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12.06.2018 Kolloquium Einführung in den Schwerpunktbereich Rechtsgeschichte Sommersemester 2018 Prof. Dr. David von Mayenburg 11. Juni 2018

Kolloquium Einführung in den Schwerpunktbereich ... · Zwischen Recht und Psychiatrie – Das Strafrecht des 19. Jahrhunderts Der Fall Marie Schneider. 2

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12.06.2018

Kolloquium Einführung in den Schwerpunktbereich Rechtsgeschichte

Sommersemester 2018Prof. Dr. David von Mayenburg

11. Juni 2018

Zwischen Recht und Psychiatrie –Das Strafrecht des 19.

Jahrhunderts

Der Fall Marie Schneider

2

Gliederung

• Die Quelle: Der Fall Schneider• Der psychiatrische Diskurs• Der juristische Diskurs• Einige Erträge

3

I. Der Fall Schneider

Friedrichshain,Metzgerei

Friedrichshain, Volksschule4

I. Der Fall Schneider

Näherinnen, Berlin 19115

I. Der Fall Schneider

Palisadenstr. 77Wassmannstr. 34

Berlin –Friedrichshain

ca. 1 km

6

I. Der Fall Schneider

Friedrichshain, typischer Hinterhof 7

I. Der Fall Schneider

Polizeistation:Vernehmung durch Kommissar Grützmacher

Detektive, ausgerüstet für verdeckte Ermittlungen, ca 1910(aus einem Polizeihandbuch) 8

I. Der Fall Schneider

„mit voller Überlegung vollführt…“: „Berliner Gerichtszeitung“ vom 10. Juli 1886 9

I. Der Fall Schneider

B

A

A GerichtshausB „Weibergefängnis”

Kriminalgerichts-Etablissement zu Berlin Moabit (1869/79) 10

I. Der Fall Schneider

Kriminalgericht Moabit 11

I. Der Fall Schneider

• Erste Instanz: Landgericht Berlin I, 3. Strafkammer– Der Ankläger: Ass. Werner (?)– Die Angeklagte: Sophie Charlotte

Marie Schneider (*1.5.1874)– Der Verteidiger: Dr. Fritz Friedmann

(* 1852 † 1915)– Die Kammer:

• Vorsitzender Richter: Alexander Schmidt (* 1827)

• Zwei Berufsrichter• Zwei Schöffen

Dr. Fritz Friedmann12

I. Der Fall Schneider

– Drei Sachverständige:• Dr. Reinhold Long

(*1835 †1900), Gerichtsmediziner

• Dr. Julius (?) Wolff (*1836 †1902)

• Dr. Georg (?) Lewin (*1820 †1896)

– Ein Zeuge• Lehrer Lehmann:

„ziemlich geistesschwaches Kind“ 13

I. Der Fall Schneider

§ 211 RStGB (1871) (Mord):„Wer vorsätzlich einen Menschen tödtet, wird, wenn er die Tödtung mit Ueberlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.”

14

I. Der Fall Schneider

§ 249 I RStGB (1871) (Raub):„Wer mit Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eine fremde bewegliche Sache einem Anderen in der Absicht wegnimmt, sich dieselbe rechtswidrig zuzueignen, wird wegen Raubes mit Zuchthaus bestraft.”

15

I. Der Fall Schneider

§ 51 RStGB (1871) (Strafausschließungsgrund Störung der Geistestätigkeit)„Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.”

16

I. Der Fall Schneider

§ 55 RStGB (1871), (Strafausschließungsgrund Minderjährigigkeit)„Wer bei Begehung einer Handlung das zwölfte Lebensjahr nicht vollendet hat, kann wegen derselben nicht strafrechtlich verfolgt werden“.

