bio- oder Nanotechnologie oderauch das Feld der Mensch-Maschine-Sys-teme – überall dort, wo Wissenschaftlerin-nen und Wissenschaftler aus unterschiedli-chen Disziplinen zusammentreffen, eröff-nen sich neue Blickwinkel und Lösungsan-sätze. Diese gezielt zu initiieren, zu fördernund auszubauen ist uns ein wichtiges An-liegen. �

Forschungspolitik der TU Berlin

Kooperationen initiieren,Arbeitsplätze schaffen

Von Kurt Kutzler

Gerade vor dem Hintergrund der wachsenden Konkurrenzsituation unter denHochschulen spielt die Profilbildung der einzelnen Hochschule eine immer stärke-re Rolle. Vor dieser Herausforderung steht auch die TU Berlin. Nur durch gezielteSchwerpunktsetzungen und einer daraufhin orientierten Entwicklungsplanungund Berufungspolitik wird es uns gelingen, im wachsenden nationalen und inter-nationalen Wettbewerb zu bestehen. Der Bereich Forschung ist dabei das entschei-dende Instrument für eine ausgeprägte und nachhaltige Profilbildung.

Prof. Dr. Kurt Kutzler,Vizepräsident derHochschulrektorenkon-ferenz und 1. Vizepräsi-dent der TU Berlin

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Maschinenerobern unseren Alltag

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Herr Timpe, Sie beschäftigen sich mitMensch-Maschine-Systemen im Rah-men der gesellschaftlichen Entwick-lung. Was sind Mensch-Maschine-Systeme?Der Begriff »Mensch-Maschine-Systeme«ist natürlich eine Abstraktion. Er bezeich-net das Zusammenwirken von Personenmit technischen Systemen, das darauf ge-richtet ist, eine bestimmte Aufgabe zu er-füllen.

In diesem System müssen mindestensein Mensch und mindestens eine MaschineInformationen in unterschiedlichen Situa-tionen austauschen, um ein Ziel zu errei-chen. Maschinen können Fahrzeuge sein,Produkte, Gebrauchsgüter, Geräte oderÄhnliches. Sie bestehen aber immer, imUnterschied zu Werkzeugen, aus einerVielzahl von Elementen, die stark vernetztsind. Wie dieses Mensch-Maschine-Sys-tem funktioniert hängt von vielen Kompo-nenten des Zusammenwirkens ab: Einer-seits von der menschlichen Informations-verarbeitung, der soziale, psychologischeund biologische Gesetzmäßigkeiten zu-grunde liegen; andererseits von techni-schen Prozessen, die physikalischen Ge-setzen gehorchen.

Sie sind an der TU Berlin Sprecher desZentrums »Mensch-Maschine-Syste-me«. Welche Aufgaben hat dasZentrum?Das ZMMS wurde an der TU Berlin voracht Jahren mit dem Ziel gegründet, Pro-jekte aus dem Themenkreis Mensch-Ma-schine-Systeme mit humanwissenschaft-lich und ingenieurwissenschaftlich arbei-tenden Kollegen gemeinsam zu bearbeiten.Interessierte Kollegen können jederzeit eineMitarbeit beantragen. Mittlerweile ist eineForschergruppe der Deutschen For-schungsgemeinschaft eingerichtet worden,eine Nachwuchsgruppe von der Volkswa-gen-Stiftung und viele kleinere Projekte.Die Arbeit des Zentrums wird sehr positivwahrgenommen. Besonderes Interesse hatunsere zweijährliche »Werkstatt Mensch-Maschine-Systeme«, die in diesem Jahrzum vierten Mal stattfindet, in der Indus-trie wie auch der Hochschullandschaft ge-funden.

Wir haben eine eigene Publikationsreiheim VDI-Verlag geschaffen. Vom DeutschenForschungs-Netz (DFN) bekamen wir denAuftrag, ein Internetportal zur Mensch-Maschine-Interaktion (MMI-Portal) auf-zubauen. Außerdem können wir eine ein-

malige Expertendatenbank vorweisen.Fachleute aus Deutschland, die Forschun-gen zur Mensch-Maschine-Interaktion be-treiben, sind hier mit ihren Arbeiten einge-tragen. Wer zu einem speziellen Themaeinen Experten sucht, kann in dieser Da-tenbank kostenlos nach Informationensuchen.

Auf welche Schwerpunkte konzen-triert sich das ZMMS in der Forschung?Sehr wichtig ist zum Beispiel das Themamultimodale Interaktionen. Es handelt sichdabei um einen Informationsaustausch zwi-schen Computer und Mensch nicht mehrnur über die Tastatur oder die Maus, son-dern auch über andere Kanäle, z. B. Gestik,Sprache oder Blicke. Ein zweiter Schwer-punkt ist die Entwicklung von Unterstüt-zungssystemen für den Menschen im Fahr-zeug- und Maschinenbau. Ein dritterSchwerpunkt befasst sich mit dem Thema»Verlässlichkeit«. Durch die Technik kannder Mensch weit über die Grenzen seiner na-türlichen Fähigkeiten hinaus agieren. Er istsich aber dieser Grenzen, die er überschrei-tet, oft nicht bewusst, weil die Maschine sei-ne aktuellen Defizite ausgleicht. Wir be-schäftigen uns also auch mit der Frage: Ist

Zentrum Mensch-Maschine-Systeme

Weit über die Grenzen hinaus

Interview mit Klaus-Peter Timpe

Seit der Mensch Werkzeuge benutzt und später daraus Maschinen baute, war sein Verhältnis zu diesen technischen Systemenambivalent. Die Maschine unterstützt ihn bei schwierigen oder kraftaufwendigen Arbeiten und fördert seine Produktivität.Immer wieder jedoch entgleitet dem Menschen die Kontrolle über seine Maschine und es kommt zu spektakulären Katastro-phen. Literaten malen sich Welten aus, in denen die Maschinen die Kontrolle übernommen haben. Wie real sind diese Visio-nen und wie kann der Mensch eine förderliche Zusammenarbeit mit der Maschine gestalten? Forschung Aktuell fragte denSprecher des Zentrums Mensch-Maschine-Systeme an der TU Berlin, Prof. Dr. Klaus-Peter Timpe.

Prof. Dr. Klaus-PeterTimpe ist Leiter desZentrums Mensch-Maschine-Systeme(ZMMS) der TU Berlin

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Weit über die Grenzen hinaus

der Mensch bei der Überschreitung dieserGrenzen noch Herrscher des Systems? Be-sonders zukunftsträchtig ist viertens dieEntwicklung von Technik-Systemen, diedem Menschen nicht mehr Lösungen vor-schreiben, sondern verschiedene Alternati-ven aufzeigen und ihm die Entscheidungüberlassen. Hier ist ein gemeinsames Lernenmöglich. Die System-Entwurfsstrategieheißt nicht mehr »Beobachten und Bedie-nen«, sondern »Verstehen und Bedienen«!

Das Unbehagen des Menschen derTechnik gegenüber ist immer auch dieAngst vor der Herrschaft der Maschi-ne. Befasst sich das Zentrum auchmit Schwerpunktverlagerungen inder Partnerschaft Mensch/Maschine?Natürlich. Wir gehen dabei aber von Fol-gendem aus: Beim zielgerichteten Informa-tionsaustausch, der Interaktion zwischen

Mensch und Maschine, hat selbstverständ-lich immer der Mensch die Regie, denn nurer kann Ziele bilden. Doch es gibt unter-schiedliche Grade der Dominanz, die wirals Automatisierungsstufen bezeichnen.Aber selbst bei der Vollautomatisierung,die es in dem Sinne gar nicht gibt, bleibt dieletzte Stufe, die der Verantwortung, immerbeim Menschen, beispielsweise beim Sys-tementwickler.

Ist eine künstliche Intelligenz als Aus-gangspunkt der Prozesse denkbar?Welche Rollen sollen Mensch undMaschine jeweils zukünftig spielen?Soll die Maschine den Menschen un-terstützen oder langfristig ganz er-setzen?Die Rolle, die Mensch und Maschine in ih-rer Interaktion, und nur die betrachten wirja, zukünftig spielen werden, hängt ganz

von ihren jeweiligen Aufgaben ab, sie istalso »systemorientiert«. Je nach Anforde-rung wird entweder der Mensch oder dieMaschine flexibel die geforderten Aufga-ben übernehmen. Insofern wird die Technikimmer unterstützen, kann aber auch maldie Systemführung vollständig überneh-men. Dennoch soll das ganze System amMenschen orientiert bleiben.

Ist der Mensch heute schon überfor-dert von den Anforderungen derTechnik, in dem Sinne, dass die Kon-trolle über seine eigenen Maschinenihm entgleiten kann?Ich glaube eher, dass die Technik den Men-schen unterfordert, denn er wird oft zumpassiven Beobachten degradiert. Außer-dem resultieren aus dem Missverstehen derMaschine viele Fehler, wenn es darum geht,die Maschine unter Kontrolle zu halten.

Warum werden die Interaktionen inMensch-Maschine-Systemen inter-disziplinär erforscht und welcheSchwierigkeiten ergeben sich daraus?Mensch-Maschine-Systeme sind hochkom-plex. Eine einzelne Disziplin wäre mit ihrerEntwicklung nach technischen und gleich-zeitig humanwissenschaftlichen Kriterienschlichtweg überfordert. Nur mit dieser In-terdisziplinarität kann eine sinnvolle Ganz-heit des Systems entstehen. Wenn Informa-tiker und Maschinenbauingenieure zusam-menarbeiten ist das noch nicht interdiszip-linär in meinem Sinne. Im ZMMS geht esvielmehr um die Zusammenarbeit zwischenHuman- und Sozialwissenschaften mit denIngenieurwissenschaften. Psychologenoder Linguisten verstehen Aufgaben andersals Ingenieure und Informatiker. Es bedarfeiner jahrelangen Zusammenarbeit, umsich das richtige Verständnis für das jeweilsandere Fach anzueignen. Es ist ein ganz we-sentliches Anliegen des Zentrums, gemein-same Konzeptionen, Theorien, Denk- undHerangehensweisen mit zu formen, die vonallen Beteiligten als relevant betrachtet undvon allen vertreten werden können.

Was kann das ZMMS seinen Partnernin Industrie und Forschung konkretanbieten?Wir initiieren für andere Einrichtungen in-terdisziplinäre Forschungsvorhaben, unse-

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Buchtipp aus dem ZMMS

Die Beschäftigung mit Mensch-Maschine-Systemen ist keineakademische Spielwiese, son-

dern unverzichtbares Handwerkszeugmoderner Systemgestaltung. Diesesnachzuweisen ist eines der Hauptanlie-gen des soeben erschienenen Buches»Mensch-Maschine-Systemtechnik«. Eswill vor allem Ingenieure, Humanwissen-schaftler und Studierende ingenieurwis-senschaftlicher oder arbeits- und inge-nieurpsychologischer Studiengänge zuminterdisziplinären Denken anregen. DieAutoren, Wissenschaftler und Wissen-schaftlerinnen aus dem ZMMS und ko-operierenden Instituten, stellen an kon-kreten Fallbeispielen dar, wie die theore-tischen Vorstellungen und Visionen derForscher und Forscherinnen auch in derPraxis Umsetzung und Anwendung fin-den. Ein breiter Bogen ist gespannt vonder historischen Entwicklung des Gedan-kens, wie Mensch und Maschine zusam-menwirken und effektiver, fehlerloser undunfallfreier interagieren können, über denderzeitigen Stand der Forschungen bishin zu Trends, Ausblicken und Perspekti-ven der interdisziplinären Zusammenar-

beit bei der Gestaltung von Systemen,von Arbeitsplätzen, wo Menschen undMaschinen in einen gemeinsamen Ar-beitsprozess verwickelt sind. (Red.)

Klaus-Peter Timpe, ThomasJürgensohn und Harald Kolrep (Hrsg.)Mensch-Maschine-SystemtechnikKonzepte, Modellierung, Gestaltung,EvaluationSymposion Publishing GmbH,Düsseldorf, Oktober 2000,ISBN 3-933814-20-0

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Der Mensch im Zentrum – Was das ZMMS noch zu bieten hat

Weit über die Grenzen hinaus

re Mitarbeiter koordinieren Verbundpro-jekte und übernehmen das Projektmanage-ment. Wir bieten Weiterbildungen zu spe-ziellen Fragestellung der Mensch-Maschi-ne-System-Forschung an. Wir beraten undbegutachten bei speziellen Problemen derSystementwicklung, führen Arbeitsanaly-sen für das Sicherheitsmanagement durchund Vieles mehr. Außerdem organisierenwir Veranstaltungen und Kongresse, gebeneinen Online-Informationsdienst herausund stellen unsere Expertendatenbank be-reit.

Ist es denn schwierig, Industriepart-ner von der Notwendigkeit interdis-ziplinärer Herangehensweisen zuüberzeugen?Zum Glück ist mittlerweile schon vielfacherkannt, dass die heutigen komplexen Auf-gabenstellungen nicht im Alleingang zu be-wältigen sind. Nicht zufällig entstehen ge-genwärtig ähnliche Zentren, die interdis-ziplinär forschen, z.B wird in Chemnitz ge-rade ein vergleichbares Zentrum aufge-baut, in Kaiserslautern arbeitet das Zent-rum für Mensch-Maschine-Interaktion

u. a. m. Dieses interdisziplinäre Denkensetzt sich durch. Auch in der Lehre. Wir bie-ten Lehrveranstaltungen an, die verschie-dene Disziplinen integrieren, wie »Mensch-Maschine-Systeme«, »Modellierung vonMMS« oder Ähnliches. Denn das Funda-ment für interdisziplinäre Zusammenar-beit, vor allem auch in der Industrie, wirdan der Universität gelegt.

Herr Timpe, wir danken Ihnen fürdieses Gespräch!

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Auszeichnungen Die »Willumeit-Stiftung« zeichnet jedes Jahr hervorra-gende Arbeiten aus, die in der Bundesre-publik zum Thema Mensch-Maschine-Systeme mit dem Schwerpunkt Fahrzeug-technik entstanden sind. Zur Nach-wuchsförderung finanziert sie Kongressefür Studierende oder besondere Auslands-aufenthalte. Nach dem plötzlichen Todvon ZMMS-Mitbegründer Prof. Dr.Hans-Peter Willumeit hat die TechnischeUniversität Berlin, mit Einwilligung sei-ner Frau, die noch vorhandenen For-schungsgelder in Stiftungskapital umge-wandelt. Hans-Peter Willumeit war seit1973 Professor für Kraftfahrwesen an derTU Berlin. Für seine Forschungsleistun-gen auf den Gebieten Fahrzeugdynamikund Fahrverhalten erhielt er 1988 den For-schungspreis der Ford Motor Co. Die Ein-sicht, dass Technik nichttechnische Gren-zen hat und dass es auf Akzeptanz durchden Menschen ankommt, hat Prof. Dr.-Ing. Hans-Peter Willumeit dazu bewogen,das TU-Zentrum Mensch-Maschine-Sys-teme mitzubegründen. Ingenieure, Medi-ziner und Psychologen sollten hier zu-sammenarbeiten. Hans-Peter Willumeitwidmete sich vor allem der Erforschungvon Interaktionen des Fahrers mit demFahrzeug. An Fahrsimulatoren und mittheoretischen Modellen des Menschensuchte er nach Erklärungen, Vorhersagenund Verbesserungsmöglichkeiten. ImSommer 2000 verstarb der hochgeschätz-te Hochschullehrer und Wissenschaftler

im Alter von 63 Jahren nach schwererKrankheit. Das Ergebnis seiner Arbeit liegtin 140 Veröffentlichungen vor.

Experten: Gesucht und GefundenIngenieure und Humanwissenschaftler ar-beiten gemeinsam an Problemen der Inter-aktion von Mensch und Maschine. Sie wol-len leichter bedienbare und verlässlicheSysteme bauen. Dabei ist es wichtig, dasssich Experten aus unterschiedlichen Fach-

disziplinen austauschen können. DasZMMS hat daher eine Datenbank aufge-baut, in der Informationen über Fachleu-te auf diesem Gebiet gesammelt werden.Die Datenbank bietet registrierten Benut-zern kostenfrei Informationen und Ergeb-nisberichte laufender und abgeschlosse-ner Projekte, Kooperationspartner sowieAnsprechpartner. (Red.)http://www.zmms.tu-berlin.de/expert_d.html

Hochtechnisierte Arbeitsplätze in der Flugsicherung

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Weit über die Grenzen hinaus

Interaktiv im Netz Auch »MMI In-teraktiv«, das Online-Journal desZMMS, ist ein Forum für den Erfah-rungsaustausch und die Kooperation derbeteiligten Disziplinen. Und so interaktivwie der Name ist auch der Inhalt. DasJournal gibt jungen Wissenschaftlern dieMöglichkeit, ohne bürokratische Hürdenihre interessanten Arbeiten zu veröffentli-chen. Interessierte Autoren können sich,um die Bearbeitungszeit zu verkürzen,Formatvorlagen herunterladen. Die Nut-zer haben dadurch topaktuell Zugriff aufdie neuesten Entwicklungen, Erfahrungs-berichte und Forschungsergebnisse undsie können sich individuelle Artikel-sammlungen zusammenstellen. Suchkri-terien wie Anwendungsfelder, Methoden,Autoren und Stichworte gestatten eineschnelle und interaktive Suche nach spe-zifischen Publikationen. Inhaltlich stehennatürlich Fragen der Mensch-Maschine-Interaktion im Mittelpunkt: Analyse undBewertung vorhandener Systeme genau-so wie die Auslegung und Gestaltungneuer Anlagen und Systeme.http://www.mmi-interaktiv.de

Tor zu Mensch-Maschine-Syste-men In Zusammenarbeit mit drei wei-teren Forschungseinrichtungen entwi-ckelt das ZMMS ein Web-Angebot, dasgleichzeitig Informationen aller Beteilig-ten zusammenführt und mit einer Koope-rationsplattform verbunden ist: DasMMI interaktiv PORTAL. Beteiligt

sind Institute der RWTH Aachen, der UniKaiserslautern und der GH Essen, die Pro-jektkoordination liegt beim ZMMS. DasPortal, das Ende 2002 in Betrieb gehen soll,will eine umfassende Basis für die Informa-tion und Zusammenarbeit der Mensch-Maschine-Interaktions-Forscher und -Ent-wickler im deutschsprachigen Raum sein.Einige Komponenten sind schon als Einzel-angebote im Netz zu finden, wie zum Bei-spiel das Online-Journal »MMI interaktiv«oder die Expertendatenbank des ZMMSund Angebote der anderen Institute. WasNutzer besonders reizen soll: Ihnen ist dieRolle aktiver Redakteure zugedacht. Siesollen neue Inhalte selber in das System ein-geben. Gleichzeitig profitieren sie von Link-Sammlungen, Mailing-Listen, Konferenz-Angeboten und Agenten, die einzelnenNutzern spezielle Informationen selbsttätigzukommen lassen. Datenschutz und Da-tensicherheit sind bei der Entwicklungoberstes Gebot. Gefördert wird dieses Pro-jekt vom Deutschen Forschungsnetz-Ver-ein mit Mitteln des Bundesministeriumsfür Bildung und Forschung.

Eyes-Tea: Teeparty für Blick-For-scher Fast zwanzigmal traf man sichund diskutierte über Methoden, Augenbe-wegungen zu messen. Mitarbeiter desZMMS initiierten die Veranstaltung Eyes-Tea, die alle sechs bis acht Wochen stattfin-det und auf der Blickbewegungsforscheraus ganz Deutschland über ihre For-schungsergebnisse berichten und sie zur

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Ergonomie, Simulation des Fah-rerverhaltens, optimale Automa-tisierung, verkehrspsychologi-sche Aspekte und Vieles mehr:Erstmalig stellt Thomas Jürgensohn dasThema der Fahrzeugführung in dem neuerschienenen, von Klaus-Peter Timpe he-rausgegebenen Buch »Kraftfahrzeugfüh-rung« geschlossen dar. Er gibt dabei Ein-blicke in alle Aspekte der Kraftfahrzeug-technik, die nicht isoliert von den Erfor-dernissen, Eigenschaften und Grenzendes menschlichen Fahrers betrachtet wer-den können. Das Buch ist als Gedenk-band für Prof. Dr. Willumeit konzipiert,der im Sommer 2000 verstarb. Er war ei-ner der wenigen Wissenschaftler inDeutschland, der die Thematik der Kraft-fahrzeugführung in ihrer vollen Breiteverfolgte. (Red.)

Thomas Jürgensohn,Klaus-Peter Timpe (Hrsg.)KraftfahrzeugführungSpringer Verlag Heidelberg 2001ISBN 3-540-42012-6

Neu erschienen:

Im Cockpit können Blicke der Piloten gemessen werden

Diskussion stellen. Wenn auch die For-schungsgegenstände und Ziele unter-schiedlich sind, so gibt es doch eine gan-ze Reihe von Fragen und Problemen, diesich gleichen. Bei Tee (oder Kaffee) undGebäck, bietet der »Eyes Tea» die Mög-lichkeit, sich über Gemeinsamkeiten aus-zutauschen und die Aktivitäten andererForscher kennen zu lernen. (Red.)http://www.zmms.TU-Berlin.de/Eyes-Tea/

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Betrachten wir heute – an derSchwelle des 21. Jahrhunderts – diedamaligen literarischen oder künst-

lerischen Zeugnisse zur Haltung der Men-schen gegenüber den neuen »Maschinen-wesen«, können wir uns zwar ein differen-zierteres Urteil bilden, aber ähnliche Ge-fühle vor dem Ungewissen – vor den neuenTechnologien, vor dem raschen Struktur-wandel und der Informationsfülle in der sogenannten Wissensgesellschaft – sind unsheute ebenso eigen wie den Menschen im19. Jahrhundert.

Es wird sogar behauptet, Deutschlandsei weniger kompetent als andere Industrie-länder, den neuen Herausforderungen un-serer Wissensgesellschaft zu begegnen, de-ren Probleme darin bestehen, dass sich inrascher Folge das weltweit verfügbare Wis-sen verdoppelt, dass mehr als 20.000 wis-senschaftliche Publikationen jeden Taghinzu treten und niemals zuvor so vieleWissenschaftler und Wissenschaftlerinnenauf der Welt arbeiteten wie derzeit. Außer-dem sind Wissen und Information weltweitjederzeit über das Internet verfügbar, wo-mit die Raum – Zeit – Dimension aufgelöst

ist und das Zeitalter der Globalisierung»gekommen« ist.

Trotz des begeisterten Spiel- und Unter-haltungstriebes großer Teile der Bevölke-rung und eines eher unreflektierten Um-gangs mit den neuen Medien bleiben dieAmbivalenz und das Dilemma bestehen:

Es existiert keine ungebrochene Fort-schrittsentwicklung. Ob wir wollen odernicht: Wir machen eine Entwicklung vonder Arbeitsproduktivität hin zur Ressour-cenproduktivität durch, wodurch ökologi-sche Fragen größere Bedeutung gewin-nen. Wenn den Menschen die Arbeit in deralten Form ausgeht und sie heute eineneue Qualität erreicht, so ist Partizipati-on an der Wissensgesellschaft und derkulturellen Entwicklung nur durch einenhohen Bildungsgrad – oftmals speziali-sierte Wissenserweiterung und Entwick-lung hoher technologischer Kompetenz –möglich. Für die Partizipation wird ent-scheidend sein, wie die Menschen mit dergroßen Fülle von Informationen umgehen.Wichtigster Schnittpunkt hierbei ist dasVerhältnis »Mensch – Maschine«, wasbei Goethe bereits thematisiert wird

und was sich bis heute laufend veränderthat.

Obwohl wir wissen, dass man Ängstenam besten durch Aufklärung und Wissens-aneignung begegnet, liegt ein kreativerUmgang mit ihnen und die bildungspoliti-sche Verankerung von Aufklärung im Ar-gen. Bildung und Wissen können an vielenOrten vermittelt werden – einer dieser Orteist ein Museum, in unserem Zusammen-hang von Mensch und Maschine, ein Tech-nikmuseum. Bisher wird in Technikmuseendie Arbeitsproduktivität in Zeugnissen derObjektkultur, wie sie uns während der In-dustrialisierung überkommen sind, ausge-stellt. In welchem Spannungsfeld sich einheutiges Technikmuseum befindet und wel-che Möglichkeiten es bereithält, soll hier inaller Kürze dargestellt werden.

Ein Technikmuseum ist ein gesellschaft-lich anerkannter Ort, an dem eine Ansamm-lung von technischem, damit auch kulturel-lem Wissen zusammen getragen wird. Da-neben ist es keine bloße Bewahranstalt vonDingen, sondern ein lebendiger Ort gesell-schaftlichen Lebens. Neben der Erfüllungder staatlich übertragenen Aufgabe des Be-wahrens, Ausstellens und Vermittelns, gibtdieser Ort vor allem Museumsbesuchern dieGelegenheit, ihre Erfahrungen und Sicht-weisen, aber auch ihre Unkenntnis mit ein-zubringen. Dabei stehen heute veränderteschnelle Sichtweisen einer eher statischenMuseumspräsentation, die auf Dauer undRuhe, auf Besinnlichkeit angelegt ist, dia-metral gegenüber. Hinzu kommt, dass beidem gegenwärtigen Wissens- und Wertever-

Das Deutsche Technikmuseum Berlin

Kreative Wissensvermittlung mit»special effects«

Von Lieselotte Kugler

»Das überhand nehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich,es wälzt sichheran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen,es wird kommen und treffen.« Diese sorgenvollen Worte hat Goethe Frau Susan-ne in »Wilhelm Meisters Wanderjahre« in den Mund gelegt. Sie drückt damit dasnoch undefinierbare Unwohlsein vieler Menschen Anfang des 19. Jahrhundertsüber das nahende Industriezeitalter aus. Ängsten begegnet man am besten durchAufklärung und Wissen. Ein Grundsatz, dem das Deutsche Technikmuseum Berlinauch im Umgang mit den neuesten technischen Entwicklungen nicht nur treu blei-ben, sondern den es kreativ entwickeln will.

Dr. Lieselotte Kuglerist Direktorin desDeuschen Technik-museums Berlin undMitglied des Verwal-tungsrates der Gesell-schaft von Freundender TU Berlin e.V.

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Kreative Wissensvermittlung mit „special effects“

lust über politisch-gesellschaftliche, tech-nisch-historische, kulturelle und wissen-schaftliche Zusammenhänge ein singuläresExponat ohne Kontextualisierung immerweniger von allen Mitgliedern der Gesell-schaft verstanden werden kann. Menschen,die an diesen Maschinen gearbeitet haben,werden immer rarer. Vermittlungsformenund gewisse Vermittlungsstrategien müs-sen in dem Maße, wie Wissen verloren geht,als dynamisches, erlernbares Wissen vonden Museumsverantwortlichen hinzugefügtwerden. Damit sind neue Wege der Vermitt-lung im Sinne der Verbesserung von »speci-al effects« im Museum zu beschreiten, dieauf die Besucher Rücksicht nehmen sollten.

Derzeit werden von den Besuchern be-sonders die Transparenz von Zusammen-hängen und Mobilität nachgefragt. Dasgroße Interesse am Besuch von technischenMuseen scheint durch die eigene Betroffen-heit ausgelöst, so als wolle man durch denBlick auf die vermeintlich überschaubareVergangenheit etwas über den eigenenStandort im Blick auf die Zukunft erfahren.Es scheint, als läge ein Bedürfnis nach Stil-le und Ruhe zugrunde, wodurch die Masseder bewegten Bilder besser eingeordnetoder entdeckt und eigene Positionen mani-festiert werden können. Hier liegt eine gro-ße Chance der Museen als visuelles Medi-um, außerschulischer Lernort und aner-kannter gesellschaftlicher Ort, selbstbe-wusst aufzutreten und auf die Erwartungs-haltung einerseits zu reagieren andererseitseinen hohen bildungspolitischen Auftrag zuerfüllen.

Nehmen wir die Vermittlung ernst, heißtdas, die Objekte ernst nehmen, ihre Ge-schichte zu erzählen und sie durch Sehen,»Be-greifen« und Erleben verständlich zumachen. Dies schließt selbstverständlichauch die Funktionsweisen der technischenObjekte ein, allerdings wäre eine Redukti-on darauf zu wenig und zu linear. Es gilt au-ßerdem, diverse Möglichkeiten der visuel-len Anschauung auszuschöpfen, den Kon-text wachzurufen, themenzentrierte Aus-stellungseinheiten anzubieten, sodass einumfassendes Erlebnis erfahrbar wird.

Das Deutsche Technikmuseum Berlinhat zum Beispiel soeben als einziges Mu-seum eine Ausstellung zum Thema »Licht«eröffnet, die neben der Darstellung derFunktion, der Konstruktion und des De-signs (Peter Behrens) eine Überleitung zurFirmengeschichte der AEG leistet. EineSonderausstellung anlässlich des Preußen-jahres zeigt ab dem 22. September 2001 ne-ben den Erfolgen auf dem Wege zur Indus-trialisierung in Preußen auch die Brücheund Misserfolge preußischer Wirtschafts-politik auf. So können die Besucher zumBeispiel neben der sinnlich-ästhetischen Er-fahrung der Seidenblumen etwas über dieHerstellung, die damit verbundenen Frau-enarbeitsplätze und die staatlich gelenkteAnsiedlungspolitik erfahren. Viele Beispie-le ließen sich noch anführen.

Neben den Ausstellungen haben diepersonellen Vermittlungen durch Vorfüh-rer und Experimente (hands on), in denenPhänomene nachvollzogen werden kön-nen, eine besondere Qualität. Sie stehen imengen Zusammenhang mit einer Populari-sierung der Wissenschaft (PUSH – publicunderstanding of science and humanities),

die im Dialog mit allen gesellschaftlichenGruppen den Herausforderungen der Wis-sensgesellschaft begegnen möchte. EineForm, diesen Dialog anzukurbeln, könntedas Wissenschaftliche Theater sein, dasals besondere Veranstaltungsform im Mu-seum angeboten werden könnte. Solche

Vorführungen waren Ende des 19. Jahr-hunderts in der Berliner »Urania« eineMaßnahme zur Volksbildung, um die Be-völkerung an die neuen technischen He-rausforderungen heranzuführen. In denScience Centern (zum Beispiel unserem»Spectrum«) fand die Technikvermittlunganhand von Experimenten ihre Fortset-zung. In der Kulisse des Museums könnenwir die Theatervermittlung wieder aufle-ben lassen, indem wir Kontexte spielerischerfahrbar machen. Dies könnte eine zu-künftige Aufgabe sein.

Der Dialog zwischen Objekten und Be-suchern in einem Technikmuseum gewinnteinen besonderen Stellenwert, wenn wirneben den verschiedenen Formen der Ver-mittlung auch den Dienstleistungscharak-

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Das Deutsche Technik-museum am Tempel-hofer Ufer – auchabends ein besondererVeranstaltungsort

Vorführung eines Modells der Kohlen-Bogenlampe in der Lichtausstellung

»Hamm«-Schnellpresse Heidelbergum 1898

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Kreative Wissensvermittlung mit »special effects«

ter eines Museums berücksichtigen. VielWissen liegt in einem Museum, in seinemArchiv oder in der Bibliothek brach, wenndie Bestände nicht zugänglich gemachtwerden können. Durch partnerschaftlicheKooperationen oder die Digitalisierungvon Exponaten in elektronischen Medienkönnte hier Abhilfe geschaffen werden.Das Technikmuseum könnte Forschungs-instituten und Universitäten dieses Wissenzur Verfügung stellen. Wie könnte dieskonkret aussehen?

Neben gemeinsamen Veranstaltungenkönnten thematische Forschungsprojekte,Ausstellungen und Publikationen initiiertwerden. Das Museum als visuelles Sachar-chiv leistet mit der Objektforschung einewesentliche Ergänzung zur Forschungsar-beit der Universitäten. Inhaltlich kann dasMuseum für die Anschauung den progres-siven Reliktanfall, die schnelle Folge tech-nologischer Entwicklungen, damit denWandel und die neue Technik in Sachzeug-nissen aufbereiten, die Universität kann

durch interdisziplinäre Projekte die Kon-texte stärker profilieren helfen und damitaußeruniversitäre Lernerfahrung fördern.

Vielleicht wäre dies eine Strategie, wiewir mit der derzeitigen kopernikanischenWende von der Dominanz der Sprache zurDominanz des Bildes besser umgehen kön-nen? Die Ansätze sind im Technikmuseumvorhanden, sie machen einen Teil seines Er-folges aus. Ein anderer Teil seines Erfolgesist es, den Kommunikationsort »Museum«ständig dialogbereit zu halten �

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Das Deutsche Technikmuseum Berlin

Alte und neue Technik zum Erle-ben und »Be-greifen« präsentiertdas Deutsche Technikmuseum

in 14 Abteilungen auf rund 14 000 Qua-dratmetern mitten in der Hauptstadt. Diehistorischen Gebäude am Gleisdreieck,die – teils rekonstruiert – das Museumbeherbergen, sind gleichzeitig Teil derAusstellung: Hier befand sich der Anhal-ter Güterbahnhof, das Bahnbetriebsge-lände mit zwei Ringlokschuppen und dieFabrikgebäude der Gesellschaft fürMarkt- und Kühlhallen. Nach dem Endealler Ausbauphasen wird das Museummit einer Ausstellungsfläche von über55 000 Quadratmetern zu den größtenTechnikmuseen der Welt gehören.

Zahlreiche Vorführungen und Aktivitä-ten animieren zum Zuschauen und Mitma-

chen. So können Besucher und Besucherin-nen mit historischer und moderner Technikweben, Papier schöpfen, sich als Nachrich-tensprecher erproben und Vieles mehr. ImSPECTRUM, einem der größten Science

Center Europas erklären rund 300 Experi-mente auf 2000 Quadratmetern jungen undälteren Menschen physikalische Phänomenedes Lebens und der Umwelt. Attraktive Dau-erausstellungen wie »Lebende Bilder – ZurGeschichte der Filmtechnik« oder »Elekt-rische Lichtbogenlampen«, Sonderausstel-lungen wie die aktuelle Preußen-Ausstellung»Sand im Getriebe? Stationen preußischerTechnikpolitik zwischen 1700 und 1900«,Ausstellungen im Zuckermuseum,Vorfüh-rungen von Experimenten im SPECTRUM,Vorträge und viele andere Aktivitäten ziehenschon seit nahezu 20 Jahren Tausende vonBesuchern an. In der Historischen Brauereiauf dem Gelände erfährt man alles über dieBrautechnik um 1910. Entspannung finden

Technikbegeisterte in der sechs Hektargroßen Naturoase Museumspark inmittenvon Spontanvegetation und Biotopen. Dortfindet man auch funktionsfähige Wind-und Wassermühlen und eine Hammer-schmiede, in der täglich mit glühendem Ei-sen hantiert wird. Das TechnikmuseumBerlin arbeitet außerdem eng mit dem Gas-laternen-Freilichtmuseum Berlin und an-deren Institutionen zusammen. (Red.)Deutsches Technikmuseum, TrebbinerStraße 9, 10963 Berlin-Kreuzberg,Tel.: 030/9 02 54-0SPECTRUM, Möckernstraße 26 (naheHauptgebäude), 10963 Berlin-Kreuz-berg, Tel.: 030/9 02 54-284http://www.dtmb.de

Papier schöpfen: Vorführung in derAbteilung Papiertechnik

Besucher erleben einen historischen Flugsimulator in Aktion während der»Langen Nacht der Museen« im August 2001

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IBMs Big Blue konnte im Schach gegeneinen Weltmeister gewinnen. Bis eineRobotermannschaft unsere National-

mannschaft im Fußball schlägt, wird abernoch viel Zeit vergehen. Doch es ist unver-kennbar, dass die Künstliche Intelligenz alswissenschaftliche und technische Disziplineine neue Richtung einschlägt. Sie entwi-ckelt sich von der Automatisierung desGeistes, die kombinatorische und sprach-bezogene Probleme lösen soll, hin zu einerAutomatisierung des Menschen zur Simu-lation umweltgerechten Verhaltens. Dabeiverschiebt sich die Frage, ob eine Maschinedenken kann, zur Frage nach einer Harmo-nisierung von Mensch und Maschine.

Das Programm der Künstlichen Intelli-genz wurzelt tief in den Ursprüngen derSprache, der Logik und der Formalisierung,und zu allen Zeiten verbündete sich die Ideeeiner Künstlichen Intelligenz mit der Visi-on einer technischen Rekonstruktion desMenschen. Die Frage nach einer Verkörpe-rung stellte sich auch Alan Turing in denfünfziger Jahren:

»Ein Weg, unser Vorhaben, eine »den-kende Maschine« zu bauen, in Angriff zu

nehmen, bestünde darin, einen Menschenals Ganzes zu nehmen und zu versuchen, allseine Bestandteile durch Maschinen zu er-setzen. Er bestünde aus Fernsehkameras,Mikrophonen, Lautsprechern, Rädern und»Servo-Gliedern« ebenso wie aus einer Art»Elektronengehirn«. Natürlich wäre diesein gewaltiges Unternehmen. Das Ergebniswäre, bei Herstellung mit den gegenwärti-gen Techniken, von immensen Ausmaßen,selbst wenn das »Gehirn«-Bauteil stationärwäre und den Körper aus der Ferne lenkenwürde. Damit die Maschine die Möglich-keit hätte, Dinge selbstständig herauszufin-den, müsste es ihr erlaubt sein, das Land zudurchstreifen, und die Gefahr für den Nor-malbürger wäre ernst. Darüber hinaus hät-te die Kreatur, selbst wenn sie mit den er-wähnten Einrichtungen ausgestattet wäre,immer noch keine Beziehung zu Essen, Sex,Sport und vielen anderen für das menschli-che Wesen interessanten Dingen. Wenn alsodiese Methode vielleicht auch der »sichere«Weg ist, eine denkende Maschine herzustel-len, scheint er alles in allem doch zu lang-sam und unpraktikabel.

Stattdessen schlagen wir vor auszupro-

bieren, was mit einem »Gehirn« anzufangenist, das mehr oder weniger ohne Körper undhöchstens mit Seh-, Sprach- und Hörorga-nen versehen ist.« (Alan Turing, IntelligentMachinery; siehe B. Meltzer, D. Michie(Hrsg.): Machine Intelligence 5, 1969).

Ihren Namen erhielt die KI als wissen-schaftliche Disziplin 1956, beim ersten »ar-tificial-intelligence-meeting« am Dart-mouth College. Die Diskussion um dieKünstliche Intelligenz begann jedoch schonfrüher. Sie wird von zwei fundamentalenPositionen getragen: Auf der einen Seitesteht der Glaube, dass mit der technischenNachbildung der neuronalen Informations-verarbeitung intelligenter Lebewesen auchKünstliche Intelligenz gewonnen werdenkann. Auf der anderen Seite steht die Über-zeugung, dass die informationstechnischeSimulation intelligenter Leistungen dasVerständnis entsprechender kognitiverProzesse voraussetzt. Frühe Vertreter die-ser beiden Positionen sind John von Neu-mann und Alan Turing. Der Turing-Test,bei dem es um die Simulation intelligentenVerhaltens geht und um die Unterscheid-barkeit von Mensch und Maschine durcheinen dritten Beobachter, hat ein anderesArbeitsprogramm zur Folge, als die Simu-lation des menschlichen Gehirns durchBündel zellularer Automaten oder giganti-sche neuronale Netze.

1988 flammte diese Diskussion wiederauf (siehe Stephen R. Graubard (Hrsg.):Probleme der Künstlichen Intelligenz,Springer 1996). Grund war die Wiederent-deckung des Modells der neuronalen Netze

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Zukunft der Künstlichen Intelligenz

Die Entwicklung zwischen Fiktionund Realität

Von Bernd Mahr

In der »Legged Robot League« für vierbeinige Roboter schied das deutsche Teamnach einer 0 : 11 Niederlage gegen den Weltmeister Australien bereits nach der Vor-runde aus. Bei den mittelgroßen Robotern siegte jedoch eine deutsche Mann-schaft. Gespielt wird Fußball. Die Spieler sind Roboter. Spielmacher sind Lehrstüh-le für Künstliche Intelligenz. Der diesjährige Robo-Cup, im August in Seattle ausge-tragen, bringt die Künstliche Intelligenz (KI) in die Schlagzeilen der Feuilletons.Trotz mancher Niederlage spielt Deutschland in der Weltspitze mit. Die DeutscheForschungsgemeinschaft fördert den Roboterfußball inzwischen mit einemSchwerpunktprogramm. Geht die Entwicklung in diese Richtung?

Prof. Dr. Bernd Mahr

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Die Entwicklung zwischen Fiktion und Realität

zum maschinellen Lernen auf subsymboli-scher Ebene. In dieser Diskussion wurdegefragt, ob das symbolische oder das sub-symbolische Paradigma den Erfolg bringenkönne, das heißt ob algorithmische Beherr-schung der intelligenten Leistung oder de-ren Emergenz das Forschungsprogrammder Zukunft bestimmen sollten.

Heute, so scheint es, haben sich die Pa-radigmen verbunden, denn zur Erzeugungintelligenter Leistung wird sowohl gerech-net als auch gelernt. Biotechnologie undNanotechnologie eröffnen aber wieder dieVision einer Verkörperung, bis hin zum Er-satz des Menschen durch den Computer:Menschengleiche Roboter, die lieben kön-nen, sind ein prominenter Filmstoff (vgl.Stephen Spielbergs »A. I.«), in der Werbungder Firma Honda spielt ein lebensgroßer

Roboter mit einem kleinen Mädchen aufder Straße, der erste vollkommen auf Bild-synthese beruhende Spielfilm, in dem dielebensechten Figuren nur Datenmengensind, ist auf dem Markt. Dies alles erwecktden Anschein, der künstliche Mensch exis-tiere bereits und möchte ausdrücken, dasswir am Anfang einer großen Entwicklungstehen.

Im vergangenen Jahr entzündete sicheine erneute Debatte um die KünstlicheIntelligenz: Ray Kurzweil formulierte in sei-nem viel beachteten Buch »The Age of Spi-ritual Machines« (in Deutschland unterdem Titel Homo S@piens erschienen, sieheBuchtipp, S. 92) die Erwartung, dass imJahr 2019 handelsübliche PCs den Turing-Test bestehen und den Menschen in allenBereichen überflügeln werden. Im Jahr

2029 werde man das menschliche Gehirn»scannen« und in einem Computer dupli-zieren können. Grundlagen dieser Vorher-sage sind, wie übrigens auch 1988 schon,die erwartete Skalierbarkeit elementarerFunktionalität auf ungeheure Größenord-nungen und die ungebremste Steigerungder Leistungsfähigkeit von Computern, diesich nach dem so genannten Moore’schenGesetz alle anderthalb Jahre verdoppelt.Der Widerspruch kam zunächst nicht vonSkeptikern, sondern von einem Computer-Spezialisten, der ethisch argumentierte. BillJoy antwortete in der Zeitschrift »Wired«:»Why the future doesn’t need us.« Er siehtdie große Gefahr in der Verselbstständi-gung der Künstlichen Intelligenz, die sichaus den Schlüsseltechnologien des 21. Jahr-hunderts ergibt: aus der Robotik, der Gen-

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ansprechpartnerProf. Dr. Bernd MahrTechnische UniversitätBerlin, Fakultät IV,Elektrotechnik undInformatik, Institut fürTelekommunikations-systemefachgebietFormale Modellierung,Logik und Program-mierungforschungs-schwerpunktMathematische Grund-lagen und Modellbil-dung in der InformatikkontaktFranklinstr. 28/29Sekr. FR 6-1010587 BerlinTel.: 030/314-7 35 40Fax: 030/314-7 36 [email protected]

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RoboSpot: Wenn Roboter Fußball spielen

Sie heißen Humboldt-Heroes,Karlsruhe Brainstormers, FU-Fighters oder CS Freiburg, und sie

kämpfen im Sportsgeist um das Runde,das ins Eckige muss. Trai-niert wird am Compu-ter, Verletzungen wer-den mit dem Lötkol-ben kuriert. Schonzum fünften Malfanden im August2001 die Weltmeister-schaften im Roboter-fußball statt, diesmal inSeattle, USA. Immer beliebter wird daswissenschaftliche Spiel, an dem in die-sem Jahr 111 Mannschaften aus 23 Län-dern teilnahmen, darunter 14 deutscheTeams. Um es gleich vorweg zu nehmen:Gewonnen haben Mannschaften aus denUSA und aus Singapur, bei den vierbeini-gen Robotern Australien. In der Klasseder mittelgroßen Roboter konnte jedocheine deutsche Mannschaft, die »Kampf-maschinen« Sepp, Jupp, Otto, Berti undFranz des CS Freiburg von der Albert-Ludwigs-Universität einen Sieg mit nachHause nehmen. In der Small-Size-Class,Roboter bis zu 18 Zentimetern Durch-messer, belegten die Berliner FU Fighters

der Freien Universität einen beachtlichenvierten Platz.

Doch bei dieser besonderen Weltmeis-terschaft geht es nicht nur um den sportli-

chen Sieg. Vielmehr steht hinter dem ver-meintlichen Spiel, bei dem sich welt-

weit mittlerweile rund 2500 Wissen-schaftleraus über30 Län-dern en-

gagieren, komplizierte Grundlagen-forschung. Es geht um das langfristige

Ziel, intelligente Roboter zu entwickeln,die sich selbstständig in einer fremden Um-gebung orientieren und gemeinsam Aufga-ben lösen können. Fast spielerisch widmensich die Wissenschaftler damit einem derinteressantesten Probleme auf dem Gebietder Künstlichen Intelligenz. Die jährlichstattfindende Weltmeisterschaft liefert ei-nen wichtigen Beitrag für den Vergleichund die Verbreitung der verschiedenen An-sätze und Methoden der Forschergruppen.Zur Vernetzung der Gruppen hat sich da-her die Deutsche Forschungsgemeinschaftim Frühjahr 2000 entschlossen, einSchwerpunktprogramm zu bewilligen.Denn natürlich sollen die Roboter langfris-tig nicht nur Fußball spielen. Die autono-

men Roboter könnten zum Beispiel fürden Materialtransport in Betrieben ein-gesetzt werden, Behinderten den Alltagerleichtern, unter Wasser Unrat aufspü-ren oder als Katastrophenhelfer in ver-schiedenen Situationen die Lage erkun-den. Ausgerüstet mit Parabolspiegeln,Minikameras und Software-Chips flitzenheute die Robos in ihrem Spielzeug-Out-fit über das tischtennisplattengroße grü-ne Spielfeld, jagen dem roten Golfballnach und dürfen nicht rempeln. Morgenübernehmen sie vielleicht schon Aufga-ben in Büros und Fabrikhallen. Die Infor-matiker wollen mit dem Spiel auch beson-ders junge Menschen für die Roboter-technologie und die Entwicklung intelli-genter Software begeistern. Denn seitSepp Herberger wissen wir ja alle: DerBall ist rund! (Red.)

Roter Ball auf grünem Grund –Fußball für die Wissenschaft

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Die Entwicklung zwischen Fiktion und Realität

technik und der Nanotechnologie (sieheFAZ, 6. 6. 2000). Während Bill Joy der Visi-on Ray Kurzweils nicht widerspricht, mel-den sich jedoch auch andere zu Wort. Die

aufkommen. Nicht Gegenstand ihrer Ar-beit, aber deren Voraussetzung ist die Über-zeugung von Ute Schmid, einer Habilitan-din der Informatik, dass der langsame Fort-schritt auf der algorithmischen Ebene derwesentliche Motor für die EntwicklungKünstlicher Intelligenz ist. Sie arbeitet überInduktion und kann mit beachtenswertenErgebnissen aufwarten. Diese Beispielekönnen belegen, dass zwischen der techni-schen Entwicklung und den Prognosen inden Feuilletons eine ganze Welt liegt. Eszeigt sich aber auch, dass die Frage nachder Künstlichen Intelligenz nicht allein imLabor entschieden wird, sondern ganzmaßgeblich durch unser kulturelles Selbst-verständnis, denn die Unterscheidung vonMensch und Maschine treffen wir selbst.Wir sind der dritte Beobachter in Turings

Test, und ein objektives Maß kann es dabeiwohl nicht geben.

Wohin geht die Entwicklung der Künst-lichen Intelligenz? Sie geht zur Harmoni-sierung von Mensch und Maschine, zurtechnischen Rekonstruktion des Men-schen, zu langsamen Fortschritten maschi-neller intelligenter Leistungen und zur He-rausforderung unseres kulturellen Selbst-verständnisses. Wenn Deutschland gegenEngland in einem Qualifikationsspiel zurFußball-Weltmeisterschaft 1 : 5 verliert,schreit eine ganze Nation auf. Wie müssteeine Mannschaft von 11 Robotern ausse-hen, die uns schlägt? Je ähnlicher sie unsist, desto eher wird sie auch verlieren, jeunähnlicher sie ist, desto mehr macht siedas Spiel kaputt. Wonach fragen wir ei-gentlich? �

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Berühmte TU-AbsolventenTU-Alumnus Ludwig Wittgen-stein Weltruhm erlangte LudwigWittgenstein als Philosoph. Denkt manan den drahtigen Mann aus Wien, falleneinem vor allem seine kritische Sprach-

philosophie und seine posthum veröffent-lichten »Philosophischen Untersuchun-gen« ein. Auch kennt man seine tech-nisch-naturwissenschaftlichen Arbeitenwie Flugmotor, Pulsmessgerät und Archi-

tektur-Experimente. Was kaum einerweiß: Ludwig Wittgenstein begann seineakademische Karriere an der TU Berlin,damals freilich noch Technische Hoch-schule Berlin genannt.

1906 erhält der 18-Jährige die Matri-kel-Nummer 18083 und beginnt seinemVorbild Franz Releaux nachzueifern, demanderen großen Ingenieurwissenschaftlerseiner Zeit. Schon 1908 erwirbt er das Ab-schlussdiplom und geht nach Manches-ter, wo er einen neuartigen Flugmotor ent-wickelt und patentiert. Aber schon in Ber-lin beginnt seine Liebe zur Philosophie.Seine Schwester Hermine notiert in ihren»Familienerinnerungen«: »Zu dieser Zeitoder etwas später ergriff ihn plötzlich diePhilosophie, d. h. das Nachdenken überphilosophische Probleme, so stark und sovöllig gegen seinen Willen, dass er schwerunter der doppelten und widerstreitendeninneren Berufung litt und sich wie zer-spalten vorkam.« Zu seinem 50. Todes-tag, im September 2001, ehrte ihn dieTechnische Universität gemeinsam mitdem Einstein-Forum und dem Wittgen-stein-Archiv Cambridge mit einem inter-nationalen Symposium mit dem Titel»Ludwig Wittgenstein: Techniker – Phi-losoph – Künstler«. (Red.)

Zur SacheKünstliche Intelligenz ist eineWissenschaft, die alles daransetzt, endlich Maschinen hinzu-bekommen, die genau das tun,was sie in Science-Fiction-Filmen seit langem schon tun.

Astro Teller

praktische Erfahrung mit der KünstlichenIntelligenz ist sehr viel nüchterner. DieSpielmacher des Robo Cup verweisen aufdie Tatsache, dass die kognitiven Voraus-setzungen intelligenter Leistungen nochweitgehend unbekannt und schon gar nichttechnisch »im Griff« sind. Sie argumentie-ren mit den eher desillusionierenden Erfah-rungen der Vergangenheit, dass trotz gro-ßer Anfangserfolge im Kleinen eine Skalie-rung dann doch nicht erreicht werden konn-te. (siehe z. B. Interview mit Prof. HelgeRitter im »Tagesspiegel« vom 10.6.2000,Prof. Thomas Christaller in: Das Magazindes Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen 1/2001).

Am Fachbereich Informatik der Techni-schen Universität Berlin gibt es seit vielenJahren gediegene KI-Forschung, im Be-reich der Robotik, im maschinellen Lernenund in der maschinellen Sprachverarbei-tung. Zukunftsprognosen werden da eherkritisch gesehen, und die Grenzen derKünstlichen Intelligenz sind weniger Spe-kulation als vielmehr Forschungsgegen-stand. 1998 veröffentlichte ein ehemaligerwissenschaftlicher Mitarbeiter und Habili-tand des Fachbereichs, Achim Hoffmann,das Buch »Paradigms of Artificial Intelli-gence«, in dem er die beiden Paradigmender KI, die symbolische und die subsymbo-lische Verarbeitung, im Hinblick auf dieFrage untersucht, ob durch sie mit den heu-te verfügbaren Mitteln Künstliche Intelli-genz möglich ist. Seine Ergebnisse, die erauf Komplexitätstheorie und Semantikstützt, lassen große Zweifel an einemschnellen Durchbruch der KI-Entwicklung

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Prof. Dr.-Ing. Dr. E. h.Herbert Reichl

Dipl.-Ing. Jürgen Wolf

Die Entwicklung ist gekennzeichnetdurch die Integration »intelligen-ter Funktionen« und erhöhter Mo-

bilität und Flexibilität in allen Bereichen:im Informations-, im Heim-, Wohn-, Medi-zin- und Automobilbereich ebenso wie inder Industrietechnik allgemein.

Die moderne, auf Mobilität und Globa-lität beruhende Informationsgesellschaftbirgt die Gefahr, dass statische Arbeits-und Wohnorte immer mehr ihre zentrale Be-deutung als Lebensmittelpunkt des Men-schen verlieren. Unsere persönlichen Be-dürfnisse und Verhaltensweisen passensich den neuen Kommunikationsmöglich-keiten an. Gleichzeitig wecken jedoch dieimmer komplexeren mobilen elektroni-schen Geräte mit immer neuen Funktionenauch neue Bedürfnisse.

Herzstück der neuen Generation der Mi-krosysteme sind Sensoren und Aktuatoren,die über ein intelligentes Netzwerk auf derBasis digitaler elektrischer und optischerBussysteme verknüpft sind.

Der kontinuierliche Fortschritt bei denHardwarekomponenten durch Miniaturi-sierung, erhöhte Rechenleistung, optimier-

te Energieversorgung, integrierte Sensorikund Aktuatorik sowie hohe Zuverlässig-keit ermöglicht es zunehmend, vollständigneue Anwendungen und Konzepte relativkostengünstig zu entwickeln. Wir stehendamit am Beginn des Zeitalters der »intel-ligenten Gegenstände«: »Things thatthink« – Alltagsgegenstände, die Informa-tionen verarbeiten können. Integrierte Pro-zessoren, drahtlose Kommunikation undeine entsprechende Sensorik befähigen zu-künftige elektronische Geräte zu einemkontext-sensitiven Verhalten. Die Zukunftdes mobilen Menschen ist geprägt durchmoderne Mikrosysteme, die allgegenwär-tig und unsichtbar als »Information Appli-ances« dienen und über lokale und globaleDatennetzwerke miteinander verbundensind.

