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Konnen die altindischen Arzte als Materialisten gelten? von REINHOLD F. G. MULLER* Da die Materie als wortliche Bezeichnung “im Indischen kein genau entsprechendes Aquivalent hat”’, so ist an sich die Beantwortung der Titel-Frage behindert, weil sozusagen eine demonstratio ex silentio geschichtlich bedenklich ist. Ferner ist der Materialismus ein Sammel- Begriff2 und sein Nachweis in der Geschichte der Medizin mannigfach, wobei sich seine Entwicklung in der Neuzeit weniger selbstandig auf- baut, sondern vorzuglich durch die Naturwissenschaft3. In Rahmen der letzten urteilt abfallig der theoretische Physikefi, welcher aIs “exacter” Wissenschaftler verbindlich ist [oder war]. Dieser Vorgang scheint bei einem uberzeugten Materialisten seine Untersuchungen eher mehr aus- zurichten. Denn [auch ohne absichtlich unterlassene Belege] kann sich ein Forscher schwer von seinen eigenen Vorstellungen losen, selbst wenn die unbedingte Notwendigkeit anerkennt, dass die Ubertragung von Ergebnissen moderner Wissenschaft in die zuriickliegenden Zeiten und Orte Indiens unzulassig ist. Ohne auf weitere Hindernisse schon hier einzugehen, ware eine Aussprache nach einem Vortrag niitzlich gewesen, wozu bei diesem Aufsatz der Verfasser aufgefordert worden wars. Daher ergibt sich eine Beschrankung allein auf eine Untersuchung, welche trotz der zuvor angedeuteten Schwierigkeiten sich urn eine Klarung der Frage oben mit Hilfe weniger Belege bemuht. Wenn dabei von einer beherrschenden Grundlage, der Welt- und Lebensanschauungen ausgegangen wird, so ergeben sich bereits in der Ubersetzung Unstimmigkeiten, wenn etwa “materiellen Substanzen”6 die “vier Elemente7: Erde, Wasser, Feuer, L u f P zugesproclien werden. Die Philosopheme des Maha’bha‘rata9, welche gerade in dieser Hinsicht einen deutlichen arztlichen Einfiuss aufzeigen, bekunden eine ganz andere Bewertung in 184,l: ‘Es gibt diese funf Umwandlungen (dha‘tu), welche (der Gott) Brahman einst ausstromte, und durch welche sich diese Welten * Einsiedel bei Karl-Marx-Stadt, D.D.R. CenYaurw 1%4: vol. 10: pp. 165-173

Können die altindischen Ärzte als Materialisten gelten?

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Konnen die altindischen Arzte als Materialist en gelten?

von R E I N H O L D F. G. M U L L E R *

Da die Materie als wortliche Bezeichnung “im Indischen kein genau entsprechendes Aquivalent hat”’, so ist an sich die Beantwortung der Titel-Frage behindert, weil sozusagen eine demonstratio ex silentio geschichtlich bedenklich ist. Ferner ist der Materialismus ein Sammel- Begriff2 und sein Nachweis in der Geschichte der Medizin mannigfach, wobei sich seine Entwicklung in der Neuzeit weniger selbstandig auf- baut, sondern vorzuglich durch die Naturwissenschaft3. In Rahmen der letzten urteilt abfallig der theoretische Physikefi, welcher aIs “exacter” Wissenschaftler verbindlich ist [oder war]. Dieser Vorgang scheint bei einem uberzeugten Materialisten seine Untersuchungen eher mehr aus- zurichten. Denn [auch ohne absichtlich unterlassene Belege] kann sich ein Forscher schwer von seinen eigenen Vorstellungen losen, selbst wenn die unbedingte Notwendigkeit anerkennt, dass die Ubertragung von Ergebnissen moderner Wissenschaft in die zuriickliegenden Zeiten und Orte Indiens unzulassig ist. Ohne auf weitere Hindernisse schon hier einzugehen, ware eine Aussprache nach einem Vortrag niitzlich gewesen, wozu bei diesem Aufsatz der Verfasser aufgefordert worden wars. Daher ergibt sich eine Beschrankung allein auf eine Untersuchung, welche trotz der zuvor angedeuteten Schwierigkeiten sich urn eine Klarung der Frage oben mit Hilfe weniger Belege bemuht.

