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LEAVE NO ONE BEHIND Kompass 2030 DIE WIRKLICHKEIT DER DEUTSCHEN ENTWICKLUNGSPOLITIK 2016

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Page 1: „Kompass 2030“ als PDF

L e a v e n o o n e b e h i n d

Kompass 2030 d i e W i r k l i c h k e i t d e r d e u t s c h e n

e n t W i c k l u n g s p o l i t i k 2 0 1 6

Page 2: „Kompass 2030“ als PDF

i n h a l t 02

V o r W o r t 03

Einführung

d e u t s c h e e n t W i c k l u n g s z u s a m m e n a r b e i t i m J a h r e i n s d e r a g e n d a 2 0 3 0 05

Kommentierung

e x t r a - a n s t r e n g u n g e n f ü r d i e z u r ü c k g e l a s s e n e n 10

Handlungsfeld 01

f l u c h t u n d m i g r a t i o n 12

Handlungsfeld 02

a r m u t ü b e r W i n d e n 14

Handlungsfeld 03

h u n g e r b e e n d e n 16

Handlungsfeld 04

V e r W u n d b a r e g r u p p e n , k i n d e r u n d f r a u e n s t ä r k e n 18

Handlungsfeld 05

J u g e n d b e s c h ä f t i g e n 20

Bewertung

d e u t s c h e e n t W i c k l u n g - z u s a m m e n a r b e i t m e s s e n 22

Zusammenfassung

i n a n u t s h e l l 26

f u s s n o t e n 27

a b k ü r z u n g e n 27

Impressum

k o m p a s s 2 0 3 0Die Wirklichkeit

der deutschen Entwicklungs ­politik 2016

a n s p r u c hNiemanden zurücklassen

h e r a u s g e b e rDeutsche

Welthungerhilfe e. V.terre des hommes Deutschland e. V.

r e d a k t i o nRichard Haep,

Wolf­Christian Ramm

a u t o r i nMarina Zapf

g e s t a l t u n gKatharina Noemi Metschl

h e r s t e l l u n gCarsten Blum

d r u c kOffset­Druck Schöneseifen

Röttgener Straße 100, 53127 Bonn

r e d a k t i o n s s c h l u s s15. August 2016

i s b n - n u m m e r :978­3­941553­26­2

Dieser Bericht ist online verfügbar unter:

W e l t h u n g e r h i l f e . d e /k o m p a s s 2 0 3 0

t d h . d e

inhaLt

cc $

02

Page 3: „Kompass 2030“ als PDF

v o r w o r t

In diesem Jahr veröffentlichen die Welthungerhilfe und terre des hommes Deutschland den 24. Bericht „Die Wirklichkeit der Entwicklungspolitik“. Wir haben uns 2016 allerdings für ein völlig neues Format entschieden. So wie die Agenda 2030, auch Weltzukunftsvertrag genannt, den Fahrplan für eine globale nachhaltige Politik verändert, frischen wir auch unseren Bericht auf: kürzer, prägnanter und ergänzt durch aktuelle Inhalte und weiterführende Verweise im Internet.

In bewährter Manier unterziehen wir dabei die deutsche Entwicklungspolitik einer kritischen Analyse, was sie im inter-nationalen Kontext als Geber staatlicher Entwicklungs - hilfe (ODA) leistet, welche Schwerpunkte sie setzt und wie sie die Mittel einsetzt.

Weil die Entwicklungspolitik dem Handeln der Bundes-regierung aber stärker als bisher einen Fahrplan geben sollte, assistieren wir künftig dabei: mit einem eigenen Kompass.

In diesem Jahr weist der Kompass auf das Leitprinzip der Agenda 2030: Niemanden zurücklassen! Daraus leiten wir fünf Politikfelder ab, in denen wir vorrangiges Handeln im Rahmen der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) für geboten halten. Für uns heißt das: investieren in die Benachteiligten und Ausgeschlossenen, in ihre Fähigkeiten und Chancen und nicht zuletzt in die Handlungsfreiheit in ihren Gesellschaften.