Diese Mikrosysteme haben eine hoheFunktionalität. Durch digitale optische undelektrische Signale sind sie mit Netzwerkenverknüpft, die höchste Datenraten und um-fassende Schnittstellen zum äußeren Um-feld aufweisen. Innovative funktionelle Ma-terialien und multidisziplinäre Verknüpfun-gen aus Chemie, Mechanik und Biologie

ermöglichen es, grundsätzlich neue Funk-tionen zu generieren.

Die technologische Entwicklung ist hier-bei geprägt durch die kontinuierliche Mi-niaturisierung und Leistungssteigerungder aktiven integrierten Schaltungen. DieAnwendung neuer Systemintegrations-techniken reichen von der dreidimensiona-len Chipintegration über Polymerelektro-nik bis zur Integration von elektronischenBaugruppen in völlig neue Umgebungen,zum Beispiel in Kleidung, Brillen, Zeitun-gen etc. Mobile Elektronik verlangt nebeneinem permanent zurückgehenden eigenenEnergieverbrauch auch nach leistungsfähi-gen und effizienten Verfahren zur Energie-erzeugung und -speicherung. Mikromecha-nische Energiegeneratoren, druck- bzw. in-tegrierbare Batteriekonzepte, flexible Bat-terien und Mikrobrennstoffzellen sind hierbesonders interessant.

Bei der Miniaturisierung rücken jedochnicht nur hardwareorientierte Aspekte inden Vordergrund, sondern ebenso system-orientierte Designfragen sowie die Opti-mierung des aus Hard- und Software beste-henden Gesamtsystems. Ein wichtiger Teil-aspekt liegt hier in der Gestaltung derSchnittstelle zwischen Mensch und Ma-schine bzw. elektronischem System. Dazugehören Themen wie visuelle 3D-Darstel-lungen, Sprach-Prozessoren, Muster-Er-kennung, Gesten-Erkennung, Eye-Tra-cking-Verfahren und vieles mehr.

Neben der Erweiterung der Netzwerk-,Speicher- und Prozessorkapazitäten ist esaber auch notwendig, das Handling von

Intelligente Gegenstände –Vom Body Area Network zum Smart Home

Things that think

Von Herbert Reichl und Jürgen Wolf

Seit einigen Jahren wird unser tägliches Leben zunehmend von »elektronischenAssistenten« mitbestimmt. Der Griff zum elektronischen Notizbuch (PDA) oderzum Laptop mit angeschlossenem Handy gehört schon heute für viele Menschenzur Routine, um das Tagesgeschäft zu planen oder um an notwendige Informatio-nen zu gelangen. Doch das ist erst die Vorstufe einer Zukunft, in der elektronischeAssistenten und Mikrosysteme allgegenwärtig sein werden.Schon bald werden sieintegrierter und nicht weg zu denkender Bestandteil des Alltags sein, ohne als sol-che wahrgenommen zu werden. Wir werden sie in unserem Wohnbereich findenoder sie direkt am Körper tragen.

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Things that think

Daten und die Kontrollmechanismen soweiter zu entwickeln, dass die Idee der ver-netzten intelligenten Mikrosysteme Wirk-lichkeit werden kann.

Body Area Network

Die Basis für die Vision von mobilen, mi-niaturisierten, vernetzten Mikrosystemensind kleine, leichte, flexible, faltbare undautarke Einzelsysteme mit integriertenSchnittstellen, z.T. mit Displays versehen.Diese Einzelsysteme (Smart Card, SmartWatch, Smart Foil, …) sind über das Netz-werk miteinander verbunden und überneh-men dann komplexe Aufgaben wie:

• Kommunikation (Text, Video, Klang),Informations- und Datenaustausch,

• Geschäfte (Reiseplanung, Navigati-onssystem, Verkehrsmeldungen),

• Kontoführung und Bankgeschäfte,

• Identifikation und Sicherheit,

• Private Umgebung (Haus und Hof,Freizeit, Unterhaltung),

• Gesundheitsüberwachung.Im Gegensatz zu heute üblichen kom-

pakten Einzelgeräten werden die entspre-chenden Komponenten an verschiedenenStellen des Körpers getragen und kommu-nizieren über ein »Body Area Network«(siehe Abbildung). Die für die drahtloseKommunikation benötigte Energie könnteaus der beim Gehen entstehenden kineti-schen Energie abgeleitet werden. Der »In-telligente Schuh« könnte Energie erzeugen,speichern und eventuell als persönlichesKommunikationszentrum mit der Außen-welt dienen.

Die »Intelligente Uhr« übernimmt dieFunktion des Displays, der Ausweiskarteund des Datenempfängers. Ein System inder Größe eines Kugelschreibers über-nimmt Mikrofon- sowie Lautsprecherfunk-tion und Displays werden in Brillen inte-griert. Die Darstellung von Stadtplänen,elektronischen Tageszeitungen oder mobi-len Arbeitsoberflächen erfolgt auf einer in-telligenten Folie (Smart Foil). Sie kann alsuniversell einsetzbares Multimediatermi-nal mit eigener Energieversorgung undSchnittstellen zu Daten- und Kommunika-tionsnetzwerken dienen. Je nach gewünsch-

ter Leistung kann sie weitere Funktionenübernehmen. Als mobiles Informationszen-trum kommuniziert sie mit der elektroni-schen Sekretärin zu Hause oder dem Sekre-tär im Büro. Sie kombiniert alle Funktioneneines Notebooks mit Terminplaner, Kame-ra, Scanner und Fotokopierer. Die »SmartFoil« dient außerdem als elektronische Zei-tung und elektronisches Buch, sie kannaber auch als Navigationssystem oder Rei-seführer genutzt werden. Anhand des Fin-gerabdrucks identifiziert sie den Eigentü-mer und dient so gleichzeitig als Sicher-heits- und Identifikationssystem.

Polymerfolien geben allen alltäglichenDingen eine elektronische Identität. Diesemit intelligenten Sensoren, dünnen Folien-batterien und eventuell Displays ausgestat-teten »Smart Labels« können als elektroni-sches Etikett im Supermarkt Verwendungfinden. Die Waren im Einkaufswagen wer-den automatisch an der Kasse gescannt,und neben dem Preis sind weitere Informa-tionen wie Herkunft, Inhaltsstoffe etc. so-fort identifizierbar.

Intelligente Sensoren, zum Beispiel in die

tu berlin forschung aktuell 1/2001 mensch und maschine17

ansprechpartnerProf. Dr.-Ing. Dr. E. h.Herbert ReichlDipl.-Ing. Jürgen WolfTechnische UniversitätBerlin, Fakultät IV,Elektrotechnik und In-formatik, Institut fürMikroelektronik undFestkörperelektronik,Fraunhofer Institut fürZuverlässigkeit undMikrointegrationfachgebietMikroelektronik/Auf-bau- und Verbindungs-technikforschungs-schwerpunkteAufbau- und Verbin-dungstechnik (advan-ced packaging) fürMikroelektronik-produkte, Technologie-entwicklung und-transfer, System-integration und Zuver-lässigkeitsanalysenkontaktSekr. TIB 4/2-1Gustav-Meyer-Allee 2513355 BerlinTel.: 030/4 64 03-100Fax: 030/4 64 [email protected]@izm.fhg.deinternethttp://www.izm.fraunhofer.de

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Vernetzt mit der Umwelt: Global Area Network

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Things that think

Armbanduhr (Smart Watch) integriert, die-nen als Gesundheitsmonitor und kontaktie-ren im Notfall völlig selbstständig dendiensthabenden Arzt oder das nächstgele-gene Krankenhaus, geben erste Informatio-nen und liefern natürlich auch eine genauePositionsangabe. Eine externe Datenquelleversorgt den Arzt im Bedarfsfall mit allenfür die Behandlung relevanten medizini-schen Daten. Darüber hinaus können Sys-teme wie Hörgeräte, Sehhilfen, Stimulato-ren und andere in das »Body Area Net-work« einbezogen werden, die zum Teil vor-handene Einschränkungen oder Behinde-rungen reduzieren oder beseitigen können.

Smart Home –das intelligente Haus

Zu den großen Innovationsthemen unsererZeit gehört das vollvernetzte und teilweiseautomatisch gesteuerte Haus, das so ge-nannte »Smart Home«. In einem intelligen-ten Haus der Zukunft sind über ein lokalesNetzwerk nahezu alle Geräte und Systemeim privaten Wohngebäude lokal vernetztund an ein äußeres globales Netzwerk an-gebunden. Das ermöglicht eine Kommuni-kation zwischen den bisher unabhängigenGeräten und Systemen. Dieses lokale Ge-samtsystem besitzt auch eine gewisse Intel-ligenz. Es passt sich selbstständig an be-stimmte Routinen im Verhalten der Haus-haltsmitglieder an, um eine maximale Effi-zienz zu erreichen. Somit ermöglichen zumBeispiel gewisse Routine- und Kontrollse-quenzen eine optimale Energienutzung,sparen damit Kosten und befriedigengleichzeitig individuelle Bedürfnisse.

Die möglichen Anwendungen in einem»intelligenten Haus« und die Verknüpfungvon Teilsystemen sind heute nicht vorher-

sehbar, ebenso wie es seinerzeit nicht mög-lich war, den Einfluss des Transistors aufunser Leben vorherzusehen. Entsprechendvermessen wäre es, heute eine Prognose zuwagen, die auf die gesamte Vielfalt zukünf-tiger Anwendungen abheben würde.Schwerpunkte jedoch bilden das Manage-ment von Energie- und anderen Ressour-cen, die Erhöhung des Komforts und der Si-cherheitsaspekte.

Am weitesten entwickelt hinsichtlichdes Angebotes und der Akzeptanz an An-wendungen für das »intelligente Haus« istderzeit der amerikanische Markt, vor al-lem bei den komfort- und sicherheitsbezo-genen Applikationen. Dies reicht von derGruppierung von Lichtsignalen über dieVerteilung von Audio- und Videosignalenbis zur Einbruchsicherheit. Dagegen liegtder Schwerpunkt der japanischen Anwen-dungen für das intelligente Haus in denBereichen von Gesundheit und Entertain-ment. So wurde zum Beispiel in einem Pro-totyphaus eine intelligente Toilette einge-baut, die vor Ort eine Analyse des Gesund-heitszustandes einer Person vornimmt unddie entsprechenden Daten an deren Haus-arzt weiterleitet. Zum Entertainment sind

vielfach alle Räume an Spielekonsolen undInternetschnittstellen angekoppelt.

In Europa findet sich vor allem das Inte-resse an Anwendungen, die auf Ökologieund Ökonomie ausgerichtet sind. Diesreicht vom intelligenten Lastmanagementbis zur ausgefeilten Steuerung der Tempe-ratur einzelner Räume, womit vor allemeine Kostenreduzierung verbunden ist. Be-dingt durch die demografische Verände-rung, sind auch verstärkt Anwendungenauszumachen, die das Leben älterer Men-schen in der gewohnten Umgebung ermög-lichen. Vor allem in den skandinavischenLändern sind erhebliche Anstrengungenunternommen worden, intelligente Haus-technologie in Wohnungen alter Menscheneinzusetzen.

Das intelligente Haus der Zukunftkommt einer Revolution im privaten Haus-halt gleich. Mikrosysteme im intelligentenHaus bestehen aus einer Reihe von Teilsys-temen mit unterschiedlicher Gewichtungwie zum Beispiel:

• Betriebs- und Kontrollfunktionen u. a. inSanitär, Heizung, Lüftung/Klima, Elek-trik, Licht mit integrierter Verbrauchs-kostenoptimierung,

• Sicherheit und Überwachung, Haus-und Einzelraumüberwachung (u. a. Kin-derzimmer und Urlaubswachschutz),

• Gesundheit/Pflege (medizinische Diag-nostik und Vorsorge, intelligentes WC,Kranken-, Alten-, Behindertenbetreu-ung, Notrufsystem),

• Hausgerätesteuerung (inkl. Hausgerä-temonitoring und -fernbedienung,Hausgeräte- und PKW-Diagnostik, Ser-viceroboter),

• Heimlogistik (Einkaufs- und Speisepla-nung),

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(1) Home2004 Teilpro-jekt »Piezo-Aktorik mitHausbus-Anschluss«

Laufzeit:Januar 2002 –Juni 2004

Finanzierungsträger:Bundesministerium fürBildung und ForschungKooperationspartner:Binder, ELKA,Siemens, UniBwM,TU München

Ansprechpartner:Dr. HermannOppermannTel.: 030/46403–163

E-Mail:[email protected]

(2) I-net (ElektronischeEinstellung derUmgebung auf denMenschen)

Laufzeit:April 2001 –Dezember 2003

Finanzierungsträger:Bundesministerium fürBildung und Forschung

Kooperationspartner:FhG FOKUS

Ansprechpartner:Dipl.-Ing. CyrusGhahremaniTel.: 030/46403141

E-Mail:[email protected]

Internet:http://www.pb.izm.fhg.de/ase/generator.fcg?STYLE=ST_DEFAULT&LOC=/020_current_activities/EN_i_net&LANG=ENGLISCH

Projekte

Das erste intelligente Haus Deutschlands steht in Duisburg

Der Wohnzimmerbereich im Musterhaus in Duisburg

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Things that think

• Kommunikation (Telefon, TV, Video, Au-dio und andere),

• Entertainment und Hobby (Internet-Game, TV, Garten, Heimtierkontrolleund Versorgung, Aquarien/Terrarien).Die Art der Haussteuerung, sowohl

durch interne Prozesse als auch über exter-ne Eingriffe, ermöglichen die Entwicklungneuer Formen des Zusammenlebens undsozialer Bindungen. Blickt man auf die sichwandelnden sozialen Strukturen in den In-dustrienationen, scheint dies auch drin-gend geboten. Die wachsende Zahl derSinglehaushalte, die kleineren Familien, dieimmer stärkere Verbreitung von Familien,deren Arbeitsorte in unterschiedlichenStädten liegen, machen die Möglichkeiten,die das intelligente Haus bietet, nahezuzwingend erforderlich.

Das erste »Smart Home« in Deutsch-land steht in Duisburg und wird seit April2001 betrieben. In diesem Haus sind erst-malig die verschiedenen Geräte und Kom-ponenten zu einem funktionellen Gesamt-system verknüpft. Es werden unterschiedli-che lokale Netzwerke, sowohl leitungsge-bundene als auch drahtlose, getestet unddie Einbindung in ein globales Netzwerk(Internet) erprobt. Allerdings ist zurzeit un-ter anderem das Problem der unterschiedli-chen Schnittstellen bzw. Einzelstandardsnoch ungelöst. Besonderer Wert wird aufeinfache Bedientechniken an der Schnitt-stelle Mensch-Technik und auf die Akzep-tanz von Design und Funktion der einzel-nen Komponenten gelegt. Dies reicht vonder intelligenten Badewanne, die fernge-steuert nach individuellen Parametern(Füllstand, Temperatur) gefüllt wird, biszum Kühlschrank, dessen Bestückung mitVorräten, Einlagerungs- und Produktver-fallsdaten jederzeit abrufbar ist. Gemein-sam mit Geräteherstellern, Dienstleis-

tungsgewerben (Handwerker, Energieliefe-rant etc.) werden eine Vielzahl von Service-leistungen (unter anderem Störungsmel-dung, Fernwartung, Fernablesen vonStrom, Gas, Wasser) in das »Smart House«integriert. Über 18 größere Firmen undzahlreiche weitere Partner sind im ersten»Smart Home« Deutschlands involviert,welches sicherlich als Prototyp ein wertvol-les Lehrbeispiel für die zukünftige Verknüp-fung von Wohnen, Arbeiten und Freizeitge-staltung darstellt.

Zukünftige intelligente flexible und ver-netzte Mikrosysteme dienen jedoch nichtnur dazu, unser individuelles Wohlbefin-den zu verbessern, uns Arbeitserleichterun-gen zu verschaffen und damit Lebensquali-tät und -standard zu erhöhen, sie besitzenneben dem Innovations- auch ein entschei-dendes wirtschaftliches Potenzial.

Sie führen zu einer enormen Produkt-

vielfalt in den unterschiedlichsten Anwen-dungsgebieten und sind das Rückgrat mo-derner Informations- und Kommunikati-onstechnologien im 21. Jahrhundert. Einwichtiger Teilaspekt ist neben Funktionali-tät und Miniaturisierung auch der Blick aufEnergie- und Kosteneinsparungen, die un-ter ökologischen Gesichtspunkten notwen-dig und zwingend sind.

Alle zukünftigen elektrischen Geräteund Systeme sind personenzentriert, dasheißt auf die jeweilige Person abgestimmt,und werden von ihr kontrolliert. Die tech-nischen Möglichkeiten auf diesem Gebietsind abhängig von der Akzeptanz durchden Menschen. Diese Akzeptanz und derSchutz der Privatsphäre werden endgül-tig festlegen, welche elektronischen Lö-sungen schließlich unter Berücksichti-gung von ökologischen Aspekten umge-setzt werden. �

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(3) BAN (Drahtlosemedizinische Sensorenam Körper)

Laufzeit:April 2001 – Dezember2003

Finanzierungsträger:Bundesministerium fürBildung und Forschung

Kooperationspartner:FhG FOKUS, IIS-A

Ansprechpartner:Dipl.-Ing. CyrusGhahremaniTel.: 030/46403141

E-Mail:[email protected]

(4) e-ssist (elektronischeAssistenz für den All-tag)

Laufzeit:April 1999 –April 2002

Finanzierungsträger:Fraunhofer MAVO

Kooperationspartner:IIS-A, IMS, IGD

Ansprechpartner:Dipl.-Ing. Cyrus Ghah-remaniTel.: 030/46403141

E-Mail:[email protected]

Internet:http://www.e-ssist.fhg.de/

Projekte

Temperaturregelung in der Badewanne

Heimlogistik ist in unauffälligen Schaltern versteckt

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Prof. Dr.-Ing. LucienneBlessing

Dipl.-Ing. TamaraElsner

Die aktuelle Generation von Gerä-ten im Haushalt ist nur sehr be-dingt für Senioren tauglich. Auf

der anderen Seite akzeptiert die Zielgruppespeziell für sie konstruierte Geräte oftnicht, da sie zumeist aus der Rehabilitati-onstechnik stammen und somit einen nichtgewollten »senilen« Charakter aufweisen.Man geht heute von der Überlegung aus,dass Senioren prinzipiell die gleichen Prob-leme wie jüngere Menschen haben, sie je-doch bei ihnen stärker ausgeprägt sind.Neue Geräte müssen also konzipiert wer-den, die eine bessere Akzeptanz finden. Dieneuen Geräte sollen Rücksicht auf diewachsenden Limitationen des alterndenKörpers nehmen, zugleich aber auch jün-geren Menschen die Bedienung erleich-tern. Ein ansprechendes Design soll einÜbriges dazu tun, dass der Markt die Ge-räte akzeptiert. Diese speziellen Anforde-rungen älterer Menschen besser zu be-rücksichtigen, stellt eine große Herausfor-derung für den Konstrukteur dar. Dabei istes nicht immer sinnvoll, technische Unter-stützung anzubieten. Auch das ist zu be-achten. Aus sozialen und ethischen Grün-

den kann es vorteilhafter sein, auf eineDienstleistung zurückzugreifen.

Im Haushalt kommt der Mensch vielfachmit Technik in Berührung. Sei es der simpleWecker, das Radio, die Türklingel, das Kü-chengerät oder andere einfache und komple-xe Geräte. Sie erleichtern den Alltag in derWohnumgebung, tragen zur Unterhaltung,zur Erinnerung und zum körperlichen Wohl-befinden bei. Der Übergang zu den so ge-nannten Hilfsmitteln ist dabei nicht klar ab-grenzbar. Eine künstliche Trennung wird da-durch herbeigeführt, dass die Hilfsmittel inder Regel nur in Sanitätsfachgeschäften er-hältlich sind und durch ihr meist auffallendschlechtes Design. So ist es nicht verwun-derlich, dass Ältere die üblichen »senioren-gerechten« technischen Hilfsmittel nur sehrwiderstrebend nutzen. Sie empfinden dieseals diskriminierend und fühlen sich dadurchals alt und gebrechlich gekennzeichnet [2].Der Senior stellt zwar einen besonders sensi-blen Indikator für die Unzulänglichkeitender heutigen Technik im Hinblick auf ihreBenutzbarkeit dar, dennoch muss man dieBegriffe »nutzergerecht« und »seniorenge-recht« voneinander abgrenzen.

Erwachsene und besonders ältere Men-schen nutzen technische Geräte und stellenbestimmte Anforderungen an sie hinsicht-lich Bedienung, Handhabung und Funktio-nalität. Die Anforderungsbereiche beiderGruppen überschneiden sich mehr oder we-niger, sie stimmen aber nicht überein. BeiSenioren treten durch den Alterungspro-zess die anatomischen, physiologischenund mentalen Limitationen des menschli-chen Körpers, die alle Menschen betreffen,besonders hervor. Ein seniorengerechtesProdukt ist deshalb in der Regel zugleichauch nutzergerecht, da auch jüngere Men-schen es leicht bedienen können. Das giltjedoch nicht für Produkte, die besondere Ei-genschaften älterer Menschen ausnutzen,beispielsweise ihre Erfahrungen. Anderer-seits ist ein nutzergerechtes Produkt nichtzwangsläufig auch seniorengerecht, da diekörperlichen und geistigen Fähigkeiten äl-terer Menschen nicht für jedes Produktausreichen, das für jüngere Nutzer konzi-piert wurde.

Der physiologische Alterungsprozessbewirkt, dass der ältere Mensch in Folgevon Funktionseinbußen mit körperlichenund geistigen Beeinträchtigungen in seinerUmgebung zurechtkommen muss. DieseBeeinträchtigungen betreffen das Seh- unddas Hörvermögen, physische, sensomoto-rische und kognitive Fähigkeiten. Das Seh-vermögen im Nahbereich vermindert sich(Altersweitsichtigkeit), die Blendempfind-lichkeit erhöht sich und das Sichtfeld isteingeschränkt. Das vom Ohr wahrnehm-bare Frequenzspektrum vermindert sich

Seniorengerechte Produktentwicklung

Der Faktor Spaß

Von Lucienne Blessing und Tamara Elsner

Die Bevölkerung der Bundesrepublik und anderer westlicher Staaten wird immerälter. 23 Prozent der Deutschen sind gegenwärtig über 60 Jahre alt [1]. Daraus re-sultieren gesellschaftliche Veränderungen,die mittlerweile viel Beachtung finden.Doch nicht nur das: Auch das technische Umfeld des Menschen muss sich an dieseSituation anpassen. Es soll heute dazu beitragen, die selbstständige Lebensfüh-rung älterer Menschen so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Denn wenn alteMenschen zunehmend länger zu Hause wohnen, benötigen sie Geräte, die sie da-bei unterstützen. Was jedoch die wenigsten alten Menschen wollen, sind Gerätemit »senilem« Charakter. Eine neue Herausforderung für die Hausgerätetechnik.

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Der Faktor Spaß

und das Orten einer Stimme oder eines Ge-räusches fällt schwerer. Dies kann dazuführen, dass der ältere Mensch Signaltöne(Türklingel, Eieruhr) und Gefahrenquellennicht wahrnimmt. Auch abnehmende Mus-kelkräfte, verringerte Belastbarkeit von Ge-lenken und Knochen, eingeschränkte Be-wegungsfähigkeit und eventuell eintreten-der altersbedingter Tremor (Zittern) führendazu, dass die Schnittstellen zwischen demMenschen und der Maschine höheren An-forderungen gerecht werden müssen, wennsie zuverlässig funktionieren sollen. Auch

verlangsamte Reflexe, Nachlassen der tak-tilen Wahrnehmung und des Gleichge-wichtssinns sowie eine verschlechterteMerkfähigkeit erhöhen das Sicherheitsbe-dürfnis älterer Menschen.

Untersucht man vorhandene Hausge-räte auf Schwachstellen, wird schnelldeutlich, dass immer wieder die gleichenMängel dafür verantwortlich sind, dassnicht nur alte Menschen Schwierigkeitenhaben, diese Geräte zu bedienen und zubenutzen. Ursächlich für Fehlbedienun-gen der Geräte oder für die Angst vor dem

Benutzen sind oftmals die komplizierteBedienung, wenn das Gerät besonders vie-le Funktionen aufweist, schlechter Sup-port nach dem Kauf, zum Beispiel durchunübersichtliche und unverständliche Be-dienungsanleitungen in mehreren Spra-chen, schlechte Lesbarkeit der Informatio-nen auf dem Gerät, ergonomisch ungüns-tige Bedienelemente und Sicherheitsmän-gel, die entstehen, weil der Anwender be-stimmte Bedienvorgänge oder Sicherheits-vorkehrungen übersieht.

Die Anforderungen an seniorengerechte

tu berlin forschung aktuell 1/2001 mensch und maschine21

ansprech-partnerinProf. Dr.-Ing. LucienneBlessingDipl.-Ing. TamaraElsnerTechnische UniversitätBerlin, Fakultät V,Verkehrs- und Maschi-nensysteme, Institut fürKonstruktionstechnikund Entwicklungs-methodikfachgebietKonstruktionstechnikund Entwicklungsme-thodikforschungs-schwerpunkteKonstruktionsmetho-dik, Rechnerunter-stützte Produktent-wicklung, Experimen-telle Forschung anMaschinenelementenkontaktSekr. H10Straße des 17. Juni 13510623 BerlinTel.: 030/314-2 28 42Fax:030/314-2 64 [email protected]@ktem.tu-berlin.deinternethttp://www.ktem.tu-berlin.de

Datenbank

Seniorenbeirat berät Forscher

Unter dem Namen SENTHA(»Seniorengerechte Technik imhäuslichen Alltag«) forschen

Wissenschaftler und Wissenschaftlerin-nen aus sieben verschiedenen Teilgebie-ten seit 1997 an der TU Berlin, um neueKonzepte für eine seniorengerechte Tech-nik zu entwickeln. Sie werden unterstütztvon der Deutschen Forschungsgemein-schaft (DFG) und erarbeiten Grundlagenfür die Entwicklung seniorengerechterProdukte. Beteiligt sind die Institute fürKonstruktionstechnik, Medizintechnikund Arbeitswissenschaft der TU Berlin,das Institut für Design der HdK Berlin,das Berliner Institut für Sozialforschung,das Deutsche Zentrum für Altersfor-schung in Heidelberg sowie das Institut

für Kommunikationstechnik der TUCottbus. Koordiniert wird die Tätigkeitdurch das Zentrum Technik und Gesell-schaft (ZTG) der TU Berlin.

SENTHA zeichnet sich dadurch aus,dass eine große Zahl von Sozial- und In-genieurwissenschaftlern gemeinsamneue Konzepte erarbeitet. Im Vorder-grund steht dabei die Bündelung von In-formationen und die Entwicklung vonMethoden für die Konstruktion senioren-gerechter Geräte. Die Ergebnisse der For-schergruppe sollen Anreiz für die Indus-trie sein, sich des wachsenden Marktesfür seniorengerechte Technik anzuneh-men. SENTHA steht deshalb nicht inKonkurrenz zur Industrie, sondern ver-steht sich vielmehr als Partner. Ausdruck

Gemeinsam neue Konzepte entwickeln

dieser Partnerschaft ist der Industriebei-rat, der SENTHA beratend zur Seitesteht. Er ist aus Vertretern interessierterUnternehmen zusammengesetzt. Min-destens ebenso wichtig ist die Kooperati-on mit der Zielgruppe. Dafür hatSENTHA einen Seniorenbeirat etabliert,der die Konzepte der Forscher aus Sichtder Senioren beurteilt.

Diese besondere Arbeitsweise bleibtnicht immer ohne Probleme, denn die un-terschiedlichen Disziplinen haben durch-aus verschiedene Herangehensweisenzum gleichen Thema. Und die Arbeits-schwerpunkte der Forschergruppen ori-entieren sich an der Zielsetzung und nichtan den Grenzen der daran beteiligtenFachgebiete. Dennoch ist die Interdiszip-linarität das Kernstück von SENTHA,denn die neuartigen Konzepte bedingenauch eine neue Sichtweise, deren Ziele nurdurch Kooperation zu erreichen sind. Sowird gewährleistet, dass menschliche,technische und gesellschaftliche Aspektegleichermaßen in die Forschung einflie-ßen. Die Forschergruppe SENTHA bear-beitet neben kleineren Projekten drei gro-ße Schwerpunkte: eine repräsentative Er-hebung zur Erfassung der Wünsche undProbleme der Zielgruppe, ein Informati-onssystem zur Bündelung der Ergebnissevon SENTHA für Produktentwickler inder Industrie und ein Learning Home.Darin werden Konzepte modellhaft oderprototypisch realisiert und evaluiert.http://www.sentha.tu-berlin.de

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Der Faktor Spaß

Produkte unterscheiden sich kaum von all-gemeinen Forderungen, die ein technischesProdukt erfüllen muss. Lediglich die Aus-prägung der Anforderungen ist verscho-ben. Die höchste Priorität für ältere Men-schen liegt auf dem Sicherheitsaspekt. DieGeräte sollen nicht nur sicher sein, sondernauch Sicherheit vermitteln. Das wird durcheine selbsterklärende und fehlertoleranteBedienung gefördert. Falsche Bedienun-gen, die zu Fehlfunktionen führen, verunsi-chern den Benutzer.

Oft unterschätzt, aber von extremer Be-deutung sind das Design und die Positio-nierung der Produkte. Es sollen keine Pro-dukte für alte Menschen sein, sondern essollen Produkte angeboten werden, dieauch Ältere benutzen können. Neue Ver-triebswege, weg von den Sanitätsfachge-schäften hin zu Kaufhäusern oder zuMode- und Trendgeschäften, helfen, dasImage dieser Produkte zu verbessern. Die-se Anforderungen können nur von Quali-tätsprodukten in ausreichendem Maße er-füllt werden – ein Merkmal, das auf exis-tierende Hilfsmittel leider nur selten zu-trifft. Die Ausprägung des Merkmals Qua-lität spiegelt sich auch in der Zuverlässig-keit, der einfachen Reinigung und nicht zu-letzt in einer verständlichen und übersicht-lichen Bedienungsanleitung wider. Sinddie oben genannten Anforderungen erfüllt,bedeutet dies schon einen großen Schrittvorwärts in der Entwicklung seniorenge-rechter Produkte. Man kann jedoch nocheinen Schritt weiter gehen. Die reine ord-nungsgemäße Funktionalität eines Pro-duktes lässt sich noch um den Faktor Spaß

erweitern. Die Verwendung des Produktessoll Freude bringen und nicht Frust, wasSelbstvertrauen und Lebensfreude stärkt.Dies ist eine große Herausforderung fürden Konstrukteur und den Industriedesig-ner.

Welche Vorraussetzungen können nunzu einer erfolgreichen Produktentwicklungauf dem Sektor der seniorengerechtenHausgerätetechnik führen? Auf konventio-nellem Wege ist wenig Neues zu entdecken.Eine immer größere Rolle spielt auch hierdie systematische, das heißt methodischeProduktentwicklung [3]. Interdisziplinärzusammengesetzte Teams sind in der Lage,Bedürfnisse zu entdecken und in entspre-chende technische Hilfsmittel mit ange-messener Mensch-Maschine-Schnittstelleumzusetzen. Aufgabe der Forschung ist esdabei, dem Produktentwickler Leitfädenund Hilfsmittel für eine seniorengerechteProduktentwicklung in die Hand zu geben.Beispiele dafür sind Checklisten, in denenhäufig begangene Fehler bei der Geräteent-wicklung abgefragt werden. Sie helfen,Mängel frühzeitig, schon während der Pro-duktentwicklung, zu erkennen und ihnenentgegenzuwirken.

Ein Ansatz zur Entwicklung seniorenge-rechter Hausgeräte besteht darin, die Pro-duktentwickler über mögliche altersbe-dingte Beeinträchtigungen und deren Kon-sequenzen aufzuklären. So können diesedamit entweder gezielt umgehen oder dafürsorgen, dass die Beeinträchtigungen bei derBenutzung des Produktes kompensiertwerden. Ist die Ursache für die altersbe-dingten Beeinträchtigungen bekannt, las-sen sich neben den allgemein bekanntenAnforderungen noch weitere ableiten, die eserleichtern, das Produkt an die Bedürfnis-se älterer Menschen anzupassen. Ein gutesBeispiel hierfür ist das veränderte Farbse-hen. Dieses wird durch eine Gelbfärbungder Linse verursacht. Das hat zur Folge,dass der älter werdende Mensch immerschwerer die Farben am grün-blau-violet-ten Ende des Spektrums unterscheidenkann. Daraus ergibt sich die Forderung, beider Entwicklung seniorengerechter Pro-dukte beispielsweise auf eine Kombinationdieser Farben als Unterscheidungsmerk-mal zu verzichten.

Eine spezielle Herausforderung ist dieDynamik des Alterungsprozesses, was eine

ständige Veränderung der nutzerseitigenAnforderungen bedeutet. Ein Produkt wirdbesonders interessant, wenn es mit seinemBesitzer altert, sich verändert und an seineBedürfnisse anpasst. Das »Smart Home«,also die intelligente Vernetzung bisher iso-lierter Geräte und Systeme, fällt in die Ka-tegorie derartiger »intelligenter« Produkt-konzepte.

Im Rahmen des Forschungsprojektes»Sentha« (siehe Kasten) entsteht ein Infor-mationssystem für Produktentwickler, dasunter anderem solche Informationen, Me-thoden und Vorgehensweisen enthält. Eswird als Schnittstelle zwischen den Sozial-und Ingenieurwissenschaften und alsPlattform für eine erweiterte Produktent-wicklungsmethodik dienen. Die für eine se-niorengerechte Produktentwicklung not-wendigen Informationen werden hier ge-bündelt und dem Produktentwickler zurVerfügung gestellt. Den Kern des Informa-tionssystems bilden eine Anforderungsma-trix, die mit Gestaltungs- und Handlungs-empfehlungen verknüpft ist, Schwachstel-lenanalysen, eine auf Tätigkeiten basieren-de funktions- und problemorientierte Sys-tematik und ein speziell entwickeltes Be-wertungssystem. Zusätzlich enthält es ak-tuelle soziodemografische Daten, sicher-heitsrelevante Hinweise und Vernetzungs-konzepte für »Smart Home«-Anwendun-gen.

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Messung des Drehmomentes: WievielKraft braucht man für ein Marme-ladenglas?

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Der Faktor Spaß

Dieses System wird Produktentwicklerbefähigen, auf die Bedürfnisse einer älterwerdenden Bevölkerung einzugehen undsich neue Sichtweisen auf Systeme undihre Umwelt anzueignen. Die Sensibilisie-rung soll so weit führen, dass Konstruk-teure nicht nur ein Design für ältere, son-dern sogar ein Design mit älteren Men-schen in Angriff nehmen. Denn unter-schiedliche Bedürfnisse und Problemla-gen können besser erkannt und berück-sichtigt werden, wenn man die späterenNutzer von Objekten und Systemen in dieEntwicklung einbezieht. Der partizipato-rische Ansatz bindet den älteren Men-schen in den Produktentstehungs-und -entwicklungsprozess stark ein. Ferti-

ge Entwürfe, Modelle oder besser Proto-typen werden vertrauenswürdigen Kun-den vor der Markteinführung präsentiert,sodass diese auf eventuell noch bestehen-de Mängel frühzeitig hinweisen können.Der Schwerpunkt liegt dabei in der regel-mäßigen Kommunikation mit der Ziel-gruppe, den älteren Menschen, um einevollständige Anforderungsliste und einFeedback schon während des Konstruk-tionsprozesses zu erhalten.

Mit den Ergebnissen des Forschungs-projektes hoffen wir, der Industrie genugAnreize und Hilfsmittel in die Hand zu ge-ben, um damit bessere Produkte für eineselbstständige Lebensführung älterer Men-schen zu entwickeln. �

Literatur[1] Bundesamt für Bevölkerungsfor-

schung; Bevölkerung – Fakten, Trends,Ursachen, Erwartungen; Sonderveröf-fentlichung im Rahmen der Schriften-reihe des BIB, 16.01.2001.

[2] Mollenkopf, H. (1998): Altern in tech-nisierten Gesellschaften. In Clemens,Wolfgang/Backes, Gertrud M. (Hg.):Altern und Gesellschaft. Gesellschaft-liche Modernisierung durch Alters-strukturwandel. Opladen: Leske + Bu-drich, S. 217–236.

[3] Pahl, G.; Beitz, W.: Konstruktionsleh-re – Methoden und Anwendung; Ber-lin, Heidelberg, New York: Springer-Verlag 1976, 4. Auflage 1997.

tu berlin forschung aktuell 1/2001 mensch und maschine23

Stürze vermeiden

Eine typische und zugleich beson-ders gravierende altersbedingte Be-einträchtigung ist der reduzierte

Gleichgewichtssinn. Stürze sind die häu-figste Unfallursache in Haushalten, und

die Wahrscheinlichkeit zu stürzen steigtmit dem Alter. Besonders wichtig ist es,beim Wohnen im eigenen Haushalt Stür-ze zu vermeiden. Die als Sturzfolge häufigauftretenden Oberschenkelhalsbrüche,

die oft ein künstliches Hüftgelenk erfor-derlich machen, erschweren die selbst-ständige Lebensführung oder machen siesogar unmöglich.

Begünstigt wird der Gleichgewichts-verlust durch eine Reihe von Tätigkeiten:Stehen auf einem Bein (z. B. Fußschaltereines Gerätes im Stehen betätigen), Höheüberwinden (auf eine Leiter steigen), Kopfin den Nacken legen (hohe Regale benut-zen), Bücken (niedrige Geräte bedienen)und Augen schließen.

Kombiniert mit den Schwachstellenaktueller Hausgeräte resultieren darausunmittelbar Gefahren wie Stürze beimStaubsaugen (Bücken bzw. Einbeinstandbeim Ein- und Ausschalten), beim Trep-pensteigen und Benutzen eines Tritts odereiner Leiter.

Zur Vermeidung von Gleichgewichts-problemen lassen sich verschiedene allge-meingültige Gestaltungsrichtlinien ablei-ten:

• von Fuß- auf Handbedienung umstel-len,

• Dauer des Einbeinstandes so kurz wiemöglich halten,

• Beinhubhöhe (Steighöhe) so geringwie möglich halten,

• Festhaltemöglichkeit vorsehen,

• Bedienelemente über Kopfhöhe ver-meiden.

Ein Schalter, der in der Radnabe eingebaut ist, verhindert beim Anschalten dassturzträchtige Stehen auf einem Bein

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Unser Zugang zur Technik bestehtin der Praxis darin, dass wir inder Lage sind, technische Geräte

so zu benutzen, wie es unseren Bedürfnis-sen entspricht. Nicht immer ist die richtigeVerwendung eines Gerätes selbstverständ-lich. Oft brauchen wir eine zusätzliche Er-läuterung. Gebrauchsanleitungen, Bedie-nungsanweisungen oder Benutzerinforma-tionen begegnen uns dabei in vielfältigerForm: als kurzer, aufgedruckter Text oderals Bilderfolge auf Verkaufsautomaten, alsschrittweise Anleitung auf dem Bildschirmvon Bankautomaten, als integrierte Hilfe-funktion bei Bürosoftware, sogar als mitge-lieferte Audio- oder Videokassette. Meistfinden wir jedoch als Produktbeilage einkleines Heft, das uns Aufschluss geben soll.

Komplexe Systeme wie Flugzeuge,Kraftwerke oder umfangreiche Softwarepa-kete können nicht auf Erläuterungen ver-zichten, das ist klar. Die Benutzer benöti-gen für die Handhabung eine besondereSchulung, oft sogar eine spezielle beruflicheQualifikation. Dass aber häufig auch Gerä-te mit eher simplen Funktionen einer Anlei-tung bedürfen, erfahren wir, wenn wir in ei-

ner fremden Stadt versuchen, einen Bus-fahrschein am Automaten zu lösen.

Die beiden Extreme sind also einerseitsGeräte, die bei der erstmaligen (und mögli-cherweise einzigen) Nutzung ohne fremdeHilfe beherrscht werden müssen, und ande-rerseits solche Geräte, deren Benutzer spe-ziell geschult werden. Dazwischen gibt eseine Vielzahl technischer Erzeugnisse, de-ren Handhabung keineswegs einfach ist,die aber ohne besondere Ausbildung nachkurzer Zeit genutzt werden sollen: Kon-sumgüter wie Videorecorder, Telefone,PKWs oder Haushaltsgeräte.

Bei solchen Geräten nimmt die Bedeu-tung der Gebrauchsanleitung tendenziellzu, da sie immer mehr Funktionen aufwei-sen. Ein Glücksfall ist es, wenn man we-nigstens die Grundfunktionen ohne Zu-satzinformation nutzen kann. Beispielswei-se erlaubt ein Telefon mit Sonderfunktionennoch, die Verbindung herzustellen, indemman die Nummer auf der Tastatur eingibt.Das Abspeichern von Telefonnummern, dieWeiterleitung von Anrufen, Konferenz-schaltungen usw. erfordern dagegen zu-sätzliche Anleitung.

Manche Geräte bergen auch bei sach-gemäßer Nutzung Gefahren, zum Beispielheiße Teile an einem Grill. Andere Gerätekönnen zu einer falschen und gefährlichenNutzung verführen, zum Beispiel die Ver-wendung eines elektrischen Föhns in derBadewanne. Hier muss die Gebrauchsan-leitung unmissverständlich klarstellen,wie das Gerät benutzt wird, und sie mussvor Gefahren warnen. Neben Konstruk-tions- und Herstellungsfehlern kennt dasProdukthaftungsgesetz nämlich auch In-struktionsfehler. Falsche oder fehlendeAnweisungen können für den Herstellerernste Haftungskonsequenzen haben. Die»EG-Maschinenrichtlinie« für Europaverlangt von Gebrauchsanweisungennicht nur die Berücksichtigung des nor-malen Gebrauchs, sondern auch Hinwei-se auf mögliche sachwidrige Verwendun-gen. Natürlich bleibt dem Benutzer einesProdukts immer noch seine »zivile Selbst-verantwortung«. Das bedeutet, Benutzersind verpflichtet, ihr Wissen über gefähr-liche Situationen beim Gebrauch einzuset-zen.

Die höhere Komplexität der Produkte,die gestiegenen rechtlichen Anforderungenund die Entdeckung der Gebrauchsanwei-sung als Instrument für Marketing undKundenbindung haben dazu geführt, dassHersteller heute den Gebrauchsanweisun-gen größere Aufmerksamkeit widmen. Vorwenigen Jahren noch war es üblich, dassKonstrukteure und Entwickler von Produk-ten am Ende eines Projektes »noch schnell«eine Gebrauchsanweisung verfassten.

Gebrauchsanweisungen

Nächtliche Lektüre am Straßenrand

Von Thomas Müller

Nach dem Kauf bleibt der Hersteller mit dem Käufer oder Benutzer eines Produk-tes meist nur noch durch die Gebrauchsanweisung in Kontakt. Sie soll den Kundenüber die Eigenschaften des Produkts, die richtige Benutzung und über möglicheGefahren bei unsachgemäßem Gebrauch aufklären. Auf dem Weg zu Zufrieden-heit und Sicherheit des Kunden sind dabei zahlreiche Barrieren zu überwinden: DieGebrauchsanleitung muss die entscheidenden Informationen tatsächlich enthal-ten, sie müssen dort leicht zu finden sein und der Leser muss sie schließlich auchnoch verstehen und umsetzen können. Eine Aufgabe, die den Spezialisten erfor-dert.

Dr.-Ing. ThomasMüller

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Nächtliche Lektüre am Straßenrand

Heute führen viele Firmen eigene techni-sche Redaktionen, in denen ausgebildeteSpezialisten – technische Redakteure undRedakteurinnen – arbeiten. In den letztenJahren richteten verschiedene Hochschulen(auch die TU Berlin) entsprechende Studi-engänge ein, bei denen das Thema zum leh-rinhalt gehört.

Trotz gestiegener Anforderungen undbesser qualifiziertem Personal bleibt dieQualität von Gebrauchsanweisungen nochoft unzureichend. Die Gesellschaft fürTechnische Kommunikation (tekom), derdeutsche Fachverband für Fragen rund umGebrauchsanleitungen, führt regelmäßigvergleichende Untersuchungen durch. Da-bei zeigt sich immer wieder, dass auch ele-mentare Anforderungen an Gebrauchsan-leitungen verletzt werden.

Doch was zeichnet eine »gute« Ge-brauchsanleitung aus? Nur im Zusammen-wirken mit Produkt, Nutzungssituationund Nutzer zeigt sich die Qualität einer An-leitung. Einige wichtige Kriterien, dies zubeurteilen, sind zum Beispiel:

Die Gebrauchsanleitung muss für dasjeweilige Produkt richtig und vollständigsein. Es muss außerdem klar ersichtlichsein, auf welches Gerät (Typ, Ausstat-tungsvariante usw.) sie sich bezieht. Wer-den aus Kostengründen die Anleitungen fürverschiedene Produktvarianten zusam-mengefasst, so muss deutlich sein, welcheAussagen für das jeweilige Modell zutref-fen.

Größe, Einbandmaterial, Bindung, Be-schriftung und Typographie muss denkünftigen Einsatzbedingungen in Werk-

statt, Labor, Haushalt usw. entsprechen. Sosollte man die Anleitung zu einem Kraft-fahrzeug auch unter ungünstigen Bedin-gungen lesen können, zum Beispiel nachtsam Straßenrand.

Gebrauchsanleitungen werden mitunterauch als Nachschlagewerk benutzt. Die ge-suchten Informationen müssen dannschnell und sicher auffindbar sein. Mitteldazu sind eine benutzungsorientierte Glie-derung, aussagekräftige Überschriften, In-haltsverzeichnis und Schlagwortregister.

Gebrauchsanweisungen müssen vor al-lem verständlich sein. Gliederung, Satzbau,Wortwahl und ergänzende Abbildungentragen dazu bei, zu berücksichtigen ist aberauch das fachliche Vorwissen, die Sprach-kompetenz und die Motivation des Lesers.Bei Konsumgütern ist der Benutzerkreishinsichtlich dieser Merkmale typischerwei-se gemischt. Im Zweifelsfall muss der tech-nische Redakteur von fehlendem Vorwissenund geringer Sprachkompetenz ausgehenund die Anleitung sollte auf wenig ge-bräuchliche Wörter und Fachbegriffe ver-zichten, einen einfachen Satzbau verwendensowie alltägliche grammatische Formen.Passivkonstruktionen, Konjunktive oderÄhnliches sollte sie möglichst vermeiden.

Vorrangig ist nicht etwa die Gerätebe-schreibung, sondern die Handlungsanlei-tung: Welche Schritte muss man gehen, umein bestimmtes Ziel zu erreichen, zum Bei-spiel das Abspeichern einer Rufnummer imTelefon?

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ansprechpartnerDr.-Ing. ThomasMüllerTechnische UniversitätBerlinFakultät V, Verkehrs-und Maschinensyste-me, Institut für Psycho-logie und Arbeitswis-senschaftfachgebietMensch-Maschine-SystemekontaktJebensstraße 110623 BerlinTel.: 030/314-7 95 23Fax: 030/314-7 25 [email protected]

Datenbank

Strukturen arbeitswis-senschaftlichen Wissens

Laufzeit:1998–2000

Ansprechpartner:Dr.-Ing. habil. ThomasMüllerTechnische UniversitätInstitut für Psychologieund Arbeitswissen-schaftJebensstraße 1110623 BerlinTel.: 030/314-7 95 23Fax: 030/314-72 5 81

E-Mail: [email protected]

Projekt

Verständliche Anleitungen sind besonders bei öffentlichen Automaten wichtig

Bedienungsanleitung von 1916

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Nächtliche Lektüre am Straßenrand

Diese Anleitung muss also einerseits diebestimmungsgemäße Verwendung des Ge-rätes beschreiben und den Benutzer befä-higen, die Funktionen des Geräts zu nut-

zen. Andererseits muss sie aber auch einesachwidrige Verwendung untersagen und,falls es erforderlich ist, Maßnahmen zurVermeidung von Restrisiken benennen.

Schließlich soll die Gebrauchsanleitung»nützen und schützen«. Nur dann erfülltsie den Zweck, einen Zugang zur Technikzu eröffnen. �

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RoboSpot: Kanonendonner nach Anleitung»Von Büchsen Ge-schoss / Pulver / Feuer-werck / wie man sichdarmit auß ainer Statt/… / so von Feyndenbelageret wer / erret-ten möchte« handelt dieerste technische Ge-brauchsanleitung in deut-scher Sprache: »Das Feuer-werkbuch«. Um 1420 alsHandschrift entstandenund 1529 von Heinrich Stai-ner in Augsburg gedruckt,gibt es einen umfassendenEinblick in den Stand derWaffentechnik im Spätmit-telalter. Und nicht nur das:Es belehrt auch umfassendüber das Kriegskunsthand-werk allgemein, die charak-terliche Eignung zum Waf-fenmeister und darüber, wiedieser sich ernähren und ge-sund halten sollte. Außerder Schrift illustrieren auchviele Bilder den richtigenUmgang mit Kanonen, sogenannten »Büchsen«, undanderem kriegstechnischenGerät. Brandspuren an ei-nem der wenigen erhaltenenDruckexemplare weisen da-rauf hin, dass das Buch tat-sächlich aufgeschlagen inder Werkstatt oder sogar beikriegerischen Auseinander-setzungen benutzt wurde.Was zur Handhabung desBuches natürlich besonderswichtig und damals keines-wegs selbstverständlichwar: »Der maister sol auchkunden schreiben vn le-sen.« (Red.)

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Vom Unikat zur Serie

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Selbst gut ausgebildete Studienab-gänger der Fachrichtung Informatikgeraten ins Schwitzen, wenn sie die

Frage beantworten sollen: Was ist einComputer?* Die Begriffe Hard- und Soft-ware sind fast jedermann geläufig, aberkaum jemand kann sie hinreichend erklä-ren. Heutzutage verschiebt sich das wirt-schaftliche Gewicht der Computerent-wicklung immer mehr von der Hardwareauf die Software, wie zum Beispiel Bill Ga-tes zeigt, der durch die Entwicklung vonSoftware zum reichsten Mann der Weltwurde. Die Begriffe Hard- und Softwareentstammen aber nicht der Computerent-wicklung. Aus meiner Sicht haben sie ihreWurzeln im Wilden Westen: Hardwaresind die Waffen- und Eisenwarenläden undSoftware die Kleidungsläden. Im WildenWesten konnte man mit beiden Produktli-nien gutes Geld verdienen. Es ist nicht be-kannt, wer die Worte Hard- und Softwarein die Computerentwicklung eingeführthat, aber es ist eine Tatsache, dass bis Ende

der 60er Jahre mit Software kaum ein Pfen-nig Geld zu verdienen war.

Viele hervorragende Pioniere, Ingenieureund Manager haben den Computer zu demgemacht, was er heute ist. Die frühen Pionie-re der Computerentwicklung vereinte die tie-fe Abneigung vor tagelangen stupiden Zah-lenrechnungen, wie z. B. Charles Babbage(1792–1871), George Stibitz (1904–1994),Vincent Atanasoff und Howard Aiken, der1944 die MARK I vollendete. Die 1945/46fertiggestellte ENIAC von Eckert undMauchly in den USA mit ihren ca. 18.000Röhren wurde durch das Stecken von Hun-derten von Kabelverbindungen program-miert. Die in England von 1943–1945 gebau-ten zehn COLOSSUS-Rechner setzte manerfolgreich zur Entschlüsselung von Funk-sprüchen der deutschen Wehrmacht ein.Konrad Zuse (1910–1995) wählte zwischen1934 und 1946 einen Weg, der zur Symbiosevon Hardware und Software führen sollte.Seine Rechner Z1, Z2, Z3 und Z4, die er zwi-schen 1936 und 1945 baute, hatten fast alle

die gleiche Architektur. Sie sollten frei pro-grammierbar sein, das heißt beliebig vieleInstruktionen von einem Lochstreifen einle-sen und verarbeiten können, und sie solltendas binäre Zahlensystem verwenden sowiemit der binären Aussagenlogik arbeiten. Erentwickelte ein leistungsfähiges binäresGleitkommarechenwerk, welches sehr großeund sehr kleine Zahlen mit hinreichenderGenauigkeit verarbeiten konnte. Er entwarfeinen Speicher für beliebige Daten, konstru-ierte eine Einheit zur Steuerung des Rechnersper Lochstreifen und implementierte Ein-bzw. Ausgabeeinheiten im Dezimalsystem.

Seine erste Maschine Z1, die nach diesemPrinzip arbeitete, konstruierte er von1936–1938. Unzufrieden mit der Zuverläs-sigkeit der bistabilen Bauelemente, entwarfer das Gerät Z2 (1938–1939). Die Zuverläs-sigkeit der Relaistechnik überzeugte Kon-rad Zuse, und er baute die Z3 vollständigaus Relais (ca. 600 im Rechenwerk und 1600im Speicher). Die Z3 war am 12. Mai 1941fertiggestellt und gilt heute als der erstefunktionsfähige, frei programmierbare, aufdem binären Zahlensystem (Gleitkomma)basierende Rechner der Welt. Die zwischen1942 und 1945 entwickelte Rechenanlage Z4war als Prototyp einer Serie gedacht.

Der Krieg zerstörte zunächst KonradZuses Hoffnung, die Arbeit der Ingenieuredurch seine Rechner vom sturen Zahlen-rechnen zu befreien. Die Maschinen Z1-Z4nannte er algebraische Rechengeräte und

Der Rechner: Entwicklungsgeschichte des Computers

Hardware aus dem Wilden Westen

Von Horst Zuse

Die Entwicklung vollautomatischer Rechenmaschinen – heute Computer genannt –ist eine der wichtigsten Erfindungen des 20.Jahrhunderts.Der aus den frühen Com-putern entstandene Mikroprozessor verändert die Welt in einem rasanten Tempo.Immer mehr Menschen finden auf ihren Arbeitsplätzen einen Computer vor undmüssen lernen, damit umzugehen. Einer der wichtigsten Schritte auf diesem Wegwurde in Berlin getan. Konrad Zuse, der an der Technischen Hochschule Berlins stu-dierte,baute hier seinen legendären frei programmierbaren Computer Z 3. Die Ent-wicklung des Computers basiert jedoch nicht nur auf Hardware und Software,son-dern, was sehr oft übersehen wird, auf dem Siegeszug der Mathematik.