Wenn dabei von einer beherrschenden Grundlage, der Welt- und Lebensanschauungen ausgegangen wird, so ergeben sich bereits in der Ubersetzung Unstimmigkeiten, wenn etwa “materiellen Substanzen”6 die “vier Elemente7: Erde, Wasser, Feuer, L u f P zugesproclien werden. Die Philosopheme des Maha’bha‘rata9, welche gerade in dieser Hinsicht einen deutlichen arztlichen Einfiuss aufzeigen, bekunden eine ganz andere Bewertung in 184,l: ‘Es gibt diese funf Umwandlungen (dha‘tu), welche (der Gott) Brahman einst ausstromte, und durch welche sich diese Welten

* Einsiedel bei Karl-Marx-Stadt, D.D.R.

CenYaurw 1%4: vol. 10: pp. 165-173

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entrollten. Sie sind als mahGbhiita-s (= Grosswesen) anerkannt’. Diese werden in 4 eigenschaftlich aufgezahlt fur den Menschen (wobei die Beziehungen zur Grosswelt hier eingeklammt zugesetzt sind) : Zustrah- lung = Raum (unter dem Himmello), Wind = Triebbewegung (Sturm), Feuer = Hitze (Blitz od. dgl.), Wasser = Laufendes (Regen), Erde = Ballen. Nur der “Ballen” ist materiel1 beurteilbar, aber sein Textwort samgha‘ta wahrscheiniicher auf den ‘Abschluss’ der sonst immateriell bek.erteten Urnwandlungsreihe und damit auf ihre wiederholt vermerkte Riickentwick!ung zu beziehen. Der spate Kommentator beantwortet nicht eine solche Frage. sondern spielt auf die in I erwahnten Umwand- lungen an, jedoch nicht auf ihre Fiinfzahl, sonder deren sieben, welche die Arzte vorzuglich beachteten und nachfolgend erlautert werden.

Bei dem hochgeschatzten Rossopfer in Rg-Veda I, 162,I8 wurden die zerlegten Korperteile laut ausgerufen, auf deren Empfang in 12 die An- wesenden warteten. Auf diesem Vorgang beruhten zahlreiche Listen von Opferanteilen, so in der Va’jasaneyi-Samhita’ 19,8142 oder 20,13 : Leib- haar, Haut, Fleisch, Knochen, Mark, sowie in weiteren OpfertextenI 1.

Derartige Aufzahlungen mit ihrer Herkunft bei Opfertieren, mit dem Fell beginnend, sind in die Medizintexten ubernommen worden. So wird in Suiruta-Samhita’ nid&zao 5,21 ff. auf Haut, Blut, Fleisch, Fett, Knochen, Mark und Samen der Befall einer Hautkrankheit (kujfha) bezogen, was durch die Art des Leidens veranlasst sein konnte. Jedoch die gleiche Reihe berichtet 1,25ff. bei der Wind-Krankheit, wobei Blut und Sehnen noch eingefiigt sind. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass diese Anteile als Schichten stofflicher Wertung von den k z t e n beachtet wurden. Eigen- artig ist, dass zu beiden Lehrtexten der Kommentar die Haut (tvac) durch Saft (rasa) verbessert, weil er sich auf eine bedeutsame arztliche Lehre stiitzt, die mit Saft beginnt.