03

Kompass 2030

Page 4: „Kompass 2030“ als PDF

a l b e r t r e c k n a g e l terre des hommes Vorstandssprecher

d r . t i l l W a h n b a e c kVorstandsvorsitzender der Welthungerhilfe

Der Kompass wird sich zukünftig an den von den Vereinten Nationen gesetzten Jahresthemen orientieren und daraus seine Schwerpunkte ableiten: Armut und Wohlstand (2017), Transformation zu nachhaltigen und widerstandsfähigen Gesellschaften (2018) sowie dem Weg zu mehr Gleichheit und Inklusion (2019).

Künftig wollen wir dabei auch aufzeigen, wie glaubwürdig sich deutsche Entwicklungspolitik und andere wichtige Politikfelder ergänzen, um die Transformation zu einer nach-haltigen Welt bei uns und in der Welt anzugehen. Denn nicht die Entwicklungspolitik hat die Agenda 2030 unterzeich-net, sondern Kanzlerin Angela Merkel. Damit ist ein „Weiter s0“ keine Option mehr.

Kohärenz ist das Stichwort. Der Open Knowledge Foundation Deutschland danken wir 2016 für die Unterstützung bei der Bewertung dieser Kohärenz, ebenso für die Bereit stellung von Daten, wie die deutsche Entwicklungszusammenarbeit im internationalen Vergleich abschneidet.

Bonn/Osnabrück im August 2016

04

Vorwort

Page 5: „Kompass 2030“ als PDF

d e u t s c h L a n d i m J a h r e i n s d e r

a g e n d a 2 0 3 0

Auch die Entwicklungspolitik hat seit vergangenem September mit der Agenda 2030 einen neuen Zielkor-ridor: die von der UNO verabschie-deten nachhaltigen Entwicklungs-ziele (SDG). Sie gehen weit über die zuvor geltenden Millenniums-Entwicklungsziele hinaus, auch weil sie berücksichtigen, dass Länder mit hohem Entwicklungsgrad weit davon entfernt sind, nachhaltig zu sein. Da-runter Deutschland.

Die Staatengemeinschaft hat sich nicht weniger vorgenommen, als den Planeten für künftige Generationen vor dem Kollaps zu retten, sein Wirt-schaften und die Gesellschaften ge-rechter zu gestalten. Nachhaltigkeit ist das Gegenteil von Raubbau und Aus-grenzung benachteiligter Gruppen. Für dieses neue Verständnis liefert die Agenda 2030 die Klammer und die Unterziele die Bausteine zur anstehen-den und notwendigen Transformation.

Diesem Leitbild entsprechend muss Deutschland sich künftig auf drei Ebenen neu ordnen: Es ist selbst Entwicklungsland, das bei Konsum, Produktion und ökologischem Fußab-druck umsteuern muss. Es darf durch eigenes Handeln die Umsetzung der Ziele in anderen Ländern nicht ge-fährden. Und die Regierung ist an-gehalten, entlang dieses Kohärenzge-bots besonders Entwicklungsländer dabei zu unterstützen, die anstehen-den Aufgaben zu bewältigen.

Mit 17 Oberzielen und 169 Un-terzielen sei die Agenda 2030 „um-fangreich“ geworden, betonte Bun-deskanzlerin Angela Merkel vor dem

Dennoch will die Kanzlerin bei der UNO-Generaldebatte Ende September nach eigenen Worten mit gutem Bei-spiel in Umsetzung und Transparenz vorangehen. Letzteres mag zutreffen, die Umsetzung aber läuft zögerlich an.

m e h r f i n a n z i e l l e n e h r g e i z !

So hätte die Regierung bereits den Haushaltsentwurf 2017 für einen ehr-geizigen Aufschlag nutzen können. Betrachtet man die geplanten Ausga-ben des Ministeriums für wirtschaft-liche Zusammenarbeit und Entwick-lung (BMZ), so stehen dem knapp 8 Milliarden Euro zu. (2) Das sind rund 580 Millionen Euro mehr als 2016. Die Steigerung fällt mit 7,8 Prozent aber weit bescheidener aus als im Vorjahr. Ein weiterer Schatten: In den Jahren bis 2020 sind mittelfristig keine Mehrausgaben geplant. (3)

Damit verpufft erneut die For-derung von Zivilgesellschaft und Opposition, bis 2020 jährlich bis zu 1,5 Milliarden Euro draufzulegen. Dafür haben sich der Dachverband Entwicklungspolitik VENRO (4) und die Grünen im Bundestag (5) starkge-macht und so die Glaubwürdigkeit der Regierung herausgefordert.