17

I. Der Fall Schneider

§ 56 RStGB (1871), (Strafausschluß bei schuldunfähigen Kindern)(1) Ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, als er das zwölfte, aber nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, eine strafbare Handlung begangen hat, ist freizusprechen, wenn er bei Begehung derselben die zur Erkenntniß ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besaß.(2) In dem Urtheile ist zu bestimmen, ob der Angeschuldigte seiner Familie überwiesen oder in eine Erziehungs- oder Besserungsanstalt gebracht werden soll. In der Anstalt ist er so lange zu behalten, als die der Anstalt vorgesetzte Verwaltungsbehörde solches für erforderlich erachtet, jedoch nicht über das vollendete zwanzigste Lebensjahr. 18

I. Der Fall Schneider

§ 57 RStGB, (Strafmaß bei schuldfähigen Kindern):„Wenn ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, als er das zwölfte, aber nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, eine strafbare Handlung begangen hat, bei Begehung derselben die zur Erkenntniß ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht besaß, so kommen gegen ihn folgende Bestimmungen zur Anwendung: 1. ist die Handlung mit dem Tode oder mit lebenslänglichem Zuchthaus bedroht, so ist auf Gefängniß von drei bis zu fünfzehn Jahren zu erkennen (…)“;

19

I. Der Fall Schneider• Expertengutachten:1. Dr. Long:

• Schneider besaß nicht die erforderliche Einsicht zur Erkenntnis ihrer Strafbarkeit, da sie

• „einen vollkommenen sittlichen Defekt“ besitze, der „unnatürlich und krankhaft“ sei

• vollständig von ihrer Lust auf Süßes besessen gewesen sei;

• keinen Sinn für Moral besaß und von „animalischer Natur“ gewesen sei

2. Dr. Wolff• untersuchte die Angeklagte nicht selbst, stimmte aber

den Schlußfolgerungen von Dr. Long uneingeschränkt zu20

I. Der Fall Schneider

3. Geheimrat Dr. Lewin (Gefängnisarzt):• Schneider besaß nicht die erforderliche Einsicht zur

Erkenntnis ihrer Strafbarkeit, da sie• unter „moralischem Irrsinn“ (moral insanity) leide:

Intellektuelle und moralische Fähigkeiten seien zu unterscheiden: Obwohl Schneider von der schweren Strafe für Mord wußte, beging sie die Tat.

• Die Unfähigkeit, diese Strafe gegen die drohende Bestrafung durch ihre Mutter abzuwägen, zeige auch einen intellektuellen Defekt.

21

I. Der Fall Schneider

• Antrag Staatsanwalt: 8 Jahre und 6 Monate Gefängnis• Antrag Verteidigung: Freispruch und Überweisung in eine

Erziehungsanstalt– „moralische Krankheit der Großstadt“– Angeklagte ist „vollständige Idiotin auf moralischem

Gebiet“• Urteil des Landgerichts Berlin I, 1. Oktober 1886:

– Zweifellos beging Marie Schneider einen Raubmord -> §§211, 249 RStGB (+)

– Zweifellos besaß Marie Schneider zum Tatzeitpunkt die „geistige Reife” für eine „volle Erkenntniss der Strafbarkeit ihrer Handlung“ -> §§ 51, 56 RStGB (-)

– Strafmaß gem. § 57 RStGB: 8 Jahre Gefängnis 22

I. Der Fall Schneider

• Revision vor dem Reichsgericht in Leipzig, 14. Dezember 1886 (RGSt 15, 97)– § 56 RStGB (-): Das Recht fragt nicht nach der Fähigkeit

des Angeklagten, das „Sittengesetz“ zu kennen. Er muß nur die Strafbarkeit seiner Handlung kennen, nichtaber sie einsehen

– § 51 RStGB (-): Die psychiatrische Theorie der „moral insanity” kann nur dort rechtlich relevant werden, wo sich ein Mangel als krankhafte Störung deuten läßt

– Daher wird die Revision der Verteidigung zurückgewiesen, das Urteil aufrechterhalten

23

I. Der Fall Schneider

• Frage: Warum haben beide Gerichte gegen das Urteil der Sachverständigen entschieden?

• These: Die Auseinandersetzung über die Schuldfähigkeit zeigt eine tief sitzende Unsicherheit in Gesellschaft und Wissenschaft über das Menschenbild

• Die Krise betraf sowohl– das Verhältnis zwischen der normativen Rechtswissenschaft

und den „exakten” (Natur-)Wissenschaften,– als auch einen jeweils innerhalb dieser Wissenschaften

aufscheinenden Dissens

24

II. Psychiatrischer Diskurs

• Fragen:– Was bedeutet „moral insanity”?– Wie tief war dieses Konzept und die Ideen eines „geborenen

Verbrechers“ im psychiatrischen Diskurs verankert?– Welche Bedeutung hat der Fall Schneider für diese Debatte?