Dr.-Ing. Horst Zuse

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* Eine akzeptierbare einfache Definition ist: Ein Computer ist eine Maschine mit einem Steuerwerk, welches die Befehle auf einem Spei-chermedium interpretiert, einem Speicher, einer arithmetisch-logischen Einheit und den Ein- und Ausgabeeinheiten für die Daten.

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Hardware aus dem Wilden Westen

betrachtete deren logische Entwicklung1943 als abgeschlossen. Im Jahr 1943 pos-tulierte er die logistische Maschine, die einesehr einfache Struktur besitzen und logi-sche beziehungsweise kombinatorischeOperationen durchführen sollte. Paralleldazu entwickelte er das Programmiersys-tem »Plankalkül« (1942–1945/46). DerSprachumfang des »Plankalkül« ergab sichaus einer Analyse der Rechenprobleme inden Ingenieurwissenschaften, die um 1943gängig waren. Sein »Plankalkül« enthieltdie Regeln des logischen Schließens der ma-thematischen Logik, die weit über das pureZahlenrechnen hinausgehen. Es finden sichdort unter anderem folgende Sprachkon-strukte: Zuweisungszeichen, mächtige hie-rarchische Datenstrukturen, Datentypenwie Gleitkommazahlen, Festkommazahlen,komplexe Zahlen, Unterprogrammtechnikmit Schnittstellendefinition, bedingte An-fragen, sieben verschiedene Schleifenarten(u. a. die WHILE-Schleife), Listenverarbei-tung, Relationen, Prädikatenkalkül, arith-metische Ausnahmebehandlungen und – esist übrigens ein Irrtum, dass der am 23. Ok-tober 2000 verstorbene Claude Shannon dieersten Schachprogramme schrieb – sechzigSeiten Schachprogramme. Konrad Zuseführte etwa 1945 eine Strukturformel ein,die die betrachteten Objekte und deren Ei-

tu berlin forschung aktuell 1/2001 mensch und maschine29

ansprechpartnerPrivatdozent Dr.-Ing.Horst Zuse, TechnischeUniversität BerlinFakultät IV, Elektro-technik und Informatikforschungs-schwerpunktPrinzipien derQuantifizierung derSoftwarequalität,Rechnerarchitekturen,Geschichte des Com-puterskontaktSekr. FR 5-3Franklinstraße 28/2910587 BerlinTel.: 030/314-2 47 88Fax: 030/314-7 34 [email protected]@t-online.deinternethttp://www.cs.tu-berlin.de/~zusehttp://www.zuse.org

Datenbank

Der erste funktionsfähige, frei programmierbare Rechner Z3, der auf dem binären Zahlensystem beruhte (1941 fertiggestellt)

Berühmte TU-AbsolventenTU-Alumnus Konrad Zuse »DieProblematik ist gelöst«, stellte der da-mals 31-jährige Konrad Zuse zufriedenfest, nachdem er 1941 seinen Rechner Z3

fertiggestellt hatte. Die »Problematik«war das nach Zuses Meinung stupideRechnen nie endender Zahlenkolonnen,das den Ingenieuren nicht zuzumutenwäre und das auch Maschinen überneh-

men könnten. Nach einigen Vorentwick-lungen stellte Zuse mit dem Z3 den erstenfrei programmierbaren Rechner vor, derBefehle per Lochband erhielt. Seine aka-demische Ausbildung hatte der geboreneBerliner in der Technischen HochschuleBerlin Charlottenburg erhalten, der Vor-gängerin der heutigen TU. Mit seinem Z3erlangte Zuse nicht nur Weltruhm, seineErfindung wurde sogar neben Guten-bergs Buchdruck und Beethovens 9. Sin-fonie für das UNESCO-Register »Ge-dächtnis der Menschheit« vorgeschlagen.Weniger bekannt ist, dass Konrad Zuseauch Erfinder der ersten Schachprogram-me war, dass er mit dem 1945 vorgelegtenWerk »Plankalkül« die erste höhere Pro-grammiersprache entwickelt hatte, dasser 1947 in einem ehemaligen Mehllagerim hessischen Hopferau das weltweit ers-te Computer-Start-Up Unternehmengründete und dass er nebenbei ein begna-deter Ölmaler war. Nachbauten seinerMaschinen sind im Deutschen Technik-museum Berlin und im Deutschen Mu-seum München zu besichtigen. (Red.)

Zuse an der Z3 von 1961 (Nachbau)

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Modellierung die eigentlichen Pfeiler desEinsatzes von Computern und der darausentstandenen Computerindustrie.

Mit unseren Gedankenmodellen beein-flussen wir die Welt, mit den Computermo-dellen steuern wir bereits große Teile dertechnischen, wirtschaftlichen und sozialenWelt. Wie sagte Konrad Zuse zur Über-macht der Computer: Wenn die Computerzu mächtig werden, dann zieht den Steckeraus der Steckdose. Dies ist allerdings leich-ter gesagt als getan, denn es gibt kaumnoch technische Geräte ohne Mikroprozes-soren. Allerdings sollten wir Konrad Zusesehr ernst nehmen, wenn menschliche Ent-scheidungen durch solche von Computernersetzt werden sollen. �

Hardware aus dem Wilden Westen

genschaften mathematisch beschrieb. Wirbezeichnen dies heutzutage als mathemati-sches Modell. Der »Plankalkül« sollte inZusammenarbeit mit der logistischen Ma-schine die Strukturformel verarbeiten. Da-mit hatte Konrad Zuse schon 1945/46 eineSymbiose zwischen Hard- und Softwaregeschaffen.

Der Entwicklungsprozess des Compu-ters und der Programmiersprachen istmehr als 60 Jahre alt und noch voll imGange. Es ist verblüffend, wie modernfrühe Ideen der Computerentwicklungheute noch sind. Die Symbiose von Hard-und Software ist heute eine Selbstver-ständlichkeit. Die Idee der mathemati-schen Modellierung, d. h. der Beschrei-

bung des Verhaltens von Objekten in derRealität durch die Mathematik, gehörtzum Handwerkszeug eines jeden Informa-tikers. Moderne Internetsuchmaschinen,Computernetze, Handys, Flugzeuge, Au-tos, Farbmonitore, usw. funktionierennicht ohne umfangreiche mathematischeVorarbeiten. Erst wenn wir das Verhaltenbzw. die Eigenschaften dieser Objekte inder Realität verstehen und durch einenmathematischen Formalismus beschrei-ben können, macht der Einsatz einesComputers Sinn. Dies gilt insbesondereauch für Computerspiele, hinter denensehr oft höchst komplizierte Mathematikverborgen ist. Aus meiner Sicht bildenHardware, Software und mathematische

30tu berlin forschung aktuell 1/2001 mensch und maschine

RoboSpot: Fleißige Erfinder – Patente Frauen Die Siemens AG ist nach wie vor dergrößte deutsche Patentanmelder mit 3743in Deutschland wirksamen Anmeldun-gen (1999), gefolgt von der Robert BoschGmbH mit 2393, der BASF AG mit 1344und der DaimlerChrysler AG mit 1278Anmeldungen. Unter den 50 größten Pa-tentanmeldern in Deutschland sind aucheinige ausländische Firmen, vor allemaus den USA, aus Japan, Frankreich, denNiederlanden, Südkorea, Schweden undKanada. In den vergangenen Jahren istdie Zahl der Patentanmeldungen inDeutschland stetig gestiegen. Im Jahre1999 registrierte das Deutsche Patent-und Markenamt 94.067 Anmeldungen,davon 51.105 aus Deutschland, das sindinsgesamt 62 pro 100 000 Einwohner imJahr. Viele Firmen finden den Zugangzum deutschen Markt auch über das Eu-ropäische Patentamt. Dort meldeten17.945 deutsche Erfinder ihre Entwick-lungen an. Insgesamt gab es im Jahr 1999132.000 Anmeldungen, die in Deutsch-land wirksam waren.

Schon seit 1995 melden die Fahrzeug-Tüftler die meisten Erfindungen an, es fol-gen Erfindungen von Maschinenelemen-ten, elektrischen Bauteilen und Ideen undEntwicklungen zum Messen und Prüfen.Erst auf Platz fünf stehen Medizin, Tierme-dizin und Hygiene, an dreizehnter Stelle

Möbel und Haushaltsgegenstände. Dabeisind Bayern und Baden-Württemberg mit107 und 112 Anmeldungen pro 100 000 Ein-wohner am fleißigsten. Berlin liegt mit 38 imMittelfeld, die rote Laterne trägt Mecklen-burg-Vorpommern mit 12 Patenten.Patente Frauen »Die Welt kann essich nicht leisten, die Talente der Hälfte ih-rer Bevölkerung zu verschwenden, wenndie vielen Probleme, die uns bedrängen, ge-löst werden sollen«, mahnte RosalynnYalow, als sie 1977 den Medizin-Nobel-preis entgegennahm. Noch heute ist nurjede 19. deutsche Patentanmeldung von ei-ner Frau beziehungsweise unter maßgebli-cher Beteiligung von Frauen entstanden.Im antiken Athen durften Frauen nicht ein-mal Medizin oder Heilkunde studieren. Imspäten Mittelalter wurden weibliche Eman-zipationswünsche mit Hilfe pseudo-theolo-gischer Schriften wie dem »Hexenham-mer« unterdrückt, der verkündete: »Wenneine Frau allein denkt, denkt sie Böses.«

In der Vergangenheit zeigte sich derweibliche Erfindungsgeist oft im typischenFrauenalltag. Kaffeefilter (MelittaBentz), Wegwerfwindeln (Marion Do-novan) oder Tipp-Ex (Bette NessmithGraham) sind dafür Beispiele. Frauen, diein Männerdomänen eindrangen – Natur-forscherinnen, Ärztinnen, Kernphysikerin-nen und Ingenieurinnen – wie Lise Meit-

ner (Kernspaltung) mussten sich dage-gen oft mit dem zweiten Platz begnügen.Den Nobelpreis bekam ihr Kollege OttoHahn. Die Leistung von Frauen wie Gra-ce Murray Hopper wurde immerhinanerkannt. Sie programmierte den riesi-gen Rechner Mark I (siebzehn mal dreimal zwei Meter) und entwickelte die Pro-grammiersprache COBOL mit. EbensoIrmgard Flügge-Lotz, die im BereichLuftfahrttechnik forschte und damit zurEntwicklung der ersten automatischenPiloten beitrug. Zu den modernen Tüftle-rinnen gehört Martine Kempf, die1982 auf ihrem Apple PC ein Computer-Programm geschrieben hatte, das auf ge-sprochene Anweisungen reagieren sollte,genannt »Katala-Vox« (griech. ka-tal = verstehen, lat. vox = Stimme). DasGerät wurde genutzt, um Mikroskope zujustieren und Rollstühle zu bewegen.

In unserer Zeit haben Frauen es als Er-finderinnen wieder schwer. Erfunden wirdheute vor allem in großem Stil, also im Fir-menauftrag und im Team. Und da sindFrauen noch in der Minderheit. Zudemmüssen für ein Patent mehrere Zehntau-send Mark locker gemacht werden (Ge-bühren, Übersetzungshonorare, Anwalts-kosten). Aber noch ist Hoffnung: der Frau-enanteil an der Technischen UniversitätBerlin beträgt derzeit 36,7 Prozent. (Red.)

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Zunehmende Kontroversen über Ziel,Methoden und Inhalte des neuenWissenschaftsgebiets gab es bereits

gegen Ende der 1920er Jahre, woraufhin diePsychotechnik in das komplexere Gebiet der»Arbeitswissenschaft« integriert wurde.

Ihre Blütezeit erlebte die Psychotechnikin den Jahren zwischen den Weltkriegen.Aufgrund der spezifischen Rahmenbedin-gungen und Probleme der Nachkriegszeitinsbesondere im industriellen Bereichkonnte sie sich im Deutschland der Weima-rer Zeit weit stärker als in anderen Ländernentfalten. In Lehre und Forschung wurdendie Technischen Hochschulen zu den ei-gentlichen institutionellen Trägern der psy-chotechnischen Bewegung.

Einer der Wegbereiter war Georg Schle-singer (1874–1949), erster Inhaber des 1904gegründeten »Lehrstuhls für Werkzeugma-schinen, Fabrikanlagen und Fabrikbetrie-be« der TH Berlin – aus der später die TUBerlin wurde –, der heute als Pionier derProduktionswissenschaft gilt. Mit seinenwegweisenden Forschungen legte er denGrundstein für die Entwicklung der Ar-

beitswissenschaft an der TU Berlin, die imJahr 1964 zur Einrichtung eines selbststän-digen Lehrstuhls und Instituts für Arbeits-wissenschaft unter Leitung von BerndSchulte führte.

Die Anfänge psychotechnischenDenkens in Deutschland

Die Psychotechnik war ursprünglich einZweig der praktischen Psychologie. ImLaufe der Zeit spaltete sie sich von ihr abund führte im Rahmen der Betriebswissen-schaft ein mehr oder minder eigenständigesLeben. Schließlich entstand aus der Synthe-se physiologischer und psychologischer mitfertigungstechnischen und arbeitsorgani-satorischen Erkenntnissen die spezifischdeutsche Ausprägung der Psychotechnik,die sich stärker als in anderen Ländern ander Produktion orientierte.

Das Programm einer Psychotechnik als»Wissenschaft von der praktischen Anwen-dung der Psychologie im Dienste der Kul-turaufgaben« hatte der Psychologe HugoMünsterberg bereits vor dem Ersten Welt-

krieg formuliert. Wichtige Impulse liefertendie Rationalisierungsbemühungen desamerikanischen Ingenieurs Frederic Wins-low Taylor. In Zeitstudien maß er mit einerStoppuhr die Leistung der einzelnen Arbei-ter. Später kamen Bewegungsstudien hinzu,und zwar mit den von Lillian und FrankBunker Gilbreth entwickelten Filmaufnah-meverfahren. Eine Methode für Eignungs-prüfungen lieferte Curt Piorkowski wäh-rend des Ersten Weltkrieges mit seinem rich-tungweisenden »psychologischen Berufs-schema«, das technische Untersuchungs-möglichkeiten der experimentellen Psycho-logie exemplarisch aufzeigte. Sie wurdennoch während des Krieges erstmals ange-wandt. Für die Psychotechniker gab es zweiherausragende Arbeitsgebiete: die Rekru-tierung und Ausbildung von Teilen der Ar-mee sowie die Hirnverletztenstationen undPrüfstellen für Ersatzglieder, die ab 1914eingerichtet wurden. Nach der »Bewäh-rung« im Krieg hielten die Probleme der De-mobilisierung und des Überganges von derKriegs- zur Friedenswirtschaft eine Reiheweiterer Aufgaben für die angewandte Psy-chologie vor, darunter die Rückführung derArbeitskräfte in die Wirtschaft und die Wie-dereingliederung von Kriegsverletzten.

In der Weimarer Zeit erlebte die Psycho-technik einen raschen Aufschwung. We-sentlich dafür war die Tatsache, dass dieBetriebswissenschaft an den TechnischenHochschulen in Deutschland bereits insti-tutionalisiert war. Hinzu kam die in den1920er Jahren aufkommende Rationalisie-rungsbewegung. Einer der führenden Ver-

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Forschungsgeschichte

Die Berliner Schule der Psychotechnik

Von Günter Spur und Sabine Voglrieder

Die Idee, sich wissenschaftlich mit der Stellung des Menschen im industriellen Ar-beitssystem zu beschäftigen, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts geboren. Die An-wendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse brachte effizientere und präzisereMaschinen hervor und damit eine erhöhte Güterproduktion. Neue Fachrichtungenwie Soziologie und experimentelle Psychologie sollten die Auswirkungen diesesProzesses auf den Menschen untersuchen. In der Betriebspraxis stellten sich Fra-gen,wie man effizient und rationell Arbeitskraft und Arbeitsmittel anwenden kön-ne, daran knüpften sich Fragen nach Ausbildung und Auslese von Arbeitskräften.Daraus entwickelte sich eine angewandte Psychologie in Betrieben und öffentli-chen Einrichtungen, die »Psychotechnik«. Prof. em. Dr. h. c. mult.

Dr.-Ing. E. h. Dr.-Ing.Günter Spur

Dipl.-Pol. SabineVoglrieder

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Die Berliner Schule der Psychotechnik

treter war Georg Schlesinger, der in denJahren vor dem Ersten Weltkrieg den Be-griff »Betriebswissenschaft« prägte. Erschuf die Grundlagen des Austauschbaus,auf denen der Normenausschuss der Deut-schen Industrie, der noch während desWeltkrieges gegründet worden war, auf-bauen konnte. Nach 1918 folgten weitereInstitutionen, die die Rationalisierung vo-rantrieben, so etwa das 1921 gegründete»Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit«(RKW) oder der 1924 gegründete »Reichs-ausschuss für Arbeitszeitermittlung«(REFA).

Für Schlesinger war die Betriebswissen-schaft »nicht nur sachlich, durch die Ma-schinen, sondern darüber hinaus subjektiv,durch die Auslese der Menschen« be-stimmt. Da der Mensch keine »Muskelma-schine« sei, müssten bei der Auslese nichtnur physiologische, sondern auch psycho-logische Faktoren berücksichtigt werden.Entsprechend setzte er sich dafür ein, dassdie experimentelle Psychologie in die Pla-nung technischer Prozesse einbezogen,dass arbeitswissenschaftliche Lehrinhaltein die Ingenieurausbildung aufgenommenund schließlich im Jahr 1918 eine For-schungsstätte für Psychotechnik an der THBerlin gegründet wurde.

Psychotechnik an der TH Berlin1918–1933

An den Technischen Hochschulen Deutsch-lands begann die Institutionalisierung derPsychotechnik 1918 mit der Einrichtung

der »Gruppe für industrielle Psychotech-nik« am Versuchsfeld für Werkzeugmaschi-nen der TH Berlin. Initiator dieser »Stättefür industrielle psychotechnische For-schung« war Georg Schlesinger. Mit 10.000Reichsmark Gründungskapital begann die»Gruppe«, die sich mit den Grundfragender Rationalisierung menschlicher Arbeitbeschäftigen sollte.

Zehn Jahre später, nachdem die engeBindung an das Versuchsfeld für Werk-zeugmaschinen gelöst war, erhielt das In-stitut 1928 den Namen »Institut für indu-strielle Psychotechnik und Arbeitstech-nik«.

Leiter der Gruppe beziehungsweise desInstituts war Walther Moede, ein ausgewie-sener Fachmann auf seinem Gebiet. Von1911 bis 1915 Assistent bei Wilhelm Wundtam Psychologischen Institut der UniversitätLeipzig, hatte er seinen Heeresdienst als

Fachpsychologe im Laboratorium für Kraft-fahrereignungsprüfung und im Lazarettla-boratorium für Hirngeschädigte geleistet.1918 habilitierte er sich als erster Psycholo-ge an einer Technischen Hochschule undhatte das ordinariat bis 1945 inne.

Das Institut entwickelte Verfahren derEignungsprüfung, der Anlernung sowie deroptimalen Gestaltung von Arbeitsverfah-ren. Außerdem erarbeitete es Studien zurMarktanalyse, zum Verkaufswesen und derWerbesachenprüfung. Ausleseverfahrenwurden entwickelt, geeicht und überprüft,Psychotechniker ausgebildet und Prüfun-gen im Auftrag Dritter durchgeführt.

Mit der Etablierung der Psychotechnikam Versuchsfeld für Werkzeugmaschinenwurden auch entsprechende Lehrveranstal-tungen im Rahmen der Betriebswissen-schaft aufgenommen. In der von Moedeund seinem Mitarbeiter Curt Piorkowski

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ansprechpartnerProf. em. Dr. h. c. mult.Dr.-Ing. E. h. Dr.-Ing.Günter SpurDipl.-Pol. SabineVoglriederTechnische UniversitätBerlinFakultät V, Verkehrs-und MaschinensystemeInstitut für Werkzeug-maschinen und Fabrik-betriebFraunhofer-Institut fürProduktionsanlagenund Konstruktionstech-nik (IPK)fachgebieteWerkzeugmaschinenund FertigungstechnikTechnologiemanagementund Technikgeschich-te/Politikwissenschaftforschungs-schwerpunkteWerkzeugmaschinenund Fertigungstechnik,Fabrikbetrieb, rechner-integrierte Produktion,Geschichte der Produk-tionswissenschaft, In-stitutsgeschichte IWFund IPK; Geschichteund Gegenwart der eu-ropäischen IntegrationkontaktInstitut für Werkzeug-maschinen und Fabrik-betrieb (IWF)Pascalstraße 8–910587 BerlinTel.: 030/314-233 49030/39006-166Fax: 030/399 65 [email protected]@ipk.fhg.deinternethttp://www.ipk.fhg.de

Datenbank

Ordinarius Georg Schlesinger 1910

Prüfung der Zielsicherheit der Hand zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts

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Die Berliner Schule der Psychotechnik

herausgegebenen Zeitschrift »PraktischePsychologie« (ab 1924 »Industrielle Psy-chotechnik«) veröffentlichten ab 1919 dieInstitutsmitglieder Methoden und Ergeb-nisse ihrer Forschungsarbeiten.

In den ersten Jahren arbeitete man so-wohl theoretisch als auch praktisch vorwie-gend auf dem Gebiet der Eignungsfeststel-lung. Während in den USA Handwerkersystematisch durch angelernte Arbeiter er-setzt wurden, versuchte man in Deutsch-land die Arbeitsinhalte so zu strukturieren,dass trotz rationalisierter Massenfertigunghandwerkliches Können erhalten blieb. Diesoziale und integrative Funktion des Be-rufes wurde damit genauso geschützt wiesein symbolischer Gehalt als Identifikati-onsmuster. Etwa 44 Prozent der For-schungsarbeiten widmete sich 1928 derEignungsprüfung von industriellen Lehr-lingen. Mit Hilfe eigens entwickelter Mess-apparate wurden Handgeschicklichkeit,Auffassungsgabe, Sinnesleistung, räumli-ches Vorstellungsvermögen, Gedächtnisund Intelligenz sowie die Aufmerksamkeitdes Prüflings untersucht.

Schnittstelle zwischen den universitärenForschungsinhalten und der Industrie wa-

ren die »Ausbildungskurse in der Eig-nungsprüfung des industriellen Lehr-lings«. Besonders intensiv arbeitete das In-stitut mit den Firmen AEG, Ludwig Loeweund Siemens sowie mit der Reichspost undder Reichsbahn zusammen.

Im Laufe der Jahre differenzierten sichdie Forschungsschwerpunkte des Moede-Instituts weiter. Die Arbeiten reichten vonergonomischen Untersuchungen zur »Best-gestaltung der Handarbeit« bis hin zu ar-beitsmedizinischen Aspekten der »Ratio-nalisierung der Arbeitsplatzbeleuchtung«.Im Jahr 1928 lag ein Schwerpunkt am Insti-tut – darauf wies auch die Namenserweite-rung hin – in der Arbeitstechnik. Diesesstärker arbeitsphysiologisch und ergono-misch orientierte Teilgebiet beinhaltete die»praktisch-wissenschaftliche Behandlungder Arbeitsverfahren zum Zwecke ihrerBestgestaltung nach den Gesichtspunktender Sicherheit, Wirtschaftlichkeit undWohlfahrt der menschlichen Arbeitskraft«.

Allen Arbeiten gemeinsam war eine pra-xisorientierte, eindeutig ökonomische Aus-richtung, die der betrieblichen Kalkulationund Arbeitsorganisation diente. Das bein-haltete sowohl die Leistungsoptimierung

als auch die Optimierung des Arbeitsplat-zes, der Arbeitsmittel und -vorgänge. Da-mit umfassten die Aufgaben der industriel-len Psychotechnik die gesamte Bandbreitedes Betriebslebens.

In den zwanziger Jahren wurde das Ber-liner Institut zu einem zentralen Anzie-hungspunkt für Arbeitsingenieure und Be-triebswissenschaftler in Deutschland. DiePsychotechnik hatte sich zu diesem Zeit-

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Gewöhnung an dieMaschine: am Übungs-stand wurden Straßen-bahnführer elektri-schen Schreckreizenausgesetzt (1919)

Walther Moede: erster Psychologe aneiner Technischen Hochschule

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Die Berliner Schule der Psychotechnik

punkt in drei Hauptrichtungen entwickelt:in die Hochschul-Psychotechnik, die For-schung und Praxis in psychotechnischenBetriebsprüfstellen sowie den öffentlichen,sozialen Zweig, zum Beispiel Prüfstellender Landesberufsämter.

Die Zahl der psychotechnischen Ein-richtungen hatte sich zwischen 1918 und1930 beträchtlich erhöht. Nach dem ErstenWeltkrieg entwickelten sich die Institutezunächst wildwüchsig. Damit gingen un-terschiedliche Auffassungen über Ziele,Methoden und Inhalte des neuen Wissen-schaftsgebietes einher. Dass sich die Psy-chotechniker um Moede nahezu aus-schließlich für Fragen der Betriebsrentabi-lität interessierten, blieb nicht unwider-sprochen. Andere Vertreter der angewand-ten Psychologie stellten die Wissenschaft-lichkeit einer solchen Vorgehensweise inAbrede und setzten das Modell einer indivi-duellen Berufsberatung durch unabhängi-ge Stellen dagegen. Gegen Ende der 1920erJahre wurde die Kritik am Konzept der Psy-chotechnik immer deutlicher. Die Psycho-technik war ein Baustein der privatwirt-schaftlich und staatlich finanzierten Ratio-nalisierungsmaßnahmen geworden. Diesesollten den Aufbau der durch Krieg und Re-parationsforderungen beschädigten deut-schen Industrie beschleunigen. Sie gehörtedamit zu jenem Aktionsfeld, dem es offen-bar nicht gelungen war, die wirtschaftlicheKrise Ende der 1920er Jahre abzuwenden,deren sichtbares Zeichen die große Masseder Arbeitslosen war. Die meisten Vertreter

der Arbeitsforschung, ausgenommen Wal-ther Moede, integrierten den Begriff »Psy-chotechnik« allmählich in das umfassende-re Feld der »Arbeitswissenschaft«, das ne-ben biologischen, physiologischen und pä-dagogischen Aspekten auch soziologische,sozialpolitische, rechtliche, ökonomischeund technische Aspekte der Arbeit berück-sichtigte.

Psychotechnik im Dritten Reich

Der vielversprechende, da im Grunde sozi-al orientierte Ansatz wurde nach 1933 je-doch in den Dienst einer Ideologie gestellt,die nationalsozialistisch-völkische undspäter auch rassische Ziele verfolgte. DieBetriebspsychologie im Dritten Reich soll-te vor allem Arbeitsfähigkeit und Arbeits-leistung untersuchen sowie Arbeitshaltungund Arbeitsbereitschaft. Das bedeuteteeine Hervorhebung von Ausdruckspsycho-logie und Charakterologie, die insbesonde-re bei den Eignungsfeststellungen der sichstark profilierenden Wehrmachtspsycholo-gie eine Rolle spielten. Die deutschen Lehr-stühle für Psychologie und Psychotechnikverloren durch die Judenverfolgung im»Dritten Reich« etwa ein Drittel ihrer Ordi-narien. An der TH Berlin wurde neben vie-len anderen auch Georg Schlesinger ausdem Hochschuldienst entlassen und muss-te 1934 ins Exil gehen. Walther Moede bliebbis 1945 Leiter des Instituts für IndustriellePsychotechnik und Arbeitstechnik. SeineLehrveranstaltungen zur Psychotechnik

wiesen inhaltlich keine wesentlichen Verän-derungen auf. 1941 forderte Moede einestärkere Berücksichtigung der »experimen-tellen und exakten Richtung« in der Di-plomprüfungsordnung. Seine Vorschlägewandten sich gegen die Interessen derWehrmacht- und Hochschulpsychologieund wurden abgelehnt.

Rückblickend betrachtet kann die Psy-chotechnik als früher Versuch gelten, wis-senschaftlich fundierte Kenntnisse übermenschliche Leistungsmöglichkeiten undLeistungsgrenzen in die Planung indus-trieller Produktion einzubeziehen. VomMoede-Institut gingen wesentliche Impul-se für die Entwicklung der Arbeitswissen-schaft an der 1946 neu gegründten Techni-schen Universität Berlin aus. In der Nach-kriegszeit wurde das Institut wieder aufge-baut, auch wenn es seine Selbstständigkeitverlor und wieder dem Lehrstuhl für Werk-zeugmaschinen und Fertigungstechnik an-gegliedert wurde. Erst unter HeinrichSchallbroch, Inhaber des Lehrstuhls 1953bis 1965, wurde wieder ein eigenständigesInstitut für Arbeitswissenschaft gegrün-det. Heute vertritt das »Institut für Psy-chologie und Arbeitswissenschaft« unteranderem die Fachgebiete »Mensch-Ma-schine-Systeme« und »Arbeitswissen-schaft« an der TU Berlin. Im ZentrumMensch-Maschine-Systeme (ZMMS) ko-operieren Ingenieure und Humanwissen-schaftler, um Probleme des Zusammen-wirkens von Mensch und Maschine inter-disziplinär zu lösen. �

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Das Produktionstech-nische Zentrum (PTZ),an dem die TU Berlinund die FraunhoferGesellschaft gemein-sam forschen, ist derInbegriff der »Fabrikder Zukunft«

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RoboSpot: Erfindergeist auf dem HolzwegSkurril erscheint uns heute so mancheder Erfindungen, mit denen Menschenschon immer versucht haben, den Alltagzu erleichtern oder die Produktion anzu-kurbeln:1920 erfanden Josef Kristof Romanound Robert Wittmann aus Pilsen Flügel-räder, die man am Bein befestigen konn-te, und die den Körper beim Waten durchdas Wasser leichter machen sollten(Reichspatent Nr. 340742). Sie wurdenscheinbar nicht gebraucht.Otto Adler aus Prag erdachte 1918 eineKonservenbüchse mit eingelegter Heiz-patrone. Sie sollte das luftdichte Abschlie-ßen der Büchse erleichtern und außerdemeine automatische Öffnung bewirken,falls mal das Werkzeug zum Öffnen fehl-te. Auch diese Idee fand keinen industriel-len Förderer.An Künstler hatte Martin Szeny ausGleiwitz gedacht. Unter der Nummer348135 meldete er ein »Verfahren undVorrichtung zur Erleichterung derSelbstentfesselung eines gefesselt amFlugzeuge hängenden Entfesselungs-künstlers« an. Diese hilfreiche Idee ba-sierte auf der Tatsache, dass Temperatur-unterschiede den Körper ausdehnen oderzusammenziehen. Leider fehlte MartinSzeny ein größerer Absatzmarkt, um mitdiesem Patent reich zu werden. Nicht je-der wollte gefesselt unter einem Flug-zeug hängen.Hund und Maschine passen nichtimmer zusammen. Heinrich Hah-mann aus Leipzig wollte 1928 Hunde-besitzern das Leben erleichtern. Er er-fand eine Hundehütte, deren Schlupflochvon Borsten umgrenzt sein sollte, damitder Hund bei jedem Eintritt zwangsge-bürstet werde. Zur Durchsetzung dieserIdee fehlte wahrscheinlich eher die Akzep-tanz in der Hundewelt.Ein paar Nummern größer war dieErfindung des Berliner Ingenieurs Hein-rich Johannsen. 1933 meldete er ein Ver-fahren zur Erzeugung von heiterem, war-mem und ruhigem Wetter an. Als Ein-satzgebiete hatte er Flughäfen, Eisenbah-nen, die Landwirtschaft und große Frei-

luftveranstaltungen im Auge. Sein Verfah-ren beruhte auf der Verdampfung vonWasser mit elektrolytischen Zusätzen(Schwefelsäure, Natronlauge und Koch-salz). Die Industrie winkte ab: zu aufwän-dig und unsicher.Sadisten im Strafvollzug wollte noch1974 ein Menschenfreund das Handwerklegen. Er erfand eine »Vorrichtung zur kör-perlichen Züchtigung« (Patent Nummer2440396). Häftlinge würden nicht in glei-

Selbstfahrende Rollschuhe 1925

Skurrile Erfindungen

cher Intensität geprügelt, ihre Strafe hän-ge mithin vom emotionalen Zustand desPrügelnden ab und sei damit immer un-gerecht, war seine Überlegung. Die Vor-richtung sollte also von einer mit Finger-abdruck versehenen Strafkarte gesteuertwerden, auf der das Gericht die Strafe fürden Delinquenten markieren sollte. Diedeutsche Justiz machte keinen Gebrauchvon seiner Idee.Viel Zeit zum An- und Auskleidenhätte man sich sparen können, wäre derKopfdusch-Apparat von Adolf Heine-mann von 1877 in die Serienfertigung ge-gangen. Es handelte sich um eine Kabine,in die man von unten den Kopf durch eineManschette stecken konnte, zwei bis dreiDüsen wuschen dann die Haare, dasWasser floss seitlich ab. Dass dabei unge-zielt auch viel Wasser in Augen und Nasegespritzt wurde, war ein Problem, das dieweitere Verbreitung dieses genialen Gerä-tes verhinderte.Mutproben Am Beginn des Maschi-nenzeitalters standen die Menschen dem

technischen Fortschritt durchaus skep-tisch gegenüber. Beispiel Rolltrep-

pen: Die früheste Form der Roll-treppe wurde 1891 in den USA

patentiert. Als einige Jahre da-nach das Londoner Kaufhaus

Harrod’s seinen Kundeneine dieser wunderli-chen Steighilfen an-bot, servierte man denwagemutigen Fahr-

gästen oben an derTreppe ein Gläschen

Cognac zur Beruhigung. 1910kaufte die US-Firma Otis Elevator Com-pany alle Patente und begann Rolltrep-pen für Kaufhäuser, Bahnhöfe und Flug-plätze zu konstruieren. Doch es dauertenoch einige Zeit, die Menschen von derUngefährlichkeit dieser Technik zu über-zeugen. Auf der ersten Londoner U-Bahn-Rolltreppe, 1911 eingeweiht, fuhrein Mann den ganzen Tag zu Demonstra-tionszwecken auf und ab. Angeblich truger ein Holzbein.

(Red.)

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Homo ludens – das Automobilals Sport und Spielzeug

Der frühe Automobilismus stand unter demMotto: wenig fahren – viel basteln. Die Zu-verlässigkeit der Fahrzeuge war noch sehrbegrenzt. Unterwegs waren Pannen undkleinere Reparaturen an der Tagesordnung.Auf hundert Kilometer komme eine Panne,gab August Horch für die Zeit vor dem Ers-ten Weltkrieg an – sicher mit dosierterÜbertreibung. Den größten Anteil an dieserMisserfolgsstatistik dürften die Reifen be-sessen haben. Vor der Wende zum zwan-zigsten Jahrhundert hielt ein Reifen nur ei-nige Hundert Kilometer, vor dem erstenWeltkrieg einige Tausend, und erst in den1920er Jahren stiegen die Fahrleistungenauf etwa 20.000 Kilometer. Rechnet mandiese Angaben auf die vier Reifen hoch,dann ist man nicht mehr weit von HorchsPannenstatistik entfernt.

Die Wagen hatten einen hohen Verbrauch,doch noch fehlte entlang den Straßen die In-frastruktur. Vor dem Krieg erstand man Ben-

zin bei Petroleumhändlern oder auch in Apo-theken, was bei Überlandfahrten zu Umwe-gen zwang. Direkt an der Straße war es erstin der Zwischenkriegszeit erhältlich, zuerstaus Fässern in Kannen abgefüllt, seit derMitte der 1920er Jahre an Zapfsäulen. ZumNachfüllen des Kühlwassers waren anfangsebenfalls mehr Stopps erforderlich als zumNachtanken. Der Ölverbrauch bewegte sichin beträchtlichen Höhen.

Einen vollen Tag musste man zudemnach einer Überlandfahrt für Reinigungund Wartung des Fahrzeugs einplanen.Und das war nicht jedermanns Sache: Fürdiese Arbeiten bedurfte es technischerKompetenz und eines gehörigen Maßes anEnthusiasmus. Für nüchterne Rechner,welche Aufwand-Ertrags-Relationen imBlick hatten, keine lohnende Investition.Das Automobil war zu Beginn seiner Ge-schichte interessant vor allem für den»Homo ludens«, den Bastler und den Sport,Spiel und Spannung suchenden Fahrer.

Autofahren erforderte Kraft und Ge-schick. Mit gutem Recht betrachteten die

Zeitgenossen den Automobilismus auch alsSport im körperlichen Sinne. Unfallträch-tig war zum Beispiel das anstrengende An-kurbeln der Motoren, denn der elektrischeAnlasser, erstmals 1912 in den USA ge-baut, fand erst nach dem Krieg allgemeineVerbreitung. Auch das Schalten mit den un-synchronisierten Getrieben war eine sport-liche Leistung. Der Fahrer kämpfte ständigmit den hohen Pedalkräften und vor allemmit der Lenkung, die eher ein Schlaginstru-ment war. Die Vollgummireifen oder dieviel härter als heute aufgepumpten Luftrei-fen übertrugen die schlechten Straßenver-hältnisse auf Lenkung und Fahrer oderFahrerin. In den offenen Wagen schütztensich die Insassen zumindest auf Landstra-ßen durch Brillen, Mäntel und Kopfbede-ckungen vor Staub. Insgesamt war der frü-he Automobilismus ein »Abenteuersport«wie heute Gleitschirmfliegen, Rafting undMountainbiking.

Soziokulturell knüpfte das Automobilan die Tradition von Pferde- und Fahrrad-rennen an. Der sportliche Automobilismusorganisierte sich in exklusiven Clubs, dieauch Rennsportveranstaltungen durch-führten. Aus dem Radsport stammte derBegriff »Herrenfahrer«, der den Amateur-sportler vom Profi unterschied und mitdem man nun den sportlichen Automobil-Enthusiasten bezeichnete. Sportliche Stra-ßenfahrzeuge wurden aus dem Rennsportüberführt, zum Beispiel der Mercedes.

Entwicklung des Automobils in Deutschland

Homo automobilis* oder:Das Benzin aus der Apotheke

Von Wolfgang König

Das Automobil war und ist multifunktional. Es befördert Personen und Güter voneinem Punkt zum anderen. Es bietet dem Bewegungsdrang eine motorische Ver-stärkung. Es symbolisiert Einkommen und Stand des Besitzers. Es ist Einkaufswa-gen, Liebeslaube, Regenschutz und vieles andere. Das Automobil hat unsere Ge-sellschaft verändert wie kaum eine andere Maschine, wir haben zu ihm eine ganzbesondere Beziehung. Drei Nutzungsweisen sind dabei dominierend und habensich im Lauf der Geschichte überlagert: Das Automobil als Sportgerät und Spiel-zeug, als Repräsentationsfahrzeug und als Nutzfahrzeug.

Prof. Dr. WolfgangKönig

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* Der Beitrag erscheint in erweiterter Form in: Reinhold Reith u. Torsten Meyer (Hrsg.): Luxus und Konsum. Eine historische Annäherung(Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt). Münster u. a. 2002.

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Homo automobilis

Diese Fahrergruppe betrachtete die Straßeals Rennpiste und Sportfeld. Gegen sierichteten sich bald Automobilverbote undAutofeindlichkeit. Die Unfallzahlen hiel-ten sich zwar in Grenzen, weil es nur weni-ge Fahrzeuge gab. Gemessen an der Auto-verbreitung, waren sie aber astronomischhoch. Nur ein paar Tausend Exemplare derSpezies »Homo ludens«,dem Fahrer, der sein Fahr-zeug als technisches Spiel-zeug und Sportgerät nutz-te, machten deutsche Stra-ßen unsicher. Sie warenein extremes Minderhei-tenphänomen. Unter denwenigen Automobilbesit-zern bis zur Jahrhundert-wende dürften sie jedochdie Mehrheit gebildet ha-ben. Für seine Zeitgenos-sen war der »Homo lu-dens« ein belächelter oderverfluchter Spinner; ausder Ex-Post-Perspektiveaber bereitete er einer derwichtigsten Industrien denWeg. Und er leitete das Zeitalter der indi-viduellen Massenmobilität ein.

Homo symbolicus – das Automo-bil als Repräsentationsfahrzeug

Staat machen ließ sich mit dem Automobilerst, nachdem es ein repräsentatives Äuße-res erhalten und eine einigermaßen befrie-digende Zuverlässigkeit erreicht hatte. Daswar gegen Ende des 19. Jahrhunderts derFall. Die weiterhin notwendige Wartungund Reparatur konnte nun ein Chauffeurerledigen.

Noch mehr als der Chauffeur aber sym-bolisierte der Wagen selbst Wohlstand undReichtum. Die Preise für »Luxuswagen«,ein zeitgenössischer Begriff, überschrittennach der Jahrhundertwende die Zehntau-send-Mark-Grenze; einige erreichten sogarMaximalpreise von bis zu 30.000 Mark.Aber auch die »Billigwagen« waren allesandere als billig. Allein das Chassis koste-te zwischen 2500 und 4000 Mark, dazu ka-men die Kosten für die Karosserie und an-dere Ausstattungen. Die jährlichen Unter-haltskosten betrugen – je nach Wagengrö-ße – etwa die Hälfte der Anschaffungskos-

ten. Dabei waren Chauffeur und Reifen diegrößten Posten.

Solche Einkommensgruppen bewarbman nicht mit dem Preis, sondern mit mehroder weniger dezenten Hinweisen auf hochgestellte Automobilbesitzer. So veröffent-lichte Opel 1904 ein Schreiben des Adjutan-ten des automobilbegeisterten Prinzen

droschken. Landärzte besuchten die Patien-ten mit dem Automobil. Vertreter und Ver-sicherungsagenten bereisten ihr Gebiet mitdem Kraftwagen. Zeitungsverlage, Bäcke-reien, Milchgeschäfte usw. fuhren ihre Wa-ren mit der Motorkutsche aus. Das warenrelativ kleine Gruppen; ein Massenmarkt,wie ihn die Farmer in den USA bildeten,

fehlte in Deutschland.Zwar bemühten sich In-dustrie und Handel,Kostenvorteile des Auto-mobils gegenüber Pfer-dekutsche und Pferde-fuhrwerk zu belegen,doch lagen die Vorteilemehr auf der Einnahme-seite. Mobile Berufs-gruppen konnten mitdem Kraftwagen mehrKunden in kürzerer Zeitbesuchen und damit ih-ren Umsatz steigern.

Die genaue Ausbrei-tung der Nutzfahrzeuge

entzieht sich unsererKenntnis, doch bereits in der

ersten deutschen Automobilstatistik von1907 bildeten sie eine knappe Mehrheit.Der Rest fand sich in der Klasse » für Ver-gnügungs- und Sportzwecke«. Von da anerhöhte sich der Anteil der »Gebrauchswa-gen« weiter. Der gewerbliche Mittelstandwurde zur wichtigsten Käuferschicht fürdas Auto. Das Automobil mutierte statis-tisch vom Konsumgut zum Produktions-mittel.

Mit den Gebrauchsweisen des Automo-bils änderten sich bald auch die Fahrzeugeselbst. Insbesondere setzte sich der ge-schlossene Wagen gegenüber dem offenendurch. Automobilisten benötigten jetzt kei-ne Spezialkleidung mehr. Die Berufsklei-dung trat an die Stelle des Sportdresses.

Völlig zu Recht interpretierten Gesell-schaft und Staat das Automobil vor demErsten Weltkrieg als Luxus. Die Kraftfahr-zeugsteuer, die einzelne Länder um dieJahrhundertwende erhoben – das Reichseit 1906 – galt als Luxussteuer. Lastkraft-wagen, Busse und Taxen waren allerdingsdavon ausgenommen. Und trotz ungünsti-ger wirtschaftlicher Bedingungen hattenVisionen einer Massenmotorisierung Kon-junktur. Forderungen nach einem »Volks-

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ansprechpartnerProf. Dr. WolfgangKönigTechnische UniversitätBerlin, Fakultät I, Gei-steswissenschaften, Institut für Philoso-phie, Wissenschafts-theorie, Wissenschafts-und TechnikgeschichtefachgebietTechnikgeschichteforschungs-schwerpunktTechnik im AlltagkontaktSekr. TEL 12-1,Straße des 17. Juni 135,10623 BerlinTel.: 030/314-2 48 44Fax: 030/314-2 59 [email protected]

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Heinrich von Preußen, in dem dieser mit-teilte: »Seiner Königl. Hoheit haben dieschönen, trotz Ungunst der Witterung undder Wege ohne Störung verlaufenen Fahr-ten in Ihren Wagen sehr genossen.«

Homo oeconomicus – das Auto-mobil als Nutzfahrzeug

»Nutzfahrzeuge« sind für die Automobilin-dustrie heute Lastkraftwagen. Der Nutzendes privaten Automobils erscheint uns soselbstverständlich, dass er keiner besonde-ren Betonung mehr bedarf. Heutzutage ver-kauft die Automobilwirtschaft wenigerNutzfunktionen als symbolische Botschaf-ten. Schließlich werden heute viel mehr Ki-lometer in der Freizeit zurückgelegt als fürberufliche oder geschäftliche Zwecke.

Die berufliche und geschäftliche Nut-zung setzte dabei eine gewisse Funktionssi-cherheit des Automobils voraus. Als dieseum die Jahrhundertwende vorhanden war,wurde das Auto für eine Reihe von Gewer-ben und Berufsgruppen interessant: Mo-tortaxen traten an die Stelle der Pferde-

1955: Siegeszug des Volkswagens

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Homo automobilis

auto« oder »Volkswagen« wurden laut.1904 tauchten diese Begriffe erstmalig aufund verschwanden seitdem nicht mehr ausden Automobilgazetten. Doch das bliebvorerst eine Vision; ihr Bedürfnis nach in-dividueller Mobilität erfüllten sich dieDeutschen mit Fahrrad und Motorrad.

Die Nationalsozialisten teilten die kur-sierenden Visionen und Wünsche der Be-völkerung und machten sie sich in einerKombination aus propagandistischem Be-trug und illusionistischem Selbstbetrug zu-nutze. Hitler selbst verkündete bei seinenjährlichen Eröffnungsreden auf der Auto-mobilausstellung in Berlin markant undpublikumwirksam die Parole der Massen-motorisierung. Er förderte konkret denRennsport sowie den Straßen- und Auto-

bahnbau. Denn die Realisierung der Mas-senmotorisierung war für ihn einerseits einkonstruktions- und produktionstechni-sches, andererseits ein psychologischesProblem. Zentrale Bedeutung kam dabeider »Kraft durch Freude«-Bewegung zu,mit deren Hilfe der Volkswagen gebaut wer-den sollte.

Die nationalsozialistischen Träume ei-ner Volksautomobilisierung waren aller-dings vollkommen unrealistisch. 1937 be-trug der tatsächliche Arbeiteranteil an Neu-zulassungen gerade 1 Prozent. Trotz exzes-siver Propaganda wurden nur gut 300.000»Volkswagensparer« gewonnen. Der Ar-beiteranteil betrug dabei etwa 5 Prozent.

Hitler war sich der Differenz zwischenKaufkraft und Automobilkosten durchausbewusst. Da eine Kaufkraftsteigerung auspolitischen und wirtschaftlichen Gründennicht in Frage kam, schwebte ihm vor, denUnterschied mit Hilfe des konstruktions-

und produktionstechnischen Fortschrittseinzuebnen. Doch das erwies sich als Illusi-on. Der politisch festgelegte Preis für denVolkswagen von 990 RM war nicht zu rea-lisieren und hätte erhebliche öffentlicheSubventionen erfordert. Auch für das nochviel gravierendere Problem der Betriebs-kosten war keine Lösung in Sicht.

Homo ludens redivivus – dasAuto als Freizeitverkehrsmittel

Abgesehen von der Wagenkonstruktion er-fuhren die Wünsche und Erwartungen nacheiner Massenmotorisierung, die das Volks-wagenprojekt geweckt hatte, ihre Realisie-rung erst in der Nachkriegszeit. In seinemmateriellen Kern knüpfte das bundesrepu-

blikanische Programmder Massenmotorisie-rung dort an, wo es dieNationalsozialisten beiKriegsausbruch einge-stellt hatten. Neben demAutobahnbau gehörtehierzu der Volkswagen,der mit mehr als 20 Mil-lionen Exemplaren dasmeistgebaute Auto derWelt wurde. Ideologischerfuhr das Automobil al-lerdings eine neue Inter-pretation: Es wurde zum

Symbol individueller Freiheit. Die Protago-nisten der Individualmotorisierung nah-men die USA zum Vorbild und distanzier-ten sich damit vom nationalsozialistischenTotalitarismus ebenso wie vom sozialisti-schen Kollektivismus des deutschen Nach-barstaates im Osten.

Die Anerkennung des Automobils alsFreiheitssymbol setzte eine erfolgreiche all-gemeine Motorisierung voraus. Bereits1952 erreichten die Autozahlen in der Bun-desrepublik den Vorkriegsstand und erhöh-ten sich in der Folgezeit exponentiell. Wiealle hochpreisigen technischen Konsumgü-ter verbreitete sich das Automobil sozialvon oben nach unten, erreichte aber jetzt mitatemberaubender Geschwindigkeit auchdie Arbeiter und kleinen Angestellten.Kleinstwagen wie Messerschmitt, Isetta,Goggomobil, Goliath oder Lloyd ermöglich-ten Geringverdienenden den Einstieg in dieMotorisierung. Im Jahre 1960 wurden erst-

malig mehr private als geschäftliche Autoszugelassen. Im gleichen Jahr noch überhol-ten die Arbeitnehmer die Selbstständigenals Autobesitzer. Die Automobildichte inDeutschland entsprach nun der in Frank-reich und Großbritannien. Etwa ein Viertelder Haushalte verfügte über ein Auto.

»Das Automobil ist ein Gebrauchsge-genstand für jedermann zur Befriedigungvon Alltagsbedürfnissen, wie sie in einerfreien Welt zur fortschrittlichen Gestaltungunseres Lebens gehören.« Mit diesem Satzleitete 1965 der Allgemeine Deutsche Auto-mobilclub (ADAC) sein »Manifest derKraftfahrt« ein. Er formulierte damit einenGrundkonsens der bundesdeutschen Ge-sellschaft. Immer mehr Menschen fuhren,aufgrund der zunehmenden Individualmo-torisierung, mit dem eigenen Wagen auchin den Urlaub. Die Zahlen vermitteln denEindruck, dass die Anschaffung einesPkws geradezu automatisch dessen Nut-zung als Reisegefährt implizierte. 1961 lös-te das Kraftfahrzeug die Eisenbahn alswichtigstes Reisemittel in den Urlaub ab.

Im Laufe der Zeit gesellte sich in vielenFamilien zu dem vom Mann dirigiertenErstwagen der Zweit- oder Drittwagen fürFrau und Kinder. Der Frau erleichterte daseigene Auto die Flucht aus dem Haushalt.Dafür erhielt sie aber auch die gesamte Lastder Einkäufe und des Kindertransports auf-gebürdet. Mit dem eigenen Wagen entzo-gen sich die Jugendlichen der Kontrolle derEltern, fuhren zu Verabredungen und erwei-terten ihren Bekanntenkreis über den derFamilie und der Nachbarn hinaus. Vielfacherkauften sie die mobile Freiheit mit Gele-genheitsarbeiten neben Schule und Studi-um und mit Ferienjobs.

Wachstum und Individualisierung sinddie Schlagworte, die die Entwicklung derMobilität im 19. und 20. Jahrhundert be-schreiben. 1910 legte ein Deutscher im Jahrdurchschnittlich 700 Kilometer zurück, dengrößten Teil davon mit öffentlichen Ver-kehrsmitteln. 1989 unternahm ein Bundes-bürger Fahrten von insgesamt 11.000 Kilo-meter Länge, davon 9000 mit dem Automo-bil. Auf die Verkehrsleistung bezogen, ran-gierten private Gründe mit gut 62 Prozentdeutlich vor beruflichen und geschäftlichen.Das Auto dient heute überwiegend dem pri-vaten Freizeitkonsum. Es ist zum dominie-renden Verkehrsmittel geworden. �

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Auto heute: Gebrauchsgegenstand wie vieles Andere

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Risiken an derSchnittstelle

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In vielen Bereichen mit hohem Risikopo-tenzial wie Kernkraft und Flugsicher-heit haben sich inzwischen Strategien

zur Erhöhung der Systemsicherheit be-währt. Doch im Medizin-Bereich fehlennoch immer Strategien, um Fehler rechtzei-tig zu erkennen und zu erfassen. Entspre-chende Erfahrungen würden es ermögli-chen, aus konkreten Zwischenfällen oderBeinahezwischenfällen zu lernen, sodasstypische Fehler zukünftig vermieden undpotenzielle Fehlerquellen schon im Vorfeldder Fehlerentstehung ausgeschaltet werdenkönnen.

Im Interdisziplinären Forschungs-schwerpunkt KOSIS- »Kooperation und Si-cherheit in komplexen soziotechnischenSystemen« haben sich fünf Fachgebiete ausden Ingenieur-, Geistes- und Sozialwissen-schaften der TU Berlin zusammenge-schlossen. Gemeinsames Ziel ist die Steige-rung von Systemsicherheit durch Gestal-tung von Technik und Organisation inhochkomplexen Arbeitssystemen.

Der untersuchte »Chirurgische Operati-onssaal« (OP) kann in jeder Hinsicht alsParadebeispiel eines hochkomplexen Ar-

beitssystems gelten. Der OP stellt im Kran-kenhaus das Kernstück und damit auchden kostenintensivsten und sicherheitskri-tischsten Arbeitsbereich dar. Derzeit stehtinsbesondere das stationäre klinische Ar-beitssystem unter massivem Kostendruck.Das führt unter anderem zur Forderungnach Steigerung der Effizienz. Als effizienz-steigernde Maßnahmen werden die Ver-wendung von Qualitätsstandards und de-ren Entwicklung genannt, falls diese nochnicht vorhanden sind.