Diese Lehr-Regel bringen alle arztlichen Schulen, bzw. ihre Sammel- werke. Suiruta-Samhita‘ si2traO 14,ZO erklart : ‘Aus Saft entsteht das Blut, daraus das Fleisch, aus Fleisch das Fett, aus Fett der Knochen, aus Knochen das Mark, aus Mark entsteht aber der Same. II. Da ist bei dieser Umschichtung (dhntu) von Speise und Trank der Saft eine Be- friedigungswirkung’. Nach einem spateren Texteinschub wird dieser Vorgang erklart in 13: ‘Da hat (das Zeitwort: saften) ras- die Bedeutung der Bewegung, als “Verbalwurzel”l* ; weil er tagtaglich sich bewegt, deswegen heisst er Saft (rasa)’. Diese Bestimmung vom Saft (raso), die als nirukfi = ‘ Aussage’ der Bedeutung seines Begriffesl, kommentativ be-

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tont ist, betrifft somit nicht einen Stoff oder Materie, sondern bezieht sich auf die Wirkung seiner Bewegungl4, welche oft in Listen der Zeit- wortsammlungen der Inder hervorgehoben istls. Sie dient als Lehr- ausrichtung fur die weiteren Stufen der sieben dha‘tu-s, welche gleichfalls nicht aIs Stoff-Gegenstande zu gelten haben, sondern als Zustande eines ‘Umsetzens’.

Diese grundsatzliche Auffassung der Bezeichung durch dha‘tu = Um- schichten durfte sich bei einer Durchmusterung der medizinischen Texte erst nach und nach durchgesetzt haben. So ist in Caraka-Samhita‘ cikit- sita 3 , 7 4 4 2 , in der spateren Einleitung zu den Heilbestrebungen der Hitze-Krankheit, eine zeitliche Anordnung der sieben dha‘tu-s erkennbar, bei welchen korperliche Bezuge zuriicktreten und in einem kritisch annehmbaren Stoffwechsel ein ‘Wechsel‘ geltend erscheinen. In dem selben Sammelwerk taucht eine Aufmerksamkeit fur die Einzelheiten der Um- wandlungen dieser dhdtu-s bei der Entwickling der Fachmedizinls gleichfalls erst spat auf in den Texten, welche Drdhabala “probably in the ninth century A.D.”17 erganzt hatte. Auf die Fragen des Schiilers erlautert der Lehrer diese Umwandlungen vor allem durch Hitze oder Feuer ; aber der Text durfte erst nachtraglich eingeschoben seinls. Jeden- falls werden zuvor in cikitsita 15J3 die sieben Stufen der Umwandlung nicht durch dha‘tu hier bezeichnet, sondern mit dha‘tar = Umsetzer, also als wirkende Wesen oder Personen, so dass die Losung von einem materiellen B e d noch deutlicher erkennbar ist.

Die grundsatzliche Wertung ist aber nicht damit beendet ; denn zuvor in IZ werden auch die mahcbhiita-s als Hitzenlg bezeichnet, in Anlehnung an Verdauungsvorstellungen. Dem Kommentator erscheint diese Wer- tung so wichtig, dass er im Beginn seiner Erlauterungen erklart : ‘Feuer gibt es funf (nzaha‘) bhiita-Feuer, sieben dhdtu-Feuer, sornit nvolf Feuer’. Damit kniipft der Text an alte, vedische Vorstellungen an, welche noch die arztlichen Lehren durchsetzen. Sie sind zuerst von HERTEL~~, zumal als “arische Feuerlehre” dargelegt worden, der teilweise in Fachkreisen widersprochen worden ist. Aber ohne Rucksicht auf HERTEL hat FRAU- W A L L N E R ~ ~ “Die Feuerlehre” als “bedeutendste” betont, so dass eine alte Feuer-‘Wertung’ wenigstens in der Medizingeschichte nicht un- berucksichtigt bleiben kann.