• Die Psychiatrie war hier uneinig, im Kern gab es zwei Theorieangebote:

25

II. Psychiatrischer Diskurs

1. Das Konzept der „moral insanity”• war 1886 bereits etwa 50 Jahre alt:• Hintergrund:

• „Irrsinn” galt allgemein als Störung des Intellekts: ≈ Menschen erfinden ihre eigene Realität

• Aber 1835 prägte der englische Psychiater James Cowles Prichardden Begriff des „moralischen Irreseins“ („moral insanity”):

J.C.Prichard(1786-1848)

26

II. Psychiatrischer Diskurs

“(...) there is a form of mental derangement in which the intellectual faculties appear to have sustained little or no injury, while the disorder is manifested principally or alone in the state of feelings, temper, or habits. In cases of this description the moral (...) principles of the mindare strangely perverted and depraved; the power of self-government is lost or greatly impaired (...).“[J.C. Prichard. A treatise on insanity, 1835, S.4]

27

II. Psychiatrischer Diskurs

• Prichards Konzept wurde im 19. Jh. keineswegs allgemein akzeptiert

• Es wurde aber erfolgreich mit einem anderen Konzept verbunden, nämlich dem der Degeneration (devolution):– Demnach werden durch Vererbung bestimmte

körperliche oder psychische Defekte übertragen und über Generationen verstärkt

– Am Ende der Vererbungskette erscheinen dann geisteskranke Menschen oder Verbrecher

28

II. Psychiatrischer Diskurs

Fünf Thesen zur moral insanity / Degenerationstheorie:• 1. Es gibt eine bestimmte Gruppe geborener Verbrecher• 2. Diese Gruppe kann durch die Theorie der Degeneration

erklärt werden• 3. Die Gruppe der „geborenen Verbrecher“ unterscheidet sich

nicht fundamental, sondern graduell von gesunden Menschen

• 4. Der „geborene Verbrecher” kann nicht anhand bestimmter körperlicher Merkmale identifiziert werden, sondern

• 5. anhand bestimmter psychischer Eigenschaften29

II. Psychiatrischer Diskurs

• Der Fall Schneider wurde benutzt, um die Theorie der moral insanity zu stützen:– Verteidiger Friedmann nutzte sie für ihre

Verteidigung um eine Gefängnisstrafe zu verhindern: Seine Klientin

• leide unter einer „nicht fortzuleugnenden Krankheit des moralischen Unvermögens“,

• sei „ohne einen Funken von Moral“ und von „thierischen Trieben“ bewegt,

• sei „vermuthlich nie zu bessern oder zu ändern“30

II. Psychiatrischer Diskurs

Paul Lindau (1839-1919)

– Auch Paul Lindau und die Presse greifen diesen Gedanken auf:„Der Fall der Marie Schneider erscheint indessen als durchaus geeignet, diese stark angezweifelte und übelbeleumdete ‚moral insanity‘ als vereinzelten Ausnahmefall doch als tatsächlich vorhandenes Gebrechen hinzustellen”.

31

II. Psychiatrischer Diskurs

– Ebenso wird der Fall in der psychiatrischen Literatur und von Sachverständigen benutzt:

• Richard von Krafft-Ebingzitiert den Fall in seinem Lehrbuch um seine These der „moral insanity” zu stützen

Richard von Krafft-Ebing(1840-1902) 32

II. Psychiatrischer Diskurs• Für die zeitgenössische Psychiatrie war diese These

anschlußfähig:– Vererblichkeit erworbener Eigenschaften wurde

allgemein akzeptiert (Lamarck) – Monokausale Erklärungen waren allgemein akzeptiert

(Bakteriologie)– Irrenanstalten galten bei Psychiatern als modern und

human gegenüber altmodischen Gefängnissen

Frankfurt: Das „Irrenschloß“Polizeigefängnis Klapperfeld

(errichtet 1886)33

II. Psychiatrischer Diskurs• Mehrheit aber gegen die Theorie der „moral insanity“:

– Mechanismen der Vererbung (v.a. erworbener Eigenschaften) sind unbekannt

– Die Anatomie kann keinen speziellen Sitz der Moral im Gehirn ausmachen

– Erfahrungsgemäß sind meist nicht nur die moralischen, sondern auch die intellektuellen Fähigkeiten beeinträchtigt

– Wie kann etwas eine Krankheit sein, wenn nicht der Patient, sondern die Gesellschaft darunter leidet?