Das Arbeitssystem OP ist ein äußerstdynamisches Feld des technologischenFortschritts. Mikrotechnologie und moder-ne Informations- und Kommunikations-technologie finden dort verstärkt Einsatz.Für das OP-Personal bedeutet das wach-sende Anforderungen, denn in immer kür-zeren zeitlichen Abständen verändern neueTechnologien die Arbeit im OP. Der techno-logische Fortschritt führt oft zu Regeln imUmgang mit der neuen Technik, die – ein-mal etabliert – nicht mehr auf ihre Relevanzin Bezug auf die Systemsicherheit oder dieIntegrierbarkeit in bestehende Arbeitspro-zesse überprüft werden. Das OP-Personal

integriert neue Maschinen intuitiv in beste-hende Arbeitsabläufe. Das hat den Nach-teil, dass häufig von vornherein Kriterienfehlen, um entscheiden zu können, wie Pro-zessabläufe unter Einsatz neuer Technolo-gien sinnvoll zu organisieren sind. Die Fra-ge, ob Neuentwicklungen adäquat einge-setzt werden können, entscheiden die An-wender häufig unter dem Eindruck »wasneu entwickelt wurde ist auch gut« zuGunsten des neuen Gerätes. Unberücksich-tigt bleibt der Aspekt, dass neue Geräte ofteine Fülle nicht nutzbarer Funktionen an-bieten.

Ungewiss bleibt auch, ob die Anwen-dung neuer Technologien das Personal ent-lastet oder eher eine zusätzliche Belastungdarstellt. Überlastung führt naturgemäß zuFehlern, die gerade im OP gravierendeKonsequenzen haben können.

Bei KOSIS steht daher, neben dermenschlichen Kooperation, auch das Zu-sammenspiel technischer und menschlicherKomponenten und dessen Auswirkung aufdie Systemsicherheit im Zentrum der Be-obachtung. Das beinhaltet sowohl Kommu-nikationsbeziehungen zwischen Menschenund Technik wie auch zwischen Technikund Technik. Eine zentrale Komponente derSystemsicherheit ist in diesem Zusammen-hang die Patientensicherheit. Sie ist immerdann gefährdet, wenn bei operativen Ein-griffen Fehler begangen werden.

Aber wie entstehen Fehler? Grundsätz-lich entstehen Fehler, wenn jemand etwas»falsch« macht. Diese naive Antwort wirftwiederum die Frage auf, warum jemandem

KKOOSSIISS –– KKooooppeerraattiioonn uunndd SSiicchheerrhheeiitt iinnssoozziiootteecchhnniisscchheenn SSyysstteemmeenn

Qualitätsmanagement imKrankenhaus

Von Wolfgang Friesdorf und Frank Ritz

Alarmierende Ergebnisse der neueren Untersuchungen in Krankenhäusern: Medi-zinische Zwischenfälle zählen mittlerweile zu den zehn häufigsten Todesursachen.Themen wie Arbeitszeitpraxis von Klinikärzten, Patientensicherheit und Fehler inder Medizin rücken zunehmend in das Blickfeld des öffentlichen Interesses. Höchs-te Zeit für die Auseinandersetzung mit Fehlern, deren Ursache im System des Ge-sundheitswesens liegt, genauer: im komplexen soziotechnischen System Operati-onssaal. Nicht von juristischen Schuldzuweisungen soll hier die Rede sein, sonderndavon, warum engagiertem, gut ausgebildetem Personal Fehler unterlaufen undwelchen Einfluss das komplexe Arbeitssystem auf die Entstehung von Fehlern hat.

Prof. Dr. med. habil.Wolfgang Friesdorf

Dipl.-Psych. Frank Ritz

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Qualitätsmanagement im Krankenhaus

ein Fehler unterläuft und wieso gerade in ei-nem Arbeitsfeld, in dem auf Sicherheit be-sonderer Wert gelegt wird, ein Fehler zu ei-nem sicherheitsrelevanten Ereignis, einemZwischenfall führt.

Einen derartigen Zwischenfallsverlaufsoll das folgende »einfache« Beispiel zei-gen:

Während einer Operation zeigt ein Pa-tient eine ungewöhnliche Abnahme desBlutdrucks. Die Überprüfung vor Ort er-gibt, dass dem Patienten ein falsches Medi-kament verabreicht wurde. Daraufhin wer-den gezielte Gegenmaßnahmen eingeleitet.

In komplexen Arbeitssystemen ist dieEntstehung eines Zwischenfalls meist mul-tikausaler Natur, das heißt nicht ein Fehlerallein ist dafür verantwortlich, sondern eineKette von zusammenhängenden, indirek-ten Faktoren trägt zur Zwischenfallsentste-hung bei. Der eigentliche Fehler steht dabeimeistens am Ende dieser Ereigniskette vonbeitragenden Faktoren, hat aber auslösen-den Charakter.

Bei dem gewählten Beispiel wären indi-rekte Faktoren: eine schlechte Beleuchtungdes OP, ein Anästhesist, der in einer unbe-kannten Umgebung arbeitet, eine neue undzudem unleserlich von Hand beschrifteteInfusionspumpe und eine Anästhesie-schwester, die unter permanentem Zeit-druck arbeitet. Der auslösende Faktor ist

die Medikamentengabe durch die Anästhe-sieschwester ohne ausreichende Kontrolledes Infusionspumpeninhalts.

Der auslösende Faktor ist zumeist un-mittelbar zu erkennen. Dagegen sind diedahinterliegenden indirekten Faktoren erstbei genauer Analyse der Zwischenfallsent-stehung erfassbar. Umso wichtiger ist es,zur Erhöhung der Gesamtsystemsicherheitdiese indirekten Faktoren systematisch zuerkennen und zu klassifizieren. Erst dannist es möglich, gezielte Verbesserungsvor-schläge zu erarbeiten (zum Beispiel Infusi-onspumpen zu verwenden, bei denen diebeinhalteten Medikamente auf einem Dis-play zu erkennen sind; eine Verbesserungder Lichtverhältnisse im OP, usw.).

Das gewählte »einfache« Beispiel be-schreibt einen sehr speziellen Zwischenfall,wie er im OP auftreten kann. Oft sind dieZusammenhänge, die eine Sicherheitsge-fährdung im OP provozieren, jedoch we-sentlich komplexer.

Wie kann man nun systematisch heran-gehen, um ein derartig komplexes Arbeits-system wie den OP in seiner Gesamtheitauf potenzielle Fehlerquellen hin zu unter-suchen? Wie gelangt man an die im Arbeits-system selbst schon etablierten Einflussfak-toren, die das Auftreten von Zwischenfällenbegünstigen (die systemimmanenten Pa-thogene)?

Der erste Ansatz ist die Darstellung desArbeitssystems OP in einem Modell. Zu-nächst werden grundsätzliche Arbeitsab-läufe beschrieben. Hierzu zählt die Erfas-sung der im OP anwesenden menschlichenund technischen Akteure und die Beschrei-bung der jeweiligen Arbeitsaufgaben. Derzweite Schritt beschreibt die kommunikati-ven Prozesse zwischen den einzelnen Ak-teuren und arbeitet deren Schnittstellen he-raus. An diesen Schnittstellen (Mensch-Maschine-Schnittstellen, Mensch-Mensch-Schnittstellen und Technik-Technik-Schnittstellen) werden sehr häufig Quellender Zwischenfallsentstehung identifiziert –zum Bespiel missverständliche Kommuni-kation oder fehlende Informationsweiterlei-tung. Sie rücken im folgenden Arbeits-schritt in den Fokus der Betrachtung.

Bei der Betrachtung des OPs muss mansomit eine Fülle von unterschiedlichsten In-formationen erfassen und bewerten, die Ge-genstand verschiedener wissenschaftlicherDisziplinen sind. Interdisziplinarität ist da-her der Ansatz, der im Projekt KOSIS reali-siert wird. Mithilfe unterschiedlicher inge-nieur- und geisteswissenschaftlicher Me-thoden wird der OP beschrieben und analy-siert. Diese Vorgehensweise ist erforderlich,um der Problemstellung in diesem ausge-sprochen komplexen Arbeitsfeld gerecht zuwerden. Die besondere Herausforderung

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ansprechpartnerProf. Dr. med. habil.Wolfgang FriesdorfDipl.-Psych. FrankRitzTechnische UniversitätBerlinFakultät V, Verkehrs-und MaschinensystemeInstitut für Psychologieund Arbeitswissen-schaftfachgebietArbeitswissenschaftkontaktSteinplatz 110623 BerlinTel.: 030/314-7 95 11Fax: 030/314-7 95 [email protected]@awb.tu-berlin.deinternetwww.awb.tu-berlin.de

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Im Operationssaal ist es besonders wichtig, …

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Qualitätsmanagement im Krankenhaus

der Interdisziplinarität liegt jedoch darin,die Kompetenzen der vertretenen Fachge-biete zu kanalisieren, um zu zielgerichtetengemeinsamen Analysen zu kommen.

Das Teilprojekt Arbeitswissen-schaft analysiert die Arbeitsaufgaben imausgewählten Arbeitssystem sowie die Be-dingungen, die zu ihrer Erfüllung notwen-dig sind. Man strebt dabei eine optimierteAufgabenverteilung zwischen Mensch undTechnik an. Es werden Arbeitsaufgaben mitRoutineabläufen ausgewählt, die ein hohesGefährdungspotenzial für den Patientenbesitzen sowie einen hohen Kommunikati-ons- und Kooperationsaufwand. Daraufbasieren weitere Analysen, die der Entwick-lung eines umfassenderen Beschreibungs-modells der IST-Situation kooperativer Pro-zesse in einem heutigen OP dienen. An-schließend wird eine Methode entwickelt,um den workload (Grad der mentalen Be-anspruchung für die spezielle Arbeitsauf-gabe) und die Team-Situation-Awareness(geteiltes Aufgabenverständnis im Sinnevon Aufmerksamkeit und Überblick in derTeamarbeit) zu erfassen. Später wird auchnoch der potenzielle Einfluss beider Kon-zepte auf die Systemsicherheit erforschtwerden.

Die Informatik untersucht, ob Koope-ration und Systemsicherheit in Formeln zufassen sind. Dabei wird hinterfragt, inwie-weit heutige Modelle des Software-Engi-neering auf das ausgewählte Problem über-tragbar sind und welche Modifikationendieser Ansätze gegebenenfalls notwendigwerden. Aspekte der Kooperation, Kommu-nikation, Sicherheit im System, die in heu-tigen Modellen nicht berücksichtigt wer-den, sollen ermittelt und erste Lösungsan-sätze erarbeitet werden. Alle bestehendenkooperativen und sicherheitsrelevantenProzesse im OP sollen damit beschriebenwerden.

Zeichenprozesse wie Mimik und Gestikim OP werden durch das Teilprojekt Se-miotik analysiert. Es untersucht Vorgängeder Informationsverarbeitung im gesamtenSystem näher und stellt neue Fragen. Sieanalysiert den Unterschied zwischen demZeichenverhalten in Situationen mit be-schränkten Ressourcen (Zeitdruck) unddem Zeichenverhalten in freien Situationen(Routineaufgaben). So wird man langfris-tig die ausgewählten kommunikativen und

zeichenhaften Prozesse im ArbeitssystemOP besser verstehen sowie neuen For-schungsbedarf erkennen.

Die Arbeits- und Organisationspsy-chologie analysiert Zwischenfälle und de-ren Entstehungsbedingungen, also Dys-funktionalitäten innerhalb des bestehendenOP. Dadurch kann man Gefahren im kom-plexen soziotechnischen System OP erken-nen und Optimierungspotenzial hinsicht-lich der angestrebten Systemsicherheit auf-zeigen. Ein weiterer, sehr bedeutsamerAspekt ist das Vertrauen unter den beteilig-ten Akteuren. Dabei werden nicht allein diemenschlichen Akteure beachtet, sonderninsbesondere die Organisation der einzel-nen Arbeitsabläufe und die Technik einbe-zogen. Das Teilprojekt der Arbeits- und Or-ganisationspsychologie wird untersuchen,welche Rolle Vertrauen innerhalb des OPshinsichtlich der Systemsicherheit spieltund wie Vertrauen den Prozess der Kom-munikation und Kooperation zwischen denAkteuren beeinflusst.

Die Techniksoziologie schließlichanalysiert die kommunikativen und koope-rativen Prozesse im OP. Besonders interes-sant ist dabei, wie Aktivitäten verteilt undkoordiniert werden. Einen wesentlichen Ar-beitsschwerpunkt bilden hier Fragen derSicherung von Routinearbeitsabläufen beiverteilten Aktivitäten in einem komplexenArbeitssystem wie dem OP. Weiterhin wirduntersucht, wie in diesem System Risikenminimiert bzw. wirksam behoben werden

können. Insgesamt soll dieses Teilprojektdie wechselseitige Bedingtheit von Menschund Technik sowie die Koordination ihresHandelns auch unter sehr dynamischenBedingungen näher erforschen.

Die Ergebnisse der einzelnen Teilprojek-te werden schrittweise in ein gemeinsamesModell des Arbeitsfeldes OP integriert. Einmedizinischer Beirat, bestehend aus Ärztenund Pflegepersonal, begutachtet die wis-senschaftlich erarbeiteten Ansätze auf ihreökologische Validität hin, das heißt auf ihreÜbertragbarkeit auf den realen OP. Ernimmt gleichzeitig auch die Supervisionwahr und stellt die Experten, die in die ge-planten Untersuchungen ergänzend einge-bunden sind. Konkrete Verbesserungsvor-schläge können so von medizinischer Seitenoch einmal überprüft werden.

Insgesamt wird dieses Forschungspro-jekt einen entscheidenden Beitrag leisten,um die Systemsicherheit des Arbeitssys-tems OP und somit auch die Patientensi-cherheit durch das Lernen aus Fehlern zuerhöhen.

Das generelle Modell eines soziotechni-schen Systems als Ergebnis des Interdiszip-linären Forschungsschwerpunktes KOSISsoll später möglichst auch auf andereHochsicherheitssysteme (zum Beispiel Pe-trotechnische Industrie oder Luft- undRaumfahrt) übertragen werden. Damitkönnte auch in weiteren sicherheitsrelevan-ten Arbeitssystemen die Sicherheit syste-matisch erhöht werden. �

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KOSIS – Kooperationund Sicherheit in kom-plexen soziotechnischenSystemen

Laufzeit:Januar 2001 –Dezember 2003

Finanzierungsträger:TU Berlindrittmittelgeförderter,interdisziplinärerForschungsschwer-punkt

Kooperationspartner:Klinikum Charité,BerlinDRK KlinikumWestend, Berlin

Ansprechpartner:Prof. Dr. med. habil.Wolfgang FriesdorfDipl.-Psych. Frank RitzTel.: 030/314-7 95 11Fax: 030/314-7 95 07

E-Mail:[email protected]@awb.tu-berlin.de

Projekt

… dass Mensch und Maschine einander »verstehen«

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Ein solches System stellt besondereAnforderungen. Grundsätzlich mussder Anwender in der Lage sein, sicher

und adäquat Vorgänge, Zustände und Be-dingungen »seiner« Maschine zu analysie-ren oder Entscheidungen zu Planung undAusführung einer Handlung zu treffen, umzum Beispiel eine Störung zu beseitigen.Um dieses Ziel zu erreichen ist es notwen-dig, bereits bei der Entwicklung solcherUnterstützungssysteme bestimmte Prinzi-pien systemzentrierter Automatisierung zubeachten:

• Komponenten des fachspezifischen Fak-tenwissens mit variablem Benutzerzu-griff im System zu implementieren,

• individuelle Diagnosestrategien im Sys-tem zu implementieren und nicht unter-drücken,

• hohe Kompatibilität zwischen Nutzer-und Systemwissen zu schaffen und

• keine Einschränkungen der Handlungs-und Kontrollspielräumen des Personalzuzulassen.

Ein interdisziplinärerLösungsansatz

Aus kognitionspsychologischen Untersu-chungen ist bekannt, dass effektive Leis-tungen unter anderem darauf beruhen,dass Sachverhalte unterschiedlich im Ge-hirn gespeichert sind (»multipel kodiertementale Repräsentationen«). Das Konzeptdes Projektes sah also vor, rechnerunter-stützte Hilfesysteme für die Instandhal-tungstätigkeit zur Verfügung zu stellen, dieunterschiedliche Sichten auf eine Problem-situation vermitteln – die Störungsdiagno-se ist ein Problemlösungsprozess!

Für die Realisierung eines solchen Zielsist ein Unterstützungssystem mit Multi-agenten eine geeignete Möglichkeit. JederAgent in diesem System kann verschiedenePerspektiven auf eine Störungssituation ver-mitteln und den Benutzer durch interaktiveElemente in die Diagnose einbeziehen. Erwird beispielsweise animiert, Hypothesenüber die Störungsursachen zu erstellen undeigenständige Entscheidungen zu treffen.

Zum Einsatz kommen soll das zukünfti-ge computerunterstützte Multiagentensys-tem (Competence Promoting multi-AgentSupport System – ComPASS) bei einemFehlverhalten oder Defekt an einer Werk-zeugmaschine, die häufig zum Maschinen-stillstand führen. Während bislang vonMaschinenführern nur einfache Fehler be-hoben werden konnten und bei komplexe-ren Störungen für die Wiederinstandset-zung der Maschine Mitarbeiter andererAbteilungen oder des Herstellers herange-zogen werden müssen, soll ComPASS dazubeitragen, dass auch diese komplexerenStörungen stärker von Mitarbeitern desFertigungsbetriebes erkannt und behobenwerden können. Das trägt auch zahlreichenForderungen von kleinen und mittelständi-schen Unternehmen Rechnung, Instand-haltungsaufgaben auf das Personal vor Ortzu verlagern oder die Tätigkeiten anre-gungsreich und selbstständig zu gestalten.

Kompetenz undKompetenzförderlichkeit

Im Maschinenbau sind gegenwärtig weder»Kompetenz« noch »Kompetenzförderung«definiert, daher muss zunächst die Bedeu-tung dieser Begriffe festgelegt werden. Inder VDI-Richtlinie 5005 existiert bereits dieDefinition der Kompetenzförderung, aller-dings lediglich als Bewertungskriteriumfür Bürosoftware. Diese muss natürlich be-rücksichtigt werden.

Der Begriff Kompetenz enthält im We-sentlichen zwei Bedeutungen: die Qualifi-

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Multi-Agenten und Kompetenz: ComPASS

Ein Kompass durch das Innereder Maschine

Von Klaus-Peter Timpe, Ruth Marzi und Peter John

Maschinenausfall: ein großes Problem für Unternehmen. Doch was kann man da-gegen tun? Natürlich, man kann die Maschinen sicherer machen oder aber fürschnellere Abhilfe bei einer Störung sorgen. Doch dafür braucht es qualifiziertesPersonal. Maschinensysteme sind aber heutzutage so komplex, dass das Instand-haltungspersonal sinnvoll durch ein Computerprogramm unterstützt werden soll-te. Ein solches »Entscheidungsunterstützungssystem« kann jedoch dazu verfüh-ren, dass das Instandhaltungspersonal keine eigenständigen Lösungen sucht, son-dern den Ergebnissen dieses Programms blind vertraut. Ein TU-Projekt zielt daherdarauf, ein kompetenzförderliches Unterstützungssystem zu entwickeln, das dieVorteile der Computerunterstützung ausnutzt, ohne ihre Nachteile in Kauf neh-men zu müssen.

Prof. Dr. Klaus-PeterTimpe

Dr.-Ing. M. Sc. (USA)Ruth Marzi

Dipl.-Ing. Peter John

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Ein Kompass durch das Innere der Maschine

kation einer Person oder die Befugnis einerPerson. Andere Betrachtungen betonen so-ziale und organisatorische Aspekte, unter-teilen das Konstrukt Kompetenz in ver-schiedene Bereiche u.v.a. Wir betrachtenKompetenzförderung als Erhöhung derQualifikation, die sich in einer Entfaltungder fachlichen, methodischen und aktuellenLeistungsvoraussetzungen der Mitarbeiteräußert.

Ein kompetenzförderndes Unterstüt-zungssystem ermöglicht es somit, währendund vermittels der Tätigkeit die Vorausset-zungen der Mitarbeiter weiter zu entwi-ckeln, ohne sie negativ emotional zu belas-ten und zu beanspruchen.

Aufbau des Multiagenten-systems ComPASS

Ein Multiagentensystem ist ein Software-programm mit mehreren Agenten. Der Be-griff »Agent« wird unterschiedlich inter-pretiert. Agenten können eigenständig ar-

beitende Programme sein, wie zum BeispielSuchagenten, die im Internet für einen Be-nutzer nach interessanten Dokumentenoder Seiten suchen. Agenten sind aber auchintelligente Programme, die eigenständigan der Lösung von Problemen arbeiten. Da-bei können einzelne Agenten miteinanderkooperieren oder auch konkurrieren, dasheißt jeder der Agenten versucht, möglichstschnell das Problem alleine zu lösen. In un-serem Projekt handelt es sich um Agenten,die auf Grund einer Benutzereingabe aktivwerden und dann selbstständig – auf derBasis des gespeicherten Wissens – nach ei-ner Lösung zu einem Problem suchen, näm-lich der Ursache von Fehlfunktionen einerMaschine.

Wie Mitglieder eines Teams teilen sichdie Agenten die zu leistende Arbeit unterei-nander auf – eine verteilte Problemlösung!Sie arbeiten im Wesentlichen unabhängigvon einander. Jeder Agent hat eine andereSicht auf das zu lösende Problem. EinAgent z. B. verfolgt einen Fehler innerhalb

einer Komponente, betrachtet Teilkompo-nenten, bis er das defekte Teil in ihnen ge-funden hat. Ein anderer Agent betrachtetdie gesamte Maschine im Überblick, je-doch nicht im Detail, d. h. er betrachtet dieVerbindungen zwischen den einzelnenBauteilen. Somit geht jeder der Agentennach einer unterschiedlichen Strategie oderHeuristik vor, nach der er aus dem imple-mentierten Wissen Lösungen ableitet. Stelltsich jedoch heraus, das ein Agent das Prob-lem nicht lösen kann, so interagiert er mitden anderen. Dem Benutzer werden somitauch verschiedene Lösungsmöglichkeitendargestellt und er kann entscheiden, welcheer nutzt und nach welchen Anweisungen ervorgehen möchte.

Für die Entwicklung des ersten Prototy-pen war es wichtig, möglichst schnell einlauffähiges System zu erstellen. das dannbewertet werden sollte. Dabei stellte sichheraus, dass die Entwicklungsumgebungdieses zwar ermöglichte, das System selbstaber sehr langsam war. Ein Diagnosesys-

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ansprechpartnerProf. Dr. Klaus-PeterTimpeDr.-Ing. M. Sc. (USA)Ruth MarziDipl.-Ing. Peter JohnTechnische UniversitätBerlinFakultät V, Verkehrs-und MaschinensystemeInstitut für Psychologieund Arbeitswissen-schaftfachgebietMensch-Maschine-Systemeforschungs-schwerpunkteUnterstützungssyste-me, Verlässlichkeit,Multimodale Interak-tion, automatischeSprachverarbeitungkontaktSekr. J 2/1Jebensstr. 110623 BerlinTel.: 030/314-7 20 06Fax: 030/314-7 25 [email protected]@[email protected]://www.mms.tu-berlin.de

Datenbank

Störungsdiagnose mit mehreren Agenten – das Multiagentensystem

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Ein Kompass durch das Innere der Maschine

tem wie ComPASS muss jedoch schnell aufEingaben reagieren können, sodass aufGrund der Erfahrungen eine Reimplemen-tierung zur Optimierung des Laufzeitver-haltens stattfinden kann.

Die Eingabe in das System erfolgt mit-tels Maus und Tastatur. Für die Ausgabestehen dem Benutzer Bildschirm, Druckerund Sprachsynthese zur Verfügung. Aufdem Bildschirm erscheint die Lösung desProblems als Text. Darüber hinaus kann ersich Erläuterungen zu dieser Lösung wieauch deren Herleitung anzeigen lassen.Dazu präsentiert ihm das System weitereTexte sowie Bilder oder Bildsequenzen derbetroffenen Maschinenteile. Die Erläute-rungen und Handlungsanweisungen kannsich der Benutzer auch akustisch präsentie-ren lassen. Er hört ihnen dann zu, währender an der Maschine den Fehler Schritt fürSchritt behebt.

Woher kommt dasComPASS-Wissen?

ComPASS wird bei schwierigen Diagnose-Fällen eingesetzt. Das bedeutet, dass dasWissen über derartige Probleme nur beiwenigen Menschen vorhanden ist, seltenbeschrieben wird und schwer zu finden ist.Ein Entscheidungsunterstützungssystemwie ComPASS erhält sein Grundwissendurch die Recherche in Dokumentationenaller Art (Maschinenhandbücher, allgemei-

ne Bücher zum Problemgebiet). Darüberhinaus verfügen »Diagnoseexperten« unterden Instandhaltern über Erfahrungswis-sen, das sie in vielen Berufsjahren erwor-ben haben. Dieses Wissen ist bei ihnen oftnur unterbewusst vorhanden und deshalbnicht einfach zu verbalisieren. SpezielleTechniken sind daher erforderlich, um die-sem Wissen Ausdruck zu verleihen, da esnur so einem Entscheidungsunterstüt-zungssystem zur Verfügung gestellt wer-den kann. Für unser Projekt erhoben wirdas notwendige Wissen mit Hilfe vonstrukturierten Interviews. Den Instandhal-tern wurden systematisch Fragen zu ihremVorgehen bei der Diagnosetätigkeit ge-stellt. Die Interviewer versuchen dann, die-se Antworten in Regeln der Form »wenn …,dann …« zu überführen. Eine Regel könntelauten:

»Wenn das Öffnen der Schutzhaube ab-rupt unterbrochen wird, dann überprüfenSie die zugehörige Sicherung im Schalt-schrank auf der Rückseite der Maschine.«

Diese Regeln werden um das Bücher-wissen ergänzt sowie unklare Sachverhaltein einer zweiten Interviewrunde nachge-fragt. Das Instandhaltungspersonal bekamanschließend das formalisierte Wissen vor-gelegt, um zu überprüfen, ob es vom Inter-viewer korrekt verstanden wurde. Die Se-quenzen von »Wissenserwerb und Wis-sensformalisierung« müssen wiederholtdurchlaufen werden, bis ein vollständiger

und widerspruchsfreier Wissenskörperaufgebaut ist.

Zu diesem Wissenskörper gehören auchdie Strategien, mit denen das Anlagenper-sonal ein Diagnoseproblem löst. Es ist be-kannt, dass Menschen auf unterschiedlicheWeise nach einem Fehler suchen. Funktio-niert ein Gerät nicht, so prüfen viele zuerst,ob es überhaupt an eine Stromquelle ange-schlossen ist. Dies ist eine einfache Vorge-hensweise, eine Heuristik, und eine Fehler-ursache kann damit ohne viel Aufwand ge-funden oder ausgeschlossen werden. Eineandere Heuristik wäre es, nach der Häufig-keit des Auftretens von Fehlern vorzuge-hen. Denn ist im Alltagsleben ein Gerät de-fekt, das ständig im Gebrauch ist, fallen oftHinweise wie »Probieren Sie doch mal,ob … Das ist bei diesen Geräten nämlichimmer ein Problem!«.

Ungefähr 15 verschiedene Strategien,wie man bei der Störungsdiagnose vor-geht, können identifiziert werden. Wichti-ge Strategien sind beispielsweise histori-sche Informationen zur Maschine, Orien-tierung am minimalen Aufwand für dieFehlersuche oder der Fehlerhäufigkeit so-wie das Verfolgen von Signalverläufen.Diese unterschiedlichen Herangehenswei-sen ermittelte man bereits 1992 empirischaus dem Verhalten des Anlagenpersonalsin zahlreichen Störungssituationen. Dieverschiedenen ComPASS-Agenten sollenjeweils mindestens eine dieser Strategien

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(1) Gestaltung vonkompetenzförderlichenMultiagentensystemenzur Unterstützung beiDiagnosetätigkeiten anCNC Werkzeugmaschi-nen

Laufzeit:Oktober 1997 – Dezember 2002

Finanzierungsträger:Deutsche Forschungs-gemeinschaft

Kooperationspartner:Prof. em. Dr. h. c. mult.Dr.-Ing. E. h. Dr.-Ing.Günter Spur

Ansprechpartner:Prof. Dr. K.-P. TimpeDr.-Ing. M. Sc. (USA)R. MarziDipl.-Ing. P. JohnTechnische UniversitätBerlin, Fakultät V, Ver-kehrs- und Maschinen-systemeInstitut für Psychologieund Arbeitswissen-schaftFachgebiet Mensch-Maschine-SystemeTel.: 030/314-7 20 06Fax: 030/314-7 25 81

E-Mail:[email protected]

Internet:http://www.mms.tu-berlin.de

Projekt

Fehlersuche inkomplexenMaschinensystemenwird zunehmendschwieriger

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Ein Kompass durch das Innere der Maschine

unterstützen, die von dem Instandhalterbei der Störungsdiagnose auszuwählen ist.

Fehlersuche mit ComPASS

Und so kann das Szenario einer Fehlersu-che mit ComPASS aussehen:

Eine Störungsmeldung (zum Beispiel»Überlast an der Kupplung der X-Achse«)wird angezeigt. Der Maschinenführer gibtdiese nun in ComPASS ein. Die Eingabedient als Grundlage für die anschließendeSuche nach möglichen Fehlerursachen un-ter Verwendung verschiedener, wählbarerDiagnosestrategien. Wenn der Maschinen-führer eine oder mehrere Strategien ausge-wählt hat, werden die Agenten für den Di-agnoseprozess gestartet. Zum Beispielkönnte er den Signalverlauf zwischen meh-reren Komponenten untersuchen, um dieStörungsquelle zu lokalisieren. Um die Su-che weiter zu kanalisieren, könnten die Feh-

lerursachen nach Häufigkeit sortiert ange-zeigt werden. Nach der Anzeige möglicherFehler lässt der Maschinenführer sich an-zeigen, welche Maßnahmen er ergreifensollte, um zu überprüfen, ob es sich hierbeiwirklich um die Fehlerursache handelt.Diese Maßnahmen werden ihm schrittwei-se erläutert, sodass er sie nacheinander be-folgen kann. Dabei unterstützt ihn aucheine akustische Komponente, die ihm dieMaßnahmen vorliest, während er direkt ander Maschine arbeitet. Für Lernzwecke,aber auch um diesen Fehler künftig vermei-den oder schneller beheben zu können,kann der Maschinenführer sich möglicheFehlerursachen angeben lassen.

Und die Kompetenzförderung?

Die Untersuchungen zur Kompetenzförde-rung des Systems ComPASS nahmen wirim Versuchsfeld des Produktionstechni-

schen Zentrums der TU Berlin an einerCNC-Werkzeugmaschine vor. 14 Maschi-nenbaustudierende mit abgeschlossenemCNC-Praktikum mussten nach entspre-chenden Einführungen, Vorbereitungenund Instruktionen vier Störungsdiagnosendurchführen, z. B. »Keilriemen ist locker«oder »Referenzpunktschalter klemmt«. Fürdie Lokalisierung und Behebung des Feh-lers standen maximal 20 Minuten zur Ver-fügung. Wurde der Fehler schneller beho-ben, konnte die verbleibende Zeit genutztwerden, um eigenständig mit der Maschineoder dem Unterstützungssystem zu arbei-ten.

Ein spezieller Wissenstest und ein Frage-bogen zur Bewertung der Störungsdiagno-sesituation sollten messbare Auskunft überdie angestrebte Verbesserung der Kompe-tenz beim Umgang mit dem Unterstüt-zungssystem bei der Störungsdiagnose ge-ben.

Die wichtigsten Versergebnisse lassensich sehen:• die entwickelten und eingesetzten Me-

thoden der Kompetenzbestimmung ha-ben sich bewährt,

• ein Trend zu Verbesserung der Kompe-tenz konnte nachgewiesen werden,

• die Benutzer fühlten sich durch Com-PASS gut unterstützt.

Wie geht es weiter?

Um wirklich gültige Aussagen über dieKompetenzförderung eines Systems wieComPASS machen zu können, müssenLangzeituntersuchungen von etwa einemhalben Jahr in einem oder mehreren Unter-nehmen durchgeführt werden. Die notwen-digen Methoden wurden bereits erarbeitet,sodass gegenwärtig die Vorbereitungen fürdiesen Einsatz laufen. Die Nutzerhinweiseund die Ergebnisse spezieller ergonomi-scher Bewertungsverfahren (Isometrics)haben dazu geführt, die Anwendungs-schnittstelle weiter zu entwickeln. Sie wur-de bereis um die Sprachausgabe erweitert.Die Hoffnung des Projektteams ist, dass innicht allzu ferner Zukunft Maschinenher-steller ihre Diagnosesysteme um eine Mul-tiagentenstruktur erweitern und bei derAuslieferung ihrer Maschinen Hilfen ähn-lich der ComPASS-Architektur mit anbie-ten. �

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(2) Service Engineeringand design

Laufzeit: Feb. 2001–Juli 2003

Finanzierungsträger:Bundesministerium fürBildung und Forschung

Kooperationspartner:Z&P Zangemeister &Partner, TÜV Rhein-land und weitere

Ansprechpartner:Prof. Dr. K.-P. TimpeDipl.-Ing. V. HedickeTechnische UniversitätBerlinFakultät V, Verkehrs-und MaschinensystemeInstitut für Psychologieund Arbeitswissen-schaftTel.: 030/314-7 95 24Fax: 030/314-7 25 81

E-Mail: [email protected]

Internet:http://www.mms.tu-berlin.de

Projekt

RoboSpot: Maschinelle Lernhilfe

Schon in der frühen Neuzeit veran-lasste der starke Glaube an dieTechnik die Menschen, von intelli-

genten Maschinen zu träumen. Noch ge-nauer, von Maschinen, die den Unwis-senden belehren könnten. JohannAmos Comenius (1592 bis 1670) warals Bischof der böhmischen Brüderge-meinde gleichzeitig Geistlicher undVolkserzieher. Sein Bestreben, das Unter-richtswesen neu zu gestalten, durch Le-bensnähe und Anschauung in der Unter-weisung die besten Anlagen im Men-schen zu entwickeln, ist bekannt. Wenigerpopulär wurde sein Interesse für Maschi-nen. Als einer der Urväter der wissen-schaftlichen Pädagogik interessierte ersich natürlich für Möglichkeiten, mecha-nische Geräte in der Lehre einzusetzen. Erwünschte sich eine Maschine, »mecha-nisch konstruiert, um nicht länger stehenzu bleiben in den Angelegenheiten desLehrens und Lernens, sondern um Fort-schritte zu machen.« Als Gottesmannzielte Comenius’ Technikbegeisterungnatürlich nicht darauf, dem Herrn insHandwerk zu pfuschen oder mit der Na-

tur- und Technikwissenschaft die Exis-tenz des Obersten Hirten in Frage zu stel-len. Im Gegenteil, die technische Unter-weisung sollte eher zu leichterer Aufnah-me religiöser Inhalte und damit zur Got-tesfürchtigkeit beitragen.Heutige Befürworter des Multimedia-PCals Lernmaschine stimmen mit JohannAmos Comenius überein, »dass die Me-thode der menschlichen Bildung mecha-nisch ist: das heißt, dass sie alles so zuver-lässig vorschreibt, dass alles, was nach ihrgelehrt, gelernt und gehandelt wird, un-möglich nicht vorankommen kann.« Ge-rade die Zuverlässigkeit und die Funkti-onssicherheit der mechanischen Appara-te, die die soeben erwachte Kunst der Inge-nieure seiner Zeit hervorbrachte, hatten esComenius angetan. Er wollte sie auf sei-nen Bereich von Lehre und Lernen anwen-den. Doch schon der alte Lehrmeister derPädagogik kannte ein Problem, das mo-derne Lernbegierige heute am PC zurWeißglut treiben kann: Auf unvorhergese-hene Fragen oder Fragen nach einem Ratoder Hinweis außer der Reihe, »schweigtdie Maschine ehrwürdig still«. (Red.)

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Dank der Fortschritte in der Re-chentechnik und mit Methodenund Werkzeugen des rechnerge-

stützten Entwurfs kann das Verhalten tech-nischer Systeme heute bereits in der Ent-wurfsphase sehr genau vorausgesagt wer-den. Modellierung und Simulation ist eineSchlüsseltechnologie, die den Arbeitsalltagder Entwicklungsingenieure zunehmenddurchdringt. Viele aktuelle und teils inno-vative technische Lösungen benötigenschon in der Entwicklung quantitative Si-mulationsmodelle.

Die Modellierung der Menschen im Sys-tem kam hingegen nur in Randbereichenvor, zum Beispiel um das sensomotorischeRegelverhalten als Differentialgleichungdarzustellen. Eine Vorhersage des Gesamt-systemverhaltens kann bisher zumeist nurgetroffen werden, wenn man ein normiertesBedienerverhalten voraussetzt. Das ist je-doch in vielen Fällen unrealistisch, sodassder Wunsch entsteht, den nicht vorhersag-baren Menschen aus dem System heraus-zuhalten. Nach wie vor hält der Trend zur

Automatisierung an, das heißt Tätigkeiten,die vormals den Menschen vorbehalten wa-ren, werden auf die schnellere, nicht ermü-dende und somit vermeintlich zuverlässige-re Maschine verlagert.

Die Automatisierung in den meisten dy-namischen technischen Systemen hat dieAufgaben der Menschen stark verändert.Lediglich als Fahrzeugführer im Indivi-dualverkehr ist der Mensch nach wie vorals regelnde Instanz gefragt. Aber auch hierdrängen zunehmend Assistenzsysteme wieABS (Antiblockiersysteme) in das mensch-liche Aufgabenfeld. In vielen anderen dyna-mischen Mensch-Maschine-Systemen(Flugführung, Prozessführung) hat sich dieRolle des Bedieners nahezu vollständigvom Regler hin zum Überwacher gewan-delt. Doch zwei Aspekte setzen der Auto-matisierung eine harte Grenze: Die Verant-wortung kann nicht an die Maschine abge-geben werden, und das Setzen von Zielenmuss weiterhin dem Menschen vorbehaltenbleiben. In Folge dessen muss die Maschi-ne durch den Bediener steuerbar bleiben.

Wenn nun das Verhalten des Mensch-Maschine-Systems wesentlich durch denMenschen mitbestimmt wird, dann ist esnotwendig, diesen Einfluss nachzubilden,um zu einer gültigen und zuverlässigen Vor-hersage des Gesamtverhaltens zu kommen.Qualitative Modelle sind auf Grund der vor-liegenden komplexen dynamischen Wech-selwirkungen zwischen Mensch und Ma-schine nicht ausreichend. Vielmehr bedarf esder Simulation, das heißt der Nachbildungmenschlichen Verhaltens auf einem Rech-ner. Um erfolgreich simulieren zu könnenbeziehungsweise die notwendigen Modelleeffizient erstellen zu können, ist es notwen-dig, eine Vielzahl von Methoden zu berück-sichtigen, die verschiedene Aspekte des Be-nutzerverhaltens in dynamischen Mensch-Maschine-Systemen abbilden. Die einzel-nen Mitglieder der Forschergruppe gehörendaher verschiedenen Fachdisziplinen an:Psychologie, Informatik und Ingenieurwis-senschaften. Auch die inhaltliche Ausrich-tung der Teilprojekte, die untereinanderstark vernetzt sind, ist interdisziplinär:

Ein wichtiger Beitrag der Psychologie istdie Erforschung von Strukturen und Pro-zessen, die im Menschen eine Vorstellungvon zeitlichen Vorgängen hervorrufen undderen Dynamik. Hierbei geht es insbeson-dere um die Erweiterung bestehender An-sätze zum Aufbau mentaler Modelle umzeitliche Parameter. Die meisten Menschenkennen aus eigener Erfahrung das Gefühl,wenn einem die Zeit davongelaufen ist oderwenn man beispielsweise beim Überholendie Geschwindigkeit des nachfolgenden

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MoDyS – Bedienmodelle in dynamischenMensch-Maschine-Systemen

Wenn die Zeit davonläuft

Von Leon Urbas

Wie kann man vorhersehen, wie sich ein System verhält, in dem Mensch und Ma-schinen eine untrennbare Einheit bilden? Bestehende kognitionswissenschaftlicheTheorien müssen erweitert werden, um typische Anforderungen abbilden zu kön-nen, die in dynamischen Mensch-Maschine Umgebungen auftreten, zum BeispielZeitdruck oder die Koordination oft gegenläufiger Ziele. Des weiteren bedarf es ei-nes methodischen Vorgehens,mit dem man ein so komplexes Vorhaben wie die Ab-bildung menschlichen Verhaltens organisieren kann.Am Zentrum Mensch-Maschi-ne-Systeme der TU Berlin beschäftigt sich eine Nachwuchsgruppe der Volkswagen-Stiftung mit der Modellbildung und Simulation menschlichen Verhaltens in dyna-mischen Aufgabenumgebungen.Geforscht wird unter anderem an der Prozessfüh-rung in den Leitwarten der chemischen Industrie.

Dr.-Ing. Leon Urbas

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Wenn die Zeit davonläuft

Verkehrs falsch eingeschätzt hat. Die Fragenach der Vorstellung von Zeit und Dyna-mik wird derzeit am Betrieb eines thermi-schen Trennprozesses am Fachgebiet »Dy-namik und Betrieb technischer Anlagen«der TU Berlin (Prof. Günter Wozny) unter-sucht. Dazu werden zunächst in einer Auf-gabenanalyse zeitkritische Sequenzen iden-tifiziert. Die Ergebnisse bilden gleichzeitigeine Basis für spätere experimentelle Un-tersuchungen und legen Grundlagen für dieübrigen Teilprojekte der Forschergruppe.

Ein weiteres Teilprojekt befasst sich da-mit, wie in komplexen dynamischen Syste-men Ziele gebildet und modifiziert werden.Beim Bedienen technischer Anlagen müs-sen verschiedene und mitunter auch gegen-läufige Ziele gleichzeitig und kontinuierlichverfolgt werden: Ziele werden erreicht oderverworfen, zudem ändern sich die Prioritä-ten im Verlauf der Interaktion durch dieAuswertung von Daten und die möglicheNeuinterpretation von bereits bestehendenInformationen. Erst ein gewisses Erfah-rungswissen erlaubt es Menschen, ihre Ar-beitsaufgabe, zum Beispiel in Leitwarten,effizient zu erfüllen. Leider kann jedoch ge-nau dieses Erfahrungswissen auch blindmachen: Selbst erfahrene Operateure rea-gieren unter Umständen nicht angemessen,weil sie beispielsweise zu lange am Ziel

»Aufrechterhalten des Normalbetriebs«festhalten, anstatt zum Ziel »Abwendungvon Gefahr« zu wechseln. Statt das Ziel zumodifizieren, wird die Interpretation derwahrgenommenen Daten modifiziert. Ob-wohl diese typischen Phänomene der Ziel-modifikation weithin bekannt sind, findensie bislang sowohl in psychologischen Mo-dellen des Planens und Handelns als auchin kognitiven Architekturen nur unzurei-

chend Beachtung. Das Teilprojekt baut aufempirischen Daten auf, die in experimen-talpsychologischen Untersuchungen ge-wonnen wurden. Ziel ist es, quantitative ko-gnitive Modelle zu erstellen und diese inweiteren Experimenten zu überprüfen.

Die Nachwuchsgruppe erstellt Theorienüber mentale Vorgänge und deren Interak-tion, in denen kognitive Leistungen modell-haft dargestellt werden können (so genann-te kognitive Architekturen). Sie legen zumBeispiel Strukturen und Beschränkungenvon Gedächtnisleistungen fest. Die gefun-denen Modelle müssen in die Architekturenimplementiert werden, um dann zur Simu-lation in den Entwurfsprozess dynamischerMensch-Maschine-Systeme einzufließen.Das Gleiche gilt für den Online-Einsatz inUnterstützungssystemen. Um Bediener-modelle in dynamischen Mensch-Maschi-ne-Systemen mit kognitiven Architektureneffektiv zu gestalten, werden vorhandeneWerkzeuge um Möglichkeiten zum flexi-blen Zielmanagement und zur Anbindungan Simulatoren der technischen Anlagen er-weitert. Des weiteren entwickelt die Mo-DyS-Gruppe ein Modell für ein kosteneffi-zientes, methodisch objektivierbares Vorge-hen von der Aufgabenanalyse bis zur Simu-lation, in das Ansätze aus der Softwaretech-nik einfließen. �

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ansprechpartnerDr.-Ing. Leon UrbasTechnische UniversitätBerlin, Fakultät V, Ver-kehrs- und Maschinen-systeme, Institut fürPsychologie undArbeitswissenschaftfachgebietMensch-Maschine-Systemeforschungs-schwerpunktDynamische SystemekontaktSekr. J2-2Jebensstr. 110623 BerlinTel.: 030/314-7 25 79Fax: 030/314-7 25 [email protected]://www.zmms.tu-berlin.de/modys/index.html

Datenbank

Methoden der Bedie-nermodellierung in dy-namischen Mensch-Maschine-Systemen

Laufzeit:Oktober 2000 –Oktober 2005

Finanzierungsträger:Volkswagen-Stiftung

Kooperationspartner:Prof. Dr. Klaus-PeterTimpe (TU Berlin)Prof. Dr. Günter Wozny(TU Berlin)Prof. Dr. Fritz Wysotzki(TU Berlin)Humboldt-Universitätzu BerlinTechnische UniversitätChemnitz

Projekt

Die Verantwortung behält der Mensch

RoboSpot: Lächelnde Computerstimme

Spätestens seit es Call-Center, Hot-lines und konkurrierende Telefon-auskünfte gibt, ist aufgefallen,

dass man auch am Telefon ein Lächelnwahrnehmen kann. Weil der sprechendeComputer eben nicht lächelt, Ärger oderMitleid in die Stimme legt, ist er als Tele-fonpartner auch nicht gleichermaßen ak-zeptiert wie ein menschliches Gegenüber,selbst wenn es sich um banale Auskünftewie Zeit- oder Adressenansagen handelt.An der TU Berlin erforschen Kommuni-kationswissenschaftler um Prof. Dr. Wal-ther Sendlmeier schon seit einigen Jahren,wie die menschliche Stimme Freude,Trauer, Ärger oder Angst ausdrückt undversuchen, diese Emotionen künstlichnachzubilden. Mit dem von der Deut-

bei ärgerlichen Gesprächspartnern dieStimmlippen abrupt und erzeugen schär-fere Töne in höheren Frequenzbereichen.Der traurige Mensch hat eine gedämpfte,eher behauchte Stimme, weil die Stimm-lippen viel weicher zusammenschlagen.Aber auch die Beteiligung zahlreicherMuskeln in Brust, Bauch, Hals und Kopfspielen eine Rolle bei der Stimmbildung,ebenso wie das Dehnen, Verkürzen oderVerschlucken von Vokalen. Zur Zeit ar-beiten Walther Sendlmeier und seine Mit-arbeiter daran, aus diesen Erkenntnisseneine vollsynthetische Computerstimmezu erschaffen. Die Industrie hat bereitsgroßes Interesse bekundet. (Red.)

Kontakt: [email protected]

schen Forschungsgemeinschaft geförder-ten Projekt »Phonetische Reduktion undElaboration bei emotionaler Sprechweise«ist die TU eine der wenigen Institute welt-weit, die sich mit Emotionen im Sprach-ausdruck befassen.Schauspieler mussten in den Versucheninhaltlich neutrale Sätze in ärgerlichem,freudigem oder auch ängstlichem Ton aufein Band sprechen. Anschließend wurdendie Aufzeichnungen Testhörern vorge-spielt und die emotional eindeutig erkenn-baren Tonproben weiter ausgewertet. Er-gebnis: Den verschiedenen hörbarenStimmungslagen liegt eine unterschiedli-che Vibration der Stimmlippen zugrunde,die im Kehlkopf schwingen und die Töneerzeugen. So schließen sich zum Beispiel

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Technische Gerätschaften – vom ein-fachsten Werkzeug über komplexeMaschinen bis zum avanciertesten

Computerprogramm – erfüllen ihren Zweckals Mittel menschlichen Handelns nurdann, wenn die technischen Eigenschaftenund Abläufe des jeweiligen Gerätes und diebei seiner Benutzung verwendeten Regeln,Fertigkeiten und Praktiken hinreichend gutintegriert sind. Es reicht nicht aus, techni-sche Systeme zu konstruieren, die bei einemgegebenen Input zuverlässig einen be-stimmten, erwünschten Output produzie-ren. Dies ist zwar eine notwendige, aber kei-ne hinreichende Bedingung. Soll das techni-sche System in der gesellschaftlichen Praxisfunktionieren, muss ein Zweites hinzukom-men: An der so genannten Mensch-Maschi-ne-Schnittstelle müssen menschliche undmaschinelle Aktivitäten zusammenpassen.Aus unserer pragmatischen und sozioni-schen Sicht reicht eine einfache und einma-lige Anpassung von Mensch und Maschinenicht aus. Erforderlich ist vielmehr einewechselseitige und situative Abstimmungder verschiedenen Elemente eines hybridenKooperationszusammenhangs.

Als Konsequenz aus dieser Perspektivebetrachten wir nicht mehr nur das isolierteGerät – die technische Installation – undauch nicht nur das passend auf seine sozia-le Umwelt zugeschnittene technische Sys-tem. Unser Gegenstand ist das Zusammen-wirken der gesamten »sozio-technischenKonstellation« aus menschlichen, physika-lischen und symbolischen Komponenten.Für die Analyse der Bedingungen desFunktionierens und des Versagens vonTechniken ist es entscheidend, ob sich sol-che komplexen Wirkzusammenhänge zusozio-technischen Systemen verfestigenkönnen. Schon der Erfolg des Heimwerkers,der seine Bohrmaschine benutzt – ein einfa-ches Mensch-Maschine-System –, beruhtauf dem Zusammenspiel von deutlich mehrKomponenten als dem funktionsfähigenGerät und dem kundigen Heimwerker. Erberuht unter anderem auch auf den Herstel-lungs-, Distributions- und Wartungsein-richtungen von Gerät und Zubehör. Für dieeventuelle Reparatur oder für Fragen derHandhabung muss zudem die entsprechen-de Expertise vorgehalten werden. Techni-sche Normen müssen beispielsweise dafür

sorgen, dass es für die Bohrlöcher auch pas-sende Dübel gibt. Soziale Normen legenetwa fest, zu welchen Tageszeiten der Bohr-lärm den Nachbarn zugemutet werdendarf. Sozio-technische Systeme bestehenmithin aus sehr vielen und zum Teil sehrunterschiedlichen Komponenten. In diesemSinne stellt jede gesellschaftlich genutzteTechnik einen hybriden Zusammenhangdar.

Eine zweite Konsequenz besteht darin,dass es sich empfiehlt, sozio-technischeSysteme als Systeme »verteilten Handelns«zu verstehen. Betrachtet man eine Hand-lung, die mit Hilfe eines technischen Gerä-tes vollzogen wird, so kommt man um dieFeststellung gar nicht umhin, dass ein Teildes Handlungsablaufes, der erforderlichist, um das Handlungsziel zu erreichen, andas Gerät delegiert wird. Anderenfalls wäredas Gerät ja verzichtbar. Mit dem Fort-schreiten von Automation, Robotik und KI-Forschung (künstliche Intelligenz) entste-hen technische Agenten, die zunehmendmit Fähigkeiten der »Handlungsautono-mie«, der »Reagibilität«, der »Kooperati-onsfähigkeit« oder der »Soziabilität« aus-gestattet sind. Dass es uns normalerweiseals unangemessen erscheint, technischeGeräte als »Mithandelnde« zu begreifen,hängt damit zusammen, dass wir es ge-wohnt sind, das Verhältnis von Benutzerund Technik als eines von Anweisung undAusführung anzusehen: Alle dispositivenAnteile einer technisch vermittelten Hand-lung werden dem menschlichen Benutzerzugerechnet, während dem technischen Ge-

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Sozionik:Künstliche Agenten in hybriden Kooperationssystemen

Die Technik handelt mit

Von Werner Rammert und Ingo Schulz-Schaeffer

Keine Bewegung eines technischen Geräts hat einen Sinn, die nicht als Teilhand-lung einer umfassenderen menschlichen Gesamthandlung verstanden werdenkann. Keine Technik funktioniert,die nicht Bestandteil eines umfassenderen sozio-technischen Zusammenhangs ist.Die Grenze zwischen Sozialem und Technischem,zwischen menschlichem Handeln und technischen Abläufen, ist sehr viel unschär-fer und sehr viel mehr durch wechselseitige Grenzüberschreitungen bestimmt, alsunser Alltagsbewusstsein wahrnimmt. Neuere Entwicklungen im ForschungsfeldSozionik unterstreichen diesen Befund. Mit dem Konzept des »verteilten Han-delns« wollen wir ihm Rechnung tragen.

Prof. Dr. WernerRammert

Dr. IngoSchulz-Schaeffer

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Die Technik handelt mit

rät – als dem passiven Mittel zur Realisie-rung dieser Handlung – lediglich operativeEigenschaften zukommen. Ereignisse, diediese Zweiteilung in Frage stellen, empfin-det man dann schnell als bedrohliche Herr-schaft der Technik über den Menschen.

Hier gilt es umzudenken, will man sozio-technische Systeme besser verstehen undintelligenter gestalten. Denn das Verhältnisvon Benutzer und technischem Gerät ist zu-meist deutlich verwickelter, als es das taylo-ristische Ideal der strikten Trennung dispo-sitiver und operativer Tätigkeiten vorsieht.Betrachten wir wieder ein einfaches Bei-spiel: Unser Heimwerker schlägt mit einemHammer einen Nagel in die Wand. Dasübergreifende Handlungsziel und die damitverbundene Absicht stammt zweifellos vonihm und nicht vom Hammer. Aber im Ver-lauf der Schlagbewegung muss unserHeimwerker, während er Bewegungsener-gie auf den Hammer überträgt, zugleich be-reit sein, seinen Arm von der im Hammerbereits gespeicherten Bewegungsenergiemitziehen zu lassen. Mit Blick auf diesenTeilaspekt des gesamten Geschehens über-nimmt der Hammer eine aktive Rolle undsein Benutzer eine passive. Allgemeiner ge-sprochen: Die technischen Geräte sind aufGrund ihrer Konstruktion dazu disponiert,sich in einer bestimmten Weise zu verhal-ten. Der kundige Benutzer wird danachtrachten, diese Dispositionen in seinem Sin-ne zu nutzen. Das heißt aber zugleich: Ermuss bereit sein, einen Teil seines eigenenDispositionsspielraumes an das Gerät ab-zutreten. Sozio-technische Systeme unterder Hybridperspektive zu verstehen heißt:die Grade der Technisierung und der»Agency« für alle Komponenten zu ermit-teln, die relativen Anteile der beteiligtenmenschlichen und maschinellen Kompo-nenten an der Gesamthandlung festzustel-len und die Formen des Zusammenwirkensund der Interaktivität zu analysieren.