Statt Stufen zu planen auf dem „Weg zum Ziel“, hält diese sich an die vage EU-Position, das Ausgabenziel für staatliche Entwicklungszusam-menarbeit (ODA) von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) im „Zeithorizont der Post-2015-Agen-

Nachhaltigkeitsrat Ende Mai. (1) „Wir wissen, dass wir uns sehr anstrengen müssen.“ Die Regierung werde „si-cherlich Schritt für Schritt lernen“, für die vielen Ziele „entsprechende Initiativen in Gang zu setzen“.

Allein: Herantasten genügt nicht. Als Basis der Umsetzung dient eine Neuauflage der deutschen Nachhal-tigkeitsstrategie, die bis Ende des Jah-res im Kabinett beschlossen werden soll. An der Weiterentwicklung zu ei-ner praktischen Orientierung soll die Zivilgesellschaft angemessen beteiligt werden. „Politische Ziele“ und „rele-vanter Handlungsbedarf“ sollen erst zur Endfassung im „Herbst/Winter 2016“ bestimmt werden.

Auch der inzwischen bei der UNO präsentierte erste Bericht über die Verwirklichung der Ziele gleicht mehr einer Bestandsaufnahme als einem Aufbruchssignal. Für das High Level Political Forum (HLPF) skizzierte die Regierung – aufbauend auf dem Ent-wurf der deutschen Nachhaltigkeits-strategie – im Juli den „eingeschlage-nen Weg zum Ziel“: „vorbereitende Umsetzungsanstrengungen“ und „ers-te Prioritäten“.

Geprägt ist der Bericht indes we-niger von Mut als von Zurückhaltung: Wohl dekliniert er bekannte Vorhaben wie die Energiewende oder Klimafi-nanzierung durch die Raster der 17 SDG. Besonders in der Außen- und Entwicklungspolitik aber glänzt er nicht durch neue Akzente. Der ent-scheidende Schritt von hehren Absich-ten zu Aktionen mit quantifizierbaren Stufenzielen bleibt (noch) aus.

05

Kompass 2030

Page 6: „Kompass 2030“ als PDF

35 000

30 000

25 000

20 000

15 000

10 000

5 000

0

USA

Gro

ßbri

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1,5

1,25

1,0

0,75

0,5

0,25

0

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a b b . 0 1 : t o p 1 0 d e r g e b e r s t a a t e n i m e n t W i c k l u n g s a u s s c h u s s d e r o e c d ( d a c )Links: Staatliche Entwicklungshilfe (ODA) 2015 (vorläufig), Beitrag in Mio. $, laufend, netto.

Rechts: Anteil am Bruttonationaleinkommen (BNE) in Prozent. Quelle: OECD; Stand: 13.April 2016

= 2014

17 779

0,52

a b b . 0 2 : e m p f ä n g e r d e r e i g e n e n e n t W i c k -

l u n g s h i l f eDeutsche ODA in Mrd. €, vorläufig.

Quelle: OECD

2,7 Inlandskosten

Geflüchtete

2,7Bilaterale

ODA an Afrika

16,03gesamt

ODA 2015

da“ zu erreichen. Das ist enttäu-schend – zumal das Versprechen seit den 70er-Jahren erst auf 2015, dann auf 2020 und nun „bis 2030“ ver-schoben wird.

Hinzu kommt, dass Deutschland sich seine Entwicklungsleistung zu-nehmend schönrechnet. Für 2015 ergibt sich eine Gesamt-ODA von 16 Milliarden Euro und damit ein Anstieg der ODA-Quote von 0,42 auf 0,52 Prozent – mit dem Deutschland

auf Rang neun der westlichen Geber vorrückt (Abb. 01).