– Fast jeder Verbrecher zeigt irgendeine Abweichung.– Warum sollen gerade die kaltblütigen Verbrecher nicht

verurteilt werden? – Verbrechen wird auch durch soziale Faktoren mitbestimmt34

II. Psychiatrischer Diskurs

2. Die italienische Schule der Kriminalanthropologie (Cesare Lombroso)

• Ausgangspunkt: Forschung an menschlichen Gehirnen und angebliche Entdeckung anatomischer Besonderheiten

Cesare Lombroso(1835-1909) 35

II. Psychiatrischer Diskurs

• Wichtig: Theorie des Atavismus:– Die gesamte Natur und jedes Individuum sind in einem

Prozeß des Fortschritts von einem primitiven zu einem entwickelten Zustand

– Durch Zufälle werden einzelne in ihrem individuellen Fortschritt aufgehalten und daher zeigen ihre Körper Zeichen (Stigmata) von Kreaturen eines primitiveren Zustands (Tiere, „wilde Stämme“)

36

II. Psychiatrischer Diskurs

Fünf Thesen Lombrosos:• 1. Es gibt eine bestimmte Gruppe geborener Verbrecher• 2. Diese Gruppe kann durch die Theorie des Atavismus erklärt

werden• 3. Die Gruppe der „geborenen Verbrecher“ repräsentiert

einen eigenständigen Typ Mensch, den homo delinquens• 4. Der „geborene Verbrecher” kann anhand bestimmter

körperlicher Merkmale (Stigmata) identifiziert werden,• 5. und außerdem auch anhand bestimmter psychischer

Eigenschaften37

II. Psychiatrischer Diskurs

• Bedeutung des Falls Schneider:– Lombroso sah durch ihn seine Theorie gestützt:

• „Eines der schauerlichsten Beispiele von Herzensverhärtung, das für die von mir entworfene Charakteristik des geborenen Verbrechers und der moral insanity so schlagend ist, als wäre es dazu bestellt...”

[Lombroso, Der Verbrecher, 2. Aufl. 1894, S.301, Fn.1]• Lombroso übernahm Lindaus Beschreibung des Falls

Schneider in voller Länge in sein Lehrbuch

38

II. Psychiatrischer Diskurs

Aber: Was waren diese „schlagenden“ Beweise?• Körperliche Zeichen (stigmata)?

– Diese wurden während der Vernehmung Marie Schneiders nicht „wissenschaftlich“ erhoben

– Allerdings beschreiben Beobachter die „tierische Natur“ Marie Schneiders:

• Lindau leitet seinen Text mit einer Beschreibung der äußeren Gestalt ein und beschreibt sie als „Tier“ und „Mißbildung“

• Verteidiger Friedmann beschreibt sie so: 39

II. Psychiatrischer Diskurs“Sie machte den Eindruck eines für ihr Alter rein kör-perlich sehr entwickelten Kindes; eine nicht unschö-ne, wohlproportionirte, leicht nach vorn geneigte Ge-stalt trägt einen absolut kindlichen Kopf mit frischen rosigen Farben, ebenmässigen Gesichtstheilen, so-weit Augen, Ohren, Stirn und Kinn in Betracht kom-men; dagegen giebt der sehr grosse Mund, mit star-ken Zähnen besetzt, in Augenblicken der allerdings sehr seltenen Erregung durch sein eigenartiges Flet-schen dem Gesichte einen stark katzenartigen Aus-druck, so dass es mich unwillkürlich aneine Hyäne erinnerte.“[F. Friedmann, Das SchulmädchenMarie Schneider, in: Tribunal 2 (1886),p.554] 40

II. Psychiatrischer Diskurs

• Psychische Zeichen?– Für Lombroso war Maries junges Alter

entscheidend, da geborene Verbrecher von Geburt an Verbrecher seien:„Da moral insanity und verbrecherische Neigungen einander so nahe verwandt sind, so erklärt sich hieraus, warum alle grossen Verbrecher schon in frühester Jugend böse Neigungen verriethen: (…) Die zwölfjährige Mörderin Marie Schneider stach schon als kleines Kind Kaninchen die Augen aus.“[Lombroso, Der Verbrecher, a.a.O., S. 111.]