Die Betrachtung sozio-technischer Sys-teme als hybride Verknüpfung des verteil-ten Handelns heterogener Komponenten er-öffnet verschiedene Forschungsperspekti-ven: Zum einen kann man das Konzept ein-setzen, um »Interaktivitätsverhältnisse«zwischen menschlichen Akteuren und tech-nischen Geräten zu analysieren, insbeson-dere innerhalb komplexer sozio-technischerArrangements. Ziel ist es hier, problema-

tische Anschlussverhältnisse, Ambivalen-zen in der Interpretation oder störendeWechselwirkungen zu entdecken und zu be-seitigen. Diese Richtung verfolgen wir mitdem Teilprojekt »Routinen und Risikenverteilten Handelns – Der OP als Beispielfür hochtechnisierte Arbeitssituationen«.Dort arbeiten wir im Rahmen des interdis-ziplinären Forschungsschwerpunkts derTU Berlin »Kooperation und Sicherheit insozio-technischen Systemen« (KOSIS, s.Seite 40) eng mit Informatikern, Arbeits-wissenschaftlern, Semiotikern und Organi-sationspsychologen zusammen. Eine zwei-te Forschungsperspektive besteht darin,über sozio-technische Systeme nachzuden-ken, deren technische Komponenten als»Mithandelnde« einen sehr viel höherenGrad eigenständiger Handlungsfähigkeitbesitzen als konventionelle technische Ge-räte. Sie zeichnen sich auch dadurch aus,dass ihre Integration in das umfassende so-zio-technische Handlungssystem mittelskomplexerer Interaktionshandlungen er-folgt, im Gegensatz zum einfachen Schemavon Anweisung und Befolgung. DieseRichtung verfolgen wir mit dem For-schungsprojekt »Integration kooperations-fähiger Agenten in komplexen Organisatio-nen«, das im Rahmen des Schwerpunkt-programms »Sozionik« von der DeutschenForschungsgemeinschaft finanziert wird.

Zur ersten Forschungsperspektive: Wer

einmal einen Blick in den modernen Opera-tionssaal einer Klinik geworfen hat, siehtviele Menschen, die jeweils mit unter-schiedlichen Aufgaben beschäftigt sind –Chirurgen, Assistenten, Anästhesisten,OP-Schwestern –, und technische Geräteder verschiedensten Art – vom einfachenHaken und Skalpell über Beatmungsma-schinen bis hin zu rechnerbasierten Beob-achtungs- und Kontrollsystemen. In diesenhochtechnisierten Arbeitssituationen wirddie Arbeit in der Regel auf eine größereZahl und höher spezialisierter menschli-cher und technischer Instanzen verteilt. Essteigen sowohl die Anforderungen an Koor-dination und Kommunikation im kooperie-renden Team als auch die Abstimmungender Interaktivitätsbeziehungen zwischenTeam und Technik. Wir gehen davon aus,dass eine reibungslose und sichere Integra-tion der Tätigkeiten bei einem so hohenGrad an Komplexität und Heterogenitätder beteiligten Instanzen und bei der zuneh-menden Delegation von Aufgaben an akti-ve technische Instanzen nicht mehr über diefunktionale Arbeitsaufteilung, die instru-mentelle Technik oder über die Autoritätdes Chirurgen hergestellt werden kann.Wie in diesem fragmentierten Feld verteil-ten Handelns trotzdem Ordnung und Si-cherheit zustande kommt, das soll mittelsteilnehmender Beobachtung und Videoana-lysen herausgefunden werden. Dabei wer-

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ansprechpartnerProf. Dr. WernerRammertDr. Ingo Schulz-SchaefferTechnische UniversitätBerlinFakultät VII,Architektur UmweltGesellschaftInstitut für SoziologiefachgebietTechniksoziologieforschungs-schwerpunkteTechnik undInteraktivitätSozionikkontaktSekr. FR 2-5Franklinstr. 28/2910587 BerlinTel.: 030/314-7 14 59und 314-2 53 81Fax: 030/314-7 33 [email protected]@tu-berlin.deinternetwww.tu-berlin.de/fb7/soziologie/crew

Datenbank Was will Sozionik?Sozialverhalten des ComputersSozionik ist ein neues Forschungsfeldzwischen Soziologie und künstlicher In-telligenz. Ähnlich wie man sich in der Bio-nik vorgenommen hat, biologische Kör-perfunktionen als Vorbild für neue Tech-niken zu nutzen, geht es in der Sozionikum die Frage, wie es möglich ist, Vorbil-der aus der sozialen Welt aufzugreifen,um daraus intelligente Multiagentensys-teme zu entwickeln, das heißt Systeme ko-operationsfähiger Softwareprogramme.Das sozionische Forschungsprogrammkonzentriert sich bei der Modellierungund Erforschung »künstlicher Sozialität«auf folgende Probleme:(1) Die moderne Gesellschaft bietet mit

ihren Formen sozialer Verhaltensabstim-mung ein reichhaltiges Reservoir an Vor-bildern für die Modellierung von Multi-agentensystemen, das es technisch auszu-schöpfen gilt.(2) Umgekehrt kann die Soziologie vonder Informatik profitieren, indem sie dieMultiagententechnik als Simulations-werkzeug zur Überprüfung und Ausar-beitung ihrer eigenen Modelle und Theo-rien nutzt.(3) Schließlich stellen die zukünftigen An-wendungen von »hybriden Gemeinschaf-ten«, die aus künstlichen Agenten undmenschlichen Nutzern bestehen, eineganz besondere Herausforderung für bei-de Fachdisziplinen dar.

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Die Technik handelt mit

den Routinen und Rituale, signifikanteZeichen und verbindende Objekte (»boun-dary objects«) als Mittel der Koordinationund Konzertierung der Tätigkeiten unter-sucht. Besondere Aufmerksamkeit schen-ken wir in diesen zeitkritischen Kooperati-onssystemen Reibungspunkten jeglicherArt, Abweichungen und Störungen. DieFrage ist, wie diese Risiken immer wiedereingedämmt, kompensiert oder repariertwerden können, sodass das Vertrauen indas Funktionieren des gesamten sozio-tech-nischen Systems aufrechterhalten bleibt.

Zur zweiten Forschungsperspektive:Verteiltes Problemverarbeiten (»distribu-ted problem-solving«) ist eine neuere Ideeim Rahmen der Forschung zur KünstlichenIntelligenz in der Informatik, die gegenwär-tig unter dem Namen Verteilte KünstlicheIntelligenz und Multiagentensysteme fort-entwickelt wird. Im Wesentlichen geht esdarum, einen Interaktionszusammenhangvieler kleinerer und relativ autonomer Soft-ware-Programme, so genannter »Agen-ten«, zu konstruieren, innerhalb dessen dieAufteilung der Problemverarbeitung unddie Kooperation bei der Problemlösungnach dem Muster gesellschaftlicher Pro-zesse ablaufen kann. Die spezifische Neu-heit dieser Forschungsrichtung besteht da-rin, Strategien und Verfahren der sozialenKoordination, die sich im handelnden Zu-

sammenwirken menschlicher Akteure alserfolgreich erwiesen haben und wie sie insoziologischen Theorien und Modellen be-schrieben werden, nachzubilden und für dieKoordination zwischen den technischenAgenten zu verwenden. Wenn auf dieseWeise technische Systeme entstehen, derenKomponenten sich intern in einer Weise ko-ordinieren, die der Verhaltensabstimmungzwischen menschlichen Akteuren ähnelt,

dann ist ein möglicher nächster Entwick-lungsschritt gleichsam vorgezeichnet: dieKonzeption sozio-technischer Handlungs-systeme, in denen die Teilhandlungen derbeteiligten menschlichen Akteure und dieder beteiligten künstlichen Agenten nachtendenziell gemeinsamen Interaktionsre-geln koordiniert werden. Das heißt nicht,dass dann auch alle Akteure bzw. Agentendie gleichen Verfügungsrechte und Ausfüh-rungspflichten besitzen müssten. Derspringende Punkt ist vielmehr der, dass dieMultiagentensystem-Forschung Formender Verhaltensabstimmung innerhalb undzwischen einer Anzahl menschlicher Benut-zer und einer Anzahl technischer Agentenermöglicht, die durchgeführt werden kön-nen, ohne dass an der Schnittstelle Mensch-Technik jeweils zwischen zwei Handlungs-bzw. Verhaltenslogiken hin und her ge-wechselt werden muss: der des Benut-zungszusammenhangs und der des techni-schen Ablaufs. Damit eröffnet sich dieChance, zu sozio-technischen Handlungs-systemen zu gelangen, die sich in einemsehr viel tiefgreifenderen Sinne als hybrideZusammenhänge verteilten Handelns dar-stellen, als es bei der (ergonomischen) Inte-gration bisheriger Techniken in menschli-che Handlungsgefüge der Fall sein kann.

Natürlich eignet sich eine solche Vorge-hensweise bei weitem nicht für jedes tech-nisch zu unterstützende Problem. Dort, wo

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(1) Integration koope-rationsfähiger Agentenin komplexen Organisa-tionen – Möglichkeitenund Grenzen derGestaltung hybrideroffener Systeme

Laufzeit:November 1999–Oktober 2003

Finanzierungsträger:Deutsche Forschungs-gemeischaft, Schwer-punktprogramm»Sozionik«

Kooperationspartner:Prof. Dr. Hans-DieterBurkhard, HU Berlin,Künstliche Intelligenzund Universitätsklini-kum Charité

Ansprechpartner:Prof. Dr. WernerRammertDr. Ingo Schulz-SchaefferTel.: 030/314-7 14 59und 314-2 53 81Fax: 030/314-7 33 01

E-Mail:[email protected]@tu-berlin.de

Internet:www.tu-berlin.de/fb7/soziologie/crew

Projekt

Um 1916 war die Krankenhaustechnik noch erheblich übersichtlicher

RoboSpot: Künstliche LebewesenNicht nur die Technik soll menschli-ches Verhalten simulieren, mittlerweileversucht der Mensch technisches Verhal-ten nachzuempfinden, sogar vorauszuse-hen. Zwar gibt es noch keine selbststän-dig agierende Maschine mit KünstlicherIntelligenz, doch schon interessieren sichForscher dafür, wie man ein solches Gerätsteuern, sein Verhalten vorausberechnenkönnte. Psychologen haben herausgefun-den, dass menschliches Verhalten nichtnur durch bestimmte Reize ausgelöstwird, sondern auch auf Antizipation be-ruht. Der Mensch erwartet eine bestimm-te positive oder negative Konsequenz undrichtet sein Verhalten danach aus. Umge-

kehrt haben jetzt Forscher der Bayeri-schen Julius-Maximilians-UniversitätWürzburg Antizipationsmodelle fürkünstliche Lebewesen entwickelt, die dasVerhalten dieses Wesens, des so genann-ten Animats, beeinflussen. Diese For-schung verspricht neue Erkenntnisse so-wohl für die kognitive Psychologie alsauch für die Forschung auf dem Gebietder Künstlichen Intelligenz. Das Systemsimuliert nicht nur ein künstliches Lebe-wesen, sondern erlaubt sogar Rück-schlüsse auf Denkprozesse und Verhal-tenskontrolle bei Tieren und – in Ansät-zen, so die Forscher, – auch beim Men-schen. (Red.)

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Die Technik handelt mit

der einfachste Weg der technischen Unter-stützung eines Handlungsziels darin be-steht, die »Arbeitsteilung« zwischenMensch und Technik maschinell zu fixie-ren, besteht auch kein Bedarf nach weiterreichenden Möglichkeiten der Koordinati-on zwischen Benutzern und Komponentendes technischen Systems. Vielversprechendist eine hybride Verknüpfung der Aktivitä-ten menschlicher Akteure und technischerAgenten dagegen in Bereichen, in denensich eine solche instrumentelle Relationnicht so einfach herstellen lässt. Entspre-chende Problemfelder existieren beispiels-weise im Bereich der informationstechni-schen Unterstützung komplexer Organisa-

tionen. In aller Regel weisen diese ein be-trächtliches Maß an interner Inkohärenzauf. Hervorgerufen wird diese Passunge-nauigkeit durch die Verschiedenartigkeitder verwendeten Rationalitätsmuster inden einzelnen Abteilungen oder Berufs-gruppen, durch die Inkompatibilität unter-schiedlicher Hardware- und Softwaresyste-me oder durch die Inkonsistenz zwischenlokal und global angestrebten Zielen. Her-kömmliche informationstechnische Syste-me stehen vor einem Dilemma: Entwedersie unterlegen ein wirklichkeitsfernes Ko-härenzmodell. Dadurch werden allerdingsfunktionierende soziale Mechanismen au-ßer Kraft gesetzt, die bislang den Umgang

mit der Inkohärenz innerhalb der Organisa-tion kennzeichneten (Aushandlung, Koali-tionsbildung, strategischer Umgang mitInformation, informelle Kommunikations-kanäle usw.). Oder sie bilden die Inkohä-renzen im System ab, wodurch jedoch seineFunktionstüchtigkeit stark eingeschränktwürde. Einen Ausweg aus diesem Dilemmaverspricht die Einrichtung hybrider Hand-lungszusammenhänge aus menschlichenAkteuren und softwaretechnischen Agen-ten: Der Einsatz der Agententechnologie er-möglicht es, Informationsprozesse zu orga-nisieren, ohne dass zugleich die anfallendenDaten und die bestehenden Handlungsra-tionalitäten homogenisiert werden müssen,was in vielen Fällen unrealistisch ist. An dieStelle der zentral geplanten Dateninfra-struktur tritt der Softwareagent, der einemmenschlichen Akteur, zum Beispiel einerOrganisationsabteilung oder einer Berufs-gruppe, zugeordnet ist, etwa zur Datenbe-schaffung oder für bestimmte Planungs-aufgaben. Stellvertretend für seinen Auf-traggeber interagiert er mit anderen Agen-ten, die jeweils die spezifischen Interessenund Handlungsrationalitäten der ihnen zu-geordneten organisationalen Akteure oderBereiche repräsentieren.

Das Neuartige unseres sozionischenAnsatzes liegt darin, die Maschinen nichtden Technikwissenschaftlern und die Men-schen nicht den Sozialwissenschaftlern alsabgetrennte Untersuchungsgegenständezu überlassen. Was in der sozialen Wirk-lichkeit eng verwoben ist, wird nicht diszip-linär aufgeteilt, sondern wir nehmen vonvornherein eine hybride Perspektive auf so-zio-technische Konstellationen ein. Dabeiuntersuchen wir empirisch, wie viel Hand-lungsfähigkeit (»agency«) in verteilten Ko-operationssystemen jeweils menschlichenAkteuren und technischen Agenten zuge-rechnet werden kann und welche Formender Interaktivität (»interagency«) zwischenMenschen und Objekten Spielräume, Flexi-bilität und Sicherheiten gewähren. Je stär-ker Arbeits- und Kommunikationssituatio-nen mit IuK-Techniken verflochten werdenund je mehr den Geräten und ProgrammenEigenaktivitäten zugebilligt werden, destoangemessener ist die hybride Perspektiveverteilten Handelns für die Erforschungund Gestaltung von sozio-technischen Sys-temen. �

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(2) Routinen und Risi-ken verteilten Handelns– Der OP als Beispielfür hochtechnisierteArbeitssituationen

Laufzeit:Dezember 2000–November 2002

Finanzierungsträger:TU-InterdisziplinärerForschungsschwer-punkt

Kooperationspartner:Prof. Dr. WolfgangFriesdorf, Prof. Dr.Peter Pepper, Prof. Dr.Roland Posner, Prof.Dr. Bernhard Wilpert

Ansprechpartner:Prof. Dr. Werner Ram-mertDipl. Soz. HolgerBraun,CorneliusSchubert, M. A. Tel.: 030/314-7 14 59und 314-2 53 81Fax: 030/314-7 33 01

E-Mail:[email protected]

Internet:www.tu-berlin.de/fb7/soziologie/crew

Projekt RoboSpot: Ohne Urlaub100 000 Helfer an der WerkbankMenschliche Arbeitskraft wird zuneh-mend teurer und ist oft nicht einmal ver-fügbar. Hier springen immer mehr Robo-ter in die Bresche. Sie haben nie Schnup-fen und keinen Urlaubsanspruch. Kleine,mobile Roboter liegen dabei im Trend. In20 bis 30 Jahren werden Roboter – insbe-

sondere als Helfer für ältere oder behin-derte Menschen – in öffentlichen Einrich-tungen und im privaten Bereich weit ver-breitet sein. Im industriellen Alltag sindheute schon mehr als 100 000 Roboter mitmeist langweiligen, schmutzigen undschweren Aufgaben betraut: Sie habenvertikale und horizontale Knickarmsyste-me, sind auf Rollen oder Schienen mon-

tiert und hantieren mit Greifern Werkzeu-ge aller Art. Sie kleben, dichten, schwei-ßen und schneiden, sie montieren und de-montieren, messen und prüfen, überwie-gend im Automobilbau. In den letztenfünf Jahren hat sich der Umsatz imMarktsegment »Robotik und Automati-on« in Deutschland mehr als verdoppelt

und liegt bei rund11,5 MilliardenMark. Für diesesJahr wird mit einemPlus von 15 Prozentgerechnet, knapp12,5 MilliardenMark. Die Roboter-hersteller program-mieren ihre Brancheauch weiter aufWachstum und in-vestieren bis zu 10Prozent ihres Um-satzes in Forschungund Entwicklung,mehr als das Dop-

pelte dessen, was die Mutterbranche Ma-schinenbau in der Regel dafür aufwendet.24.000 Mitarbeiter in rund 500 meist mit-telständischen Unternehmen sorgen fürdie kontinuierliche Steigerung der Erträ-ge. Der Verband Deutscher Maschinen-und Anlagenbau e.V. in Frankfurt(VDMA) geht davon aus, das sich dieserTrend noch fortsetzt. (Red.)

Demontageroboter im PTZ-Versuchsfeld der TU Berlin

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Signale zwischenHimmel und Erde

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Prof. Dr.-Ing. ManfredFricke

Dipl.-Ing.Hans-Gerhard Giesa

Zunächst entwickelte die Forscher-gruppe der TU Berlin zwei bedeut-same Neuerungen mit ihrem Luft-

verkehrsmanagementkonzept:1. An die Stelle des bisherigen Sprechfunks

tritt eine digitale Verbindung (Data Link)zwischen Luftfahrzeug und Flugsiche-rung zum Informationsaustausch. Damitkönnen die Fluglotsen durch neue Assis-tenzsysteme vom Boden aus besser un-terstützt werden. Die übertragenen Infor-mationen werden von computergestütz-ten Systemen direkt weiterverarbeitet.

2. Neben den bisherigen Fluglotsen tritt einneuer Typ von Fluglotse, der Multi-Sek-tor-Planer. Über bestehende Sektorgren-zen hinweg, in die der Luftraum eingeteiltist, handelt dieser bereits im Vorfeld al-ternative Flugrouten aus und verhindertso gefährliche Annäherungen von Luft-fahrzeugen. Diese längerfristige Ent-flechtung der Flugprofile der Luftfahr-zeuge reduziert die Notwendigkeit kurz-fristiger Eingriffe durch die Sektorlotsenund erhöht den Durchsatz der Flugbewe-gungen.

Alle drei Verhandlungspartner in diesem

Konzept – die Cockpit Crew, der Sektorlot-se und der Multi-Sektor-Planer – arbeitenmit leistungsfähigen technischen Syste-men. Neue Assistenzsysteme helfen denLotsen, gefährliche Annäherungen zu er-kennen und Vorschläge zur Konfliktlösungzu liefern.

Der Einsatz von Data Link und Multi-Sektor-Planer in diesem innovativen Luft-verkehrsmanagementkonzept führt zuweitreichenden Änderungen der Tätigkeits-felder aller Beteiligten. Gleichzeitig wächstder Automatisierungsgrad der technischenSysteme. Dies entlastet die Operateure,birgt aber gleichzeitig die Gefahr, dass siezu passiven Beobachtern der Situation wer-den. Der Mensch ist nicht mehr in die Pro-zessabläufe eingebunden, was zur Folge ha-ben kann, dass er in kritischen Situati-onen – zum Beispiel beim Ausfall automa-tisierter Systeme – nicht mehr angemessenreagieren kann. Hochautomatisierte Syste-me können zu einer Beeinträchtigung des»Situationsbewusstseins« (in der Luftfahrtals Situation Awareness bezeichnet) führen.Es ist jedoch eine wesentliche Vorausset-zung für adäquates Handeln. Eine hohe Si-

tuation Awareness bedeutet, dass der Ope-rateur Kenntnis über alle momentanen Sys-temparameter hat, sie versteht und zukünf-tige Systemzustände voraussehen kann.

Umso wichtiger ist es, neue Entwicklun-gen nicht nur am technisch Machbaren zuorientieren, sondern die neuen Anforderun-gen an die Operateure nach humanwissen-schaftlichen Kriterien von Anfang an mit zukonzipieren. Die Forschergruppe nutztehierzu die Möglichkeiten moderner Simula-tionstechnik. Erste Prototypen konnten sounter realitätsnahen Bedingungen erprobtund im Experiment unter kontrollierbarenBedingungen untersucht werden.

Das Simulationssystem

Ein umfassendes Luftverkehr-Simulations-system, das am Institut für Luft- undRaumfahrttechnik der TU Berlin aufge-baut wurde, bildet sowohl die Bord- alsauch die Bodenseite ab. Zur Simulation derBordseite benutzte man den AirbusA 330/340 Full Flight Simulator des Zent-rums für Flugsimulation mit der ange-schlossenen Forschungserweiterung SRF(Scientific Research Facility). Dieser Simu-lator besteht aus einer originalgetreuen Ab-bildung des Cockpits eines Airbus A 330/A 340, in dem alle Abläufe während einesFluges und das Flugverhalten des Airbussehr realitätsnah simuliert werden. Für ex-perimentelle Untersuchungen wird der Si-mulator auf einen »Forschungsmodus«umgeschaltet. Dafür kann man den Bord-computer modifizieren sowie Displays und

Sicherheit im Flugverkehr

Über Sektorengrenzen hinweg

Von Manfred Fricke und Hans-Gerhard Giesa

In der Luft wird es immer enger. Mit dem ständig steigenden Verkehrsaufkommennimmt die Wahrscheinlichkeit gefährlicher Annäherungen von Luftfahrzeugen zu.Um auch bei wachsendem Luftverkehr die Flugzeuge sicher zu separieren, sindneue Konzepte zum Management des Luftverkehrs erforderlich. Mehr als fünf Jah-re lang arbeitete die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte in-terdisziplinäre Forschergruppe »Mensch-Maschine-Interaktion in kooperativenSystemen der Flugsicherung und Flugführung« an einem innovativen Luftverkehrs-managementkonzept und führte zahlreiche Untersuchungen zu den Auswirkun-gen auf die Mensch-Maschine-Interaktion durch.

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Über Sektorengrenzen hinweg

Eingabeschnittstellen im Cockpit anpassen(siehe auch den Artikel »Ohne Gefahr fürMensch und Umwelt«, S. 63).

Das bodenseitige Simulationssystembesteht aus den Arbeitsplätzen für das Sek-torlotsenteam, dem neu entwickelten Ar-beitsplatz für den Multi-Sektor-Planer so-wie einer Verkehrssimulation, die die Dy-namik der Luftfahrzeuge im Luftraum ab-bildet. Die Arbeitsplätze verfügen über ei-nen Radarbildschirm, auf dem alle Luft-fahrzeuge in einem bestimmten Kontrollbe-reich mit Kennung, Flughöhe, Geschwin-digkeit und Richtungsangabe dargestelltwerden. Ein zweiter Bildschirm zeigt beiden Sektorlotsen die Daten der geplantenFlüge an. Beim Multi-Sektor-Planer wer-den auf dem zweiten Bildschirm die Kon-flikte zwischen Luftfahrzeugen angezeigtund Lösungen für diese Konflikte vorge-schlagen, die dann an die Sektorlotsen undPiloten übermittelt werden. Für den Sektor-

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ansprechpartnerProf. Dr.-Ing. ManfredFrickeTechnische UniversitätBerlin,Fakultät V, Verkehrs-und MaschinensystemeInstitut für Luft- undRaumfahrtfachgebietFlugführung und Luft-verkehrkontaktSekr. F 3Marchstr. 1410587 BerlinTel.: 030/314-2 23 62 +-2 24 62Fax: 030/314-2 44 [email protected]://www.ilr.tu-berlin.de

ansprechpartnerDipl.-Ing.Hans-Gerhard GiesaTechnische UniversitätBerlinFakultät V, Verkehrs-und MaschinensystemeInstitut für Psychologieund Arbeitswissen-schaftfachgebietMensch-Maschine-SystemekontaktSekr. J 2-1Jebensstr. 1D-10623 BerlinTel: 030/314-7 95 19Fax: 030/314-7 25 81e-mail:[email protected]:http://www.mms.tu-berlin.de

Datenbank

Neues Luftverkehrsmanagementkonzept aus dem Institut für Luft- und Raumfahrt für mehr Sicherheit

Auch im Cockpit werden Schnittstellen an den Multi-Sektor-Planer angepasst

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Link Kommunikation im Mittelpunkt derUsability-Untersuchungen mit Piloten ver-schiedener Luftfahrtgesellschaften. Dazumussten auch Crew-Prozeduren angepasstwerden. Fluglotsen der Regionalkontroll-stelle Ost (Berlin-Tempelhof) prüften inUsability-Studien den vollständig neu ent-wickelten Arbeitsplatz für den Multi-Sek-tor-Planer sowie die weiterentwickelten Ar-beitsplätze für das Sektorlotsenteam.

Mensch und Maschine imCockpit

An Bord bildete die Verlässlichkeit des Sys-tems »Crew-Cockpit« innerhalb des Multi-Sektor-Planungs-Konzeptes einen Schwer-punkt der Untersuchungen. Zunächst erar-beitete die Forschergruppe eine adäquateMethode für die Verlässlichkeitsbewertung.Unfälle und andere unerwünschte Ereignis-se, als kritische Systemzustände bezeich-net, haben immer viele Ursachen. Dahermüssen individuelle Fehlhandlungen in ih-rer Wechselwirkung mit anderen Einfluss-größen betrachtet werden. Anders als beimingenieurtechnischen Zuverlässigkeitsan-satz erfolgte eine mehrdimensionale Beur-teilung, bei der ein breites Spektrum an Er-hebungsmethoden eingesetzt wurde. Durchdie Analyse von Befragungsdaten (zum Bei-spiel zur Situation Awareness), physiologi-

schen Messungen (zum Bei-spiel Herzschlagfrequenz oderLidschlussfrequenz) und Vi-deoaufzeichnungen (zum Bei-spiel Anforderungs- und Kom-munikationsanalyse) wurdedie Verlässlichkeit desMensch-Maschine-Systemsfür verschiedene Systemva-rianten unter unterschiedli-chen experimentellen Bedin-gungen beurteilt. Diese Unter-suchungen zeigten beispiels-weise, dass Data Link bei denPiloten zwar zu einer subjektivhöheren Beanspruchung füh-ren, während die wahrgenom-mene Souveränität abnimmt,die Veränderungen aber nichtgrößer sind als erhöhte Ar-beitsbelastung bei herkömmli-chem Sprechfunk. Allerdingsänderten sich Kommunikati-

onsstruktur und Aufgabenverteilung zwi-schen den beiden Piloten. Aus dieser Beob-achtung leiten sich Empfehlungen für dieHandlungsprozeduren bei der Verwendungvon Data Link ab.

Die Forschergruppe implementierte inden Flugsimulator neu entwickelte Syste-me, die die umgebenden Flugzeuge darstel-len, und untersuchte sie anschließend. Da-bei zeigte sich, dass verschiedene Anzeige-modi eine hilfreiche Ergänzung darstellen,wenn der Sprechfunk vollständig durchData Link Kommunikation ersetzt wird.Außerdem waren durch die neu entwickel-ten Systeme die Flugsicherungsanweisun-gen für die Piloten besser nachvollziehbar.

Arbeitsplatz der Zukunft fürFluglotsen

Die Arbeiten zur Mensch-Maschine-Inter-aktion am Boden umfassten psychologi-sche Grundlagenforschung und die Erar-beitung von Modellen. Außerdem sollteeine Methode zur Beurteilung der SituationAwareness von Fluglotsen entwickelt wer-den sowie Grundlagen für ein Assistenz-system. Dabei stützen sich alle Arbeiten aufempirische Untersuchungen des Simulati-onssystems mit professionellen Fluglotsen.

Am Institut für Psychologie der TU Ber-lin wird seit Jahren an einem Modell der

Über Sektorengrenzen hinweg

lotsenarbeitsplatz stellte die DeutscheFlugsicherung GmbH (DFS) einen Origi-nalradarbildschirm für die Untersuchun-gen zur Verfügung.

Gebrauchstaugliche Systeme

Bei der Auslegung der Systeme war dieKompatibilität zum gegenwärtigen Standbesonders wichtig. Die Verlässlichkeit eineserprobten, hoch komplexen Mensch-Ma-schine-Systems kann am besten durch einevom aktuellen Stand ausgehende evolutio-näre Entwicklung gewährleistet werden.Neue Funktionalitäten, zunehmende Auto-matisierungsgrade, veränderte Schnittstel-len und Kommunikationsabläufe wurdendaher Schritt für Schritt in das Simulations-system implementiert und einzeln evaluiert.

Die zukünftigen Benutzer wurden vonAnfang an in die Entwicklung und Anpas-sung der technischen Systeme einbezogen,um im gesamten Simulationssystem realis-tische Arbeitsbedingungen gewährleistenzu können. Dazu wurden in mehreren Itera-tionsschritten so genannte Usability-Studi-en durchgeführt, in denen professionelle Pi-loten und Fluglotsen Gebrauchstauglich-keit und insbesondere die Gestaltung derMensch-Maschine-Schnittstellen testetenund bewerteten. An Bord standen die Ein-und Ausgabeschnittstellen für die Data

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Mensch-Maschine-Interaktion in koopera-tiven Systemen derFlugsicherung undFlugführung

Laufzeit:Oktober 1996–Juni 2001

Finanzierungsträger:Deutsche Forschungs-gemeinschaft

Ansprechpartner:Dipl.-Ing.Hans-Gerhard GiesaTel.: 030/314-7 95 19Fax: 030/314-7 25 81

E-Mail:[email protected]

Internet:http://www.mms.tu-berlin.dehttp://www.gp.tu-berlin.de/psy11/Allg_Kognitionspsyhttp://www.awb.tu-berlin.de/http://www.ilr.tu-berlin.dehttp://www.gp.tu-berlin.de/psy11/Allg_Kognitionspsyhttp://www.mms.tu-berlin.de

Projekt

Fluglotsen sollen künftig einen größeren Überblick über den Luftraum bekommen

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Über Sektorengrenzen hinweg

über die Sektorengrenzen hinweg. Mit ei-nem speziellen Computersystem generiertder Multi-Sektor-Planer Konfliktlösungs-vorschläge, die zu reibungslosen Flugver-läufen über mehrere Sektoren im Luftraumführen, und bietet sie den Lotsen an. Damitdie vom Computer generierten Lösungs-vorschläge für die Lotsen plausibel undnachvollziehbar sind, müssen diese zu denStrategien der Fluglotsen passen. Empiri-sche Untersuchungen haben daher wesent-liche Lotsenstrategien zur Konfliktlösungherausgearbeitet. Die gefundenen Parame-ter wie Zielflughafen und vertikale Sektor-grenzen sollen um zusätzliche Flugleis-tungsparameter ergänzt werden, über dieFluglotsen bisher noch nicht unmittelbarverfügen. Beispielsweise ist vorgesehen, dieInformation, ob ein Luftfahrzeug aufgrundseines aktuellen Gewichts auf eine höhereFlughöhe steigen kann, durch den DataLink zwischen Bordcomputer und Flugsi-cherungscomputer automatisch zu übertra-gen. Der Multi-Sektor-Planer kann damitdie Kenntnis über Restflugzeit und Rest-strecke kombinieren und somit eine wirt-schaftliche Lösung errechnen und vor-schlagen. Gegenwärtig wird daran gear-beitet, die Randbedingungen zu systemati-sieren und mit weiteren Optimierungskrite-rien abzugleichen.

Planung für die Zukunft: Euro-control

Diese Simulation eines neuen prototypi-schen Luftverkehrsmanagements wurde ineiner Forschergruppe aus Ingenieurwissen-schaftlern und Humanwissenschaftlernentwickelt. Nur durch die interdisziplinäreHerangehensweise der Forschergruppekonnten verschiedenste Aspekte derMensch-Maschine-Interaktion eingehenduntersucht werden, die in anderen ehertechnologisch orientierten Projekten nichtberücksichtigt wurden. Bei sehr hoher Si-mulationsgüte wurde stets mit professio-nellen Piloten und Lotsen gearbeitet. Dasbedeutet, dass die Ergebnisse ohne weiteresin die Praxis übertragen werden können.Und noch für einen weiteren Punkt ist die-se Tatsache von besonderer Bedeutung:Auch Eurocontrol arbeitet auf der Grundla-ge dieses Rahmenkonzeptes der Multi-Sek-tor-Planung. �

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Fluglotsenleistung (MoFl) gearbeitet, mitdem die Dynamik der kognitiven Aktivitä-ten von Streckenfluglotsen abgebildet wer-den. Dieses Modell wurde als Computer-programm umgesetzt, mit dem die kogniti-ven Prozesse realitätsnah simuliert werdenkönnen. Viele Fluglotsen-Aktivitäten kannman nicht direkt beobachten, weil sie sichnicht in sichtbaren Handlungen zeigen.Vielmehr handelt es sich oft um kognitiveVorgänge, die zum Erkennen und Lösen vonKonflikten notwendig sind. Zur Entwick-lung des Modells führte die Forschergrup-pe zahlreiche experimentelle Untersuchun-gen mit Fluglotsen durch. Anschließendwurde das Modell evaluiert, weiterentwi-ckelt und auf das neue Luftverkehrsmana-gementkonzept angewendet. Auf der Basisvon MoFl konnte man endlich einen Indexfür den kognitiven Arbeitsaufwand bei derKonflikterkennung ermitteln.

Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt wardie Entwicklung einer Methode zur Erfas-sung des Situationsbewusstseins – der Si-tuation Awareness – von Fluglotsen. Soplausibel, wie die bereits dargestellteGrundidee der Situation Awareness ist, soschwierig ist es jedoch, diese zu messen.Methoden zur Erfassung basieren auf derBefragung von Operateuren nach relevan-ten Elementen der Aufgabenumgebung. In

der Flugsicherung sind dies beispielsweisePosition, Flughöhe, Richtung, Geschwin-digkeit und Rufzeichen eines Luftfahrzeu-ges. Je besser die Lotsen diese Parameter re-produzieren können, desto höher stuft manihre Situation Awareness ein. Eine Untersu-chung zeigte, dass die Relevanz der Para-meter nicht immer gleich ist, sondern vonder jeweiligen Situation abhängt. Basierendauf diesen Ergebnissen wurde das neue Ver-fahren SALSA zur Bestimmung der Situati-on Awareness von Fluglotsen entwickelt,das die Relevanz der reproduzierten Para-meter berücksichtigt. Im Simulationsexpe-riment wurde mit dieser Methode unter-sucht, wie sich die Einführung eines Multi-Sektor-Planers auf die Situation Awarenessder Sektorlotsen auswirkt. Dabei zeigtesich, dass Fluglotsen mit der Multi-Sektor-Planung mehr relevante Parameter repro-duzieren konnten, weil die Verringerung

der Konflikte im Sektor Aufmerksamkeits-ressourcen für die relevanten Ereignissefreisetzt.

Der zukünftige Arbeitsplatz des Multi-Sektor-Planers soll mit computergestütztenAssistenzsystemen ausgestattet werden.Ein neu entwickeltes Display gibt Informa-tionen über Planungskonflikte, die Absich-ten einzelner Luftfahrzeuge und die zukünf-tige, weiträumige Verkehrssituation, auch

Bildschirm des Multi-Sektor-Planers am Arbeitsplatz des Fluglotsen

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Bei diesem Projekt haben wir dingli-che und nicht dingliche Einflussgrö-ßen untersucht, die auf das Befin-

den bei Langstreckenflügen einwirken. Umsie zu quantifizieren, brauchten wir ein Mo-dell, denn es sind hunderte, wenn nicht tau-sende Variablen denkbar. Auf den erstenBlick scheint es unmöglich, sie alle zu mes-sen. Und jede Messung unterliegt Mess-fehlern, die durchaus – das ergeben Befra-gungen – in nennenswerte Bereiche gehen.Eine Variable mit großem Messfehler wirdvon den Betroffenen nicht richtig verstan-den und ist eher irrelevant. Es genügt da-her, nur die Variablen zu untersuchen, dieden Messfehlerbereich überschreiten. Diesmacht das Vorhaben übersichtlicher undbeherrschbar.

Was ist eigentlich Befinden im Flug-zeug? Sozialpsychologen verstehen darun-ter eine Einstellung bzw. Bewertung desSelbst in der Situation des Fliegens. Mankann die Einstellung auf einer bipolarenSkala mit den Endpunkten »wie krank«und »rundum wohl« empirisch erfassen.

Die Endpunkte sind so extrem ausgelegt,dass alle Passagiere sich innerhalb der Ska-la einordnen können, was die Vergleichbar-keit der Befragten sichert. Für unsere Ver-suche programmierten wir diese Skala unddas gesamte Interview auf einen Palm TopRechner, der von den Passagieren nach ei-nem Weckruf alle 90 Minuten bedient wur-de. Diese Methode reduziert den Einflussdes Interviewers.

Sozialpsychologen haben empirisch he-rausgefunden, dass Einstellungen wesent-lich von dem Wissen um das bewertete Ob-jekt (hier das Selbst) abhängen. Das Wis-sen besteht aus Kriterien, die einem Passa-gier zur Bewertung des Befindens im Flug-zeug einfallen, zum Beispiel Flugangst, Ser-vice, Sitz, Innenraum, Geräusche und An-deres. Die Forschung zeigte, dass dieseWissenselemente von den Personen eben-falls bewertet werden und dass die Bewer-tungen zur Vorhersage des allgemeinen Be-findens benutzt werden können. Jedes Wis-senselement selbst kann wiederum in se-kundäre Wissenselemente zerlegt werden,

zum Beispiel »Sitz« in Beinfreiheit, Ellbo-genfreiheit, Eignung zum Schlafen u. a.

Die primären Wissenselemente fragtenwir inhaltlich repräsentativ auf mittleremAllgemeinheitsniveau ab, während die se-kundären Wissenselemente nur aus tech-nisch manipulierbaren Variablen bestanden.Diese Aufspaltung gestattet es, das Gewichtvon Einflüssen auf das Befinden zu bestim-men, sowohl auf der primären als auch aufder sekundären Ebene. Mit dem Verfahrenlässt sich vor allem eine Hierarchie für diestatistische Vorhersage des Befindens auf-stellen. Nun konnte man die Einflussgrößenquantitativ bestimmen und bis zu einem be-stimmten Grad die technischen von dennicht technischen Variablen unterscheiden.

Um die Dimensionen der Wissensele-mente abbilden zu können, haben wir eineFaktorenanalyse für die primäre Ebenedurchgeführt. Mit diesen Wahrnehmungs-faktoren beschreiben Personen ihr Befin-den. Sechs solcher Faktoren haben wir ge-funden: sensorische Stimulierung, verunsi-chernde Störungen, Frustriertheit, Service,sozialer Kontakt, Hedonismus. Diese Fak-toren klärten immerhin beachtliche 66 %der Varianz der Daten auf. Der bedeutend-ste Faktor ist die »sensorische Stimulie-rung«. Er enthielt nur Variablen, die das ca-bin design betreffen, nämlich Sitz, Innen-raum, Luft im Flugzeug, Hygiene. DieserBefund kam für uns überraschend undspricht dafür, dass die Flugzeugindustriedas cabin design sehr ernst nehmen muss,um Passagiere vom Komfort eines Flug-zeugs zu überzeugen.

Psychologie des Fliegens

Flugzeuge zum Wohlfühlen

Von Arnold Upmeyer und Jordis Zühlke

Den modernen, fliegenden Menschen interessiert an einem Flugzeug leider nichtnur, wie es gebaut ist. Er ist allen möglichen persönlichen Stimmungen unterwor-fen, die zunächst nichts mit dem Flugzeug zu tun haben, in dem er gerade sitzt.Wie kann man dennoch heute im Voraus bestimmen, ob ein Flugzeug den Passa-gieren gefällt? Das Flugzeug ist ein Mensch-Maschine-System, dessen Vermark-tung wesentlich davon abhängt, wie Ingenieure beim Bau die Faktoren umsetzen,die das Befinden beeinflussen. Im Auftrag eines Flugzeugherstellers untersuchtenPsychologen der TU Berlin, welche Einflüsse auf das Befinden der Passagiere ein-wirken. Denn für die Industrie wäre es schlimm, mit Milliardenaufwand ein Flug-zeug zu konstruieren, das gegenüber vorhandenen Maschinen nur vermeintlicheVerbesserungen bereithält.

Prof. Dr. ArnoldUpmeyer

Jordis Zühlke

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Flugzeuge zum Wohlfühlen

Auch der Verlauf des Befindens war inte-ressant. Wir haben Flugverläufe über 119Personen gemittelt und den Trend des Befin-dens bestimmt. Es zeigte sich, dass die Stim-mung zu Beginn eines typischen Fluges impositiven Bereich liegt, aber relativ rasch aufein neutrales Niveau absinkt. Danach ver-schlechtert sich dasBefinden linear mitgeringem Abfall inden negativen Be-reich hinein. Ergeb-nis: Die Luftfahrtge-sellschaften müssenerreichen, den gutenersten Eindruck auf-rechtzuerhalten be-ziehungsweise denersten starken Abfallzu verhindern.

Flugangst ist eineverbreitete, wennauch nicht dominan-te Reaktion auf dasFliegen. Wir wolltenwissen, ob und inwelchem Maße Flug-angst von wahrge-nommenen Ereignis-sen während des Flu-ges abhängt. Die ge-wonnenen Daten können Hinweise dafürliefern, wie man das Flugzeugdesign ge-stalten muss, um Flugangst zu minimieren.

In unserer Pilotstudie befragten wir 73Personen nach ihren Eindrücken von ihrem

letzten Flug. Die Interviewer waren Teilneh-mer der Lehrveranstaltung »Psychologiefür Ingenieure« an der TU Berlin. DasDurchschnittsalter der Befragten lag bei 29Jahren, die Verteilung der Geschlechter warungefähr gleich, und sie waren im Durch-schnitt vier Mal in den letzten zwölf Mona-ten geflogen.

Die meisten Passagiere hatten sich aufdem Flug wohl gefühlt. Signifikant war je-doch die Verschlechterung der Stimmungbei Start und Landung im Vergleich zurStimmung in der Flugmitte. Eine Erklärunghierfür ist einerseits das Wissen, dass Ab-stürze statistisch eher bei Start und Lan-dung vorkommen. Andererseits ist dieFlugmitte insgesamt ruhiger und gleichmä-ßiger, sodass das Befinden bei Start undLandung mit höherer Wahrscheinlichkeiteingeschränkt ist.

Die Unruhe kann man durch Sinnesein-drücke bestimmen, die während des Flugesauf die Passagiere einwirken. BedeutsameEffekte erzielten die variablen Geräusche,Bewegung, Gerüche und Temperatur.

Die Berechnung von Bezügen zwischen

schen, allgemein mechanischen Geräuschenwie Klappern und Poltern, Turbulenzen, ko-mischen Gerüchen und Temperaturabfallverschlechtert sich mit zunehmender Angst.

Der stärkste Zusammenhang ergab sichbei Windgeräuschen, dann mechanische Ge-räusche, Temperaturabfall, Klappern, Pol-tern und Turbulenzen. Wir hatten Turbulen-zen an erster Stelle erwartet. Dass dies nichtder Fall war, erklärten wir mit der Gewöh-nung an mittlere Turbulenzen im Flug. Tat-sächlich wurden Turbulenzen im Vergleich zuallen anderen erfragten Ereignissen am häu-figsten erlebt. Auch das typische Polternbeim Aus- und Einfahren des Fahrwerks wur-de häufig registriert, ohne das Befinden er-heblich zu beeinträchtigen.

Der interessanteste Befund bezieht sichauf komische Gerüche. Nur jeder siebenteFluggast nimmt sie wahr. Doch dann führtdas zu der negativsten Einschätzung auf derBefindlichkeitsskala. Gerüche werden mitAngst nicht assoziiert. Sollte man bessereGeruchsfilter einbauen, Gerüche besserdurch Aroma maskieren oder sie durch Aus-wahl geeigneten Materials gar nicht erst auf-

kommen lassen? Er-fahrene Flugzeugent-wickler wissen umdiese Einflüsse, aberhier geht es um denempirischen Nach-weis für das subjekti-ve Erleben – nicht umvage Vermutungen.

Einige Befunde inder Psychologie le-gen nahe, dass dieReizung der Sinnes-organe dann als unsi-cher und angsterzeu-gend erlebt wird,wenn die betroffenePerson die Ursachedieser Stimulansnicht oder nur unge-nügend erkennt.Windgeräusche, me-chanische Geräu-sche, Temperaturab-

fall und Klappern können leicht als uner-klärbare Ereignisse angesehen werden. Un-sere Studie zeigte, dass sie die meiste Angsterzeugen und gleichzeitig am wenigsten er-wartet werden. �

tu berlin forschung aktuell 1/2001 mensch und maschine59

ansprechpartnerProf. Dr. ArnoldUpmeyerJordis ZühlkeTechnische UniversitätBerlinFakultät V, Verkehrs-und MaschinensystemeInstitut für Psychologieund Arbeitswissen-schaftfachgebietSozialpsychologie undPädagogische Psycho-logieforschungs-schwerpunkteMensch-Maschine-In-teraktion (MMI), Com-puterunterstütztes bzw.Multimediales Lernen,Medienpsychologie,Kognitive Entwick-lungspsychologiekontaktSekr. FS 1Franklinstr. 5–710587 BerlinTel.: 030/314-2 51 85Fax: 030/314-2 52 [email protected]@gp.tu-berlin.de

Datenbank

Befinden von Passagie-ren an Bord von Ver-kehrsflugzeugen

Laufzeit:Mai 2000–April 2001

Finanzierungsträger:Daimler Chrysler AG

Ansprechpartner:Prof. Dr. ArnoldUpmeyerJordis Zühlke

Projekt

RoboSpotIm Flugzeug tränen die Augenbesonders leicht in der First Class. Dadie Passagiere dort nicht so eng sitzen,feuchten sie die Luft beim Ausatmenauch nicht so stark an. In zehn Kilome-ter Flughöhe ist die Außenluft bei 52Grad unter Null sehr trocken. Sie wirdzwar angewärmt, bevor sie in die Kabi-ne geleitet wird. Doch sie per Klimaan-lage auch noch anzufeuchten wäre prob-lematisch. Ein Jumbojet müsste zusätz-lich eine Tonne Wasser mitführen, umeinen spürbaren Effekt zu erzielen.

(Red.)

Befinden und Flugangst wies nach: Sinnes-eindrücke sind für die Flugangst bedeutsam.Alle signifikanten Korrelationen waren er-wartungsgemäß negativ, das heißt das Befin-den bei der Wahrnehmung von Windgeräu-

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Es gibt drei Kategorien von Evakuie-rungssituationen: Evakuierungen imRahmen von Entwicklungs-Tests,

bei Zulassungs-Demonstrationen und beirealen Unfällen. Wir analysierten eine Eva-kuierung über Notrutschen (slides) imRahmen der Flugzeugentwicklung (deve-lopment tests).

Dafür war eine Kombination von empi-rischer Untersuchung und theoretischerAnalyse notwendig. Zum einen musstenwir Tests mit realen Personen unter ver-schiedenen Bedingungen, doch mit mini-malem Verletzungsrisiko durchführen, wasnatürlich hohen Zeitdruck verbot. Zum an-deren mussten Daten und Berichte aus frü-heren Studien (zum Beispiel Muir, 1996)und über reale Unfallevakuierungen ausge-wertet werden. Für das Test-Design, die In-terpretation sowie die notwendige Genera-lisierung der Testdaten mussten außerdemErkenntnisse aus Psychologie, Ergonomieund Human Factors herangezogen werden.In jeder Hinsicht Neuland: Erstens war die-ser Flugzeugtyp neu, zweitens gab es bisherkeine Tests mit Notrutschen. Für die Aufga-benstellung legten wir folgende Fragen fest:

1. Welche Wirkungen haben Höhe und De-sign der Notfallrutsche auf das Verhaltenvon Passagieren bei einer Evakuierung?

2. Welcher Zusammenhang besteht zwi-schen physischen und mentalen Disposi-tionen von Passagieren und ihrem Ver-halten bei einer Evakuierung?

Das psychologische Modell

Für diese Aufgabe entwickelten wir ein all-gemeines Modell der Befindlichkeit unddes Verhaltens von Personen bei einer Eva-kuierung über Notrutschen, aus dem wirdie Testbedingungen ableiteten. Zwei Fak-toren-Gruppen beeinflussen hier Befind-lichkeit und Verhalten: 1. situational fac-tors: configurational factors (Beispiel Rut-schen-Design), environmental factors (Bei-spiel Helligkeit), procedural factors (z. B.Sicherheitsinstruktionen) und social fac-tors (Beispiel Verhalten anderer). 2. disposi-tional factors: mental factors (Beispiel Hö-henangst) oder physical factors (BeispielLebensalter). Diese Faktoren können unter-schiedliche Aspekte der Befindlichkeit vonTestpersonen in unterschiedlicher Weise be-

einflussen: cognitive reactions (Beispiel Ri-sikoeinschätzung), emotional reactions(Beispiel Angst) und physiological reacti-ons (Beispiel Pulsfrequenz). Die kogniti-ven, emotionalen und physiologischen Re-aktionen der Testpersonen bilden die Basisfür das Verhalten vor, während und nachder Evakuierung, insbesondere für das Ver-halten am Exit: performance (Beispiel Zö-gern in der Tür). Aus dem Verhalten derTestpersonen schließlich resultiert der Aus-gang der Evakuierung, der evac outcome,das ist die Gesamtzeit der Evakuierung unddie Verletzungshäufigkeit bzw. -schwere. InVorversuchen prüften wir, wie sich Rut-schendesign und -höhe (configurationalfactors) sowie Höhenangst (mental factor)und physische Fitness (physical factor) aufdie kognitiven und emotionalen Reaktionender Testpersonen und auf ihr Verhalten aus-wirken. Darüber soll hier berichtet werden.

Versuche an Bord undauf dem Boden

Die Versuche konnten wir im »Megali-ner«, dem Versuchsstand der HamburgerDASA durchführen. Dieses 12 Meter langeRumpfsegment hat drei verstellbare Decksund 42 Sitze und wird für Tests von Kabi-nensystemen und -ausstattungselementenebenso verwendet wie für Evakuierungs-versuche von verschiedenen Decks. Wirführten hier Versuche mit Gruppen vonTestpersonen bei einer main deck und einerupper deck Evakuierung unter verschiede-nen Versuchsbedingungen durch. Befind-

Flugzeugevakuierung

Gut gerutscht ist fast gerettet

Von Helmut Jungermann, Katrin Fischer, Lisa Behrendt und Boris Gauss

Wenn das Flugzeug auf der Nase liegt, wird es ernst. Innerhalb von 90 Sekunden,so schreibt es die international geltende Regelung JAR 25.803 vor, muss die gesam-te Maschine evakuiert sein. Doch es ist nicht jedermanns Sache, aus acht oder garelf Meter Höhe beherzt in die Tiefe zu springen, auch nicht über eine Rutsche. Die-se Höhe hat die zweite Etage,das upper deck, des neuen Großraumflugzeuges A380von Airbus Industries. Es ist 24,1 Meter hoch, 73 Meter lang, hat eine Spannweitevon 79,8 Metern und kann etwa 550 Passagiere 14 200 Kilometer weit transportie-ren. Wissenschaftler der TU Berlin untersuchten psychologische Effekte der upper-deck-Höhe auf das Verhalten der Passagiere.

Prof. Dr. HelmutJungermann

Dr. phil. Katrin Fischer

Dipl.-Psych. LisaBehrendt

Dipl.-Psych. BorisGauss

60tu berlin forschung aktuell 1/2001 mensch und maschine

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Gut gerutscht ist fast gerettet

lichkeit und Verhalten der Testpersonenhielten wir auf Fragebögen und im Filmfest.

Mit den Vorversuchen entwickelten wireine neue Untersuchungsmethodik, umaussagekräftige Daten zu gewinnen. Da derA380 sich in vielfacher Hinsicht von bishe-rigen Flugzeugtypen unterscheidet, warenauch die Untersuchungsbedingungen und -notwendigkeiten in jeder Hinsicht neuartig.Auch gab es bislang zur Erfassung der Be-findlichkeit vor, während und nach einemEvakuierungstest keine Verfahren, auf dieman hätte zurückgreifen können. Der ersteFragebogen hielt mögliche bedeutsamementale Dispositionen zu höhenbezogenerÄngstlichkeit (z. B. Flugangst, Höhen-angst, Risikoeinstellung) fest. Der zweiteerfasste die aktuelle Befindlichkeit (z. B.Angst, Kontrollverlust) vor der Evakuie-rung in der Kabine sowie nachher am Bo-den. Auf dem dritten Bogen wurden Rut-schen und Evakuierungsablauf beurteilt.

Mehrere Video-Kameras nahmen denTestdurchgang vom Exit bis zum Bodenauf. Sie dokumentierten das Verhalten dereinzelnen Testpersonen aus unterschiedli-chen Perspektiven und mit unterschiedli-cher Fokussierung. Die Filme wurden an-hand eines ebenfalls neu entwickelten Ver-haltensanalyse-Schemas ausgewertet.

Mit konventionellen sechs und acht Me-ter langen main- und upper-deck-Rutschenwurde der Einfluss der Rutschenhöhe (deckheight) geprüft. Beim Vergleich der Evaku-ierungsergebnisse von beiden Decks ist na-türlich interessant, ob es beispielsweise amExit des upper deck häufiger zu zögerli-chem oder falschem Verhalten kommt alsam Exit des niedrigeren main deck. DerEinfluss des Rutschen-Design (slide de-sign) wurde mit zwei neu entwickelten Rut-schen geprüft, von denen die eine etwas ge-krümmt und die andere gerade verläuft.