Nach diesem Langsschnitt zu der gestellten Aufgabe kommt wenigstens noch eine kurze Untersuchung auf sprachlichem Gebiet uber dravya22 in Betracht, dessen Bezeichnung sich ursprunglich (in den Veden) auf den

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Baum bezieht und somit auf eine materielle Bewertung. Letzte ist in Pinini’s Grammatik bewahrt, wo in IV,3,161 (+ VI,1,213) dravya als ?om Baum kommend” galt, gemass einem dankenswerten personlichen Hinweis des Fachgelehrten R~u23. Der dortige Text reiht sich in V,3,104 mit ca (= “auch”) an 90 an, so dass mit ive (“wie dieses”) ein Bezug auf den Baum (dru) und seine Stoff-Bewertung erhalten blieb. BOEHTLINGK~~ iibersetzte den Text dravyam ca bhavye = Hjerher gehort auch dravya in der Bedeutung “wie es sich gehort”. Die Bedeutung von bhavya ist schon in Rg- Veda I, 129,6 bekannt (haufiger bereits im Atharva- Veda ge- braucht)24 und entspricht dem Gerundiv von hhii- = werden, somit dem, “was werden soll”, so dass dravya danach ebenso beurteilt werden konnte.

Diese Annahme beruht auf der indischen Entwicklung der Ausdrucks- bewertung, wie sie spater erkennbar ist. Denn der Grammatiker Saka- {@ma leitete namlich “alle primaren Nomina von Verben ab, Ggrgya und einige Grammatiker . . . nur einen Teil derselben”, wie unter letzten “auch Panini”25. Jedoch schliesslich wurde “dravya = bhavya”26 aner- kannt, also dravya (“movable”27) = bhavya (was werden soll). Die Be- stimmung von dravya (welche mannigfach im Sprachgebrauch erweitert wird) nimmt die VGgbhata-Schule auf, welche bevorzugt als Lehre fur den angehenden Berufsarzt diente. In ihrem Hrdayu werden viele un- mittelbare Einzelschilderungen in siitra’ 9, I i zusammengefasst : ‘Das dravya ist gewohnlich nach oben gehend, wenn Feuer und Wind iiber- reichlich siiid, und nach unten gehend, wenri Erde und Wasser iiber- wiegen. So ist das dravya’. Es ist hier wieder die Bewegung durch Gehen (gum-) hervorgehoben als Wirkungs-Anzeichen [wie schon friiher nach- gewiesen]. Ferner sind dam ursachlich die muhcbhiita-s herangezogen, welche in diesen Beziehungen berei ts in dem einleitenden Text envahnt wurden. Anschliessend wird ahnlich die Lehre von der Kraft (virya) erklart und dabei Caraka [szitra’ 26,671 zitiert : ‘Kraft ist das, wodurch Wirkung bewirkt wird’ [als ob damit auch die Bedeutung von dravya gefestigt werden soll]. Schliesslich ist noch auf den Text Caraka-Samhitd siitra’ 8,8 hinzuweisen: ‘Raum, Wind, Feuer, Wasser und Erde gelten als die fiinf dravya-s der Sinne’. Der Ausgleich mit der Reihe des Um- setzens der mahzbhiita-s bezeugt die gleiche Bedeutung der dravya-s, weiche daher als Begriff dessen, ‘was gelaufen werden wird oder-muss’ anzusprechen ist, sprachlich als particip. futur. passiv. oder gerundiv., somit als eine Wirkung der Bewegung, aber nicht mehr als Materie.

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Zu diesem Vorgang kann nachgetragen werden, dass druvyu einen arztlich iiblichen Namen fur Heilpflanzen abgab, die vedisch ojadhi hiessen. Diese haben in einem vedisch-zugehorigen Text die folgende Bedeutung in sogenannter Etymologie : “Drink, while burning (osham dhaya) ! From it plants sprang : hence their name plants (oshadhayah)”z*. Damit kommt die alte Feuer-Wertung zur Geltung. Dagegen entspringt der Ausdruck durch druvyu wohl unmittelbaren Erfahrungen, welche die Heilungsbeflissenen bei einer if bermittlung von KeMtniSSen durch Hirten, Jager usw. sammeln konnten29. Denn ein Unterricht ist nicht uberliefert hierbei, der durch gelehrte Arzte erfolgte, welche zu der wissenschaftlichen Deutung des Wortes dravya fahig waren. Mutmasslich ist daher annehmbar, dass sich deswegen die Stoff-Bedeutung von dravya, wie nach ihrem ursprunglichen Bezug zum Baum (dru), bei der Benennung von Heilpflanzen erhalten hat, wenn auch ein Beweis dafur textlich nicht aufgezeigt werden kann.