41

II. Psychiatrischer Diskurs

• Vorteile von Lombrosos „Theorie“ waren:– Bestimmte „Stigmata” versprachen „harte Fakten“, um

Kriminelle von gewöhnlichen Menschen zu unterscheiden

– Im Fall Schneider waren die Zeitgenossen überzeugt, daß ihre Erscheinung („Hyäne“) und ihr Verhalten („Gefräßigkeit“) deutlich erkennen ließen, daß sie in der Tat ein „wildes Tier“ war

42

II. Psychiatrischer Diskurs• Aber:

– Es gab keine belastbaren Daten, sondern nur Augenzeugenberichte wie denjenigen Lindaus (Laie! Literarische Verarbeitung!)

– Diskurs war zirkulär, denn Lindau war von der Kriminalanthropologie beeinflußt, die wiederum dessen Bericht als Beweis ihrer Theorie nahm

– Deutsche Anhänger versuchten Lombroso zu unterstützen, aber deren „Fakten“ (z.B. daß Schneiders Ahnen unter Geisteskrankheiten oder Selbstmord, Alkoholismus und Epilepsie gelitten hätten) waren vollständig erlogen

– Wie konnte „Verbrechen” als sozial bestimmtes Kriterium (Gesetzgeber!) im Körper repräsentiert sein? 43

II. Psychiatrischer Diskurs

• Weitere Entwicklung:– Lombrosos Theorie wurde in Deutschland während der

1890er Jahre aufgegeben, aber nur soweit es um körperliche „Stigmata“ ging

– Es blieb ein starker Glauben an die Existenz bestimmter psychischer Faktoren, die eine „kriminelle Persönlichkeit“ beschreiben lassen

– Seit den 1920er Jahren, gab es große Anstrengungen diese psychiatrischen, und immer noch auch körperlichen Faktoren zu verstehen:

– „Kriminalbiologische Sammelstellen“ sammelten Daten für Forschung, aber auch forensischen Gebrauch

44

II. Psychiatrischer Diskurs• Zwischenergebnis

– Psychiater glaubten, daß man mit Hilfe von Fällen wie Schneider eine biologische Grundlage des Verbrechens beweisen könne

– Sie folgten einem Menschenbild, das nicht kategorial zwischen Menschen und Tieren unterschied. Bestimmte Menschen wurden nicht mit Tieren verglichen, sie warenfür sie Tiere

– Diese Theorien konnten aber gerade nicht auf „harte Fakten“ gestützt werden

– Daher gab es auch keinen common sense über die biologischen und psychiatrischen Gründe des Verbrechens

45

III. Rechtlicher Diskurs

• Der Fall Schneider kann auch als Symptom des sog.„Schulenstreits” der Juristen des 19. Jahrhunderts gesehen werden):

1. Die „klassische Schule“:• basierte auf den Prinzipien der Aufklärung (Ende 18.

Jahrhundert• Idee individueller Freiheiten gegenüber dem Staat• Optimistisches Bild vom rationalen Menschen• Konsequenzen: Abschaffung alter, inhumaner

Strafpraxis (Folter, grausame Strafen, Geheimverhandlungen)

• Ideal des Rechtsstaats mit Garantie maximaler Freiheit: Nulla poena sine lege (Feuerbach) 46

III. Rechtlicher Diskurs

– Wichtig: PhilosophieImmanuel Kants: Strenge Scheidung

zwischen der Welt des Verstands und der Welt der NaturWillensfreiheit, d.h.