Auf die Rutsche, fertig, los

Als Testpersonen standen uns Angestellteder DASA freiwillig zur Verfügung. Die Al-ters- und Geschlechtsverteilung entsprachin etwa den Richtlinien der JAR 25.803, wiesie für Zulassungstests gefordert wird. JederVersuchsdurchgang bestand aus vier Pha-sen: In Phase I füllten die Testpersonen nocham Boden die Fragebögen zu ihrer physi-schen Fitness sowie der höhenbezogenenÄngstlichkeit aus. In Phase II nahmen sie inder Kabine des Megaliner Platz, erhieltenein kurzes Briefing durch einen »Flugbeglei-ter« und beantworteten dann Fragen zu ihrermomentanen emotionalen Befindlichkeit. InPhase III wurden sie angewiesen, auf das Er-

tönen eines Evakuierungssignals hin die Ka-bine so schnell wie möglich über die Notrut-sche zu verlassen. In Phase IV erfolgte un-mittelbar im Anschluss an das Rutschennoch einmal eine Befragung.

Auf die Höhe kommt es an

• Die Zeit, die die Testpersonen am Exitzögerten, ehe sie in die Rutsche spran-gen, war auf dem upper deck länger alsauf dem main deck, was für einen Effektder Rutschenhöhe spricht.

• Physische Fitness wirkte sich stärkerbeim Springen vom upper deck aus alsbeim Springen vom main deck.

• Frauen über fünfzig Jahre zögerten aufbeiden Ebenen am längsten vor demSprung.

• Das Design der Rutsche hatte keinen Ein-fluss auf Befindlichkeit und Verhalten.

• Testpersonen mit größerer höhenbezoge-ner Ängstlichkeit reagierten am stärks-ten mit Angst.

• Längeres Zögern am Exit war meist aufmissverständliches oder unklares Ver-halten des »Flugbegleiters« am Exit zu-rückzuführen, nur in wenigen Fällen aufAngst.

• Etwa 8 Prozent der Testpersonen zeigtenkritisches, d. h. die Evakuierung poten-

tu berlin forschung aktuell 1/2001 mensch und maschine61

ansprechpartnerProf. Dr. HelmutJungermannDr. phil. Katrin FischerDipl.-Psych. LisaBehrendtDipl.-Psych. BorisGaussTechnische UniversitätBerlin, Fakultät V, Ver-kehrs- und Maschinen-systemeInstitut für Psychologieund Arbeitswissen-schaftfachgebietAllgemeinePsychologieforschungs-schwerpunkteEntscheidungstheorieund -beratung, Risiko-wahrnehmung und-kommunikation,Behavioral Finance,Human Factors Flug/BahnkontaktSekr. FS 1Franklinstr. 5–710587 BerlinTel.: 030/314-2 46 71oder -2 52 90Fax: 030/314-2 50 [email protected]://www.gp.tu-berlin.de/users/j/helmut_jungermann/

Datenbank

Rutschen für die Wissenschaft: Evakuierung von beiden Decks des Airbus innerhalb von 90 Sekunden

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Gut gerutscht ist fast gerettet

ziell störendes Verhalten. Am häufigstenzögerten sie vor dem Sprung in die Rut-sche (6,8 Prozent). Kritisches Verhaltenwar auf dem upper deck häufiger als aufdem main deck (9,5 Prozent vs. 5 Pro-zent). Dieser Unterschied war statistischnicht signifikant.

Bei der Interpretation dieser Daten mussman annehmen, dass die Testpersonennicht besonders ängstlich sind. In realenEvakuierungssituationen ist damit zurechnen, dass der Anteil ängstlicher Per-sonen weit höher ist und zudem die In-struktionen durch Flugbegleiter nochleichter missverstanden werden können.Daher wurde im Rahmen des Projektesein Video zum passenger safety briefingentwickelt, das Passagiere vor einer Eva-kuierung auf dem Monitor an ihrem Sitzsehen können. Darin wird ihnen der (vonden meisten Passagieren noch nie in ihremLeben ausgeführte!) Bewegungsablaufund das optimale Verhalten bei einer Eva-kuierung über Notrutschen in slow motionund mit kurzen, klaren Instruktionen ge-zeigt, was sie auf den Evakuierungsablaufmental vorbereitet und ihre Ängstlichkeitverringern soll. Gleichzeitig wird damitdie Instruktion standardisiert, die gegebe-nenfalls eine verbale Instruktion durchFlugbegleiter ersetzt. Es ist geplant, dieWirksamkeit dieses Instruktionsvideos inweiteren Untersuchungen zu überprüfen,eventuell in Zusammenarbeit mit Flugge-sellschaften.Das Projekt ist ein Beitrag zur Optimie-rung der Sicherheit der Passagiere im

A380. In unseren Vorversuchen entwickel-ten wir ein Methoden-Instrumentariumfür die nunmehr erforderlichen Hauptver-suche. Damit gewonnene Daten gebenAufschluss über das bei einem Zulas-sungstest für den A380 zu erwartende Eva-kuierungsverhalten. Außerdem liefern siewertvollen Input für Programme zur Simu-lation von Flugzeug-Evakuierungen, wiesie seit einigen Jahren in Großbritannienentwickelt werden (Galea, Owen & Law-rence, 1996).

Wo entstehen warum Verzögerungen?

Eine besondere Rolle spielt der Zeitdruck.Die Sicherheit der Testpersonen hat Priori-tät, daher kann der Zeitdruck einer realenEvakuierung nur unzureichend simuliertwerden. Mit empirisch gewonnenen Datenkönnte eine Simulation auf dem Rechnerbessere Möglichkeiten bieten. Versuche wiedie in diesem Projekt beschriebenen zielendaher auch weniger auf eine Bestimmungoder Hochrechnung von Evakuierungszei-ten ab als auf die Identifikation von kriti-schen bzw. verbesserungsfähigen Fakto-ren.

Eine Erkenntnis aus unseren Versuchenwar, dass zwei Aspekten bei der Evakuie-rung mehr Aufmerksamkeit als bisher ge-bührt:

• Kabine: Angst vor einer Evakuierungüber Notrutschen könnte sich mehr inder Kabine als am Exit auswirken. AmExit befindet sich der Passagier in einerKette oder einem Gedränge mit Ande-

ren, dort kann er kaum zögern. In derKabine dagegen kann ein ängstlicherPassagier durchaus nach dem Evakuie-rungssignal zögern, indem er beispiels-weise erst einmal sitzen bleibt oder imGang anderen Passagieren den Vortritt(bzw. Vor-Sprung) lässt. Zeitverzöge-rung hätte ihren Ursprung also im Ver-halten in der Kabine, ihr wäre auch dort(und nicht am Exit) entgegenzuwirken.Ein Instruktionsvideo, könnte vielleichtzur Vorbereitung und Beruhigung bei-tragen.

• Boden: Eine Verzögerung am Exit kannauch durch die Situation am Ende derRutsche verursacht werden: Wenn Pas-sagiere die Rutsche am Boden nichtschnell genug verlassen bzw. verlassenkönnen und Passagiere am Exit diese Si-tuation wahrnehmen. Um nicht in diePersonen am Rutschenende hineinzurut-schen, was mit einer erheblichen Verlet-zungsgefahr verbunden ist, wartet derPassagier am Exit. Das Verhalten amBoden und Möglichkeiten der schnellenEntfernung von Personen vom Rutsche-nende sollten in künftige Untersuchun-gen miteinbezogen werden. �

LiteraturGalea, E. R., Owen, M. & Lawrence, P.

(1996). The role of evacuation modelingin the development of safer air travel. Pa-per presented at PEP 88 th Meeting onAircraft Fire Safety, Dresden/Germany.

Jungermann, H. (2000). A psychologicalmodel of emergency evacuation fromdouble-deck aircraft. Paper presented atthe 5 th Australian Avation PsychologySymposium, November 20–24, 2000,Manly/Sydney.

Jungermann, H. & Göhlert, Ch. (2000).Emergency evacuation from double-deck aircraft. In: M. P. Cottam, D. W.Harvey, R. P. Pape & J. Tait (eds.), Fore-sight and precaution. Proceedings of ES-REL 2000, SARS and SRA Europe An-nual Conference, Edinburgh, 15–17May 2000. Vol. 2. Rotterdam: A. A. Bal-kema. pp. 989–992.

Muir, H. (1996). Research into the factorsinfluencing survival in aircrafts acci-dents. The Aeronautic Journal of theRoyal Aeronautical Society, May 1996,pp. 177–181.

62tu berlin forschung aktuell 1/2001 mensch und maschine

(1) Probleme derEvakuierung vonGroßraumflugzeugen(2) Messung derRisikobereitschaft vonPrivatanlegern(3) Organisation derKommunikation überGesundheits- undUmweltrisiken

Finanzierungsträger:DASA/AirbusIndustriesDeutsche Forschungs-gemeinschaftDeutsche Forschungs-gemeinschaft Graduier-tenkolleg

Kooperationspartner:Akademie für Technik-folgenabschätzung desLandes Baden-WürttembergInstitut für Volkswirt-schaft, ETH Zürich

Ansprechpartner:Prof. Dr. HelmutJungermannSekr. FS 1Franklinstr. 5–710587 BerlinTel.: 030/314-2 46 71oder -25290Fax: 030/314-2 50 42

E-Mail:[email protected]

Internet:http://www.gp.tu-berlin.de/users/j/helmut_jungermann/

Projekte

So soll der neue Airbus 380 aussehen (Computeranimation)

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Seit 1993 betreibt das Zentrum fürFlugsimulation Berlin GmbH (ZFB)einen Airbus A330/340 Full Flight Si-

mulator, dessen Nutzung erfolgreich übereinen Kooperationsvertrag mit der TU Ber-lin realisiert wird, denn neben dem Piloten-training ist der erste Geschäftszweck des

ZFB die Förderung von Forschung undLehre. Die TU Berlin führt dort For-schungsprojekte und Lehrveranstaltungendurch.

Mittlerweile gibt es eine Vielzahl vonKooperationen mit nationalen und inter-nationalen Partnern, wie dem Deutschen

Zentrum für Luft- und Raumfahrt, EADS-Hamburg und dem Eurocontrol Experi-mental Centre Paris, um nur einige zunennen. Doch wie muss man sich nundie Forschung an einem Simulator vorstel-len?

Simuliert wird das gesamte Arbeitsum-feld des Piloten. Für die Interaktion des Pi-loten mit dem Flugzeug steht ein Original-Airbus A330/340 Cockpit zur Verfügung.Es ist über ein Netzwerk mit dem Simulati-onshauptrechner (Host) und anderenComputern verbunden. Die Außensichtbesteht aus einer 3D-Computeranimation,die auch meteorologische Effekte simuliert.Ein Motion-System reproduziert die Bewe-gung des Flugzeuges am Boden und in derLuft. Alle nicht vorhandenen Teile desFlugzeuges, z. B. die Triebwerke, Tragflä-chen und Hydrauliksysteme, bildet derHost als Software nach. Er verwaltet alleglobalen Daten der Simulation und aktua-lisiert diese ca. 90.000 Parameter mit bis zu60Hz.

Viele der im echten Flugzeug vorhande-nen Computer wie der Autopilot finden sichim Simulator als Originalgerät wieder undsind in das Netzwerk integriert. In dieserForm ist der Simulator für Entwicklungsar-beit nicht nutzbar, da er wie ein echtes Flug-zeug vom Luftfahrtbundesamt (LBA) zuge-lassen werden muss (Training-Mode). JedeÄnderung des Simulators, ob an Hard- oderSoftware, würde diese Zulassung zerstö-ren. Was also tun?

Das Zentrum für Flugsimulation Berlinbietet deshalb mehr als nur einen Simula-

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Zentrum für Flugsimulation Berlin

Ohne Gefahr für Mensch und Umwelt

Von Gerhard Hüttig und Oliver Lehmann

Anflug auf Hongkong bei Nacht. Turbulenzen sind deutlich spürbar. Das stürmi-sche,diesige Wetter fordert im Cockpit hohe Konzentration von den Piloten. Regenbehindert die freie Sicht. Die Realität muss geübt werden. Jährlich 500 Simulator-stunden stehen der TU Berlin im Airbus A330/340 Full Flight Simulator,der auch fürPilotentraining genutzt wird,zur Verfügung. Denn für die Entwicklung und Verbes-serung komplexer Systeme sind möglichst »reale« Simulationen nicht mehr weg-zudenken. Gerade an den Mensch-Maschine-Schnittstellen werden wichtige Er-kenntnisse über die Qualität einer Entwicklung nur durch genaue Simulationen ge-wonnen. Erst das Zusammenspiel einzelner Komponenten und Randbedingungengibt Aufschluss über die Stärken und Schwächen eines Systems.

Prof. Dr.-Ing. GerhardHüttig

Dipl.-Ing. OliverLehmann

Im Airbus-Flugsimulator heben TU-Wissenschaftler virtuell nach Hongkong ab

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Ohne Gefahr für Mensch und Umwelt

tor. An den Simulator angeschlossen ist dieScientific Research Facility (SRF), eine Ein-heit, die Entwicklungsarbeit überhaupt erst

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ansprechpartnerProf. Dr.-Ing. GerhardHüttigDipl.-Ing. OliverLehmannTechnische UniversitätBerlinFakultät V, Verkehrs-und Maschinensyste-me, Institut für Luft-und RaumfahrtfachgebietFlugführung und Luft-verkehrforschungs-schwerpunkteEntwicklung, Integra-tion und Bewertungneuer Mensch-Maschi-ne-Schnittstellen im Be-reich der ModernenFlugführung (Bord-und Bodenseite), DataLink, Multi Sektor Pla-nung innerhalb derFlugsicherung, Airbor-ne Separation Assuran-ce System, ModifizierteAnflugverfahren fürautonome Luftfahrzeu-ge, Arbeitswissen-schaftliche Untersu-chungen im modernenCockpit, Blickbewe-gungsmessungkontaktSekr. F3Marchstr.12D-10587 BerlinTel.: 030/314-2 24 62Fax: 030/314 2 44 [email protected]@[email protected]://www.ilr.tu-berlin.dehttp://www.zfb-berlin.de

Datenbank

Airbus-Flugsimulator in Berlin

möglich macht. Sie besitzt einen identi-schen Host und die gleiche Software, ist je-doch nicht vom LBA zugelassen. Dadurchkönnen jetzt Änderungen an den Systemenvorgenommen und Neuentwicklungen in-tegriert werden. Zusätzlich sind an der SRFalle relevanten Komponenten wie zum Bei-spiel der Autopilot des A330 als Softwarerealisiert.

Ein integriertes Entwicklungssystem fürzukünftige Anzeigesysteme in modernenCockpits ist ein weiterer Schwerpunkt derScientific Research Facility. Im Research-Mode können Forschungsdisplays in dasCockpit eingerüstet werden, um neu entwi-ckelte Anzeigen mit Piloten zu testen. Um-fangreiche Möglichkeiten der Datenauf-zeichnung stellen eine exakte Bewertungdieser neuen Anzeigesysteme sicher. Inter-

disziplinäre Kooperationen innerhalb derTechnischen Universität Berlin, zum Bei-spiel mit dem Zentrum Mensch-Maschine-Systeme haben hier wichtige Erkenntnisseerbracht. Ein reger Austausch, auch im Zu-sammenhang mit weiteren Projekten be-steht mit mehreren Instituten und Unter-nehmen des europäischen Auslands.

Für erste Tests und einfache Entwick-lungsarbeit lässt sich die Scientific Re-search Facility auch als Stand-Alone, dasheißt ohne Cockpit betreiben. Parallel dazukann unbeeinflusst Pilotentraining statt-finden. Für Versuche mit Piloten wird dieEinheit dann mit dem Cockpit verbunden.Jetzt lassen sich die zuvor integrierten Än-derungen im Simulator testen. Und nicht zuvergessen: Das Ganze verläuft ohne Gefahrfür Piloten und Umwelt. �

RoboSpot: MARVIN als Retter für Drei-D-Jobs

Dull, dirty, dangerous – langwei-lig, schmutzig, gefährlich. Dieso genannten Drei-D-Jobs sind

MARVIN die liebsten, denn MARVINlangweilt sich nie, Schmutz stört ihn nichtund er kennt keine Angst.

MARVIN ist ein Flugroboter. Sein voll-ständiger Name ist »Multi-purpose Ae-rial Robot Vehicle with Intelligent Navi-gation«. Entwickelt von TU-Studieren-den aus Informatik, Technischer Infor-matik, Elektrotechnik und Physik kannMARVIN ein wertvoller Helfer sein beiBrandkatastrophen, Chemie-Unfällen,aber auch bei Filmaufnahmen oder Ar-chitekturdokumentationen. MARVINweicht lodernden Flammen aus, umrun-det aufragende Trümmerteile und sendetFotos dessen, was er »sieht«. Und das al-les nicht etwa ferngesteuert, sondern völ-lig selbstständig. Dafür ist er mit Radar-system, Ultraschallsensoren, Feuermel-der und Digitalkamera ausgerüstet. EinKatastrophenhelfer aus Metall, eine in-telligente Maschine? Die Antwort auf dieFrage, über die sich Wissenschaftler denKopf zerbrechen, ist MARVIN egal. Dertischgroße Roboter fliegt in internatio-nalen Wettbewerben von Sieg zu Siegund seine Einsatzmöglichkeiten sindlängst noch nicht ausgeschöpft. Gegen-über großen Helikoptern hat MARVINzudem einen erheblichen Größen- undPreisvorteil.

(Red.)http://pdv.cs.tu-berlin.de/MARVIN

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Die Schuldfrage –Mensch oder Maschine

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Ist der Mensch eine unvermeidbareSchwachstelle in großtechnischen Sys-temen? Gleich ob Zugunglücke wie in

Eschede, Flugzeugunglücke wie auf Tene-riffa oder gekenterte Fähren wie die »He-rald of Free Enterprise«, immer kommt esim Nachhinein zu ersten Schuldzuschrei-bungen an die direkt beteiligten Personen:Lokführer, Piloten oder Kapitäne. Häufigwird angenommen, dass eingegangene Ri-siken oder Verletzungen von Vorschriftendie Ursachen von Unfällen sind. So ent-steht der Eindruck, dass der Mensch beimArbeiten in Hochtechnologien einen Risi-kofaktor darstellt, weil er Fehler macht.Unfalluntersuchungen von Fachleuten zei-gen jedoch, dass das Verhalten von beteilig-ten Personen in der Regel kaum jemals diealleinige Unfallursache ist. Nur das Zu-sammenspiel von vielen Faktoren führt zueinem Unfall: menschliches (Fehl-)Verhal-ten, organisationale Faktoren wie etwa in-adäquate Kontrollprinzipien, Probleme imRegelwerk oder der Arbeitsplanung undtechnische Faktoren. Häufig tragen auchFaktoren außerhalb der Organisation wieBehördenverhalten, Fehlentscheidungenvon Gutachtern oder Wetterbedingungen

zum Unfallgeschehen bei. Deshalb sindsämtliche Einrichtungen mit hohem Ge-fährdungspotenzial heute so ausgelegt,dass Einzelhandlungen direkt beteiligterOperateure nie allein zu einem katastropha-len Systemzusammenbruch führen können.Gestaffelte technische Barrieren wie Re-dundanzen (»defence in depth«) oder orga-nisationale Barrieren wie das Vier-Augen-Prinzip sind heute gebräuchliche Maßnah-men.

Und welche Konsequenzen hätte es,wenn wir auf den »Risikofaktor Mensch«verzichteten? Sollten Flugzeuge ohne Pilo-ten fliegen, Kernkraftwerke ohne Kontroll-raumpersonal arbeiten? Dieser Gedanke istabsurd. Schließlich ist es gerade derMensch, der unvorhergesehene Situationenmeistern muss. Es sind menschliche Fähig-keiten wie komplexes Problemlösen und re-aktionsschnelles Handeln, die kritische Si-tuationen retten.

Die Rolle der Psychologie in denSicherheitswissenschaften

Große Unfälle wie Tschernobyl und die Zu-nahme von großtechnischen Systemen mit

hohem Gefährdungspotenzial (»high ha-zard organizations«) wie Kernkraftwerkeoder chemische Anlagen sowie neuere Ent-wicklungen wie die Gentechnik erzwangeninternational eine konsequente Wende derSicherheitswissenschaften. Im Vorder-grund standen dabei die Ausweitung des Si-cherheitsdenkens und die interdisziplinäreKooperation von Psychologie, Ingenieur-wissenschaften, Soziologie, Politologie,Versicherungswesen und Jurisprudenz. InsZentrum wissenschaftlicher Betrachtun-gen tritt auch immer mehr der menschlicheBeitrag zu Sicherheit und Zuverlässigkeit.Zum unverzichtbaren Partner in der Sicher-heitsforschung wird dadurch die Psycholo-gie als Wissenschaft. Denn gerade sie be-schäftigt sich mit den Fähigkeiten, demLeistungsvermögen und dem Verhalten desMenschen.

Theoretische Grundlagen

Die Sicherheitsforschung steht heute unterdem Motto: Weg vom Risikofaktor »einzel-ner Mensch«. Beiträge von Organisation,Management und inter-organisationalenVerflechtungen müssen stärker Berück-sichtigung finden. Wir unterscheiden viersich überlappende Phasen der Sicherheits-forschung, die mit der wachsenden Kom-plexität der Technologie korrespondieren.In der ersten Phase wird das größte Sicher-heitsproblem in der Technik gesehen undAnstrengungen zur Erhöhung der Sicher-heit zeigen sich überwiegend in techni-schen Verbesserungen. In der darauffol-

Sicherheit in grosstechnischen Systemen

Ist der Mensch ein Risikofaktor?

Von Bernhard Wilpert und Babette Fahlbruch

Die rapide voranschreitende technische Entwicklung lässt Aspekte der Sicherheit undZuverlässigkeit sowohl für die Organisation als auch für ihre Umwelt immer wichti-ger werden.Gerade bei Einrichtungen der Großindustrie mit hohem Gefährdungspo-tenzial ist es daher unerlässlich, die klassische Perspektive der Arbeitssicherheit –Unfallvermeidung für die Mitarbeiter – auf die der Systemsicherheit auszuweiten.Zum unverzichtbaren Partner in der Forschung wird dabei die Psychologie als Wissen-schaft. Denn mittlerweile ist erkannt, dass das Verhalten des Menschen einen we-sentlichen Faktor der Sicherheit und Zuverlässigkeit des gesamten Systems bildet.

Dr. Babette Fahlbruch

Prof. Dr. Dr. h.c.Bernhard Wilpert

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Ist der Mensch ein Risikofaktor?

genden Phase wird der Mensch als dieHauptfehlerquelle angenommen und Maß-nahmen wie Training oder Personalaus-wahl zielen auf die Reduzierung von Feh-lern des Personals. In der dritten, der sozio-technischen Phase, erweitert sich dasBlickfeld auf die gesamte Organisation.Hier werden die Interaktionen des techni-schen und sozialen Subsystems als poten-zielle Sicherheitsgefährdungen betrachtet.Verbesserungen zielen vor allem auf dieOptimierung dieser Interaktionen. Diejüngste Phase wurde durch Untersuchun-gen von katastrophalen Unfällen, wiebeispielsweise das Sinken der Fäh-re »Herald of Free Enterprise«oder den Reaktorunfall inTschernobyl eingeleitet.Diese Untersuchungenzeigten, dass auch Insti-tutionen oder Organisa-tionen außerhalb derBetreiberorganisationan der Entstehung derUnfälle beteiligt waren.In der Phase der interorga-nisationalen Beziehungenzieht man daher auch falsch funk-tionierende Beziehungen zwischenOrganisationen als Gefährdung für die Si-cherheit in Betracht.

Der menschliche Fehler (»human error«)ist so, in einem erweiterten Verständnis,zum menschlichen Faktor (»human factor«)geworden. Ein Beispiel für das erweiterteHuman-Factor-Verständnis ist das Modell,das von der Forschungsstelle Systemsi-cherheit am Institut für Psychologie undArbeitswissenschaft der TU Berlin entwi-ckelt wurde.

Wir gehen von einem technischen und ei-nem sozialen Subsystem aus. Aus analyti-schen Gründen wird letzteres in vier weite-re Subsysteme unterteilt: Individuum,Team, Organisation und Organisationsum-welt. Diese Subsysteme und ihre Interakti-on beeinflussen das Erreichen der Organi-sationsziele und damit die Sicherheit. Neuan diesem Modell ist die explizite Betrach-tung der Organisationsumwelt als mögli-chem Einflussfaktor auf die Entstehung vonUnfällen. Das bisherige Modell ist aller-dings noch recht vage, da es vorwiegendauf der Basis einzelner Fallstudien ent-stand.

Human-Factors-Verständnis

Die Arbeiten der Forschungsstelle System-sicherheit (FSS) beziehen durch ihr umfas-sendes Human-Factors-Verständnis alleFaktoren in ihre Betrachtung ein, die für dieSicherheit relevant sind: Mensch, Technik,Organisation und Organisationsumwelt.Charakteristisch für alle diese Vorhaben istein ganzheitlicher Theorieansatz. Für dieFinanzierung der Forschung hat die For-

durch Organisationales Lernen – SOL«.Dieses Analyseverfahren hilft Betriebsprak-tikern, Störfälle auf organisationale, Ma-nagement- und Umwelteinflüsse hin zu un-tersuchen, um daraus umfassende Sicher-heitsmaßnahmen abzuleiten. Inzwischenwurde SOL in der Kerntechnik und der Che-mie (in einem Projekt des Umweltbundes-amtes) experimentell getestet. Heute liegtSOL als computergestütztes Verfahren inmehreren Sprachen vor, hoch geschätzt vonder Praxis. Viele Detailfragen und Evalua-tionen zum Thema Organisationales Lernen

wurden in zwei Dissertationen (Fahl-bruch, 2000; Szameitat, 2001) und

mehreren Diplomarbeiten bear-beitet. Themen waren bei-

spielsweise die Bewertun-gen von Unfallanalyse-verfahren hinsichtlich ih-rer Unterstützungsleis-tung für die Analytiker,der Einfluss von Trai-

ning auf Unfallanalyse-qualität, SOL für die zivile

Luftfahrt, Unterstützungs-möglichkeiten von IT-Syste-

men und der Einfluss des Standar-disierungsgrades auf die Unfallanaly-

sequalität. Die Thematik »OrganisationalesLernen« findet neuerdings immer mehr auchEingang in andere Industriezweige. Im inter-disziplinären Forschungsschwerpunkt »Ko-operation und Sicherheit in komplexen so-ziotechnischen Systemen« (KOSIS, sieheS. 40) werden bereits erste Analysemethodenund Bewertungskriterien für die Medizinentwickelt.

Sicherheitskultur

Entscheidend für die Erhaltung und Verbes-serung der Sicherheit im Unternehmen istvor allem seine Sicherheitskultur. Seit 1996erforscht die FSS im Auftrag des Bundesmi-nisteriums für Wirtschaft und Technologie,welchen Einfluss vom Unternehmen festge-legte Normen auf das Sicherheitshandelnhaben. Dabei wird untersucht wie Sicher-heitskultur gemessen und verändert wer-den kann. Für ein deutsches Energieunter-nehmen hat die FSS ein Training zur Förde-rung der Sicherheitskultur entwickelt unddurchgeführt. Im Mittelpunkt steht dabeizurzeit die Entwicklung von Instrumenta-

tu berlin forschung aktuell 1/2001 mensch und maschine67

ansprechpartnerProf. Dr. Dr. h.c.Bernhard WilpertDr. Babette FahlbruchTechnische UniversitätBerlinFakultät V, Verkehrs-und Maschinensyste-me, Institut für Psycho-logie und Arbeitswis-senschaftfachgebietArbeits- und Organisa-tionspsychologieforschungs-schwerpunktSystemsicherheitkontaktSekr. FR 3-8Franklinstr. 2810587 BerlinTel.: 030/314-2 29 15030/314-22967Fax: 030/314-2 52 [email protected]@tu-berlin.deinternethttp://www.tu-berlin.de/~aopsych/home-bf.htm

Datenbank

Leben mit Kraftwerken setzt hoheSicherheit voraus

schungsstelle umfangreiche Drittmitteleingeworben. Themenschwerpunkte sindzum Beispiel: »Organisationales Lernen«und »Sicherheitskultur«.

Organisationales Lernen

Nur ständiges Lernen aus Betriebserfahrun-gen kann kontinuierlich Sicherheit garantie-ren und verbessern. Unfälle, Störfälle oderBeinahe-Ereignisse müssen dafür systema-tisch analysiert, die beitragenden Faktorenidentifiziert und jeweilige Gegenmaßnah-men getroffen werden. Im Auftrag des Bun-desministeriums für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit (BMU) befasste sichdie FSS zuerst mit der Verbesserung syste-matischer Analyse von Ereignissen und derdarauf abgestimmten Systematisierung vonEreignisberichten. Daraus entwickelte siedas eigene Analyseverfahren »Sicherheit

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Ist der Mensch ein Risikofaktor?

rien zur Bewertung bzw. Selbstbewertungder Sicherheitskultur. Außerdem themati-sierten einige Diplomarbeiten am InstitutKonzepte und Analysemethoden der Si-cherheitskultur.

Internationales Netzwerk

»An accident anywhere is an accidenteverywhere« – dieses Erfahrungswissengilt auch für die Arbeitssysteme, die heutevon der psychologischen Sicherheitswis-senschaft an der TU Berlin untersucht wer-den: Dafür ist eine intensive Zusammenar-beit zwischen relevanten Wissenschafts-und Praxiseinrichtungen unausweichlich.Innerhalb der TU Berlin werden deshalbProjekte in die fakultätssübergreifendenEinrichtungen wie das Zentrum fürMensch-Maschine-Systeme und das Zent-rum Technik und Gesellschaft eingebracht.Weit über die eigene Fakultät hinaus gehenaußerdem die Bemühungen, interdiszipli-näre Forschungsschwerpunkte zu bilden.In der Bundesrepublik arbeitet die For-schungsstelle mit Praktikern aus techni-schen Überwachungsvereinen und kern-technischen und chemischen Industrieun-ternehmen zusammen.

Seit 1981 richtet die FSS internationaleinterdisziplinäre wissenschaftliche Jahres-tagungen zum Thema »Neue Technologienund Arbeit« aus, die bereits zu 13 Buchver-öffentlichungen oder Sondernummern wis-senschaftlicher Zeitschriften geführt ha-ben. Seit 1990 widmet sich diese Tagungs-serie ausschließlich Fragen der Systemsi-cherheit. Über 200 Forscher aus 21 Ländernhaben bereits an dieser von der Werner Rei-

mers Stiftung (Bad Homburg) und derMaison des Sciences de l’Homme (Paris)geförderten Tagung teilgenommen. Dane-ben hat die FSS in Zusammenarbeit mitdem japanischen Institute of Nuclear Sa-fety System/Institute of Social Researchdrei internationale wissenschaftliche Kon-gresse zum Thema »Human Factors Re-search in Nuclear Power Operations«durchgeführt (1994, 1996 Berlin; 1999 Mi-hama/Japan). Eine weitere Tagung ist für2002 in Japan geplant.

Die FSS arbeitet in der Forschung auf in-ternationaler Ebene eng mit Praxiseinrich-tungen wie der Électricité de France, der In-ternationalen Atomenergiebehörde (Wien)und Kernkraftwerken des Auslands (Paks,Ungarn; Kozloduj, Bulgarien) zusammen.Nicht minder wichtig ist die ebenfalls engeZusammenarbeit mit wissenschaftlichenInstitutionen wie der Universität Bochum,der ETH Zürich, der Technischen Universi-tät Budapest, dem Massachusetts Institute

of Technology (USA), der University of Ca-lifornia Berkeley (USA), dem INSS/ISR(Japan), dem Forschungsinstitut der nor-wegischen Erdölindustrie »Rogaland« so-wie der Bulgarischen und der chinesischenAkademie der Wissenschaften.

Die Arbeiten der Forschungsstelle Sys-temsicherheit zielen damit konsequent da-rauf, im Verbund mit den Ingenieurwissen-schaften das Risiko von Unfällen in Ein-richtungen hohen Gefährdungspotenzialszu mindern. �

Literatur

Fahlbruch, B. (2000). Vom Unfall zu denUrsachen: Eine empirische Bewertungvon Analyseverfahren. Dissertation ander Technischen Universität Berlin:Mensch & Buch Verlag.

Fahlbruch, B., & Wilpert, B. (1999). Systemsafety – an emerging field for I/O psy-chologie. In C. L. Cooper, & I. T. Robert-son (Eds.), International Review of In-dustrial and Organizational Psychology(Vol. 14, pp. 55–93). Chichester: Wiley.

Reason, J. (1993). Managing the manage-ment risk: New approaches to organisa-tional safety. In Wilpert, B., & Qvale, T.(Eds.), Reliability and safety in hazar-dous work systems: Approaches to ana-lysis and design (pp. 7–21). Hove, UK:Lawrence Erlbaum Associates.

Szameitat, S. (2001). Erfahrungstransfer perComputer: Studien zur Nutzung von In-formationstechnologien für das Sicher-heitsmanagement von Technologien ho-hen Gefährdungspotentials. Dissertationan der Technischen Universität Berlin.

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(1) Implizite Normenals Regulation desSicherheitshandelns

Laufzeit:Mai 1997–September 2001

Finanzträger:Bundesministerium fürWirtschaft und Techno-logie

Ansprechpartner:Prof. Dr. BernhardWilpert,Institut für Psychologieund Arbeitswissen-schaftTel.: 030/314-2 29 15Fax: 030/314-2 52 74

E-Mail:[email protected]

(2) ComputergestützteEreignisanalyse (CEA)

Laufzeit:Januar 1999–März 2000

Finanzträger:Bundesamt fürStrahlenschutz

Ansprechpartner:Prof. Dr. BernhardWilpertInstitut für Psychologieund Arbeitswissen-schaftTel.: 030/314-2 29 15Fax: 030/314-2 52 74

E-Mail:[email protected]

Projekte

Phasen der Sicherheitsforschung seit 1950

Die wesentlichen Faktoren der Sicherheit und ihre Verknüpfungen

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Ist der Mensch ein Risikofaktor

Noch immer werden im Straßen-verkehr jährlich rund 16 000Kinder, die in PKWs mitfahren,

schwer verletzt oder getötet. Seit 1993 diegenerelle Sicherungspflicht für Kinder biszum 12. Lebensjahr eingeführt wurde, hatsich die Zahl zwar verringert, doch es gibteine neue Verletzungsquelle: Die Rück-haltesysteme, die eigentlich Schaden vonden Kindern abwenden sollen. Quer-schnittslähmungen, Genickbrüche undschwere Brustkorbfrakturen sind nur ei-nige der grausigen Folgen falsch angeleg-ter oder konstruierter Kindersitze.

Es ist kein Geheimnis: Auch der Beifah-rer-Airbag macht sich beim Zusammen-treffen mit Kindersitzen oft negativ be-merkbar. Inzwischen kommen in vielenneuen Fahrzeugen sogar Seitenairbags aufden hinteren Sitzplätzen zum Einsatz …und bewirken oft das Gegenteil von dem,was ihr eigentlicher Zweck ist: Die Sicher-heit der Insassen zu gewährleisten.

Das Berliner Institut für Land- undSeeverkehr befasst sich in Forschungs-projekten bereits seit 1980 intensiv mitdieser Problematik. Hier sind spezielleKinderrückhaltesysteme und Kinder-dummies entwickelt worden, Verfahren

und Versuchsreihen zur kindlichen Si-cherheit bei Verkehrsunfällen durchge-führt und eine Konferenz zur Sicherheitvon Kindern in kleinen Personenwagenorganisiert worden. Zur Zeit laufen imdem von Prof. Dr. rer. nat. Volker Schind-ler geleiteten Institut zwei langfristige

Forschungsprojekte in Zusammenarbeitmit der Bundesanstalt für Straßenwesen,mit dem Allgemeinen Deutschen Auto-mobilclub e.V. (ADAC) und dem Gesamt-

verband der deutschen Versicherungs-wirtschaft. e.V. (GDV). (Red.)Datenbank:Prof. Dr. rer. nat. Volker SchindlerFakultät V, Institut für Land- undSeeverkehr, Fachgebiet KraftfahrzeugeSekretariat TIB 13,Gustav-Meyer-Allee 2513355 Berlin, Tel.: 030/314-7 29 70Fax: 030/314-7 25 [email protected]:Fahrzeugsicherheit, Biomechanik,CAD/CAE-MethodenProjekt:Testverfahren für Kinderschutzsystemeim SeitenaufprallLaufzeit: 1998–2000 (verlängert bis 2001)Finanzträger:Bundesanstalt für StraßenwesenAnsprechpartner: Reiner Nett,Tel.: 030/314-7 29 62

[email protected]://www.tu-berlin.de/fb10/ISS/FG7/broschuere/projekte/crs/neu.htm

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RoboSpot: Den Kindern zuliebe

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Sicherheitsebenen sind gegliedert inSysteme und Regelungen zur Fahr-weg- und Abstandhaltung, Kollisi-

onssicherheit und Sicherheit im Fahrzeug.Im Verkehr sorgen die verschiedenen Ebe-nen dafür, dass Fahrzeuge auf dem Fahr-weg bleiben, nicht auffahren, an Kreuzun-gen nicht kollidieren und dass Fahrgästeoder Ladegut in allen Situationen sichersind.

Die Eisenbahn macht sich dabei die ge-ringe Rollreibung von Stahl auf Stahl zu-nutze. Große Massen können mit relativwenig Energie befördert werden. Allerdingssind zwischen Stahlrad und Stahlschienewesentlich weniger Querkräfte als zwi-schen den Gummirädern eines Pkw unddem Asphalt der Straße übertragbar. Da-her müssen Räder mit einem Spurkranzversehen werden, die sie zwingen, denFahrweg einzuhalten. Das erfordert aller-dings an Abzweigen bewegliche Teile, undzwar Weichen, denn gerade hier könnenProbleme in der Spurführung auftreten.Weichen werden daher mit speziellen Ver-schlüssen und Radlenkern ausgerüstet, umeine sichere Fahrt zu garantieren. Die siche-re Spurführung ist es auch, die Kriterien fürmaximale Werte der Trassierung vorgibt:

Mindestradien, abhängig von der jeweili-gen Geschwindigkeit, zulässige Überhö-hungen in Kurven, Toleranzen in der Spur-weite und so weiter.

Ein wesentlicher Unterschied der Eisen-bahn zu anderen Verkehrsmitteln bestehtdarin, dass sie außengesteuert ist. DerBremsweg von bis zu 1000 Metern undmehr resultiert aus großen Massen und ge-ringen zu übertragenden Bremskräften.Die Entscheidung über die Weiterfahrt ei-nes Zuges trifft ein Fahrdienstleiter von au-ßen, mit dem notwendigen visuellen odertechnischen Überblick. Von Beginn an wur-de dem Lokführer die Fahrerlaubnis überörtliche Signale erteilt.

Der Weg zwischen zwei Hauptsignalenheißt Blockabstand. Ein Zug darf nur in ei-nen Block einfahren, wenn sichergestelltist, dass dieser frei ist. Heute gibt es dafürGleisfreimeldeanlagen (Gleisstromkreiseoder Achszählanlagen). Dahinter wird ein»Durchrutschweg« freigehalten, falls derLokführer ein Halt-Signal überfährt, so-dass es zu keinem Auffahren kommt.

Doch die Vergangenheit hat gezeigt,dass diese Sicherungsebenen nicht ausrei-chen, um einen nahezu unfallfreien Betriebsicherzustellen. Daher baute man in den

vergangenen Jahrzehnten immer neue zu-sätzliche Techniken ein. Die punktförmigeZugbeeinflussung überprüft zum Beispiel,ob der Triebfahrzeugführer ein Vorsignalrichtig erkannt hat und seine Geschwindig-keit angemessen drosselt. So wird auch dasÜberfahren eines Halt zeigenden Signalsabgefangen und eine Zwangsbremsungeingeleitet. Zusätzliche Sicherungssystemefangen ein Fehlverhalten des Lokführers abund sorgen dafür, dass auch im Fall derMissachtung dieser Signale die Sicherheitnicht eingeschränkt ist. Für höhere Ge-schwindigkeiten reicht die punktförmigeoptische Signalübertragung allerdingsnicht aus. Linienleiter gewährleisten einekontinuierliche Informationsübertragungund Zugbeeinflussung, sodass Züge mitbis zu 400 km/h sicher geführt werden kön-nen.

Kollisionssicherheit

Heute verlagert sich die Intelligenz zuneh-mend vom Fahrweg in das Fahrzeug. Der-zeit wird, um im Fahrweg möglichst auf ak-tive Elemente verzichten zu können, derEinsatz der Funkübertragung entwickeltund getestet. Die europäische Vereinheitli-chung bringt zurzeit einen gewaltigenSchub in der Sicherungstechnik der bishernicht kompatiblen Bahnsysteme Europas.ETCS (European Train Control System)nennt sich dieses einheitliche Signal- undSicherungssystem.

Infolge der Spurführung kann ein Zugnur mittels Weichen den Fahrweg wechseln.

Bahnunfälle – menschliches oder technisches Versagen?

Sichere Züge mit 400 km/h

Von Jürgen Siegmann und Lutz Hübner

1000 Meter und mehr braucht ein Zug zum Bremsen. So viel kann kein Lokführersicher überschauen. Seit den Anfängen der Eisenbahn muss er sich daher auf Sig-nale von außen verlassen, die ihm die Weiterfahrt erlauben. Immer wieder werdenin der Geschichte der Eisenbahn neue Sicherungsebenen eingebaut, um den un-fallfreien Betrieb zu gewährleisten. Doch immer wieder kommt es zu mehr oderminder katastrophalen Zwischenfällen,die der Wissenschaft ständig neue Heraus-forderungen liefern.

Prof. Dr.-Ing. habil.Jürgen Siegmann

Dipl.-Ing. Lutz Hübner

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Sichere Züge mit 400 km/h

Dennoch müssen gerade diese Stellen tech-nisch besonders gesichert werden, damit esnicht zu Kollisionen kommt. Die Regelungund Sicherung der Zugfahrten ist insbeson-dere an den Eisenbahnknoten sehr komplexund wäre für den Lokführer ohne technischeHilfe völlig undurchschaubar. Für jede Zug-fahrt durch einen Bahnhof wird eine Fahr-straße eingestellt: Weichen laufen richtig einund werden verriegelt, um Fahrten von an-deren Gleisen in diese Fahrstraße zu vermei-den, und Bahnübergänge müssen gesperrtwerden. Schließlich wird das entsprechendeSignal auf »Fahrt« gestellt. Nach der Zug-

durchfahrt löst moderne Signaltechnik dieFahrstraße sofort wieder auf und ermög-licht damit andere Fahrten. Liegt eine Fahr-straße erst fest, sind die betreffenden Wei-chen nicht mehr verstellbar.

Doch nichts ist umsonst. Ortsfeste Si-cherungsanlagen, ihre Verkabelung undStellwerke sind in Vorhaltung und Betriebsehr kostenintensiv. Die Bahnen haben er-heblich in moderne Sicherungstechnik in-vestiert und konnten damit sehr viel Perso-nal freisetzen. In den nächsten Jahren wirdsich die Personalkonzentration in Betriebs-zentralen fortsetzen. Generell ist das Ziel,die Infrastrukturkosten zu reduzieren. ZumBeispiel müssen die Stückkosten je Stre-ckenabschnitt gesenkt werden, das heißtmöglichst viele Züge je Zeiteinheit sollenauf dem Streckenabschnitt verkehren.

Nach der Sicherheitsphilosophie der Bahnwird alles Mögliche getan, um Auffahrun-fälle, Kollisionen, Flankenfahrten oder auchnur das Entgleisen eines Zuges zu verhin-dern. Statistisch gesehen ist die Bahn damitauch weitgehend erfolgreich.

Aktive Sicherheit

Um die Einsatzbereitschaft des Lokführerssicherzustellen, hat man eine besondere Si-cherheitsfahrschaltung erdacht und in denLoks installiert. In unregelmäßigen Abstän-den wird damit per Anzeige und Warnton sei-

ne Reaktionsfähigkeit getestet. Eine langsa-me oder gar keine Reaktion löst eine Zwangs-bremsung aus. Auch die Fahrgäste können inGefahrensituationen eine Notbremsung aus-lösen. In jedem Wagen sind mehrere Not-bremsen auffällig gekennzeichnet.

Die Verantwortung des Lokführers unddes Stellwerkpersonals ist hoch, die Ar-beitsbedingungen sind relativ schlecht.Eine einzige Fehlbedienung der sehr spe-ziellen High-Tech-Maschinen kann einenschweren Unfall nach sich ziehen. Die Si-cherheitsphilosophie von Bahnbetrieb undBahntechnik verhindert zwar Fehlbedie-nungen weitgehend, doch bleibt besondersin Stresssituationen wie Verspätungen undUmleitungen von Zügen ein Restrisiko,das die Beschäftigten tragen müssen. BeiAbweichungen von der Regel müssen Dis-

ponenten zügig die Alternativen erkennenund Reserven aktivieren.

Betriebsvorschriften müssen den Betei-ligten so gründlich vermittelt werden, dasssie nicht nur den Regelablauf, sondernauch Unregelmäßigkeiten stets sicher undeffektiv bewältigen können. Dafür bedarfes einer relativ langen Ausbildung und ei-ner ständigen Schulung des Personals.Denn die physischen und psychischen An-forderungen sind hoch. Der Betrieb rundum die Uhr mit Spitzen an Sonn- und Feier-tagen erfordert zudem flexible Dienstpläne,sodass wechselnde Arbeitszeiten, Nacht-

schichten und Übernachtungen in fremdenOrten keine Seltenheit sind.

Angesichts der Marktsituation ist dasGesamtunternehmen Bahn seit Jahren ge-zwungen, Kosten zu reduzieren. Gespartwird vor allem durch den Ersatz von Perso-nal durch Technik. Technisch ist es heuteschon möglich, Züge automatisch zu fahren,doch noch scheut man die Investitionen, alleStrecken technisch dafür herzurichten. ImStellwerksbereich jedoch läuft ein Pro-gramm, durch Einrichtung von Betriebszen-tralen das Personal drastisch zu reduzierenund auf wenige Punkte zu konzentrieren. ImZuge dieser Konzentration werden die Mit-arbeiter nur noch überwachende Funktionenhaben und den Bezug zu »ihrem« Bahnhofverlieren. Gleichzeitig verliert die Ausbil-dung vieler alter Stellwerker an Wert. Zu

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ansprechpartnerProf. Dr.-Ing. habil.Jürgen SiegmannTechnische UniversitätBerlinFakultät V, Verkehrs-und Maschinen-systeme, Institut fürLand- und SeeverkehrfachgebietSchienenfahrwege undBahnbetriebforschungs-schwerpunkteOptimierung des Fahr-wegs, Optimierungbetrieblicher Abläufeim Schienenverkehr,Planung und EntwurfspurgeführterVerkehrssysteme undStrategien zur Verbes-serung der Qualitätund Wirtschaftlichkeitim SchienenverkehrkontaktSekr. SG 18Salzufer 17–1910857 BerlinTel.: 030/314-2 33 14Fax: 030/314-2 68 83e-mail:[email protected]://www.Railways.tu-berlin.de

Datenbank

Das größte Eisenbahnunglück in der deutschen Nachkriegsgeschichte: Eschede, 3. Juni 1998

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Sichere Züge mit 400 km/h

schnell ist der technische Wandel, als dassden heutigen Auszubildenden klare Berufs-perspektiven gegeben werden können.

Problembereiche bleiben

Eines der größten Sicherheitsprobleme sindBahnübergänge, und das nicht, weil dieTechnik versagt. Meist ist das Fehlverhal-ten von Straßenbenutzern schuld. Die Sta-tistik zeigt, dass mehr als 85 % der gefähr-lichen Ereignisse im Bahnbetrieb an Bahn-übergängen auftreten. Die Entgleisungenoder Zusammenstöße sind dagegen zwarspektakulär, aber relativ selten. Endgültigentschärfen könnte man das Problem nur,indem man Bahnübergänge gänzlich besei-tigt und Brücken baut.

Der spektakulärste Unfall der letztenJahre war Eschede: Kurz nach der Serien-fertigung dröhnte der ICE während derFahrt infolge von Konstruktionsänderun-gen. Das mochte man den Kunden des Vor-zeigeobjektes der modernen Bahn nicht zu-muten und griff kurzerhand zum gummige-federten Rad, um das Dröhnen auszuschal-ten. Dieses hat sich im Nahverkehr durch-aus bewährt, war und ist aber für denHochgeschwindigkeitsverkehr nicht aus-getestet und zur Serienreife entwickelt. DieVerschleißmaße wurden eher willkürlichgesetzt, die Überwachungsanlage ULMbald teilweise abgeschaltet. So fuhr der Un-glücks-ICE am 3. Juni 1998 trotz großerUnrundheiten des betroffenen Rades, undder Radreifen brach. Daraufhin entgleisteder ICE an einer Weiche und brachte eineBrücke zum Einsturz: Eine unglücklicheVerkettung mit dramatischsten Folgen: 101Menschen haben diese Nachlässigkeit mitdem Leben bezahlt, 100 wurden zum Teilschwer verletzt. Versagt haben die Techni-ker, die in diesem kleinen Sektor die Tech-nik nicht beherrschten. Die Chefs habenDruck gemacht, das Dröhnen zu beseiti-gen, die Techniker hätten diesem Druckstandhalten und auf gründliche Untersu-chungen bestehen müssen. In der Folge die-ses schrecklichen Unglücks werden alleAspekte des Sicherheitskonzeptes der Bahnüberprüft und neu bewertet.

Ein anderes Unfallbeispiel, an dem deut-lich wird, dass der Ausbildung des Perso-nals erhebliche Bedeutung zukommt, istBrühl. Dort entgleiste am 6. Februar 2000

Lehrter Stadtbahnhof. Zum Glück gab eskeine Verletzten, was allerdings nur der Tat-sache zu verdanken ist, dass der Zug unbe-setzt war. Dieser Unfall ist auf eine unzu-reichende Abstimmung der Zulieferer mitdem Systemverantwortlichen zurückzufüh-ren. Höhere Gewalt ist im Spiel, wenn Zügeentgleisen, weil Dämme unterspült werdenoder Bäume auf der Schiene liegen, die derSturm entwurzelt hat.

In einem komplexen System wie der Eisen-bahn kommt also den Menschen im Betriebund der unterstützenden Technik große Be-deutung zu. Um Qualität und Sicherheit zuerreichen, müssen alle Rädchen des Systemsgut ineinander greifen. Neben Regeln undVorschriften gehören auch gesundes System-verständnis, hohe Motivation, Einsatzbereit-schaft und Kundenfreundlichkeit dazu. Vie-len Beschäftigten bei der Bahn werden hoheBelastungen zugemutet. Da Technik sichständig weiterentwickelt, müssen auch dieBahner ständig lernen, die neuen Technikenund Handwerkszeuge zu nutzen. �

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(1) Integrierte Mobi-litätsplanung, -umset-zung, -lenkung und -services für einen neuenGemeinschaftsverkehrin der Region 2005

Laufzeit:Juni 2001–Mai 2004

Finanzierungsträger:Bundesministerium fürForschung und Bildung

(2) Machbarkeitsstudiefür einen individuali-sierten Schienengüter-verkehr

Laufzeit:Juli 2001–März 2002

Finanzierungsträger:Deutsche Bahn AG

Ansprechpartner:Prof. Dr.-Ing. JürgenSiegmannInstitut für Land- undSeeverkehrTel.: 030/314-2 33 14Fax: 030/314-2 68 83

E-Mail:[email protected]

Projekte RoboSpot: Achtung, Abfahrt!Sehender Computer als Lokführer»Meteor« heißt die Pariser Stadtbahnund »SkyTrain« die in Vancouver. Sie fah-ren vollautomatisch. Für Eisenbahnen istdie lokführerlose Fahrt noch Zukunfts-musik, vor allem wegen der Sicherheits-probleme. Ein vom Sturm entwurzelterBaum könnte den Fahrweg blockieren,ein Autofahrer einen Stau zu spät bemer-ken und auf den Schienen stehen bleiben

oder ein spielendes Kind auf die Gleise imBahnhof fallen. Doch bald schon, im Jahr2004 soll auf der Strecke Dresden-Pirnader erste vollautomatisierte Zug fahren.

Forscher aus dem Dresdener Fraunhofer-Institut für Verkehrs- und Infrastruktur-systeme IVI , die an dem vom Bundesfor-schungsministerium geförderten Ver-bundprojekt KOMPAS (Komponentenautomatisierter Schienenverkehr) teilneh-men, arbeiten dafür an neuen Verfahren,um Hindernisse aus fahrenden Zügen zu-verlässig zu erkennen und auch Bahnstei-ge abzusichern. Auf dem Triebwagen wer-den Videokameras montiert, die denGleisverlauf überwachen. Ein Computerwertet die Bilder in Bruchteilen von Se-kunden aus. Ein Hindernis von minimal40 mal 100 Zentimetern soll das Systemin bis zu 300 Metern erkennen, an denFahrzeugrechner rückmelden und einHup- sowie Bremssignal auslösen. Auchfür die Kontrolle von Bahnhöfen sei diesesSystem geeignet. Wer der Bahnsteigkan-te zu nahe kommt, wird mit einer automa-tischen Lautsprecherdurchsage gewarnt.Ist sogar jemand auf die Schienen gefal-len, wird der einfahrende Zug sofort not-gebremst. (Red.)www.ivi.fraunhofer.de

Gefahrenerkennung am Bahnsteig

ein Zug und raste in ein Haus. Bilanz: AchtTote und über 80 Schwerverletzte. Der Lok-führer war für den Normalfall gut ausgebil-det, offenbar jedoch nicht für den komple-xen Baubetriebsfall. Missverständliche Be-schilderung der Bau- bzw. der Langsam-fahrstelle führte dann zu erhöhter Ge-schwindigkeit. Aus Kostengründen war derBahnhof Brühl nicht sehr komfortabel sig-nalisiert, so dass der Zug, auf dem linkenGleis fahrend, eine Weichenstraße passie-ren musste. Dabei kam er mit überhöhterGeschwindigkeit auf das äußerste, auf ei-nem Damm liegende Gleis. Der Dammkonnte aufgrund der feuchten Witterungden enormen Kräften der schweren Lok imengen Bogen nicht standhalten. Das Gleiswich aus, der Zug entgleiste und fuhr bis indas Haus der Anlieger.

Ein Beispiel für technisches Versagenwar die Entgleisung eines ICE-T auf derBerliner Humboldthafenbrücke im März2000. Auch hier entgleiste der Zug in einemBaustellenbereich für den zukünftigen

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Die Beanspruchung von Materialschließt man aus Dauer und Stär-ke seiner Belastung. Ebenso kann

man die Beanspruchung des Arbeitendenanhand physikalischer Merkmale bestim-men, die sich aus Dauer und Umfang sei-ner Aufgaben ergeben. Bekanntes Beispieleines solchen Messkonzeptes ist das in derKardiologie auch heute noch geschätzteFahrrad-Ergometer, bei dem die momenta-ne Kreislaufbelastung der Leistung (Kraft-aufwand pro Zeit) gleichgesetzt wird.