Zu diesen vorbemerkten Belegen kann zu den aufgeworfenen Fragen endlich noch eine philosophische Grundlage beachtet werden. An Philo- sopheme lehnten sich arztliche Texte an, so Caraka-Sumhitd sfitra” 1 Beginn an das Vaiie;iku3oo, oder im vimdnu’ 8 an das ‘Nydya31. All- gemein wurde aber die Moglichkei t oder Wahrscheinlichkeit selb- sthdiger wissenschaftlicher Entwicklung der Denkweise der k z t e kritisch wenig beriicksichtigt gegeniiber ihrer bevorzugten angeblichen Abhangigkeit von Philosophien, deren Nachweis sogar auf einzelnen Ausdriicken abgeleitet wurde. So glaubte im Anschluss an ROTH auch JOLLY, dass auf Anhanger der SZFkhyu-Philosophie in Caruka-Sumhitd siitru” 13 hingewiesen wurde, wahrend nach Titel und Inhalt dieses’ Ab- schnittes k t e , ‘berechnend’ (sZvkhya) fur Fettheilmittel, aufgezeigt werden. Aber auch zusammenfassend wird geurteilt : “Die PhiIosophie der medicinischen Autoren ist im Wesentlichen die des SBmkhya- systems”32. Ganz aus der Luft gegriffen ist eine solche Annahme nicht. Denn das Siimkhya kann (wenn auch geschichtlich nicht vollkommen ubersehbar) ais das “fuhrende System” beurteilt werden ; und “seine Wirkung erstreckte sich weithin”33. So erlauterte noch im 1 1. Jahrhundert n. Zw. Cukrapaidattn wiederholt durch Zitate aus der Sdmkhya-Kdrika’ (die schon 560 n: Zw. ins Chinesische iibersetzt worden war) ihm geeignet erscheinen Angaben von Caraka-Sumhiti Siirira” 1 oft im krassen Widerspruch zu diesen Lehrtexten.

Diese Curaka-Lehren sind sehr zusammengesetzt und lassen sich

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schon deshalb nicht als vom SZtpthya abhangig beurteilenw. Sie betreffen den puru;a, welcher als ein Seelen-Begriff angesprochen werden kann, und der [bzw. seine Ersatzbezeichnungen] als unentfaltet (avyakta) gilt und von dem eine weitere Hervorfertigung (prakrti) abhangig ist. Hingegen zeigt der Beginn in Suiruta-Sayhita’ Slirira” 1 deutlich einen SZmkhya- Einfluss, sowohl in der Liste vom Unentfalteten (ayvakta), als auch in den folgenden Schilderungen der ‘ Hervorfertigung (prakrti). Diese Darlegung ist aber nur als ein Lehreinschub zu beurteilen. Denn diese SZmkhya-Einwirkungen werden ausdriicklich in 11 nicht als zur in- dischen Medizin geeignet eingeschatzt, zumal weil an die Spitze der Entwicklung in 16 der Kannapuru;a gestellt wird, welcher etwa als ein Seelenbegriff anzusprechen ist, der von den Taten (karman) eines friiheren Daseins im Sinne der sogenannten Seelenwanderung abhangig ist. Diese Vorstellung scheint bei den Wundarzten beherrschend, zumal sie (wahrscheinlich nach dem 1 1. Jahrhundert n. Zw.) in der CikitsZkalika’ 9 von Tisata hervorgehoben wird mit dem Zitat auf Wirkungen von Handlungen (in einem friiheren Dasein) in SuSnita-Samhita’ uttara” 40,1633s.