(6) Der Sprung ge-lingt jedoch im Wesentlichen, weil die Kosten für Geflüchtete im Inland jetzt in viel stärkerem Maße als Ent-wicklungshilfe deklariert werden.

Um 2,7 Milliarden Euro bläht das die ODA künstlich auf. Ein Betrag, der ungefähr der jährlichen ODA für Afrika oder die ärmsten Länder ent-spricht (Abb. 02). Die Regierung rech-nete 17,5-Mal so viele Aufwendungen an wie im Vorjahr, während die Zahl anerkannter Geflüchteter sich „le-diglich“ vervierfachte. Damit ist sich Deutschland selbst der größte Geber. Der BMZ-Etat macht nur noch knapp die Hälfte der ODA aus (Abb. 03).

Bisher nahm die Regierung sich zur Regel, nur die Grundversorgung anerkannter Asylbewerber im ersten Jahr einzurechnen. Nun wird aus-geschöpft, was im Kreis der OECD-Geber erlaubt ist: So steigern die EU-Staaten ihre ODA-Aufwendungen im Vergleich zu den anderen DAC-Staa-ten im Wesentlichen aufgrund höhe-rer Kosten für Geflüchtete im Inland. Deutschland ist in der Europäischen Union also leider in schlechter Ge-sellschaft (Abb. 04).

V e r e n g t e r b l i c k i m k r i s e n m o d u s

Auch forthin prägt die Flüchtlings-krise die Ausgabenplanung des BMZ. Schon im laufenden Jahr (Abb. 05, S.08) fließt der allergrößte Teil der Mehrausgaben (850 Millionen Euro) in Herkunfts- und Aufnahmeländer. Für 2017 sind nun – neben humani-tärer Nothilfe – 345 Millionen Euro für die Sonderinitiative „Fluchtursa-chen bekämpfen, Geflüchtete reinte-grieren“ veranschlagt sowie 70 Mil-lionen Euro zur „Stabilisierung und Entwicklung Nordafrika-Nahost“. (7)

Im Fokus sind dabei vor allem die Nachbarn Syriens, der Jemen, Nord- und Westafrika, Sudan und das Horn von Afrika. Auch der West-balkan, die Ukraine, Afghanistan und Pakistan fallen darunter. Geflüchte-ten soll innerhalb und außerhalb von Aufnahmelagern eine menschenwür-digere Infrastruktur und Beschäfti-gung (Cash-for-Work-Programme) ermöglicht werden, potenziellen Heimkehrern Fähigkeiten für den Wiederaufbau.

Insgesamt kommt laut Entwick-lungsminister Gerd Müller in der Le-

06

Einführung

Page 7: „Kompass 2030“ als PDF

6 329,9 Bundesministerium für

wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)

a b b . 0 3 : W e r s t e u e r t e 2 0 1 4 W i e V i e l z u r d e u t s c h e n o d a b e i ?

Mittelherkunft 2014 bi­ und multilateral, netto in Mio €. Quelle: BMZ, Stand: 17. Dezember 2015

12 485,9gesamt

2 683,2Marktmittel

(KfW­ Darlehen)

1 499,2ODA­

anrechenbarer Anteil aus

EU­Haushalt

836,3Bundes­

vermögen (Schulden­

erlasse)

1 175,1Auswärtiges

Amt (v. a. humani­

täre Hilfe)766,7

Bundesländer (v. a. Studien­platz kosten)

468,6DEG ­ Deutsche

Investitions­ u. Entwicklungs­

gesellschaft

1 107,4sonstige

301Bundes umwelt­

ministerium (BMUB)

a b b . 0 4 : r e c h e n k ü n s t e EU­Staaten rechnen sich

zu nehmend heimische Kosten für auf­genommene Geflüchtete als ODA an, in Mrd. $, konstant, DAC­Staaten EU

und Nicht­EU, *vorläufig.