Fähigkeit des Menschen, eine Kausalkette zu beginnen ohne hierzu determiniert zu sein

Immanuel Kant (1724-1804)47

III. Rechtlicher Diskurs

– Konsequenzen für den Aufbau der Rechtsordnung:• Menschen können wie Tiere handeln, aber da sie sich

normalerweise selbst als rationale Wesen entwerfen, die nach dem Gesetz leben, müssen sie auch nach dieser Behauptung behandelt werden

• Nur Kinder und Geisteskranke dürfen nicht in dieser Weise ernst genommen werden

• Da alle Menschen in ihrer Rationalität gleich sind, müssen sie auch vom Strafrecht gleich behandelt werden (Gleichheitsgebot!)

48

III. Rechtlicher Diskurs

Welt der Natur(kein freier Wille,

Keine Strafe)

Welt des Verstands(freier Wille, Strafe)

(vereinfachtes!) Schema des klassischen Strafrechts 49

III. Rechtlicher Diskurs2. Die „moderne Schule”:

• Nach 1871: Erfahrung schnellen Wirtschaftswachstums und wachsender sozialer Probleme (Armut, Epidemien, Urbanisierung); Statistiken zeigten Anstieg des Verbrechens, v.a. bei Jugendlichen

• Idee der Freiheit erschien weniger wichtig als die Idee der öffentlichen Sicherheit

• Pessimistisches Menschenbild gewann an Boden• Konsequenz: Ruf nach einer radikalen Reform des

Strafrechts nach der Idee der „sozialen Verteidigung“: Rechtsstaat zu modifizieren: Feste Strafandrohungen, aber flexible Strafanwendung, je nach individueller Gefährlichkeit des Verbrechers 50

III. Rechtlicher Diskurs– Wichtig hier:

Naturwissenschaften, Charles Darwin:Keine fundamentale

Scheidung zwischen Welt der Vernunft und Welt der NaturKein freier Wille:

Menschen werden wie Tiere durch innere und äußere Antriebe determiniert

Charles Darwin (1809-1882)51

III. Rechtlicher Diskurs– „Neue Strafrechtsschule“

nach Franz von Liszt:• Keine fundamentale

Unterscheidung zwischen Menschen und dem „Rest der Welt”

• Da Menschen naturgemäß unterschiedlich sind, müssen sie vom Recht unterschiedlich behandelt werden

• Kriterium: Individuelle Gefährlichkeit

Franz von Liszt (1851-1919)52

III. Rechtlicher Diskurs

Welt der Natur(Kein freier Wille)

Keine Strafe / Verwahrung

Strafe? / Verwahrung

(vereinfachtes!) Schema der modernen Strafrechtsschule 53

III. Rechtlicher Diskurs

− Probleme der modernen Schule:• Wie soll ein Strafsystem ohne das Konzept der Schuld

funktionieren?• Insbesondere: Wie funktioniert dann das Problem der

Zurechnung?• Muß dann nicht das Strafrecht ganz abgeschafft und

durch ein System administrativer Regeln (Polizeirecht) ersetzt werden?

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III. Rechtlicher Diskurs

• Der Fall Schneider zeigt dies:• In seinem Lehrbuch (1888) hält Liszt das Konzept der

Zurechnungsfähigkeit zumindest formal noch aufrecht:“(...) Jedoch ergibt sich aus der (…) Einheitlichkeit unseres psychischen Organismus die doppelte Folgerung:Einerseits, daß Störungen nicht bloß des Vorstellungslebens, sondern auch des Empfindungslebens (…) und des Trieblebens (…) die Zurechnungsfähigkeit aufzuheben geeignet sind.

55

III. Rechtlicher Diskurs

Andererseits, daß jede Störung des Geisteslebens den gesamten psychischen Organismus ergreift, daß also partielle, lokalisierte Störungen bei sonstiger Unversehrtheit der Psyche nicht möglich sind. (…) Ebenso ist „moralischer Irrsinn“ (…) stets mit einer Trübung des Vorstellungslebens sowie einer Abstumpfung der Gefühle verbunden.„(...) [RG 15,97] ist daher formell im Rechte. Dennoch scheint es mir völlig unzweifelhaft, daß in dem fraglichen Falle die Verurteilte zurechnungsunfähig und gerade darum im höchsten Grade gemeingefährlich war.”[Franz v.Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 3. Aufl. 1888, S.159, Fn.1] 56