Nach dieser einleitenden ubersicht [die sich nicht umgehen liess] kommt zu vorliegende Aufgabe aus dem Sa‘ykhya-abhangigen Text- einschub besonders Suirura-Sahmita‘ Slirira” 1,9 in Betracht : ‘Weiterhin werden wir fur die beiden prakiti und puruSa Gleichartiges und Ver- schiedenartiges auseinandersetzen. Beide sind ohne Beginn und Ende, beide ohne (korperliche) Merkmale, beide immerwahrend, ferner beide ohne Nachfolgende. Alein die prakrti ist unerleuchtend (acetana - “ohne Bewusstsein”), aus ihren Eigenschaften gebildet, regelmassig der Fortpflanzung unterworfen und auch dem Antrieb dazu sowie nicht gleichgiiltig [gegeniiber dem Weltgeschehen]. Zahlreich sind hingegen die puruja-s, mit Erleuchtung begabt, ohne Eigenschaften, nicht der Fort- pflanzung unterworfen, noch dem Antrieb dazu und ohne Anteilnahme [am Weltleben] inmitten seiner Regeln eingestellt. ‘Hier ist die prakrti (wie auch das zuvor einmal in 8 mit etwa gleicher Bedeutung erwahnte pradhZna) getrennt und unterschieden von den purusa-s (- Seelen) in Ubereinstimung mit den Anschauungen im S5nkhr.a.

Kritisch ist dabei sehr zu beachten, dass prakrti und pradhlina bei allen Forschern der indischen Philosophie als “Urmaterie” gilt, gemass der entscheidenen Beurteilung durch GARBE, dass diese Bezeichnungen der “Urmaterie”, den sie nach ihrer etymologischen Geltung urspriing-

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lich zum Ausdruck brachten : prakrti und pradhEna”36 sind. Bei geschicht- lichen Forschungen ist vielleicht in philosophischen Aufgaben ein Ergebnis besonders von den Vorstellungen des Untersuchers abhangig und eine weitere Anerkennung von seiner Autoritat. Die Schwierig- keiten einer Deutung indischer Philosophien durften besonders gross sein. Darauf hat erst kurzlich ein Fachforscher bei “Betrachtungen uber einen Ratnakiita-Text”37 hingewiesen, worauf aufmerksam gemacht wird ohne Kritik, welche die Unsicherheiten eines Verstandnisses nur vermehren wiirden. Wenn prakrti die “Urmaterie” ware fund nicht eine Hervorfertigung], so musste die von ihr abhangige Entwicklung eines geistigen Bereiches als materiel1 gelten. Das ist auch im Schrifttum hingestellt worden, aber ohne beweisende Einzelheiten fur solchen Vorgang, der wenigstens modernen Vorstellungen widerspricht. Zudem bedurfte diese Behauptung oder Voraussetzung erst des Beweises auch fur die indische Denkart. Jedoch diese Zwischenbemerkungen erstrecken nicht auf die vorliegende medizingeschichtliche Aufgabe.

Wenn prakrti von den Arzten als die “Urmaterie” anerkannt ware, so wiirden gemass Suiruta-Satnhid hirira” 1,6 acht Urmaterien vorhanden sein: ‘Das Unentfaltete, das grosse (Selbst; = buddhi = ‘Besinnung’ oder “Intellect”) und die funf Feinmasse (tanmdtra) sind so die acht prakrti-s’. Ferner widerspricht die urspriingliche etymologische Geltung von prczkrti und pradhzna, wie GARBE sie behauptet, den Wertungen der indischen k t e . Von diesen wird die Bezeichnung prakrti sehr oft in den Lehrtexten und Kommentaren gebraucht mit der regelmassigen Bedeutung gemass einer Ableitung von pra-kar- = hemor-fertigen, und ebenso (wenn auch etwas seltener) pradhzna gemass pm-dhd- = hervor- setzen. Damit ist auch hier ein materieller Begriff in der arztlichen Denkweise auszuschliessen.