= e u - s t a a t e n = n i c h t - e u - s t a a t e n

12

8

4

0

2011 2013 2015*

11 336

gislaturperiode für die Bekämpfung struktureller Fluchtursachen und Flüchtlingshilfe ein Paket von 12 Mil-liarden Euro zusammen. Dafür ern-tet er Lob, aber auch die Kritik, dass Entwicklungszusammenarbeit miss-braucht wird, um Migrationsströme zu steuern und abzuwehren. (8)

In jedem Fall sind Feuerwehrein-sätze kein Ersatz dafür, tieferliegende Gründe von Hunger und Konflikten zu überwinden, die Menschen ver-treiben. So notwendig ein ambitio-niertes Engagement für bessere Le-bensbedingungen Geflüchteter auch bleibt, so überfällig ist es auch, vom Krisenmodus wieder umzuschalten: auf planvoller angelegte, langfristi-ge Ansätze dort, wo rechtsstaatliche Strukturen und wirtschaftliche Teil-habe im Argen liegen.

Denn gegenwärtig entsteht eine Schieflage. Die Mittel für die ärms-ten und fragilen Länder stagnieren, während das inflationäre Etikett

Zu den bedürftigsten Staaten gehören auch sechs der Hauptherkunfts- und Aufnahmeländer von Geflüchteten: Afghanistan, Eritrea, Jemen, Soma-lia, Sudan und Südsudan. Es sind vie-le schwierige Staaten darunter, aber nicht nur. Die Zusammenarbeit mit autoritären Regimen ist umstritten. Aber gerade hier gewinnt die Stär-kung zivilgesellschaftlicher Akteure an Bedeutung.

Die Regierungen aller Länder haben das anerkannt und sich mehr-fach verpflichtet, ein „förderndes Umfeld für das Agieren der Zivil-gesellschaft“ zu schaffen. Während dies im Jahr eins der Agenda 2030 immer dringlicher wird, schränken Gesetze in mehr als 100 Ländern den Handlungsspielraum zunehmend ein. Deutschland muss im Vorsitz der G20-Industrie- und Schwellenländer hier ein Zeichen setzen, gesellschaft-liche Teilhabe zu fordern und zu för-dern.

Mit nichtstaatlichen Organisatio-nen läuft auch hierzulande nicht al-les rund. So empfahl die OECD dem BMZ bereits 2010, „einen strategi-schen Ansatz für seine Beziehungen mit Nichtregierungsorganisationen auszuarbeiten“, (9) und 2015 erneut, Mikromanagement bei Planung und Verwaltung vieler Einzelprojekte

„Fluchtursachen bekämpfen“ mehr verspricht, als es halten kann. Es er-setzt nicht eine intensivere Auseinan-dersetzung mit der Heimat der bishe-rigen Verlierer der Millenniumsziele. Eben der Zurückgelassenen.

b l i n d e f l e c k e n W e r d e n V e r n a c h l ä s s i g t

In ihrer jüngsten ODA-Evaluierung der deutschen Entwicklungspolitik hatte die OECD 2015 bemängelt, Deutschland schenke gerade der Ländergruppe der ärmsten und fra-gilen Staaten zwar politisch höchste Aufmerksamkeit. Deren Anteil an Mitteln der bilateralen Zusammen-arbeit aber sinke, statt zu steigen (Abb. 06 und 07). (10) Dabei haben die Industrieländer sich verpflichtet, den Abwärtstrend umzukehren. Trotz der Ermahnung ist eine deutsche Kurs-korrektur nicht in Sicht.

07

Kompass 2030

Page 8: „Kompass 2030“ als PDF

a b b . 0 5 : b u n d e s h a u s h a l t 2 0 1 6Einzelplan Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)

in Tsd.€. Quelle: bundeshaushalt­info.de

25 181Verwaltungs­

einnahmen und ­ausgaben

41 205Forschung,

Evaluierung und Qualifi­

zierung

104 783Bundesministerium

3 101 860b i l a t e r a l e s t a a t l i c h e

e n t W i c k l u n g s -z u s a m m e n -

a r b e i t

947 175b e i t r ä g e a n

m u l t i l a t e r a l e e n t W i c k l u n g s -

b a n k e n 942 840z i V i l g e s e l l s c h a f t -

l i c h e s , k o m m u n a l e s u n d W i r t s c h a f t l i c h e s

e n g a g e m e n t

756 997s o n s t i g e

b e W i l l i g u n g e n

1 486 710e u r o p ä i s c h e

e n t W i c k l u n g s z u -s a m m e n a r b e i t ,

u n o - b e i t r ä g e

45 598Rest (z. B. Regionen)