III. Rechtlicher Diskurs

• Diese Argumentation erwies sich als inkonsistent• Daher zweiter Anlauf 1896 (auf dem 3. Internationalen

Psychologenkongreß in München):

57

III. Rechtlicher Diskurs

“Eine zwölfjährige Mörderin steht vor Gericht. Sie hat als Kindermädchen (sic!) das ihrer Pflege anvertraute zweijährige (sic!) Kind kaltblütig gemordet, um ihm die bescheidenen Ohrgehänge wegzunehmen und mit dem Erlös ihre Naschlust zu befriedigen. Sie leugnet nicht und sie bereut nicht; die Tatsache des Raubmordes steht fest. Ihr ethischer Stumpfsinn, die Verblödung ihres Gemütes geben Anlaß, an der Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln. Die Aerzte behaupten, es läge ein Fall von „moralischem Irrsinn“ vor. Aber die Richter lassen sich durch die Bedenken der psychiatrischen Sachverständigen nicht irre machen. Sie erkennen auf Strafe, aber wegen der verminderten Zurechnungsfähigkeit auf eine gemilderte Strafe, sagen wir auf mehrere Jahre Gefängnis. Und die Rechtsordnung scheint wieder einmal gerettet. 58

III. Rechtlicher Diskurs

„Machen wir uns die Tragweite dieses Urteils klar. Im besten Lebensalter wird die Verurteilte entlassen; frei tritt sie aus der Strafanstalt wieder in die Gesellschaft. Ihr innerstes Wesen ist unverändert geblieben, mag sie es auch gelernt haben, vorsichtig zu sein. Die Störungen ihres Seelenlebens hat die Haft nicht zu ändern vermocht. Sie geht wie sie gekommen ist: eine drohende Gefahr für die Gesellschaft, auf die sie ‚von Rechts wegen‘ losgelassen wird wie ein wildes Tier. Sie ist frei und niemand kann sie hindern, wieder Kindermädchen zu werden. (…)“

59

III. Rechtlicher Diskurs

„Der Fall zeigt uns aber auch die Lösung. Hat der vermindert Zurechnungsfähige durch die Begehung eines Verbrechens seine Gemeingefährlichkeit bewiesen, so ist seine Verwahrung in einer Anstalt zur Sicherung der Gesellschaft notwendig. Aus der Verwahrung darf der Täter erst entlassen werden, wenn der Zustand der Gemeingefährlichkeit sein Ende gefunden hat. Endet er erst mit dem Tode des Unglücklichen, so ist die Verwahrung eine lebenslange. (…)

60

III. Rechtlicher Diskurs

„Die Begriffe von ‚Schuld‘ und ‚Sühne‘ mögen in den Schöpfungen unserer Dichter weiter leben wie bisher; strenger Kritik der geläuterten wissenschaftlichen Erkenntnis vermögen sie nicht stand zu halten. Damit tritt auch der Begriff der Strafe zurück hinter der heilenden Besserung und der sichernden Verwahrung. Die begriffliche Scheidewand zwischen Verbrechen und Wahnsinn weicht und fällt – und mit ihr die starre Herrschaft (…) der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit.”[Franz von Liszt: Die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit. In: Aufsätze und Vorträge, Bd.II, 1907, S.223ff. (zuerst 1896)]

61

III. Rechtlicher Diskurs• Die Reaktion der „klassischen Schule“

– richtet sich vehement gegen Liszts „Abschaffung des Strafrechts”...

– ...aber auch gegen Liszts Menschenbild:„Ob man den Verbrecher wie einen tollen Hund totschlagen oder wie einen tollen Menschen im Irrenhaus klinisch behandeln will -, das ist nur eine verschiedene Form der Fehde gegen das Verbrechen in seiner geschichtlich begründeten Auffassung und gegen alles Strafrecht.“[Karl Binding, Grundriß des deutschen Strafrechts, Allgemeiner Teil, 1902, S. vi]

Karl Binding (1841-1920)

62

III. Rechtlicher Diskurs

• Weitere Entwicklung:– Die Gerichte hielten im Fall Schneider die traditionelle

Unterscheidung zwischen Verbrechen und Wahnsinn aufrecht: Ein partieller (moralischer) Irrsinn wurde nicht anerkannt