Wenn auch hier aus verschiedenen Gebieten Belege fiir unmittelbare oder “praktische” Beobachtungen berucksichtigt wurden, so blieb nicht nachweisbar, dass die indischen k t e diese materiellen Vorbedingungen zu entsprechenden grundsatzlichen Schlussfolgerungen aus ihren Sinnes- erfahrungen nutzten. Denn gegensatzlich zu anfangs annehmbaren Venvertungen eines Empfanges von Eindriicken aus der Um- oder Aussen-Welt durch die Sinne38, ist bereits seit den vedischen Nachrichten erkennbar, class die Znder das Sinnesvermogen fur Auswirkungen nach der Umwelt zu erachteten39. Sie konnen als Ausstrahlungen beurteilt werden, weil sie fruhzeitig auf das “Jedermannsfeuer” als Ursache

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zuriickgefuhrt wurden, wobei eine Art von Seelenbegriff angedeutet erschien, der ausdrucklich auch die Vorstellung vom Geist oder ‘Denken’ (manas) einschloss mit dem Ursprung im Herz. Seine Bewertung ist noch in den Texten der wissenschaftlichen Medizin nachweisbar, dass das Herz der Standort der ‘Erleuchtung’ (cetartd40) ist. Somit wird, wie ein Ziel (artha) der Sinnesvermogen, in Curaka-Savihitd siirra’ 18,16 gelehrt (textlich schon zu 12 im Kommentar bevorzugt) : rna~iusastu cintyamartab = ‘Das Ziel des Denkens ist das Zubestrahlende’. Damit ware auch ein breiterer Boden fur die Art und Begriffe im grundsatzlichen Denken der Inder und fur den Mange1 einer Verwertung materieller AnIasse auf- gezeigt.

A N M E R K U N G E N

1. H. v. GLASENAPP, Die Philosophie der Inder, S. 386 (Stuttgart 1949). 2. STRELLER, Philosophisches Worterbuch, vgl.: Materialismus, historisch. Materialis-

rnus, Geschichtsphilosophie (Stuttgart 1955). 3. DIEPGEN, Geschichte der Medizin, vgl. Sachregister der 3 Bande (Berlin 1949-1955). 4. MARCH, Das neue Denken der modernen Physik, S. 31, beurteilt den Materialismus

als “Philosophie der Halbgebildeten” (Hamburg 1957). 5. Der Vortrag oben war zurn XIX. Internationalen Kongress Fir Geschichte der Me-

dizin 7.-12.9.1964 in Basel angefordert worden, wozu der Prasident am 15.10.1963 vergeblich urn Reiseerlaubnis f i r den Verfasser beirn DDR-Minister beantragte.

6. Der Begriff “Substanz” ist urnstritten; der Positivist ZIEHEN verbittet sich seine aus- druckliche Benutzung, Die Grundlagen der Psycholopie, B. I, S. 113 (Leipzig u. Berlin 1915).

7. Der Ausdruck “Element” entstammt wahrscheinlich einem Schulbuben-Latein gegen Ende der Zeitwende, wird bei allen maglichen Gelegenheiten verwandt (DIELS, Elementurn, S. 87, Leipzig 1899). entspricht aber nicht den Denkwerten der indischen Arzte.

8. Gegensittzlich zu seiner fruheren Beurteilung in seinen Worterbiichern betont [Ieider vergeblich] BOHTLINGK, Ber. Verh. Kgl. Sachs. Ges. Wiss. 1890, S. 150, dass “der Inder wohl den Wind, aber nicht die Luft kennt”.

9. Osiris Vol. XII, S. 467489 (Brugis 1956). 10. Rocznik Orientalistyczny T. 24. S. 53-58 (Warszawa 1961). 11. PHMA Hft. 7, S. 3-23 (Miinchen 1961). 12. B~HTLINGK, PBnini’s Grammatik (Leipzig 1887) gibt S. 243* als Verbalwurzel =

dhitu nicht nur eine einzige Zeitwortform an, so dass ihr Begriff als substantiver Infinitiv von dhri- auf die sehr alte Bedeutung “an einen Ort hinschaffen” zuruck- gefiihrt werden darf gernass GRASSMANN, Worterbuch zum Rig-Veda (Leipzig 1873).