Für die Messung mentaler Belastungenist dieses Modell jedoch ungeeignet. DemKopf tut es offensichtlich weniger gut, inRuhe gelassen zu werden, als dem Herz-muskel. Indessen gibt es für mentalen Auf-wand keine Maße, die so auf der Hand lie-gen wie diejenigen für körperliche Leis-tung. Dies gilt sowohl für die Anforderun-gen – es gibt keine Messlatte für mental zubewältigende Aufgaben – als auch für dieAufgabenlösungen, denn deren unter-schiedliche Qualitäten lassen sich meistensnicht direkt miteinander vergleichen.

In der Zeit um 1985 verfolgte die Psy-chologie Hinweise, dass es bei multiplen

mentalen Anforderungen eine Invariablegebe: Die relativ kleine Zahl jeweils behal-tener Informationseinheiten (chunks) imKurzzeitgedächtnis, die einen Flaschenhalsfür die Informationsverarbeitung bilde.Man ging von der Annahme aus, dass jeg-liche komplexe mentale Leistung auch aufdas Kurzzeitgedächtnis angewiesen sei,und setzte die Zahl der maximal für vierMinuten verfügbar zu haltenden chunks alszentrales Kriterium für die Schwierigkeiteiner Aufgabe ein. Doch die Idee eines be-grenzten Umfangs des Kurzzeitgedächtnis-ses musste man nach Hunderten von Expe-rimenten aufgeben: Für die Grenze des In-formationsumfanges, den der Mensch be-wältigen kann, gibt es offensichtlich keinebiologische Konstante. Die Hoffnung, ausder Ausschöpfung der Gedächtniskapazi-tät ein generelles Maß für die Schwierigkeitmentaler Aufgaben abzuleiten, musste auf-gegeben werden. Ein Verfahren, das von derTheorie begrenzter Ressourcen abstammt,bewährt sich jedoch weiter beim Vergleichgleichartiger mentaler Aktionen, die aberunterschiedlich schwierig sind: Neben ei-ner Hauptaufgabe (etwa Entdecken uner-

warteter Signale) wird eine Zweitaufgabe(etwa Memorieren von Ziffern) gestellt.Verzögerungen und Fehler in der Erledi-gung der Zweitaufgabe sind hierbei ver-lässliche Indikatoren für die Schwierigkeitder jeweiligen Hauptaufgabe.

Bei der Bewertung länger dauernder kog-nitiver Leistungen im Arbeitsprozess habensich Klassifikationen bewährt, wie sie unteranderem von dem dänischen Systeminge-nieur Jens Rasmussen entwickelt wurden.Er unterscheidet fertigkeits-, regel- und wis-sensbasierte Ebenen mentaler Aktionen. Aufder Ebene der Fertigkeiten erfolgen Aktio-nen auf sensorische Hinweise weitgehendautomatisch, wie etwa beim wohlgeübtenFühren eines Kraftfahrzeuges. Auch zu re-gelbasierten Aktionen greifen die Handeln-den oft unbewusst, sie lassen sich dabei abervon komplexeren Bedingungen leiten. Aufdieser Ebene erfolgt beispielsweise das trou-ble shooting am PC: Es hat häufig Erfolg,auch wenn ihm keine klare Diagnose zu-grunde liegt. Aktionen auf der wissensba-sierten Ebene setzen dagegen eine bewussteAnalyse der Aufgabenstruktur voraus, wiewir sie beispielsweise bei der Suche nachFehlern in einem Computerprogramm an-nehmen können. Mit der Höhe der Bearbei-tungsebene nimmt die Bearbeitungszeit zu.Auf allen drei Ebenen ist die mentale Leis-tung hochgradig trainingsabhängig. Mitwachsender Erfahrung können die Aktionendabei von der jeweils höheren auf eine nied-rigere Ebene verlegt werden. Bei konstantemTrainingsniveau der Operateure erlaubt esdiese Klassifikation, die Schwierigkeit einer

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Mentale Beanspruchung in der Mensch-Maschine-Interaktion

Das Maß der Geistesblitze

Von Klaus Eyferth

Schon vor Jahrzehnten entwickelte die Arbeitswissenschaft Verfahren, mit denenman die Arbeitslast eines arbeitenden Menschen messen kann. Sie orientierte sichdabei am Modell der Materialermüdung und berücksichtigte Umweltfaktoren wieHitze oder Lärm sowie Kraftaufwand und motorisches Geschick des Arbeitenden.Nun soll die geistige Beanspruchung gemessen werden, denn inzwischen weißman, dass auch Unterforderung des Geistes am Arbeitsplatz zu minderer Arbeits-qualität führt. Automatisierung kann also in bestimmten Bereichen, zum Beispielin der Flugsicherung, große Risiken bergen. Wie aber misst man mentale Belas-tung?

Prof. Dr. Klaus Eyferth

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Das Maß der Geistesblitze

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ansprechpartnerProf. Dr. Klaus EyferthTechnische UniversitätBerlinFakultät V, Verkehrs-und MaschinensystemeInstitut für Psychologieund Arbeitswissen-schaftfachgebietAllgemeine Psycholo-gie, Kognitionspsycho-logieforschungs-schwerpunktKognitionspsycholo-gische Modelledes Lösens komplexerProbleme, Raum-kognition, Mensch-Maschine-InteraktionkontaktSekr. FS 01Franklinstrasse 5–710587 BerlinTel.: 030/314-2 44 72Fax: 030/314-2 59 [email protected]

Datenbank speziellen Aufgabe grob zu bewerten: Je we-niger automatisch die Aufgabe bewältigtwird, je mehr sie auf bewusste Analysen undEntscheidungen angewiesen ist, umsoschwieriger und zeitaufwändiger wird sieeingestuft. Ein absolutes Maß für dieSchwierigkeit mentaler Leistungen kann al-lerdings aus einem solchen Klassifikations-Modell nicht abgeleitet werden. Es lässt abererkennen, dass die Anforderung einer Auf-gabe mit der Erfahrung des Operateurs vari-iert. Folglich gelten Aussagen über die Bean-spruchung durch eine mentale Aufgabe nie-mals generell für alle Personen, sie treffenvielmehr nur für Personen oder Personen-gruppen in einem spezifischen Zustand zu,der nach Graden des Trainings oder der Er-müdung definiert wird.

Seit 1998 untersuchen wir an der TUBerlin im Rahmen einer Forschergruppeder Deutschen Forschungsgemeinschaftdie Kontrolltätigkeit von Streckenflug-Lot-sen. Leider kann man Einsichten aus Studi-en zu diesem Arbeitsfeld kaum auf mentaleLeistungen in anderen Feldern übertragen,etwa auf das Führen von Kraftfahrzeugenoder auf die Fehlersuche in Computerpro-grammen, denn es charakterisiert mentaleLeistungen, dass sie stets hochgradig auf-gabenspezifisch sind.

Um mentale Beanspruchung zu messen,müssen wir zwischen subjektiven und ob-jektiven Maßen wählen. Subjektive Verfah-ren basieren auf Äußerungen der Operateu-re über ihre Beanspruchung. Mit Methodenpsychologischer Testkonstruktion werdendiese in eine möglichst generelle Beanspru-chungs-Skala transformiert. Wir verwen-deten in unseren Studien den NASA TaskLoad Index (TLX), einen gut standardisier-ten Fragebogen, mit dem der Operateur imAnschluss an eine Aufgabe Auskunft gibtüber mehrere Aspekte der erfahrenenSchwierigkeiten. Der Zeitbedarf für einementale Operation und die Fehlerhäufig-keit, die diese Operation kennzeichnet, sinddabei objektive Belastungs-Indizes. In zahl-reichen Experimenten haben wir am Radar-Simulator mit erfahrenen Fluglotsen ge-prüft, wie viele Millisekunden mehr bei-spielsweise die Entdeckung von Konfliktenzwischen drei Flugverläufen beanspruchtals diejenige zwischen nur zwei Flugzeu-gen; und wir haben die jeweiligen Fehlerra-ten bei diesen Aufgaben registriert. Solche

Messungen des relativen Aufwandes fürspezifische Aufgaben sind extrem aufwän-dig. Außerhalb der Grundlagenforschunglohnen sie sich nur, wenn sie zur weiterenGestaltung der Aufgabe beitragen, bei-spielsweise zum Entwurf eines rechnerun-terstützten Assistenzsystems oder einesTrainingsprogramms.

Wir erwarteten, dass sich auch mentaleAktiviertheit physiologisch erfassen lässt.Daher versuchten wir, zahlreiche Parame-ter der Herzschlagfrequenz, des Blut-drucks, der elektrischen Leitfähigkeit derHaut und anderer physiologischer Prozes-se zu Indikatoren mentaler Anspannung zuentwickeln. Diese physiologischen Verfah-ren haben zwei Nachteile: Erstens weisendiese Maße im Ruhezustand erhebliche Va-riationen innerhalb eines Individuums undzwischen verschiedenen Individuen auf. Sieerschweren es, die Wirkungen spezifischerkognitiver Prozesse herauszufiltern. Zwei-tens registrieren sie träge, mit Veränderun-gen im Minutenbereich, sodass Variationendes Parameters nicht auf eine nur hunderts-tel Sekunden dauernde mentale Operationbezogen werden können. Bei Fluglotsenbeispielsweise ließe sich die Anspannung inden entsprechenden Messkurven nichtidentifizieren, die mit der Entdeckung einesKonfliktes oder mit der Entscheidung zu ei-nem Eingriff einhergeht. Es gibt jedoch eineAusnahme: die Pupillometrie. ModerneGeräte zur Registrierung der Augenbewe-gungen können Veränderungen des Pupil-lendurchmessers in der Größenordnungvon hundertstel Sekunden registrieren.Diese Variation scheint, unabhängig vomgerade angeblickten Objekt, Aufmerksam-keitsschwankungen widerzuspiegeln.Noch liegen zur Pupillometrie nicht genü-gend Erfahrungen vor, um sie als Messver-fahren für mentale Aktiviertheit zu bezeich-nen. Das liegt auch daran, dass die Mes-sungen nur bei sehr konstanter Helligkeitdes Blickfeldes eindeutig ausfallen. Hinzukommt, dass der Auswertungsaufwand derenormen Menge von Messdaten extrem ist.Neuere Ansätze zur Automatisierung derDatenverarbeitung könnten hier Abhilfeschaffen.

Die bislang erwähnten Verfahren zurBestimmung mentaler Beanspruchung be-trachten sehr unterschiedliche Zeitab-schnitte. Um kognitive Leistungen als fer-

tigkeits-, regel- oder wissensbasiert klassi-fizieren zu können, muss ein Arbeitsablaufmindestens Minuten dauern. Nicht andersist es, wenn zur Aufgabenanalyse ein Belas-tungsfragebogen benutzt wird (task loadindex). Dagegen zielt die Registrierung desZeitaufwandes, der Fehlerquote oder derPupillenbewegungen überwiegend auf spe-zifische mentale Operationen, die nur Mil-lisekunden oder Sekunden dauern. In bei-den Fällen dürfte mit »mentaler Beanspru-chung« nicht dasselbe bezeichnet sein. Da-rüber, wie einzelne Operationen und derenSchwierigkeiten zur Arbeitslast eines län-gerfristigen Arbeitsablaufs beitragen, gibtes bislang kaum gesicherte Erkenntnisse.Man kann daraus schließen, dass der her-kömmliche, physische Beanspruchungsbe-griff sich nicht einfach in den Bereich kogni-tiver Leistungen übertragen lässt. Befra-gungen von Fluglotsen über die mentaleBeanspruchung durch eine spezifischeKontrollaufgabe liefern durchaus brauch-bare und reproduzierbare Hinweise auf dierelative Schwierigkeit einer Aufgabe. Wirkonnten jedoch keine systematische Bezie-hung dieser subjektiven Maße zu »objekti-ven« Maßen finden, wie etwa zum Zeitbe-darf spezieller mentaler Operationen, denwir für verschiedene Such- und Entschei-dungsaufgaben von Fluglotsen registrier-ten. Der Begriff »mentale Beanspruchung«hat sich auch in anderen Untersuchungenkognitiver Leistungen bislang nicht als einKonzept bewährt, das objektive und sub-jektive Maße verbindet.

Seit einigen Jahren wird der Begriff ‘si-tuation awareness’ häufig diskutiert. Erkennzeichnet die Tatsache, dass sich einOperateur die Gegebenheiten der bearbeite-ten komplexen Situation umfassend verge-genwärtigt, sodass er daraus seine Eingriffeableiten kann. Die bisherigen Vorschlägezur Messung von situation awareness sindmethodisch umstritten, aber dieses Konzeptzeigt, worauf es in der Beurteilung kogniti-ver Leistungen in komplexen Aufgaben an-kommt: auf die Möglichkeit des Operateurs,eine Vielzahl von Komponenten der Aufgabezielgerecht miteinander in Beziehung zu set-zen. Oft ist es sinnvoller, danach zu fragen,ob ein Operateur in einer komplexen Aufga-be die zielrelevanten Strukturen entdeckenkann, und nicht danach, wie stark ihn dieseAufgabe mental belastet. Wenn die funktio-

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man hier Modelle, die Beanspruchung de-finieren als Summe der pro Zeit zu bewälti-genden Informationsmenge. Die Überwa-chung und Steuerung eines Systems verla-gert sich heute zunehmend auf Diagnoseund Interpretation spezifischer Systemzu-stände. Umso mehr muss ein Maß für dieaufgabenspezifische mental load angeben,wie schwer es einem Operateur fällt, sichden momentanen Zustand eines komplexenSystems zu vergegenwärtigen und ihn ge-zielt zu verändern. Beispiele für den Um-gang mit komplexen dynamischen Syste-men sind Kontrolltätigkeiten in Kontroll-warten (hierzu gehört auch die Strecken-flugkontrolle), das Computer Assisted De-sign und die Suche nach Fehlern in digita-len Systemen. Die Vergegenwärtigungkomplexer Strukturen kann man nicht inTeilfunktionen gliedern wie die Verarbei-tung sensorischer Hinweise. Sie weist auchkeine eindeutigen Kapazitätsgrenzen auf.

Damit wird es problematischer heraus-zufinden, worin die Schwierigkeit einerAufgabe liegt. Als ein Maß für die aufga-benspezifische Arbeitslast kommt das Aus-maß der relevanten Situationsparameter inFrage, die im Gedächtnis des Operateursverfügbar sind. In zahlreichen Experimen-ten mit Fluglotsen haben wir die Radarsi-mulation kurzzeitig unterbrochen und ge-prüft, unter welchen Bedingungen welcheSituationselemente reproduziert werden

nalen Beziehungen zwischen den Elementeneiner Aufgabe bekannt sind, kann im Prin-zip durch Fragen nach erinnerten aktuellenund relevanten Situationsmerkmalen eineindeutiges Maß für die situation awarenesskonstruiert werden.

Wie sich Konzept und Messung dermentalen Beanspruchung weiterentwi-ckeln, hängt vor allem davon ab, für welcheZwecke und in welchen Systementwicklun-gen ein Maßstab für den perzeptiven undkognitiven Aufwand von Operateuren ver-langt wird und ob Alternativen wie die Er-fassung der situation awareness an derenStelle treten werden. Ziele solcher Messun-gen können sein, die zu erwartende Akzep-tanz bei Käufern und Nutzern eines neuenSystems abzuschätzen, die Funktionalitätvon Systemkomponenten und Prototypenzu vergleichen oder die Beherrschbarkeitdes Systems durch Operateure zu prüfen.Wie mentale Anspannung zu messen ist,hängt nicht zuletzt davon ab, auf welcherEbene ein technisches System den Opera-teur oder Nutzer mental beansprucht. Sindvor allem sensorische und motorische Fer-tigkeiten verlangt, wie beim Führen vonKraftfahrzeugen, so kann man nicht auf dieherkömmlichen Konzepte der Arbeitswis-senschaft und Arbeitsphysiologie zur Erfas-sung von Belastung und Ermüdung ver-zichten. Da die sensorischen Fähigkeitendes Menschen klar begrenzt sind, braucht

konnten, um die Schwierigkeit der jeweilsvollzogenen kognitiven Operation zu be-stimmen. Ein ähnlicher Ansatz liegt denVersuchen zugrunde, situation awarenesszu messen. Bislang gibt es aber noch keinallgemein anwendbares Verfahren, das an-gibt, wie komplett es einer Person gelang,sich die momentan relevanten Strukturenihrer Aufgabe zu vergegenwärtigen.

Genau hier erfährt die Interaktion zwi-schen Mensch und Maschine in der Ent-wicklung technischer Systeme zunehmen-de Beachtung. Mit der Automatisierungvon Teilfunktionen eines Systems wird derEingriff des Operateurs auf besonders rele-vante Entscheidungen reduziert. Selbstvollautomatische Systeme verlangen ausjuristischen Gründen und unter Sicher-heitsaspekten häufig menschliche Überwa-chung. Die Leitvorstellung der Technik wares stets, das physikalisch Mögliche in diePraxis umzusetzen. Doch mittlerweile setztsich immer stärker die Einsicht durch, dassTechnikentwicklung auf Menschen ausge-richtet sein muss. Umso dringlicher werdenaber Verfahren benötigt, mit denen man inder Entwicklung neuer Technik deren künf-tige Verständlichkeit und Beherrschbarkeiteinschätzen kann. Versuche auf dem SektorFlugsicherung, mentale Erfordernisse tech-nischer Systeme zu messen, machten esdeutlich: Automatisierung schafft außerVorteilen auch neue Risiken. �

Kompetenzzentrum für Technik und Gesellschaft

Drei Aufgaben hatte der Akademi-sche Senat dem Zentrum Tech-nik und Gesellschaft (ZTG) bei

seiner Gründung 1995 mit auf den Weg ge-geben: Es sollte multidisziplinäre For-schungsvorhaben im Bereich Technik undGesellschaft initiieren, begleiten unddurchführen, es sollte fachübergreifendeLehre verstärken und als Forum für dieDiskussion und Untersuchung von Wech-selwirkungen von Technik und Gesell-schaft dienen. In allen drei Feldern hat sichdas Zentrum inzwischen positiv entwickeltund bewährt. 160 Mitglieder arbeiten aneiner Reihe von multidisziplinären Projek-ten. Sie kommen aus gesellschaftswissen-schaftlichen Fachgebieten wie Technikpsy-

chologie, -geschichte, -philosophie, Stadt-soziologie und Innovationsforschung undaus den Technik- und Planungswissen-schaften wie Arbeitswissenschaften, Kons-truktionsmethodik, Informationstechnikin der Konstruktion, Mikrosystemtechnik,angewandte und Theoretische Informatik,Verkehrswirtschaft und Umweltverträg-lichkeitsprüfung. Neben diesem Kern ar-beiten in einzelnen Projekten weitere Fach-gebiete im Zentrum zusammen. Ein beson-derer Erfolg in der Lehre war die Einrich-tung des internationalen Studienganges»Global Production Engineering« im März2000, für den das ZTG den Block »Techno-logietransfer und Projektmanagement« or-ganisiert. Mit mehreren Tagungen, Aus-

stellungen und Kolloquien jährlich decktdas ZTG seine dritte Aufgabe, ein öffentli-ches Forum zu bilden, ab. Veranstaltungs-orte wie die Humboldt-Universität zu Ber-lin, das Deutsche Technikmuseum Berlin,das Historische Museum Bielefeld oderdas Musee Suisse in Zürich unterstreichendabei die enge Zusammenarbeit auch mitanderen wichtigen Institutionen. Mittler-weile haben sich für die Forschung vier be-sondere Schwerpunkte gebildet: 1. Technikim Alltag, 2. Innovationen für eine Nach-haltige Entwicklung, 3. Mobilität und 4.Kommunikation, Wissen, Bildung, Theorieder Kooperation. (Red.)

http://www.ztg.tu-berlin.de

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Das Maß der Geistesblitze

Alligator-Roboter Ausgerüstet mitVideokamera, Spezialsoftware, Solarzel-len und Wasserwerfer geht im amerikani-schen Bundesstaat Louisiana ein als ge-fräßige Echse getarnter Schwimmroboterauf Vogeljagd. Besonders Pelikane sindeine Plage für die Fischfarmer, denn dieVorliebe der Wasservögel für Zuchtfischebescheren den Züchtern hohe Verluste.Mit fünf Stundenkilometern kreuzt nunder falsche Alligator durch die Teiche.Nimmt der Roboter eine weiße Flächewahr, steuert er darauf zu. Sobald der Vo-gel in der Bildmitte des eingebauten Vi-deosystems auftaucht, wird er mit Wasserbombardiert. Tierschützer bezweifeln al-lerdings, dass sich die Vögel lange durchden falschen Alligator narren lassen.Nie mehr staubsaugen Sie heißen»Trilobit«, »RoboCleaner« oder »DC06«. Mehrere Hersteller arbeiten derzeitan Robotern, die staubsaugen, währendder Mensch schläft oder sich mit interes-santeren Dingen beschäftigt. In diesemHerbst sollen die ersten Modelle der zwei-bis achttausend Mark teuren Robo-Hein-zelmännchen auf den Markt kommen. Siesind meist klein und flach, um besser un-ter Betten und in Ecken zu kommen. AllenRobot-Saugern ist allerdings gemeinsam,dass sie keinen Schmutz erkennen könnenund es daher ziemlich lange dauernkann – zum Teil Stunden – bis ein vomZufallsgenerator gesteuerter Sauger einebestimmte staubige Stelle passiert. DemRoboter vom Sofa aus bei der Arbeit zu-zuschauen ist also nichts für schwacheNerven und Menschen mit niedriger»Schmutz-Toleranz-Schwelle«.Roboterkämpfe sind neuerdings einangesagtes Freizeitvergnügen von Tüft-lern, Programmierern und High-Tech-Heimwerkern. Ein Battlebot-Wettbewerbin San Francisco lockte im Juli 2001 meh-rere tausend Fans in die 250 Quadratme-ter große Arena, wo Jung und Alt dreiTage lang 650 Kampfroboter anfeuerten.Sie tragen Namen wie SchizoBot, Grinderoder Wham!Bam!, wiegen zwischen 11und 48 Kilo und tragen martialische Waf-fen: Gabelstapler, Kreissägen, Spieße und

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RoboSpot: Jagdhelfer, Kämpfer, HeinzelmännchenHammer. Mittlerweile winken hohePreisgelder, und so mancher Bastler, dendas Roboterfieber gepackt hat, hat schonseinen gutbezahlten Job als Programmie-rer oder Industrie-Designer aufgegeben,um vom Roboterkampf zuleben.

Von Ziegen und Pferden abge-schaut Schon seit Jahren experi-mentieren Wissenschaftler in Karlsruheund Jena mit biologisch inspirierten Systemen, den so genannten BioBots,die sich auf Beinen fortbewegen sollen.

Mit speziellen Infrarotkameras, Su-perzeitlupen, Röntgenaufnahmen

und Computermodellen gelingtes den Forschern jetzt, dieBewegungsabläufe vonVierbeinern nachzu-

vollziehen. Mit »tie-

rischer« Kletterkunst undSchnelligkeit sollen diese Ro-boter im Katastrophenfall inunzugänglichen Gebieten ein-gesetzt werden.Wurmroboter Nur we-nige Zentimeter lang und we-nige Millimeter dick sind Ro-boter, die sich ohne Beine fort-bewegen sollen. Der kleinsteWurmroboter der Welt wur-de von der TechnischenHochschule in Ilmenau ent-wickelt. Er könnte eine In-spektionsreise durch den

Körper antreten oder auch,viel kleiner als der Spür-

hund, in Erdbebengebietennach Verschütteten suchen.Schneller Nanoroboter Vier Mil-lionstel Millimeter kleine Schritte kannein dreibeiniger, nur drei Zentimeter gro-ßer Nanoroboter machen, und die ganzschön schnell. Er schafft nämlich bis zuzwanzig Zentimeter in der Sekunde. Denfixen, sogar mit Mikroskop ausgerüste-ten Winzling haben Wissenschaftler vomamerikanischen Massachussetts Institutfür Technologie geschaffen. Ein ganzerSchwarm davon könnte in wenigen Minu-ten Millionen von Aktionen durchführenund zum Beispiel schnell und günstigComputerchips bauen. (Red.)

Bomben-Roboter Eine neue Soft-ware für Polizeiroboter soll Experten beimEntschärfen von Bomben helfen. Wissen-schaftler der Sandia National Laborato-ries in Albuquerque entwickeltenSMART (Sandia Modular Architecturefor Robotics Software and Teleoperation),womit der Bombenexperte seinem Robo-ter komplexe Bewegungsabläufe eintrich-tern und aus sicherer Entfernung die bri-sante Aktion strategisch unterstützenkann. Bislang mussten häufig Kameras,Sensoren und Greifer des rollenden Hel-fers ferngesteuert und abgestimmt wer-den. Das dauerte erheblich länger undwar sehr viel aufwändiger.

ErsollteradioaktivesMaterial prüfen

Der Roboter»Garco« der GarrettCorporation(1954)

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Der Ruf nach mehr »menschorien-tierter« Fahrzeugentwicklung istin der jüngsten Vergangenheit

insbesondere im Zusammenhang mit denso genannten »Assistenzsystemen« laut ge-worden. Diese Systeme greifen nämlich zu-nehmend aktiv in den eigentlichen Prozessdes Fahrens ein und übernehmen Aufga-ben, die bisher in der alleinigen Entschei-dungshoheit des Fahrers lagen. Beispiel-haft dafür sind Systeme, die den Abstandzum Vorderfahrzeug automatisch regeln,die so genannten ACC-Systeme (automati-sche Abstandsregelung, Automatic CruiseControl). Im Gegensatz zu herkömmlichenHilfesystemen wie eine Servolenkung, diedem Fahrer hilft, weil sie seine Kraft unter-stützt, greifen diese neuen Systeme in denInformationsverarbeitungsprozess desFahrers ein. Problematisch kann dies des-halb sein, weil es nicht mehr eindeutig undunzweifelhaft klar ist, was eine Unterstüt-zung und was eine Störung des Fahrers ist.

Zwar kann man sich sehr gut vorstellen,dass ein automatischer Abstandsregler denFahrer auf langen und langweiligen Auto-bahnfahrten mit dichtem Verkehr von deranstrengenden und belastenden Arbeit des»Mitgleitens« im fließenden Verkehr ent-lastet. Der Fahrer erreicht so sein Ziel we-niger gestresst und entspannter. Auf deranderen Seite ist er durch diese Entlastungaber teilweise vom Verkehrsgeschehen ab-gekoppelt. Das hat zur Folge, dass er nichtmehr so aufmerksam ist – mit der Konse-quenz, dass seine Reaktionszeit in kriti-schen Situationen unter Umständen starkvergrößert sein kann.

Diese Abkopplung vom Verkehrsge-schehen wird noch größer, wenn Fahrzeu-ge mit »Autopilot« verwirklicht sind, diesich in der Entwicklung befinden. Der Au-topilot übernimmt noch weitreichendereFahraufgaben. Auch bei diesen Systemenwird der Autofahrer aber rechtlich gesehenvoll verantwortlich für sein Fahrzeug

sein – wie ein Pilot. Wenn also das Systemversagt oder falsch reagiert, muss der Au-tofahrer in der Lage sein, es zu überstim-men und die »richtige« Handlung selbstauszuführen. Bei allen heute schon vorhan-denen oder in der Entwicklung befindli-chen Systemen ist daher eine »Überstimm-funktion« vorgesehen. Es liegt auf derHand, dass der Fahrer, der mit seinem Au-topiloten eigentlich nur »mitfährt«, im Fal-le eines plötzlichen Ereignisses mituntervöllig überfordert ist. Die Problematikbeim Autofahren ist in sofern noch wesent-lich schärfer als im Verkehrsflug, da imStraßenverkehr die Zeitkonstanten wesent-lich kleiner sind und daher sehr raschesReagieren notwendig ist.

Die fahrerunterstützenden Systeme ber-gen also auch Gefahren in sich. Diese gilt esnun zu minimieren, möglichst schon imVorfeld, während der Systementwicklung.Dazu werden Modelle benötigt, mit derenHilfe das Zusammenspiel von Unterstüt-zungssystem, Fahrer und Verkehr vorher-gesagt werden kann. Eine besondere He-rausforderung für die Modellbildung stel-len dabei die Elemente dar, mit denen dasVerhalten des Autofahrers vorhergesagtwerden soll. Trotz mehr als 40 Jahre welt-weiter Forschung auf diesem Gebiet sinddie Modelle noch weit davon entfernt, so ge-nau zu sein, wie es bei Modellen techni-scher Systeme heute schon Standard ist. Eskönnen immer nur ganz spezielle Eigen-schaften, kleine Ausschnitte in der großenBreite menschlicher Verhaltensweisennachgebildet werden. Eines der größten

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Fahrzeugentwicklung – Simulation des Fahrerverhaltens

Der gläserne Autofahrer

Von Thomas Jürgensohn

Nach über 100 Jahren befindet sich die Kraftfahrzeugentwicklung in zweierlei Hin-sicht in einer Umbruchsituation. Zum einen hat auch in der Fahrzeugtechnik dieComputerisierung Einzug gehalten und den etablierten Entwicklungsgang einesKraftfahrzeuges entscheidend verändert. Zum zweiten ist die Technik des Kraft-fahrzeuges inzwischen auf einem so hohen Niveau angelangt, dass weiterer Fort-schritt an der Mechanik nicht mehr möglich ist. Nur an elektrischen oder elektro-mechanischen Komponenten, in der Automatisierung oder Nutzung moderner In-formationssysteme gibt es noch Entwicklungsmöglichkeiten. Vor allem der Rolledes Fahrers, dem eigentlich bestimmenden Element im System Verkehr gebührt inZukunft mehr Aufmerksamkeit. Je mehr technisch machbar ist, desto mehr Prob-leme der Kompatibilität von Fahrer und Fahrzeug treten in den Vordergrund. Im-mer öfter stellt sich die Frage, ob die jeweilige technische Entwicklung überhauptsinnvoll ist oder ob sie nicht sogar schadet.

Dr.-Ing. ThomasJürgensohn

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Der gläserne Autofahrer

Probleme ist dabei, dass sowohl das moto-rische Verhalten des Fahrers modelliertwerden muss, beispielsweise seine Lenkbe-wegungen, als auch kognitive Verhaltens-elemente wie Wahrnehmung, Entschei-dungsfindung oder gar Motive wie Angstoder Selbstüberschätzung Einfluss auf dieHandlung nehmen.

Das Institut für Fahrzeugtechnik der TUBerlin forscht seit Mitte der 60er Jahre anFahrermodellen. Experimentiert wurde zu-nächst mit Modellen, die den Fahrer alsRegler in mathematischen Gleichungen be-schreiben. Diese Modelle beschrieben ur-sprünglich das dynamische Verhalten vonPiloten und wurden erfolgreich zur Ent-wicklung von automatischen Flugstabili-sierungen genutzt. Es zeigte sich aber sehrbald, dass das Autofahren nur zu einemkleinen Teil Regelung bedeutet und derMensch sich in vielem »nichttechnisch«verhält. Deshalb suchte man nach Model-len, die zur Nachbildung menschlichen Ver-haltens geeigneter erschienen. Eine großeRolle spielten dabei Modelle, basierend aufder Fuzzy-Mathematik, aber auch Modelle

mit neuronalen Netzen oder solche, die aufMethoden der künstlichen Intelligenz beru-hen.

Seit Anfang der 80er Jahre arbeitet dasInstitut in der Modellentwicklung sehr engmit Psychologen und Arbeitswissenschaft-lern der Technische Universität Berlin zu-sammen. Eine besondere Rolle spielt dabeidas Zentrum Mensch-Maschine-Systeme.Ergebnis der sehr fruchtbaren interdiszipli-nären Zusammenarbeit ist ein komplexesSimulationsmodell, in dem mehrere intelli-gente Fahrer in einer virtuellen Umgebungmodelliert werden. Jeder der Fahrer in demModell nimmt bestimmte Elemente dieserUmwelt wahr, entscheidet je nach Situati-on und lenkt, beschleunigt oder bremst.Eine weltweite Besonderheit ist dabei dieNachbildung der Motivations-Einflüsseauf das Fahrerverhalten. Auf diese Weisekann man in der Simulation »nachschau-en«, wie sich das Verkehrsgeschehen än-dert, wenn ein oder mehrere Fahrer ängst-lich, in Eile oder besonders risikobereitsind. Aus diesem Simulationsmodell, zu-sammen mit Modellen der technischen Un-

terstützungssysteme können erstmalig dienotwendigen Vorhersagen über das Zusam-menspiel von Technik und Mensch abgelei-tet werden – ein großer Erfolg dieser Zu-sammenarbeit. �

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ansprechpartnerDr.-Ing. ThomasJürgensohnTechnische UniversitätBerlinFakultät V, Verkehrs-und Maschinen-systemeInstitut für Land- undSeeverkehrfachgebietMensch-Maschine-Systemeforschungs-schwerpunktBedienermodellierungkontaktSekr. TIB 13Salzufer 17–1910587 BerlinTel.: 030/314-2 33 14Fax: 030/314-2 55 [email protected]

Datenbank

RoboSpotWarum nicht mit dem Auto schä-kern? An einem virtuellen Beifahrer, dersich mit dem Autofahrer munter unter-hält, arbeitet derzeit der weltgrößte Com-puter- und Software-Hersteller IBM.Nach dem Willen der Entwickler WlodekWlodzimierz und Dimitri Kanewski sollder in einem Bordcomputer steckende»künstliche Beifahrer« den Fahrer über-wachen und Schläfrigkeit durch Gesprä-che möglichst verhindern. Damit der vir-tuelle Begleiter seiner Aufgabe nachkom-men kann, wollen die Entwickler demBordcomputer ein persönliches Profil desFahrers mitgeben. (Red.)

Blickkontakte im Cabrio sind für TU-Wissenschaftler auch von Interesse

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Alternativenzur Maus

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Roboterhände, die komplexe Greif-und Fügeoperationen ausführenkönnen, gibt es schon. Bei unvor-

hersehbaren Aufgaben müssen sie jedochintuitiv gesteuert werden, weil für die Fein-Programmierung keine Zeit bleibt. Einschnell und zuverlässig arbeitendes Einga-begerät für die Mensch-Maschine-Kom-munikation fehlte bislang. Der TU-Berlin-Sensorhandschuh sollte diese Lücke schlie-ßen. Er kann alle Bewegungen einermenschlichen Hand erfassen. Er bestehtaus einem leichten, formstabilen Hand-schuh mit unterschiedlich vielen Gelenk-winkel-, Beschleunigungs- und Drucksen-soren, je nach Einsatzzweck. Die Gelenk-winkelsensoren können feststellen, ob dieFinger gekrümmt oder gestreckt sind, dieHand gespreizt ist oder nicht. Die Be-schleunigungssensoren erfassen die Bewe-gung der ganzen Hand und die Drucksen-soren erkennen, ob und mit welcher Kraftetwas gegriffen wurde.

Die Gelenkwinkelsensoren können be-rührungsfrei noch Winkel von zehntel Gra-

den messen. Sie sind jeweils auf Hand- oderFingerrücken angebracht, um das Greifennicht zu behindern.

Auch die Beschleunigungssensoren sit-zen auf dem Handrücken. Sie nehmenräumliche Handbewegungen und die Nei-gung der Hand wahr. Diese mikromechani-schen Sensoren können Bewegungen voneinem Zehntel bis zu einem Fünfzigstel derErdbeschleunigung messen.

Die Drucksensoren befinden sich aufder Handinnenseite. Sie bestehen ausdruckempfindlicher Kunststofffolie und er-fassen Druckkräfte von 10 bis 1000 Grammje Sensor.

Ein Mikrocontroller MC68HC11 erfasstvon den 37 bis 60 Sensoren jeweils 60 Mes-sungen pro Sekunde und digitalisiert siemit einer Auflösung von 8 bis 16 Bit. JedeSekunde fallen so bis zu 57,6 kBit Daten an.Echtzeiteigenschaften stellen sicher, dasskeine Messwerte verloren gehen. Mit bis zu115 kBaud gehen die Daten dann über eineserielle Schnittstelle an das Auswertungs-system.

War die erste Version des Sensordaten-handschuhs zunächst vor allem für dieSteuerung anthropomorpher Roboterhän-de gedacht, so wurde doch schnell klar,dass er noch viel universeller eingesetztwerden kann. Neben der Telemanipulation,bei der Bewegungen einer menschlichenHand bzw. eines Arms direkt umgesetztwerden, um in unwirtlichen oder unzu-gänglichen Umgebungen komplexe Greif-und Fügeoperationen möglichst einfachund genau auszuführen, sind auch andereAnwendungen denkbar:

Die Steuerung von Robotern und Krä-nen sowie von Geräten für medizinischeUntersuchungen und chirurgische Eingrif-fe, Anwendungen in der virtuellen Realität,die Diagnose der Bewegungsfähigkeit derHände bei medizinischen Untersuchungen,die Steuerung von Musikinstrumenten undMusikeffektgeräten sowie die Erkennungvon Gehörlosensprachen.

Im einfachsten Fall sollen Maschinen dieBewegungen »nachmachen«, die vom Be-diener vorgemacht werden. Es ist dabeidurchaus ein anderer Maßstab der Bewe-gungen möglich. Der Sensorhandschuhkann aber auch einfache Gesten umsetzen,um Maschinen zu steuern: Jeder kennt dieGesten, mit denen beim Einparken ange-zeigt wird, ob noch Platz zum Manövrierenist.

Im Bereich der virtuellen Realität er-kennt der Sensorhandschuh Bewegungen,die dann grafisch dargestellt werden kön-nen oder auch zu weiteren Aktionen führen.So kann das virtuelle Drücken eines Schal-

Kommunikation mit Sensorhandschuhen

Sprechende Hände

Von Günter Hommel und Wolfgang Brandenburg

Die menschliche Hand kann vom kleinen Schraubendreher bis zur großen Zangeganz unterschiedliches Werkzeug bedienen. Eine Universalität, die industriellenGreifern bislang fehlt. Sie können auch mit Greiferwechselsystemen nur eines oderwenige Werkzeuge »handhaben«. Doch Roboterhände können dort eingesetztwerden,wo die Menschenhand nicht hinkommt oder wo es zu gefährlich ist: In che-mischen Labors, unter Wasser oder im Weltraum. Für unvorhergesehene Einsätzeist die Programmierung allerdings zu schwierig und langwierig. Eine Forschergrup-pe der Technischen Universität Berlin entwickelte zusammen mit der University ofSouthern California und der Universität Belgrad einen fünffingrigen Sensorhand-schuh, der noch viel mehr vermag als fühlen und messen. Er kann sogar Gebärden-sprache interpretieren.

Prof. Dr.-Ing. GünterHommel

Dipl.-Inform. Wolf-gang Brandenburg

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Sprechende Hände

ters das reale Einschalten einer Lampe zurFolge haben.

Einsatzmöglichkeit im medizinischenBereich ist zum Beispiel die Fernoperation.Der spezialisierte Operateur sitzt dabeiweit entfernt vom Patienten. Bei der Tele-manipulation werden Eingriffe modellhaftgeplant, aufgezeichnet und dann computer-gesteuert ausgeführt, damit gerade anempfindlichen Organen oder Geweben mil-limetergenau und zitterfrei operiert werdenkann. Der Sensordatenhandschuh kann dieBewegungen der Hände exakt erfassen undist nicht nur bei der Behandlung hilfreich,er kann auch Heilungserfolge dokumentie-ren.

Dass der Handschuh die menschlicheHand in seiner Kapazität sogar bei weitemübertrifft, zeigt sich auch in anderen Berei-chen, zum Beispiel in der Musik. ZweiHände mit zehn Fingern können nicht alleEinstellmöglichkeiten bedienen, die moder-ne Musikeffektgeräte aufweisen. Andersder Sensorhandschuh: Wird jedem Sensordes Handschuhs ein Parameter zugeord-net, so lassen sich mit zwei Händen schonüber 70 Einstellungen verändern.

Das interdisziplinäre Forschungspro-jekt »Gebärdenerkennung mit Sensorhand-schuhen« unter der Beteiligung der Lehr-stühle für Mikrosensorik, Semiotik undRobotik der TU Berlin hatte zum Ziel, Al-gorithmen zur Gebärdenerkennung an ei-ner »kleinen« Gebärdensprache zu entwi-ckeln: Neben der Gehörlosensprache gibt

es viele weniger umfangreiche Gebärden-sprachen, die zum Teil berufsspezifischsind (Zeichensprache der Feuerwehr oderdie des Anschlägers beim Einweisen desKranführers), und auch eine Vielzahl vonAlltagsgebärden.

Das Erkennen von Gebärden ist sehraufwändig: Wegen des hohen Datenauf-kommens ist auch ein hoher rechentechni-scher Aufwand notwendig. Die Bewegungeiner Hand und ihrer Finger zu erfassenund darzustellen ist noch mit relativ einfa-chen Mitteln möglich, das Wiedererkennenvon Gesten ist jedoch um ein Vielfacheskomplexer. Ein Problem ist, dass die Wie-derholung einer Geste nie exakt die glei-chen Daten liefert. Durch einen einfa-chen Datenvergleich wird also derRechner die Geste nicht wiedererken-nen.

Es wurde daher ein Ablauf in zweiPhasen entwickelt: Das Systemmuss in einer Trainingsphase zu-nächst die Gesten lernen, die esspäter in der Erkennungsphase er-kennen soll. In mehreren aufeinan-der aufbauenden Schritten wer-den die Signale vorverarbeitet

und anschließend in mehreren Ebenen klas-sifiziert. So werden die typischen Merkma-le einer Geste beschrieben, anhand derer sievon anderen Gesten möglichst sicher unter-schieden werden kann. Je mehr Gesten derRechner jedoch erkennen soll und je dichterdie Merkmale der Gesten zueinander lie-gen, desto mehr Merkmale muss er spei-

chern. Die Erfolgsquotedes Verfahrens ist hoch. Bei 100trainierten Gesten des Lexikons BerlinerAlltagsgesten erkennt das System 96 Pro-zent. Werden nur 20 Gesten zur Auswahlgestellt, so liegt die Rate sogar bei 100 Pro-zent. Das Lexikon beinhaltet die For-schungsergebnisse der TU-Arbeitsstellefür Semiotik. Prof. Dr. Roland Posner undsein Mitarbeiter Massimo Serenari (M. A.)erarbeiteten die Form der Handbewegun-gen und ihre Bewegungen auf der Grundla-ge des Verhaltens der Berliner Bevölke-rung.

Wurde die Entwicklung des Sensorda-tenhandschuhs begonnen, um eine anthro-pomorphe Roboterhand einfach undschnell, aber doch präzise zu steuern, so lagder Schwerpunkt in letzter Zeit auf der Er-kennung eben dieser Gebärdensprachen.Das ist jedoch noch schwieriger als die Er-kennung gesprochener Sprache, weil Ge-bärdensprachen bislang wenig erforschtund formalisiert sind. Und viele aus derSpracherkennung bekannte Probleme tre-ten auch hier wieder auf: So ist die Grenzezwischen aufeinanderfolgenden Gebärdenschwer zu erkennen, auch wird ein Menschdie Gebärden nicht ohne Variationen wie-derholen. Weiterhin gibt es »Dialekte« und»sprecherabhängige« Gebärden: Ein weitesFeld noch offener Probleme für die zukünf-tige Forschung. �

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ansprechpartnerProf. Dr.-Ing. GünterHommelDipl.-Inform. WolfgangBrandenburgTechnische UniversitätBerlinFakultät IV, Elektro-technik und InformatikInstitut für TechnischeInformatik und Mikro-elektronikfachgebietProzessdaten-verarbeitung undRobotikforschungs-schwerpunkteEchtzeitsysteme, Robo-tik, mobile und fliegen-de Robotersysteme,Stochastische Model-lierung komplexerSystemekontaktSekr. EN10Einsteinufer 1710587 BerlinTel.: 030/314-7 31 10Fax: 030/314-2 11 [email protected]@cs.tu-berlin.deinternethttp://pdv.cs.tu-berlin.de/

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Der Sensor-handschuh ausdem Institut fürTechnische Infor-matik und Mikro-elektronik …

… kann messen, fühlen und sogar Gesten interpretieren

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Die Flexibilität der Mensch-Rech-ner-Interaktion durch multimoda-le Systeme zu erhöhen trägt einer-

seits den unterschiedlichen Anforderungender Benutzerinnen Rechnung und anderer-seits den verschiedenen Anforderungen andie Benutzung. So sollen behinderte odervorübergehend eingeschränkte Menschen,z. B. Blinde oder motorisch behinderte Per-sonen, die gleichen Möglichkeiten wie alleanderen Personen haben, Computer nachihren Wünschen zu nutzen. Die vielfältigenEinsatzorte von Computern, zum Beispielals Steuerung an Werkzeugmaschinen, alsService-Terminal am Bahnhof oder als In-formationssystem im Fahrzeug, erfordernpassende Interaktionsmittel, damit der Be-nutzer sie akzeptiert. Durch die oftmalsrecht langsame Eingabe ungeübter Benut-zer über Maus und Tastatur entsteht der sogenannte »Flaschenhals« bei der Informa-tionseingabe. Multimodale Eingabesyste-me von hoher Bandbreite, die also mehrereparallele eingehende Informationsströmeverarbeiten können, sollen helfen, diesen zuüberwinden. Ein Beispiel dafür bietenComputerrennspiele, bei denen das Kombi-

nieren von Lenkrad und Pedalen bereits üb-lich ist. Eine natürliche Mensch-Rechner-Interaktion soll dem Benutzer nur gerings-te computerspezifische Vorkenntnisse ab-fordern. Allein sein Wissen aus dem natür-lichen Kommunikationsumfeld soll genü-gen, um mit dem Rechner interagieren zukönnen.

Gestaltungsanforderungen

Dabei sind multimodale Computersystemein sehr vielen Variationen denkbar. Je nach-dem, für welche Einsatzbereiche und fürwelche Personen sie gedacht sind, erscheintdie Kombination bestimmter Interaktions-modalitäten mehr oder minder geeignet.Für alle multimodalen Systeme müssenDialogkonzepte entwickelt werden, die denEigenschaften der einzelnen Modalität an-gepasst sind. Dabei muss gleichzeitigdas Gesamtkonzept benutzungsfreundlichsein. Um diese Anforderung zu erfüllen,muss man die physiologischen, psychologi-schen und soziokulturellen Aspekte dieserDialogform berücksichtigen. Gegenwärtigsind multimodale Systeme vorwiegend als

Prototypen realisiert, etwa das NCR’sField Medic Information System. Diesestragbare System erlaubt einem Notarzt beider Erstversorgung eines Patienten am Un-fallort, alle anamnestischen Daten mittelsSprache unmittelbar bei der Untersuchungin das Patientenprotokoll einzugeben.

Neben den enormen technischen undtechnologischen Voraussetzungen für einfunktionales multimodales System sind auchsehr viele Fragen zur benutzungsfreundli-chen Gestaltung der Interaktion zu klären,zum Beispiel welche kulturellen Eigenheitenbei der Interpretation der Mimik von Benut-zern zu beachten sind. Die Gestaltung sol-cher Systeme verlangt also ein interdiszipli-näres Design-Team wohl noch dringenderals viele herkömmliche Anwendungen.

mUltimo3D: multimodale Inter-aktionen in der Erprobung

Eine Forschergruppe am Heinrich-Hertz-Institut Berlin (HHI) entwickelt mit Unter-stützung durch das Zentrum Mensch-Ma-schine-Systeme (ZMMS) der TechnischenUniversität Berlin ein multimodales Com-putersystem für künftige PC-Anwendun-gen am Arbeitsplatz. Der Prototyp bietetneben konventionellen Eingabegeräten wieMaus und Tastatur zusätzliche Systeme zurSpracheingabe, zur Ermittlung der Kopfpo-sition und Blickrichtung, zur Erkennungder Handposition und einfacher Handges-ten sowie ein System zur Kraftrückmel-dung über die Fingerspitze.

Im Unterschied zu herkömmlichen PCs

Multimodale Mensch-Rechner-Interaktion

Wenn der Computer uns beobachtet

Von Katharina Seifert und Siegmund Pastoor

Maus und Tastatur sind auf dem Computerarbeitsplatz der Zukunft nur noch ne-bensächliche Kommunikationsmittel. Sprache, Blicke, Handzeichen und Finger-druck werden zukünftig Hilfsmittel sein. Auch wir Menschen benutzen unterein-ander Interaktionsmittel neben der Sprache, beispielsweise in einer maschinen-lärmgefüllten Werkstatt oder in einer Bibliothek, wo Unterhaltungen stören. Ander Entwicklung eines solchen »multimodalen« Computersystems, das die einge-henden Informationen auf unterschiedlichen Kanälen zusammenfasst und die Ab-sichten des Nutzers erschließen kann, arbeiten Wissenschaftler der TU Berlin der-zeit. Antworten kann der Rechner schon heute mit mehr als nur der Textausgabe.

Dipl.-Psych.Katharina Seifert

Dr.-Ing. SiegmundPastoor

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Wenn der Computer uns beobachtet

verwendet dieses System ein Display fürdie Darstellung dreidimensionaler Grafi-ken auf der Nutzeroberfläche. Diesen 3D-Display kann man wie einen gewöhnlichenComputermonitor ohne eine spezielle Ste-reobrille betrachten. Damit kann man dasausgezeichnete räumliche Sehvermögendes Menschen nutzen, um komplexe Zu-sammenhänge anschaulicher und über-sichtlicher zu visualisieren, als das mit ei-ner rein flächigen Darstellung möglichwäre. Ein spezielles 3D-Betriebssystem er-weitert die Desktop-Oberfläche zu einem3D-Interaktionsraum.

Doch um diese erweiterten Möglichkei-ten der Darstellung optimal nutzen zu kön-nen, bedarf es entsprechender Interaktions-

verfahren. Wie bei den brillenfreien 3D-Displays setzt das HHI auf Technologien,die den Anwender so gering wie möglichbelasten. Zur Schlüsseltechnologie werdendabei neben der Spracherkennung videoba-sierte Computer-Vision-Verfahren. Kame-ras mit Infrarotbeleuchtung dienen demComputer als Augen, mit denen er kontinu-

ierlich beobachtet, wo sich der Nutzer be-findet, wo er gerade hinschaut und wie erElemente des virtuellen Interaktionsraumsdurch Handgesten zu manipulieren ver-sucht. Die Vielzahl der einströmenden In-formationen wird von Software-Interface-Agenten ausgewertet, um die Intention zuerschließen und quasi ohne explizite Befeh-le das jeweils Richtige zu tun: das Konzeptder »kommandofreien Interaktion«.

Die technologischen Herausforderungenan ein derartiges »Perceptual User Interface«sind immens. Nach Nutzertests wurden dietechnischen Komponenten und die Gestal-tung der grafischen Anwenderschnittstelledes »mUltimo3D-Systems« wiederholtüberarbeitet. Experimente der 3D-CAD-An-wendung mit dem derzeitigen System sehenbeispielsweise so aus: Der Nutzer adressiert»Werkzeugkisten« durch Anblicken und öff-net sie durch verbale Bestätigung. Der Inter-faceagent stellt dann eine Auswahl von 3D-Grundkörpern, Farben, Texturen und Bear-beitungswerkzeugen stereoskopisch inReichweite des Nutzers. Mit der bloßenHand kann er dann weitere Schritte auswäh-len, ja sogar ein konstruiertes Objekt direktmanipulieren. Bei Berührung des Objektesvermittelt ein Force-Feedback-System einakustisches, optisches oder aber ein hapti-

sches Signal. Auch Hilfeinformationen ste-hen bereit, für den Fall, dass der Nutzer nichtmehr weiter weiß. Beim Lesen rollt der Textautomatisch weiter, sobald der Blick denRandbereich des Fensters erreicht. DiesesProjekt wird vom Land Berlin und dem Bun-desministerium für Bildung und Forschunggefördert. �

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ansprechpartnerDr.-Ing. SiegmundPastoor, Heinrich-Hertz-Institut fürNachrichtentechnikBerlin GmbHDipl.-Psych. KatharinaSeifert, TechnischeUniversität Berlin,Institut für Psychologieund Arbeitswissen-schaftfachgebietElektronische Bildtech-nik, ProjektmUltimo3DFachgebiet Mensch-Maschine-Systemeforschungs-schwerpunktGestaltung und Bewer-tung multimodalerMensch-Computer-In-teraktion, Entwicklungvon Tracking- undDisplaytechnologienfür Mixed-Reality-SystemekontaktHeinrich-Hertz-InstitutEinsteinufer 37,10587 BerlinTel.: 030/31 00 23 45Fax: 030/31 00 22 13Zentrum Mensch-Maschine-Systeme:Jebensstr. 110623 BerlinTel.: 030/314-7 95 22Fax: 030/314-7 25 [email protected]@mms.tu-berlin.deinternethttp://www.hhi.de/im/de/Projekte/mUltimo3Dhttp://www.mms.tu-berlin.de

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Multimodaler Computerarbeitsplatzmit 3D-Display. Der Nutzer kann mitMaus und Tastatur arbeiten, aber auchSprachbefehle, Blicksteuerung undHandgesten verwenden, um mit demComputer zu kommunizieren

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Bei der Analyse des Sprachsignalsvergleicht der Computer die Wortedes Benutzers mit bereits gespei-

cherten Mustern. Doch Menschen spre-chen dasselbe Wort nicht zweimal identischaus. Diese Abweichungen von zuvor ge-speicherten Mustern fallen sehr unter-schiedlich aus, da die Länge der Vokale imallgemeinen mehr verändert werden kannals die der Konsonanten. Um trotzdemnach Übereinstimmungen zu suchen, müs-sen die Sprachmuster in nicht linearer Wei-se gedehnt oder gestaucht werden. DieSchwierigkeit besteht dann in der Festle-gung, bis zu welcher Abweichung ein Wortals erkannt gelten soll und ab wann ihm einanderes Muster, eine andere Bedeutung zu-geordnet werden soll. Ist ein Wort einem fal-schen Muster zugeordnet worden, kommtes zu Fehldeutungen.