– 1923 wurde das Strafmündigkeitsalter auf 14 Jahre angehoben

– Aber: Auch Anhänger der „klassischen Schule“ waren für strenge Maßnahmen gegen „Gesellschaftsfeinde“, nur eben außerhalb des Strafrechts

– Seit 1933 erlaubt die „Sicherungsverwahrung” dem Richter, Menschen eingesperrt zu lassen, auch wenn sie ihre Strafe verbüßt haben (“worst of both worlds”) 63

IV. Einige Erträge

• Der Fall Marie Schneider markiert einen Kreuzungspunkt dreier Diskurse:– Dem Diskurs unter Psychiatern über die Theorie

des „geborenen Verbrechers“– Dem Diskurs zwischen Juristen über die

Rechtfertigung des Strafrechts– Aber auch dem Diskurs zwischen Psychiatern und

Juristen über die Grenzlinie zwischen Medizin und Recht in Bezug auf Kriminelle

64

IV. Einige Erträge

• Auffällig ist die Bereitschaft der meisten Theorien, die Trennlinie zwischen „Menschen“ und anderen Wesen zugunsten eines einheitlichen Konzepts von „Natur“ aufzugeben

• Auffällig ist die Bereitschaft aller Theorien die gesellschaftliche Reaktion auf abweichendes Verhalten zu verschärfen

• Gleichzeitig reklamieren aber alle für sich, die humanste Lösung zu bieten

65

IV. Einige Erträge

• Wie ist dies zu erklären?– Zum Teil ging es schlicht um Forschungsgelder– Recht und Medizin reklamierten die Deutungshoheit im

Bereich der Kriminalität– Es gab ein naives Vertrauen in die heilenden Kräfte der

Naturwissenschaften, in die eine „endgültige Lösung“– Schließlich gab es ein gewisses Gefühl der Unsicherheit in

einer Gesellschaft rapiden Wandels, eine Bereitschaft, sich von Fällen wie Marie Schneider schockieren zu lassen und mit Repression zu antworten

66

IV. Einige Erträge

• Parallelen zur Gegenwart liegen auf der Hand:– Die Hirnforschung behauptet, den freien Willen „widerlegt“ zu

haben und fordert die Abschaffung des Strafrechts– Genetiker behaupten, ein „Mörder-Gen“ gefunden zu haben,

so daß man Mörder schon in der Kindheit aussortieren kann– Aber auch: Juristen (aller Schulen) sind bereit, prozessuale

Menschenrechte zu Gunsten der öffentlichen Sicherheit zu beschneiden (einschließlich einer Wiederzulassung der Folter)

– Und Juristen sind bereit, eine Linie zwischen Kriminellen (die zu bestrafen sind) und Feinden, Terroristen zu ziehen (die zu bekämpfen sind und denen keine prozessualen Rechte zustehen sollen)

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IV. Einige Erträge

• Welches Schicksal traf Marie Schneider?– Es erschien zwingend, sie in eine Institution einzuweisen:

Gefängnis, Besserungsanstalt oder Irrenanstalt– Das Leben in diesen Institutionen unterschied sich, aber

die Leitprinzipien waren identisch: Freiheitsentzug, Isolation, Arbeit und einige Erziehung

– Im Gegensatz zum „Irrenhaus” gab es für Marie Schneider im Gefängnis zumindest ein festgesetztes Entlassungsdatum, nämlich Juli 1894, im Alter von 20 Jahren

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IV. Einige Erträge• Über ihr weiteres Leben wissen wir nur wenig:

– Wahrscheinlich saß sie im Frauengefängnis in Cottbus, später im Frauengefängnis Barnimstraße, Berlin ein

– 1888 schrieb ein Jurist voller Befriedigung über den Fall Schneider, daß der Gefängnispastor bereits Erfolge dabei erzielt habe „den besseren Geist in dem Mädchen zu wecken“

– 1901 heiratete sie den Arbeiter Otto Winter. Die Heiratsurkunde nennt als Beruf „Näherin“

– Am 23.5.1905 um 2:30 verstirbt Marie Schneider in der Universitätsfrauenklinik Berlin im Alter von 30 Jahren

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Frauen im Gefängnis Barnimstraße erhalten Religionsunterricht 70