13. ober “Begriffe” vgl. Acta historica Leopoldina N. F. Nr. 167 (Leipzig 1963). 14. Die Bewegung ist durch gum- = gehen ausgedruckt, zuvor durch *ras = fliessen

[wortnachahmend hier] saften.

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15. LIEBICH, Zur Einfuhrung in die indische einheimische Sprachwissenschaft 11, S. 18 (Heidelberg 1919) fuhrt schon fur die Nighagtu-s vorziiglich gati (‘‘Gang, Fghigkeit zu gehen, Bewegung”) bei den Verbalformen an.

16. Centaurus Vol. I, S. 97-1 16 (Copenhagen 1950). 17. HOERNLE, Journ. Roy. Asiat. SOC. 1909, p. 85s. 18. Sudhoffs Archiv Bd. 37 (1953) S. 312-319. 19. Text wortgleich mit Vcigbhala’s A$@iriga-Hrdaya Slirira“ 3,59 (- Satpgraha Stin 6) bei

Verdauungsvorstellungen; zu diesen vgl. Mittlg. Institut Orientforschg. Bd. VII, S. 198-223 (Berlin 1959).

20. BEHRSING, Asia Major Vol. VIII, S. 1 1 ff. (Leipzig 1932) hat die einschlagigen Ar- beiten von HERTEL ab Nr. 107 zusammengestellt.

21. Geschichte der indischen Philosophie, S. 60-80 (Salzburg 1953). 22. PHMA Hft. S demnachst. 23. Mitteilgn. Instit. Orientforsch. Bd. VIII, S. 105/6 (Berlin 1961). 24. Von den Rigveda-ubersetzern fasst GRASSMANN bhavya als “gegenwartig” auf (Leipzig

1877), LUDWIG als “werdend” (Prag 1876) und GELDNER ebenso (Cambridge, Mass. 1951).

25. LIEBICH (Anm. 15) S. 25. 26. ZACHARIAE, Beitrage zur indischen Lexicographie, S. 46 (Berlin 1883). 27. MACDONELL, A practical Sanskrit Dictionary (London 1924). 28. EGGELING, The Sacred Books of the East, Vol. 12, p. 323 (Oxford 1882). 29. Suhta-Saqthifd sfitra” 36,8, fihnlich Caraka-Satphitli &ran 1,118. 30. Acta histor. scient. natur. et medcin., Vo. VIII, S. 64ff. (Kopenhagen 1951). 31. DASGUTA, A History of Indian Philosophy, Vol. 11, p. 273-426: in Speculations in the

Medical Schools (Cambridge 1932) bemuht sich mehrfach urn Nyliya-Nachweise. 32. JOLLY, Medicin, S. 45 (Strassburg 1901). 33. FRAUWALLNER, Wien. Ztschr. Kunde Siid- u. Ostasiens, Bd. 11 (1958) S. 3. 34. Zu Weiterungen oben vgl. Nova Acta Leopoldina N. F. Nr. 138 (1958) S. 104-127. 35. Text b. N. N. MITRA (Lahore [1925]). Vgl. JOLLY, Ztschr. Dtsch. Morgenl. Ges.

Bd. 60 (1906) S. 413-468. 36. GARBE, Die Stimkhya-Philosphie, S. 346 (Leipzig 1917). 37. FRIEDRICH WELLER, Forschungen und Fortschritte, Jhrg. 37 (1963) S. 369-374. 38. Mitteilgn. Instit. Orientforschg.. Bd. VI, S. 267ff. (Berlin 1958). 39. Acta histor. scient. natur. et medcin. Vol. VIII, S. 27ff. (Kopenhagen 1951). 40. Indo-Iranian Journal Vol. 111. S. 272 (‘S-Gravenhage 1958).