Der Anteil richtig erkannter Wörter, dieErkennungsrate, ist heute für einen flächen-deckenden Einsatz spracherkennender Sys-teme noch unzulänglich. Systeme, die vomBenutzer individuell trainiert werden,schneiden dabei am besten ab. Vor allem,wenn sie in derselben Umgebung trainiert

wie eingesetzt werden und wenn der Benut-zer deutlich abgehackt spricht. Die schlech-teste Erkennungsrate weisen solche Syste-me auf, für die gar kein Training notwendigist, und die der Benutzer in natürlicher (flie-ßender, auch ungrammatischer) Form inbeliebig geräuschbehafteten Umgebungeneinsetzen kann.

Neben diesen spracherkennenden Syste-men gibt es Diktiersysteme, die gesproche-ne Äußerungen in Buchstabenfolgen um-setzen, sowie Dialog-Systeme, bei denen –zum Beispiel in einer längeren Wechselredezwischen Mensch und System – sprachli-che Informationen von den Benutzern gege-ben und vom System daraufhin Auskünfteerteilt werden.

Die Sprachverarbeitung

Doch für die Interaktion des Menschen miteinem System durch gesprochene Sprachesind nicht nur technische Probleme zu lö-sen. Für viele Anwendungen reicht das rei-ne Erkennen gesprochener Kommandosnicht aus. Das technische System muss eineÄußerung auch verstehen. Es muss das Ge-

sagte grammatisch überprüfen und inter-pretieren können.

Folgendes Beispiel illustriert den Unter-schied zwischen einem spracherkennendenund einem sprachverstehenden System:

Ein Benutzer fragt ein System: »Wannfährt der nächste Zug nach Berlin?« Einspracherkennendes System gibt auf demBildschirm aus: »Wann fährt der nächsteZug nach Berlin?«. Ein sprachverstehendesSystem dagegen beantwortet die Frage undgibt zum Beispiel aus: »Um 12 Uhr 30«.

Sprache verstehen

Auch die Sprache selbst spielt eine Rolle beider Frage, welche Sprachphänomene fürdie Erkennung Probleme bereiten. Deutschist zum Beispiel eine stark flektierendeSprache, der Sprecher ist relativ frei in derWortfolge. Ein Satz wie »Der Hund bissden Mann« kann ohne Bedeutungsände-rung auch in »Den Mann biss der Hund«umformuliert werden. Im Englischen wirdbei einer solchen einfachen Umstellung(The dog bit the man – The man bit the dog)plötzlich aus dem Beißenden der Gebisse-ne – eine nicht unwesentliche Änderung derBedeutung … und der Schmerzempfin-dung!

Fehlinterpretationen können auch bei sogenannten Homophonen – Wörtern, diegleich klingen, aber eine unterschiedlicheBedeutung haben – auftreten. DieserMehrdeutigkeiten sind sich Menschenbeim Sprechen häufig gar nicht bewusst,sie interpretieren sie korrekt auf Grund ih-

Spracherkennung

Wie Technik gesprochene Worteerkennen kann

Von Ruth Marzi

Wenn der Mensch seinen Computer fragt: »Wann fährt der nächste Zug nach Ber-lin?«, und er antwortet: »Um 12 Uhr 30«, dann hat das System die Sprache erkannt,verstanden und verarbeitet. Spracherkennung ist ein Forschungsgebiet, das nochmit vielen Problemen kämpft, doch auch schon große Erfolge erzielt hat. Der Nut-zen kann im Dienstleistungssektor, in der Industrie und besonders in der Behinder-tenkommunikation immens sein. Aber wie bringen wir dem Computer bei, unsereSprache zu verstehen? Eine Forschergruppe im Zentrum Mensch-Maschine-Syste-me der TU Berlin entwickelt ein sprachgesteuertes System,das vor allem motorischbehinderten Menschen helfen kann.

Dr.-Ing. M. Sc. (USA)Ruth Marzi

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Wie Technik gesprochene Worte erkennen kann

res Weltwissens um den Kontext der Äuße-rung. Damit auch ein System verschiedeneBedeutungen voneinander unterscheidenkann, muss es über einen »Verstehenspro-zess« verfügen. Den Satz »Ich habe Q ge-sagt« kann der Mensch aus dem Kontextheraus unterscheiden von dem Satz »Ichhabe Kuh gesagt«. Der Computer kann dasnicht ohne weiteres.

Diese Ambiguitäten auf der Wortebenegibt es auch auf der Satzebene, z. B.

»Andi sieht Anna mit dem Fernglas.«(Wer hat das Fernglas?)

»Bringe mir mal die Zitronenschale!« Isthier die Schale einer Zitrone gemeint oderdie Schale, in der sich Zitronen befinden?

Im Gegensatz zu Homophonen ist dieUnterscheidung einzelner Homographe(Wörter mit gleicher Schreibweise, aber un-terschiedlicher Bedeutung) nur bei der Ver-arbeitung geschriebener Sprache schwie-rig, z. B. bei Wörtern wie »Hochzeit«,»Staubecken« oder »Wachstube«. Auchganze Sätze können missverständlich sein:»Er wollte den Fußgänger umfahren« (ihnüberfahren oder um ihn herumfahren). Inder gesprochenen Äußerung wird die Be-deutung durch die Betonung deutlich. Wo-her aber »weiß« ein System, wie es solcheWörter und Sätze aussprechen soll?

Darüber hinaus gibt es Mehrdeutigkei-ten, die vom Menschen ohne Kontextwis-sen auch nicht aufgelöst werden können:

»Die Begründung der Projektgruppe istmangelhaft« (wer begründet bzw. was wirdbegründet?)

Was ist »gute« Sprachqualität?

Zu einem Sprachdialog gehören die Erken-nung und Verarbeitung gesprochener Ein-gabe wie auch die akustische Ausgabe.

Bei der Sprachausgabe hängt die Qua-lität stark von dem verwendeten Verfahrenab. Die beste Qualität liefern Systeme, dieGespeichertes wiedergeben. Dafür werdendie auszugebenden Sätze zuvor von einemSprecher oder einer Sprecherin genausoaufgenommen, wie sie später zu hörensind. Die Stimme ist deutlich zu verstehen,und die Satzmelodie (Prosodie) entsprichtden Erwartungen des Hörers. Bei einerTeil- oder Vollsynthese werden im Momentder Ausgabe aus einzelnen Bausteinen(Phonen, Diphonen, Halbsilben oder Sil-

ben) die auszugebenden Sätze individuellzusammengesetzt. Das Ergebnis kanndurchaus sehr natürlich klingen. Wenn je-doch die Satzmelodien nicht mit generiertund die Übergänge zwischen den einzel-nen Lauten nicht geglättet werden, kanndas auch sehr unnatürlich klingen. EinVorteil trotz geringerer Qualität: Das syn-thetisierende System kann jeden beliebi-gen, nicht vorhersehbaren Text ausgeben.Eine typische Anwendung sind Vorlese-systeme.

Sprachqualität messen

Wie bemisst sich nun die Güte einerSprachausgabe? Für den Benutzer steht die(subjektive) Verständlichkeit an obersterStelle, gefolgt von der Natürlichkeit. Aberes gibt auch Verfahren zur objektiven Mes-sung der Sprachgüte, wobei dann Kriterienwie Übertragungsqualität betrachtet wer-den.

Einsatzmöglichkeiten

Ganz obenan stehen Systeme der Behinder-tenkommunikation. Sie unterstützen Blin-de, Schwachsehende und Schwerstbehin-derte (Sprachein- und -ausgabe), Taube(Sprachlernen) oder motorisch Behinderte(Spracheingabe). Sinnvoll sind sie ferner in

Umgebungen, in denen kein Tastaturein-satz möglich ist, zum Beispiel bei der Inven-tur in der Produktionshalle (Eingabe), derAnleitung zur Fehlerbehebung an einerMaschine (Ausgabe), an öffentlichen Orten(Kiosksysteme) oder bei Auskünften perTelefon.

Trends

Anwendungen für Sprachverarbeitungwerden in Zukunft einen immer breiterenRaum einnehmen. Besonderer Bedarf be-steht bei der Telekommunikation, wo derTrend zur Miniaturisierung der Gerätekaum noch Tastaturen zulassen wird. �

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ansprech-partnerinDr.-Ing. M. Sc (USA)Ruth MarziTU Berlin, Institut fürPsychologie und Ar-beitswissenschaftfachgebietMensch-Maschine-Systemeforschungs-schwerpunktSprachverarbeitung inMensch-Maschine-SystemenkontaktSekr. J 2-1Jebensstr. 110623 BerlinTel.: 030/314-7 95 20Fax: 030/314-7 25 [email protected]://www.mms.tu-berlin.de/PERSONEN/rmarzi.html

Datenbank

Projekt

Stimmgesteuerter Operationsroboter im Einsatz bei einer Herzoperation

Entwicklung und Eva-luation eines sprachge-steuerten Systems fürmotorisch Behinderte

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Das WWW ist lediglich ein Beispielfür den fortschreitenden Einsatzder Hypermediatechnologie. Die

Anwendung reicht von technischen Doku-mentationen über unternehmensweitesWissensmanagement bis hin zu computer-gestützten Aus- und Weiterbildungspro-grammen, etwa im Bereich des Telelernens.

Während viele Hypermediasysteme ei-nerseits selbst anspruchsvollste Informati-onsbedürfnisse befriedigen, werfen sie an-dererseits Probleme auf, die die Informati-onssuche und den Wissenserwerb betref-fen. Häufig klagen Nutzer über Schwierig-keiten, sich zu orientieren oder gewünsch-te Informationen zu finden. Empirische Un-tersuchungen zeigen, dass Lernerfolg undBehalten maßgeblich von Gestaltungs-merkmalen des Systems abhängen.

Probleme dieser Art sind insbesonderefür den Einsatz von Hypermedia-Anwen-dungen in der Aus- und Weiterbildung kri-tisch und müssen gelöst werden, soll ihr Ein-satz Lerneffizienz und Behalten verbessern.Hierzu können Erkenntnisse kognitionspsy-chologischer Forschung einen entscheiden-den Beitrag leisten. Theoretischer Aus-gangspunkt ist dabei der Charakter des Wis-senserwerbs. Es handelt sich um den Aufbaueiner mentalen Repräsentation: Lernendeverknüpfen aufgenommene Informationen

über semantische Bezüge mit ihrem Vorwis-sen und konstruieren ein strukturiertes, ko-härentes und individuelles Modell der be-schriebenen Sachverhalte, das im Gedächt-nis gespeichert wird. Empirische Studienzum »konventionellen« Textlernen zeigen,dass dieser Prozess durch Merkmale derdargebotenen Informationen und der Lern-umgebung maßgeblich beeinflusst wird:

• Die Verdeutlichung von Satz- und Wort-zusammenhängen und die explizite Dar-stellung der Struktur der dargebotenen In-formation erleichtern das Verstehen undverbessern das Behalten. Hierzu zählenu. a. die Verdeutlichung abstrakter Sach-verhalte anhand von Beispielen sowie dieDarstellung von Textstrukturen.

• Lernende sollten sich ganz auf die Inhal-te konzentrieren können und von zusätzli-chen Aufgaben wie der aufwändigen Infor-mationssuche befreit sein.

• Möglichkeiten, Hervorhebungen zu er-stellen, Randnotizen anzubringen und Ver-bindungen zu anderen Informationsquellenherzustellen, unterstützen den Lernprozessund die Behaltensleistung.

Überträgt man diese Erkenntnisse aufHypermediasysteme, so ergeben sich eineReihe von Ansätzen zur Gestaltung:

• Lernende sollten in der Lage sein, nichtnur die Inhalte des Hyperdokuments suk-

zessive abzurufen, sondern auch jederzeitseine Struktur zu überblicken. Besonderswichtig ist hierbei, Inhalte, die unbedingtbenötigt werden, um ein Lernziel zu errei-chen, von Hintergrundinformationen abzu-grenzen, die wahlweise zur Vertiefung he-rangezogen werden können.

• Die Dokumentstruktur sollte ange-zeigen, welche Einheit derzeit dargebotenwird, welche Informationseinheiten bereitsrezipiert worden sind und welche nachfol-gend bearbeitet werden können. Dies redu-ziert Orientierungsprobleme und entlastetLernende bei der Informationssuche.

• Neben der Informationsdarbietung soll-te das System seinen Nutzern die Möglich-keit bieten, diese durch eigene Bemerkun-gen, Kommentare oder Verknüpfungen mitanderen Quellen auszuarbeiten.

Hypermediasysteme, die diesen Richtli-nien folgen, bieten ihren Nutzern die Mög-lichkeit, ihren individuellen Interessen ent-sprechende Wissensräume zu konstruierenund zu nutzen. Während die bislang im In-ternet eingesetzten Browser die Schaffungderartiger Wissensräume nur recht einge-schränkt ermöglichen, gibt es erste Proto-typen, die die meisten der oben genanntenAnforderungen erfüllen. Ein Beispiel ist dasbei der Gesellschaft für Mathematik undDatenverarbeitung mbH (GMD) entwi-ckelte Hypermediasystem SEPIA, das seineNutzer durch grafische Browser und kon-sistente Mehrfenstertechnik unterstützt.

An der TU Berlin sind derzeit verschie-dene Projekte in Planung, die die damit zu-sammenhängenden Forschungsfragen hin-sichtlich Systemgestaltung, Usability undEinsatzformen untersuchen werden. �

Design von Hypermediasystemen mit Kognitionspsychologie

Wer sucht, der soll auch finden

Von Manfred Thüring

Prominentestes Beispiel für die veränderte Interaktion zwischen Mensch und Tech-nik auf dem Informations- und Kommunikatonssektor ist sicherlich das World WideWeb (WWW). Dieses global verteilte Hypermediasystem im Internet, in dem Infor-mationseinheiten wie Texte, Grafiken oder Videosequenzen per Link miteinanderverbunden sind, bietet einen fast unbegrenzt erscheinenden Informationsraum.Doch nicht jeder findet auch, was er sucht. Zum optimalen Design solcher Hyper-mediasysteme kann die Kognitionspsychologie einen wertvollen Beitrag leisten.

Dr. Manfred Thüringwar Marketing Directorbei STAR ONE Aktien-gesellschaft für Telekom-munikationsdienstleis-tungen.Ab Oktober 2001 hat eran der TU Berlin dieProfessur für das Fach-gebiet AllgemeinePsychologie inne

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forschungs-schwerpunktEntwicklung von Hy-permediasystemenEntscheidungs-, Ge-dächtnis-, Wahrneh-mungs- und Sprach-psychologiekontaktGustav-Meyer-Allee 2513355 BerlinTel.: 030/314-7 25 93Fax: 030/314-7 25 [email protected]

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RoboSpot: Marskrümel und Fußmaus

Marsmenschen Für die Erkundungdes Planeten Mars wird es nach Ansichtvon Geologen unumgänglich sein, außerRobotern auch Menschen auf den kaltenHimmelskörper zu schicken. 80 bis 90Prozent dessen, was wir heute über denMars wissen, stammt aus den Daten undBildern, die die Viking-Sonden auf ihrerMission zur Erde gefunkt haben, schätztder Geologe Ralf Jaumann vom Deut-schen Zentrum für Luft- und Raumfahrtin Berlin-Adlershof. Doch nach Lebenmuss man im Inneren des Planeten for-schen, wofür größere Mengen von Ge-steinsproben für die Untersuchungennotwendig sind. Zwar gibt es Dank derViking-Missionen genauere Karten desroten Planeten, sodass Experten heuteLandepunkte exakter bestimmen kön-nen. Doch wo man dann welchen Bohreransetzt, das muss teilweise vor Ort ent-schieden werden. Und da ist der Menschmit seiner freien Entschlusskraft demRoboter eben überlegen. Ein paar Jahr-zehnte werden wir allerdings noch aufden ersten bemannten Marsflug wartenmüssen.

Automatisierung ade? Immer mehrdeutsche Unternehmen zweifeln am Nut-zen von Robotern und bauen ihren Auto-matisierungsgrad ab. Das stellte dasFraunhofer-Institut für Systemtechnik undInnovationsforschung (ISI) in Karlsruhefest. Mehr als ein Drittel der 1000 befrag-ten hoch automatisierten Unternehmengab an, die Anlagen seien unflexibel undfür kleinere Seriengrößen zu unwirtschaft-lich. 38 Prozent der Betriebe betrachtetenihre Materialfluss-Systeme in der Monta-ge als Fehlinvestition. Vor allem Firmen,die geringere Mengen innovativer Produk-te herstellen, können abnehmende Serien-größen wirtschaftlich nicht mehr bewälti-gen. Ohne Roboter leidet die Qualität of-fenbar nicht. Einer Ausschussquote von4,1 Prozent bei reduzierter Automatisie-rung stehen 5,1 Prozent bei hoch automa-tisierten Anlagen gegenüber. Auch dieWertschöpfung pro Mitarbeiter liegt inbeiden Fällen gleichermaßen bei rund130 000 Mark. Nicht profitiert habe auchdie Halle 54 von Volkswagen in Wolfsburg.Dort war weltweit erstmalig die gesamteAutoproduktion elektronisch gesteuert

worden. Doch Verluste durch Umbau undStillstand sowie ein hoher technischerWartungsaufwand hätten die erwartetenwirschaftlichen Erfolge zunichte gemacht.

Kindliche Geistesblitze Immer wie-der haben auch Kinder weitreichende Er-findungen gemacht. 1968 erfand zum Bei-spiel die zehnjährige Betty Galloway ausGeorgetown, South Carolina, ein Spiel-zeug zum Seifenblasen herstellen. Als ihrVater 1960 eine Solarheizung in das Hauseinbaute, wurden auch die SchwesternMary und Teresa Thompson, acht undneun Jahre alt, zur Erfindung angeregt.Sie bauten für eine wissenschaftlich-tech-nische Messe ein Solar-Tipi. Eine »Fuß-maus« erfand der 13-jährige Moritz Plöt-zing aus Euskirchen im Rahmen des Wett-bewerbs »Jugend forscht« 1999. Er wolltedamit einen Krampf im Arm beim Com-puterspielen vermeiden. Seine Erfindungbesteht aus zwei Walzen für die Füße zurhorizontalen und vertikalen Bewegungdes Cursors. Zwei Seitenschalter über-nehmen die Funktion der linken und rech-ten Maustaste. (Red.)

Menschen habenvom Mond mehrereKilogramm Gesteingeholt, Roboterbrachten es nur aufwenige Gramm

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Wer sucht, der soll auch finden

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RoboSpot: Teufel, Titan und TieftaucherEinen digitalen Engel, der durchausteuflische Züge hat, entwickelte die ame-rikanische Firma Applied Digital Solu-tions (ADS). Ihr »Digital Angel«, ein indie Haut implantierbarer Chip kann perSatellit geortet werden und damit denAufenthaltsort des Chipträgers offenba-ren. Der unauffällige, sich nur durch eineBeule unter der Haut bemerkbar machen-de Sender, soll Kinder vor Entführungenschützen, Freigängern die Flucht er-schweren, alte und verwirrte Menschenüberwachen und außerdem Gesundheits-daten wie Herzfrequenz und Blutdruckan die Empfangsstation übermitteln. Dieteuflische Seite daran ist, dass der Trägerden Chip durchaus abschalten kann, dieBodenstation kann ihn aber bei Bedarfwieder aktivieren, auch gegen den Willendes Trägers. Auch Zechpreller beim Inter-net-Shopping sollen dann nicht mehr un-geschoren davon kommen, da sie eindeu-tig lokalisierbar sind. Ob die deutschenDatenschützer sich von solcher Art tota-ler Überwachung überzeugen lassen, istallerdings eher zweifelhaft.Titanisch mutet auch eine weitere Le-benshilfe an, die dem menschlichen Kör-per operativ zugeführt wird: Das kom-plett künstliche Herz. Eine faustgroßePumpe aus Titan und Plastik, die keinedirekte Verbindung mehr zur Außenwelthat, wurde kürzlich erstmalig einemschwerkranken Amerikaner anstelle ei-nes Spenderherzens in die Brust einge-pflanzt. Batterien, die der Patient amGürtel trägt, liefern über einen Senderdrahtlos Energie für jeweils zwei Stun-den. 30 Minuten kann das Kunstherzsogar ohne Energiezufuhr auskommen,denn in den Körper ist auch noch ein ent-sprechender Energiespeicher integriert.Diese Maßnahme dient nicht nur der Si-cherheit, sondern auch der Lebensqua-lität. Schließlich muss der Mensch aucheinmal duschen, womöglich ohne Batte-rien am Körper. Das neue Kunstherzwurde vorher ausführlich an Kälbern ge-testet. Bei der Entwicklung hätten auchLuftfahrt-Ingenieure mitgewirkt, so derHersteller »Abiomed«. Durch die fehlen-

de direkte Verbindung zur Außenwelt seidie Gefahr von Infektionen, die bei vor-herigen Entwicklungen ein immer wie-derkehrendes Problem waren, kaum ge-geben. Interessiert an der Entwicklungzeigten sich in Deutschland das Deut-sche Herzzentrum Berlin und das Herz-zentrum Bad Oeynhausen.Tiefe Einblicke in die Welt, die unserembloßen Auge verborgen bleibt, gelangenjetzt erstmalig einer Forschergruppe der

Technischen Universität Dresden. Siekonnten einzelne Atome unter dem Mi-kroskop sichtbar machen. Mit Hilfe einesholographischen Verfahrens konnten sieElemente wie Sauerstoff, Arsen und Sili-zium unter einem Elektronenmikroskopunterscheiden. Dazu benötigten sie einebesonders störungsarme Umgebung, umdie notwendige hohe Auflösung des Mi-kroskops zu erreichen. Eine mögliche An-wendung, so die Forscher, könnte dieChiptechnologie sein. Hier werden ausAtombausteinen elektronische Chips zu-sammengebaut.Ein Bohrloch von acht Millime-tern, mehr benötigte ein neu entwickel-ter Gehirnoperationsroboter nicht, um dieHirnblutung eines Unfallpatienten zustoppen. Die behandelnden Neurochirur-gen an der BerufsgenossenschaftlichenUnfallklinik Frankfurt/Main, die den

Roboter »NeuroMate« im Sommer 2001erstmalig einsetzten, waren begeistert.Der Roboter arbeite auf zehntel Millime-ter genau und sei mit seinen fünf Gelen-ken ebenso beweglich wie ein menschli-cher Arm. Dabei sei der Roboter aber prä-ziser als der erfahrenste Operateur. Ander Unfallklinik will man den Kunst-Ope-rateur nun auch für die Behandlung vonHirntumoren, Parkinson-Symptomenund Wirbelsäulenoperationen einsetzen.

Per U-Boot in den menschlichen Kör-per – auch dieser alte Menschheitstraumscheint Wirklichkeit zu werden. MehrereForschergruppen arbeiten weltweit andiesem hohen Ziel. Die notwendige Win-zigkeit des Gefährts, das Medikamente inbestimmte Zellen transportieren soll odergezielt Viren, Krebszellen oder Kalkabla-gerungen angreifen soll, bedingt beson-dere Antriebsformen. Erfolgreich warenunter anderem kürzlich die Japaner. Sieentwickelten eine reiskorngroße Schrau-be, die durch die Erzeugung eines 3D-Magnetfeldes angetrieben wird. Mit einerStandard-Injektionsspritze lässt sich dasMini-U-Boot leicht unter die Haut brin-gen. Seine ersten erfolgreichen Tauch-fahrten absolvierte das japanische Wun-derwerk aber vorerst in einem Gel und ineinem mehrere Zentimeter dicken Beef-steak. (Red.)

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Robotermit Kunst-verstand

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Der Film »Golem, wie er in die Weltkam« von Paul Wegener aus demJahre 1920 geht zurück auf eine jü-

dische Fabel um die Herstellung eineskünstlichen Menschen. Er wird durch einZauberwort zum Leben erweckt. Wenn manso will, das erste Passwort. Durch die nichtautorisierte Eingabe dieses Passwortes ge-rät der Golem außer Kontrolle. In »Metro-polis« (Fritz Lang, 1927) verführt ein weib-licher Computer-Mensch die Massen.Ohne Herz und Gefühl untersteht er ganzder Kontrolle des Bösewichts. Nur das guteHerz kann die seelenlose Maschine erken-nen. »2001 – Odyssee im Weltraum« (Stan-ley Kubrik, 1968) zeigt einen Computer mitGefühl. Allerdings hat er einen Programm-fehler und setzt alles daran, sein Abschal-ten zu verhindern. Er tötet bis auf eine Aus-nahme alle Mitglieder einer Raumschiff-Besatzung. »Der Terminator« (USA 1984)kommt aus einer zukünftigen Welt, in derdie Maschinen sich selbst reproduzierenund die Menschen als mangelhafte Wesenansehen, die zu vernichten sind.

Die Reihe ließe sich sicherlich noch er-weitern, auch mit sehr aktuellen Beispie-len. Eines jedoch haben alle diese Maschi-nen gemeinsam: Sie sind perfekt undmächtig. Durch kleine, winzig kleine Feh-ler, bisweilen logische Fehler oder Pro-grammfehler, werden sie den Menschengefährlich. Sie werden nicht nur dadurchgefährlich, dass sie die Menschen vernich-ten wollen. Vielmehr entspringt die Gefahrdaraus, dass sie vorgeben, sie seien selbstMenschen oder wie Menschen, als hättensie ein ICH und einen eigenen Willen. Ge-rade diese Vermenschlichung, die Vorspie-gelung eines Bewusstseins, das sich letzt-endlich als kalte, kalkulierte Rechenopera-tion erweist, ist der Auslöser der Angst.Die Unterscheidung zwischen Menschund Maschine wird zum spannendenShowdown. Ergebnis: Computer habenkeine Gefühle, sind kalt-rational und ge-fährlich.

Woran sind Mensch und Maschinen zuunterscheiden? »Bladerunner« (RidleyScott, 1982) und Steven Spielbergs neues-

tes Werk »AI« (2001) befassen sich mit die-ser Frage. Eine Frage, die zu Beginn desComputerzeitalters von Alan Turing ge-stellt wurde. Er wusste keine Antwort, aberer hat ein Verfahren vorgeschlagen, wie einTest aussehen könnte, an dem die Entwick-lung der Computer zu messen sei: Hierfürtrennt er einen Fragesteller und das Indivi-duum mit dem unbekannten Wesen, so-dass sich beide nicht sehen können. DieAufgabe des Fragestellers ist es, zu ent-scheiden, ob das Gegenüber Mensch istoder nicht. Ziel des Gegenübers ist es, denFragesteller möglichst zur falschen Identi-fizierung zu veranlassen. Der Fragestellermuss sich knifflige Fragen ausdenken.Hintergrund dieser Idee ist die ewig neueFrage: Kann eine Maschine Antwortenwissen, die nur wir Menschen kennen?

Filme sind frei in der Antwort. Mal kannman den Unterschied leicht feststellen undmal nicht. Mal ist es ein Horrorfilm, maleine Schnulze. In der Realität ist der Unter-schied noch leicht zu erkennen. Zwar müs-sen wir den Begriff der Intelligenz neu defi-nieren, denn beim Schach sind Computerbesser als wir Menschen. Aber es gibt Din-ge, die kann kein Computer der Welt:Wenn eine Mutter eine Banane ans Ohrhält, dabei »hallo hallo« sagt und sie da-nach dem Kind gibt: »Ist für dich!«, spieltdas Kind das Spiel mit und plaudert »mitPapa«. Kann das eine Maschine? Kann sieeine Banane als Telefon akzeptieren? Ver-steht sie den Unterschied zwischen Spielund Realität? Kinder ab zwei Jahren kön-nen das. �

Mensch und Maschine im Film

Das erste Passwort

Von Clemens Schwender

Ein Traum: Maschinen erledigen die Arbeit, wir sind jeder Mühe ledig. Die Maschi-nen kontrollieren sich selbst,brauchen keine Wartung. Die Maschinen sind freund-lich, nahezu menschlich. Sie verlieren gar ihr maschinenhaftes Aussehen, und statteiner Ausgabe über Bildschirm und Drucker bekommen sie eine freundliche Stim-me. Ein Albtraum: Die Maschinen, die eben noch die Arbeit übernahmen, treffenplötzlich Entscheidungen, die sich gegen die Menschen richten. Sie werdenmenschlich auf eine Art, wie sie menschlicher nicht sein kann: Die Maschinen er-greifen die Macht. Ein Blick in die Filmgeschichte zeigt, dass es immer wieder Vor-stellungen gab von vermenschlichten Computern und Robotern. Gerade der Filmhat es immer wieder verstanden, die Wunsch- und Albträume der Menschen in Bil-dern einzufangen.

Dr. Clemens Schwender

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ansprechpartnerDr. Clemens SchwenderTechnische UniversitätBerlinFakultät I, Geisteswis-senschaften, Institutfür Sprache und Kom-munikationfachgebietMedienberatungkontaktSekr. TEL 19-1Ernst-Reuter-Platz 710587 BerlinTel.: 030/314-2 23 22Fax: 030/314-2 76 [email protected]://www.medienberatung.tu-berlin.de/cls/index.html

Datenbank

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Das erste Passwort

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RoboSpot: Metropolis & Co.

Im Juli 2001 hatte in Hollywood der er-ste Film Premiere, dessen Schauspie-ler vollständig am Computer entstan-

den sind: »Final Fantasy« von RegisseurAndy Jones. Nichts ist echt, doch alleswirkt real – eine Leistung des Compu-terzeitalters. Thematisch füllte dasThema »Künstliche Intelligenz/ Maschi-nenmensch« schon seit die Bilder laufenlernten die Drehbücher und Kinokassen.Ob 1920 Paul Wegener als »Golem« zumLeben erweckt wurde (rechts oben), 1927Brigitte Helm als zarte Maria in »Metro-polis« gegen eine unheilvolle Maschinen-frau kämpfte und schließlich den Siegüber die Maschine errang (rechts), ob1968 in Stanley Kubricks »2001 – Odys-see im Weltraum« der Bordcomputer»Hal« ein Eigenleben führen will und dieBesatzung seines Raumschiffs tötet oderneuerdings der Roboterjunge David in

Stephen Spielbergs neuestem Werk »A.I.Artificial Ingelligence« Gefühle ent-wickelt und um die Liebe seiner Adoptiv-eltern ringt (links). Mit vielen weiterenBeispielen ließe sich die Reihe fortsetzen.

(Red.)

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Buchtipp

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RoboSpot: Die Kurzweil’sche ZukunftViel Spaß bei der Evolution Seitknapp zwei Jahren ist Ray Kurzweils»Homo S@piens« bereits auf dem Markt.Viele Wissenschaftler, Technologen undSoziologen haben sich bereits die Köpfedarüber heiß geredet, interpretiert undgestritten. Die Angst, dass in 20 Jahrentatsächlich die Computer die Macht über-nehmen, weil sie die menschliche Intelli-genz überflügelt haben, wie Computerex-perte Kurzweil prophezeit, muss manwohl nicht mehr haben. Inzwischen habenWissenschaftler glaubhaft machen kön-nen, dass technische Entwicklung nichtnur von technischer Kapazität abhängt,sondern viele andere Faktoren, biologi-sche, soziologische, psychologische, einegroße Rolle spielen.

Doch der Amerikaner Ray Kurzweilist nicht nur technikbesessen, er ist auchPhantast und Fabulierer. Aus diesen Ei-genschaften entwirft er in »Homo S@pi-ens« eine Zukunftsvision, die durchauslesenswert ist, weil sie mannigfache An-regungen enthält, sich über den Umgangmit der Technik Gedanken zu machen,ihre zukünftige Entwicklung zu beobach-ten und womöglich Einfluss darauf zunehmen.

Viele Kritiker haben vielleicht an derStelle aufgehört zu lesen, wo das Moore’-sche Gesetz angeblich dazu führt, dassMaschinenhirne mehr leisten können alsMenschenhirne. Doch die Kurzweil’scheZukunft hält noch viel mehr bereit:

Da sieht man Anfang des Jahrtau-sends die Horrorvision, dass alle Compu-ter der Welt gleichzeitig ausfallen und derMensch plötzlich ziemlich hilflos ist. Dasieht man bald Konferenzen mit globalenTeilnehmern, die über synchron überset-zende Bildtelefone verbunden sind. Über-all laufen Menschen herum, deren dreidi-mensionale Virtual-Reality-Displays inBrillen und Kontaktlinsen eingebettetsind und ihre Hauptschnittstelle für dieKommunikation mit anderen Personen,dem Web oder virtuellen Personen bilden.Derjenige, den man anfassen will, mussnicht mehr physisch anwesend sein. ImGegenteil. Rein sexuelle Kontakte mit

virtuellen Partnern sind ungehemmterund oft befriedigender als diejenigen mitdem Menschen aus Fleisch und Blut …immerhin stirbt deshalb die Menschheitnicht aus. Da bestehen Maschinen denTuring-Test, der in den 50er Jahren entwi-ckelt wurde, um Maschinen von Men-schen zu unterscheiden. Und da entste-hen im Zuge der Nanotechnologie steuer-bare Schwärme oder Nebel von Molekü-len, die jederzeit jeden beliebigen Gegen-stand oder jede Person leibhaftig darstel-len können. Es werden aber auch Krank-heiten bekämpft, Organe ersetzt und dieLebenserwartung des Menschen steigtauf 200 Jahre. Alle diese Visionen sindkeineswegs aus der Luft gegriffen. Sie ba-sieren auf der technischen Entwicklung,wie sie sich derzeit darstellt. Kurzweils»schöne neue Welt« ist sicherlich nur einevon vielen möglichen Zukunftsrealitätenund an einigen Stellen schießt er etwasüber das Ziel hinaus, aber eines wünschter uns mit Recht voller Augenzwinkern:»Viel Spaß bei der Evolution!«

Autor aus der Maschine Die Groß-mutter wusste, dass die Großmutter dieTochter der Großmutter gebeten hatte, je-manden mit Kuchen zur Großmutter zuschicken.« Der Anfang einer Geschichte,die wir alle kennen, das Märchen vonRotkäppchen. Doch nicht die unschöneSatzkonstruktion ist das Besondere da-ran, sondern die Tatsache, dass er von ei-ner Maschine geschrieben wurde. Oha!»Author« heißt das Computerpro-gramm, das amerikanische Forscherjüngst auf der Internationalen Konferenzfür künstliche Intelligenz in Seattle vor-stellten. Noch muss man das System mitso vielen Informationen füttern, dassman die Geschichte auch gleich selbstschreiben kann. Aber die Forscher sindsich sicher, dass »Author« bereits in we-nigen Jahren selbstständig Märchen undZeitungsartikel schreibt. Wofür es aller-dings noch keine Lösung gibt: Der Com-puter kann nicht zwischen Fakten undFantasie unterscheiden und ist deswegenzur Entlastung von Zeitungsartikel-schreibern, die ja bekanntermaßen pein-lich auf diesen Unterschied achten, nochlange nicht einsetzbar.

Nanogitarre Der Amerikaner Dus-tin Carr, seines Zeichens Rockmusiker,baute das wohl kleinste voll funktions-tüchtige Musikinstrument der Welt: einemikroskopisch kleine Gitarre, deren Saitennur 50 Nanometer Durchmesser haben.Da seine Finger viel zu groß sind, wird eraber seine Gitarre nie selber spielen kön-nen. Auch hören kann er seine Nanogitar-re nicht. Die Saiten schwingen nämlich 10Millionen Mal pro Sekunde. Das ist fürdas menschliche Gehör bei Weitem zu viel.Es nimmt maximal 20 000 Schwingungenin der Sekunde wahr. (Red.)

Die Technik ist ein Dienstbote,der nebenan so geräuschvollOrdnung macht, dass die Herr-schaft nicht Musik machen kann.

Karl Kraus 1874–1936

Ray KurzweilHomo S@piensLeben im 21. Jahrhundert –Was bleibt vom MenschenVerlag Kiepenheuer & WitschKöln 1999

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Unser Instrument »Studio« ändertsich zu rasch. Schauen wir zu-rück: Violine, Flöte und im Grun-

de alle traditionellen Musikinstrumente ha-ben sich über Generationen hin kaum inBauart und Spielweise verändert. Selbst inunserem Jahrhundert fanden Modifizierun-gen nur allmählich statt, moderne Techno-logien in Fertigung und Werkstoffentwick-lung haben die Kultur des Musikinstru-mentenbaues kaum gewandelt. Bezeich-nenderweise aber sind es die neuen Spiel-techniken und die dazu erforderlichen No-tationen, die in den letzten Jahren neue An-forderungen an die Interpreten gestellt ha-ben. Dies löste nicht etwa Begeisterungund Zustimmung bei den Musikinterpretenaus, sondern eher Unbehagen und Unwil-ligkeit. Gerade diese zähe Widerspenstig-keit des Musikeralltags gegen jede Neue-rung mag viele Komponisten dazu bewegthaben, sich überhaupt mit Elektroakusti-schen Mitteln zu beschäftigen.

Ganz im Gegensatz dazu wurden für dieelektronische Musik in den letzten 40 Jah-ren ganze Generationen unterschiedlichsterInstrumente erfunden, ganz abgesehen von

den Spielarten, die sich daraus ergaben.Vom ursprünglichen Studio, ausgestattetmit Tonbandmaschinen, Sonderanfertigun-gen (wie dem viel geschätzten Ringmodu-lator, der Hallplatte) und artfremden La-borgeräten, ging es in rund 30 Jahren überdie speziell für dieses Genre entwickelteAnalogtechnik hin zum reinen Digitalstu-dio von heute. Allein in den letzten 20 Jah-ren musste ein Interpret elektroakustischerMusik mehrmals total umlernen: Typischfür die 70er Jahre war das Analogsynthesi-zersystem, synchronisiert mit Tonband vonmaximal 16 Spuren und einer riesigen Aus-wahl von Studio-Effektgeräten.

In den frühen 80er Jahren folgte der Di-gitalsynthesizer mit vollkommen andererBedienoberfläche und automatisierten Ab-läufen. Dann kamen Multitrack-Tonauf-zeichnung sowie die rasante Ausweitungdigitaler, vergleichsweise billiger Effektge-räte. Seitdem erleben wir immer kurzfristi-gere Spielarten von Programmen undHardware, die in Schnelligkeit, Speicherka-pazität sowie immer komplexeren»Mensch-Maschine-Schnittstellen« enor-me Leistungssteigerungen zeitigen. Im Ge-

gensatz zu dieser technologischen Leis-tungssteigerung hat sich die Situation fürden Anwender nicht verbessert. Das be-trifft vor allem die Ergonomie, also dieHandhabung und Spieltechnik. In diesemZusammenhang wird oft über die künstle-rische Leistungssteigerung diskutiert; dochdas Gegenteil ist der Fall. Eine Interpreten-tradition hat es begreiflicherweise sehrschwer, unter diesen Voraussetzungen zugedeihen.

Wie sieht die Studiowirklichkeit heuteaus? Von Tonbandarbeit ist nicht mehr dieRede. Sie ist auf bloße Speicherung redu-ziert und bietet kaum Möglichkeiten derManipulation. Bis auf wenige Ausnahmenist ein traditioneller »Schnitt« unüblich.Diese früher sehr aufwändige Arbeit erle-digen jetzt digitale Editiereinrichtungensehr präzise und schön. Die Workstationssind allerdings nicht nur Editierwerkzeuge,sondern vereinen nahezu alle individuellenEinzelgeräte der alten Studiotechnik. Es isteine Frage der Zeit, dass nur noch eine ein-zige Workstation im Studio steht. Die Be-dienelemente, das schon genannte»Mensch-Maschine-Interface«, sind da-rum herum gruppiert. Hier gibt es genaueinen Arbeitsplatz. Das eine Gerät, dieWorkstation, trägt das Siegel einer Firma,man kann auch sagen: das Siegel einerIdeologie, einer speziellen Anschauung.Funktioniert ein Teil des Gerätes nicht,bricht gleich alles zusammen, auch dieIdeologie.

Die eigentliche Arbeit findet im Sitzenstatt. Sie wird wegen der grafisch orientier-

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Elektronische Musik in den Hochschulen

Von Update zu Update

Von Folkmar Hein

Mozart schuf noch auf Papier mit Tinte seine unsterblichen Kompositionen. Er be-herrschte sein wichtigstes Instrument, das Klavier, virtuos. Für zeitgenössischeKomponisten sieht die Sache anders aus, insbesondere, wenn sie sich der elektro-nischen Musik verschrieben haben. Meist fehlen schon für die Ausbildung geeig-nete Räume,eine geeignete Studio-Ausstattung und auch geeignetes Personal.DieTU Berlin verfügt über ein einzigartiges elektronisches Tonstudio, das gleichzeitigProduktionsstätte, Konzertsaal und Ausbildungsstätte ist. Die Akzeptanz der elek-tronischen Musik ist jedoch bei Publikum und Studierenden nach wie vor niedrig.Dafür gibt es viele Gründe.Einer liegt im schnellen Wandel des Instrumentes selbst.

Dipl.-Ing.Folkmar Hein

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Von Update zu Update

ten Werkzeuge auf dem Bildschirm vomAuge dominiert. Die ganze Bedienoberflä-che ist mit einem Blick überschaubar, manschaut daher immer nur in eine Richtung.Wir müssen immer wieder neu lernen,denn das Instrument ändert sich von Up-date zu Update. Der Umgang mit der wo-möglich gleichbleibenden Hardware ist je-doch fluktuierend, weil die Software stetigverbessert und erweitert wird. Hier ent-steht die Frage: Ist es nicht besser, mit ei-nem System vertraut zu bleiben und dieseseine zu beherrschen, als ständig mit demArgument der »Verbesserung« letztlichdiese wegen ihrer Unüberschaubarkeit garnicht in Anspruch nehmen zu können? Isthier nicht »Weniger« »Mehr«?

Daraus ergibt sich ein Wunsch: Wirbrauchen nicht die »bessere« Technik, son-dern besser spielbare, sogar virtuos spiel-bare Werkzeuge und Instrumente. In dieserHinsicht scheinen wir wieder ganz am An-fang zu stehen. Letztendlich bilden alleKomponenten der Studio- und Raumtech-nik eine Einheit: das Instrument Studio. Die

Studenten sollen das Instrument spielenlernen, was der klassischen Vorstellung derMusikhochschulausbildung entspricht.Schließlich sollen sie zu Interpreten diesesInstrumentes und damit für die elektroni-

sche Musik selbst ausgebildet werden. DerInterpret und der Tonmeister sollen überdas Programmieren hinaus kreativ tätigwerden können, nicht nur mit, sonderntrotz Gigatechnik. �

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ansprechpartnerDipl.-Ing. FolkmarHeinTechnische UniversitätBerlinFakultät I, Geistes-wissenschaftenInstitut für Spracheund KommunikationfachgebietMusikwissenschaftenforschungs-schwerpunktElektroakustischeMusik, Computer-musikkontaktSekr. EN 8Einsteinufer 1710587 BerlinTel.: 030/314-2 54 01Fax: 030/314-2 54 [email protected]://www.kgw.tu-berlin.de/Studio/

Datenbank

Techno ist die popu-läre Form der elektro-nischen Musik – unddie Love Parade inBerlin ihre Verkörpe-rung

Für Musikwissenschaftler,Komponisten und Studie-rende bietet die TU Berlinein einzigartiges Studio an

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Selbst Joseph Haydn, Wolfgang Ama-deus Mozart und Philip EmanuelBach beschäftigten sich mit der Her-

stellung musikalischer Würfelspiele, diezahlreich ab 1757 kursierten. Sie segmen-tierten und schematisierten das musikali-sche Material und deckten die ihr zugrun-de liegende Logik auf. Sie betrafen also diemusikalische Substanz.

Beide Aspekte musikalischer Automati-sierung – die des Spiels und die der Kom-position – finden sich auch in der heute all-gegenwärtigen elektronischen und elektro-akustischen Musik. Dabei haben sich nichtnur die Art des Spiels und die Stile der Mu-sik mit der Zeit erheblich gewandelt, son-dern auch die Kompositionsweisen erfuh-ren eine fundamentale Änderung durch dieTechnik. Computer sind erheblich komple-xer und variabler als mechanische Automa-ten. Klänge von harmonischem Ton biskomplexem Geräusch können heute meistin Echtzeit erzeugt und auf verschiedensteWeise bearbeitet werden und sind dabei nurvon der Ideenwelt des Komponisten oderder Komponistin und der Programmiererinoder des Programierers abhängig. DieBandbreite der elektronischen oder elektro-akustischen Musik ist entsprechend groß.Beschränkt man die Betrachtung auf jene

Musikstile, die absichtsvoll Elektronik sub-stantiell und nicht nur als klangliche Kos-metik einsetzen, so reicht die Bandbreitevom heute so populären, tanzbaren Technofür Disco oder Rave bis zum avantgardisti-schen, hochartifiziellen Klangexperimentfür den Konzertsaal oder die Ausstellungs-halle. Dabei vereint Techno meist beide Be-reiche der historischen Musikmechanisie-rung: Eine gewisse Schematisierung dermusikalischen Abläufe von meist eher ein-facher Harmonik und ein äußerst mechani-sches, durch Sequenzer endlos wiederhol-tes Grundmetrum sind ihre herausragen-den Kennzeichen: Automatisch-endlosesHämmern der Schwerindustrie, das auchmit seiner ekstatisierenden Wirkung an dieMaschinenverliebtheit der frühen Futuris-ten erinnert.

Zum Chill-Out, der akustischen Ruhe-zone nach dem stundenlangen Tanzen, ge-hören dagegen ruhigere Klangflächen undlangsam fortschreitende Klangmetamor-phosen. In diesem Umfeld entstand in denletzten Jahren eine neuartige elektronischeMusik, die zum Zuhören besonders geeig-net ist. Sie lehnt sich einerseits an die his-torischen Vorläufer elektronischer undelektroakustischer Musik seit den frühen50er Jahren an und experimentiert dabei

mit extremen, zum Teil konstruktivisti-schen Modellen. Zugleich aber beschreitetsie ihren eigenen, von den Vorgängerndeutlich getrennten Weg. Dieser ist amehesten an der einfachen Rezipierbarkeitder Musik erkennbar und setzt sich so vonder elektroakustischen Musik der Vorgän-ger ab. Auch hinter diesen eigenen Klang-oberflächen verbergen sich häufig neuarti-ge Kompositionsweisen, bei denen, je nachZustand des vorgegebenen Verarbeitungs-systems, Klänge komplexe virtuelle Bear-beitungseinheiten durchlaufen. Manchedieser Verarbeitungssysteme sind auchrückgekoppelt, funktionieren also selbst-ständig ohne weitere Eingriffe seitens derKomponisten, die nunmehr diese Systemeentwerfen. Ihre Arbeit ist somit zu gleichenTeilen in der Musik und der Ingenieurs-kunst angesiedelt: Der perfekte Zustandtechnischer Musik. �

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Mensch – Musik – Maschine

Musikalische Automatisierung

Von Martha Brech

Seit Menschen Maschinen bauen, bauen sie auch Musikmaschinen. Spieluhren, wal-zengetriebene Glockenspiele, Orchestrions und andere Konstruktionen der letztenJahrhunderte zeugen vom Einfallsreichtum musikalischer Mechanisierung, der frei-lich nicht nur auf das mechanisch-künstlerische Spiel beschränkt war. Auch Kompo-sition versuchte man schon früh zu automatisieren,wie etwa die mit Schiebereglernausgestattete Kompositionsmaschine von Athanasius Kircher um 1650 belegt.

Dr. Martha Brech

ansprechpartnerDr. Martha BrechTechnische UniversitätBerlin, Fakultät I,GeisteswissenschaftenfachgebietMusikwissenschaftforschungs-schwerpunktMusik und Technik,Musik des 20. Jahrhun-derts, MusikethnologiekontaktSekr. H 63Straße des 17. Juni 13510623 BerlinTel.: 030/314-2 22 35Fax: 030/314-2 22 [email protected]://jean.kgw.tu-berlin.de/MuWi/

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Zur SacheEs geht nicht darum, den tech-nischen Fortschritt aufzuhaltenoder zu drosseln, sondern dar-um, diejenigen seiner Züge zubeseitigen, welche die Unter-werfung des Menschen unterden Apparat und die Steige-rung des Kampfes ums Daseinverewigen.

Herbert Marcuse 1898–1979

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Musikalische Automatisierung

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RoboSpot: Fehlende Komponisten

Der Bildungsplan der Bund-Län-der-Kommission lässt den 16Bundesländern Freiraum für die

individuelle Ausgestaltung der Ausbil-dung, auch im Fach Musik. Ergebnis: eineäußerst vielgestaltige Musikausbildung.In den allgemeinbildenden Schulen ist Mu-sik sogar Pflichtfach. Inhaltlich wird dasFach sowohl von finanziellen als auch vonpersonellen Ressourcen bestimmt, was fürdie elektronische Musik (EM) eine Hürdedarstellt. Sie ist aufwändig, teuer, und nurwenige Lehrer können sie kompetent ver-treten. Einige Zahlen zur Situation: DerMusikalmanach des deutschen Musikra-tes spricht von etwa 7400 Schülern oderzwei Prozent der Gesamtschülerzahl, dieMusik als Leistungskurs/Abiturfach, be-legen. Die Tendenz ist abnehmend. Wieviele von diesen Gymnasialschülern sichdabei mit zeitgenössischer Musik bezie-hungsweise mit EM beschäftigen, ist unbe-kannt. Eine vertiefte musikalische Bildung(vor allem auch in Instrumentalfächern)vermitteln rund 225 öffentliche, privateoder kirchliche Schulen, davon 161 Gym-nasien/Oberschulen/Gesamtschulen, eineRealschule und 63 Grund- und Haupt-schulen, die meisten davon in Bayern (36)und Baden-Württemberg (51); die ehema-ligen Spezialschulen für Musik der DDRin Berlin, Dresden, Halle und Weimar wer-den als Musikgymnasien mit Internat be-ziehungsweise in Kooperation mit örtli-chen Musikhochschulen weitergeführt.Die Kommunen unterhalten etwa 1070Musikschulen und 1000 Volksmusik-schulen. Etwa 850 000 Jugendliche undLaien besuchen diese Einrichtungen frei-willig gegen ein geringes Entgelt. Der Zu-spruch im Fach Keyboard/Synthesizerstieg in den letzten Jahren um fast dasDreifache auf ca. 32 000 Schüler.Die berufliche Musikausbildung wird vorallem von Musikhochschulen und Uni-versitäten übernommen: In 23 Musik-hochschulen, 44 Konservatorien/Fach-akademien und wenigen privaten Institu-ten kann Musik als künstlerisches Fachstudiert werden. Spezielle Studiengängefür EM bieten folgende Institute an: Frei-

burg (Institut für Neue Musik, StudiofürEM), Stuttgart (Studio für Elektronische& Computermusik), Hannover (Studiofür EM), Düsseldorf (Ton- und Bildtech-nik), Essen (Folkwanghochschule,ICEM), Köln (Studio für EM), Dresden(Studio für EM), Weimar (STEAM) mitder Bauhaus-UniversitätIn Berlin gibt es ein sehr breites Lehrange-bot für ein Studium mit EM-Pflichtfach:Hochschule für Musik Hanns Eisler, Ber-lin, HdK, TU Berlin. EM-Pflichtfach bie-ten auch Frankfurt a. M. und München.Musik als pädagogisches Fach bieten 86Universitäten, Gesamthochschulen, pä-

dagogische Hochschulen und wenigeMusikhochschulen an. EM wird in Osna-brück, Oldenburg, Hamburg, Bremen,Karlsruhe, Köln, an der HU Berlin undder TU Berlin gelehrt, Musikwissen-schaft und andere Fächer wie Kirchenmu-sik sowie darstellende Kunst in Universi-täten und einigen Musikhochschulen.Spezialinstitute sind SAE – Gesellschaftfür Studiotechnik in München und Berlinsowie die Schule für Rundfunktechnikder ARD in Nürnberg. In den FächernKomposition und Tonmeister studierenseit Jahren unverändert nur etwa 400 Per-sonen pro Semester.

Kompositionsmaschine von Athanasius Kircher um 1650

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www.an-morgen-denken.de

Impressum:

Herausgeber:Technische Universität Berlin, Presse- und Informationsreferat,Straße des 17. Juni 135, 10623 Berlin,Tel.: 030/314-2 29 19, -2 38 20, Fax: 030/314-2 39 09,E-Mail: [email protected],Internet: http://www.tu-berlin.de/presse oderhttp://www.tu-berlin.de/forschung-aktuell

Redaktion:Patricia Pätzold, M. A., Dipl.-Journ. Stefanie Terp, Prof. Dr. Klaus-Peter Timpe,Dr. Kristina R. Zerges (verantw.)

Layout und Gesamtherstellung: deutsch-türkischer fotosatz (dtf), Markgrafenstraße 67, 10969 Berlin,Tel.: 030/23 37 27-0, E-Mail: [email protected]

Vertrieb:Ramona Ehret, Presse- und Informationsreferat der Technischen Universität Berlin

Auflage: 7000 ExemplareErscheinungstermin: Oktober 2001

ISSN 0176–263X

Fotonachweise:Titelfoto: The Imagebank Bildagentur GmbH, K. Mc MinimyKapitelfotos: The Imagebank Bildagentur, J. Drivas (S. 5), Paul Glaser (S. 27) ,Privat (S. 40), Photonica Bildagentur, Kamil Vojnar (S. 53), Ullstein/AP (S. 65),Elke Weiß/dtf (S. 79), ArTeg – Archiv für Technikgeschichte (S. 89)Autorenfotos: Elke Weiß/TU-Pressestelle, Mike Wolff (S. 10), Bernd Bresien/PTZ(S. 31), PrivatArtikelfotos: Airbus Industries (S. 61, S. 62), Archiv Vera Moede (S. 33), ArTeg –Archiv für Technikgeschichte (S. 25, S. 35, S. 37, S. 51, S. 87, S. 91), ThomasChristaller (S. 14), DFS – Deutsche Flugsicherung GmbH (S. 9), Fotodesign JörgMüller (S. 11 oben, S. 12), Fraunhofer Gesellschaft München (S. 72), Paul Glaser(S. 42, S. 88), Wolfgang Hilse (S. 64), Innovationszentrum Intelligentes HausDuisburg (S. 18, S. 19), Clemens Kirchner, Deutsches Technikmuseum Berlin(S. 11 unten und rechts), Inge Kundel-Saro (S. 81), Laser-Medizin-TechnologiegGmbH (S. 41), Patricia Pätzold (S. 25, S. 38, S. 67, S. 94), Sammlung Spur/ArchivIWF (S. 32, S. 33) Ullstein/AP (S. 71, S. 91), Ullstein (S. 76), Ullstein/Vision Pho-tos (S. 85),Warner Bros. & Dreamworks, LLC (S. 91 oben), Elke Weiß/TU-Presse-stelle/Archiv, Günter Wicker (S. 63), Privat

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Schön, dass man die Wahl hat.