400 000Krisenbewältigung,

Wiederaufbau, Infrastruktur

260 000Politische Stiftungen

255 000Kirchen

207 040Rest

124 800Partner­schaften mit der

Wirtschaft

96 000Private

deutsche Träger

300 000Flucht­

ursachen

166 012Klima­ und

Umweltschutz

70 000StabilisierungNordafrika/

Nahost220 000EINEWELT ohne Hunger

1 057 740Bilaterale finanzielle

Zusammenarbeit

1 188140Bilaterale technische

Zusammenarbeit7 406 751

08

Einführung

Page 9: „Kompass 2030“ als PDF

2010 2011 2012 2013 2014 2015*

l d c z u s a m m e n 2 757,6 2 643,3 2 861,3 2 536,8 2 889,1 k . a .

o d a g e s a m t 9 803,9 10 135,6 10 066,9 10 716,7 12 485,9 16 030,0

a n t e i l l d c a n o d a 28,13 26,08 28,42 23,67 23,14 k . a .

o d a - a n t e i l l d c a m b n e i n p r o z e n t

0,11 0,1 0,11 0,09 0,1 k . a .

o d a - a n t e i l i n g e s a m t a m b n e

0,39 0,39 0,37 0,38 0,42 0,52

a b b . 0 7 : d e u t s c h e s t a a t l i c h e e n t W i c k l u n g s h i l f e ( o d a ) a n l e a s t d e V e l o p e d c o u n t r i e s ( l d c )

netto in Mio. €, *vorläufig. Quelle: OECD

a b b . 0 6 : W e r b e k o m m t W i e V i e lDeutsche Entwicklungszusammenarbeit nach Kontinenten, ODA 2014,

gerundet, netto in Mio €. Quelle: BMZ, Stand 05.01.16

2 715Subsahara­

Afrika12 476gesamt

1 218Nordafrika

1 585Amerika

3 643Asien

1 399Europa

1 917Nicht

aufteilbar

durch Programmfinanzierungen zu ersetzen. (10) Das senke Transaktions-kosten, und die NRO könnten sich auf das Wesentliche konzentrieren: Friedens- und Entwicklungsarbeit mit ihren Partnern vor Ort – in teil-weise hochsensiblen Lagen.

s o n d e r i n i t i a t i V e f o k u s s i e r e n

Auch in der ländlichen Entwicklung und Ernährungssicherung war es Müllers Ziel, vom Gießkannenprin-zip für vielfältige Einzelprojekte ab-zugehen. Laut BMZ gibt Deutschland hierfür 2015 und 2016 je 1,4 Milliar-den Euro aus. Die Sonderinitiative EINEWELT ohne Hunger, die auch langfristig diesen Schwerpunkt set-zen will, ist zu begrüßen. Ihre Ziel-länder sind mit Ausnahme von In-dien, Tunesien und Ghana allesamt ärmste und fragile Staaten. Aber ihr Fokus richtet sich nicht konsequent auf die Hungernden und Ärmsten aus. Starker politischer Wille führte zu übereilter Planung; die gründliche Ursachenanalyse von Hunger und Unterernährung in den einzelnen Ländern kam zu kurz. Lokale zivilge-

sellschaftliche Organisationen waren nur ungenügend beteiligt. Auch da-durch leiden die Einbettung in nati-onale Ernährungsicherungstrategien und die Berücksichtigung lokaler Bedürfnisse – und damit auch die Ownership. Eigentlich längst über-wunden geglaubte Defizite.

In der Folge bleibt die Initiative in ihren Wirkungen und vermutlich auch der Nachhaltigkeit hinter dem Möglichen zurück. Immerhin lo-benswert ist die Dialogbereitschaft des BMZ und sein Wille, Kritik und Anregungen für Verbesserungen zu nutzen (s. hierzu auch S. 16 f).

09

Kompass 2030

Page 10: „Kompass 2030“ als PDF

02

01

04

05

i n k L u s i o n h e i s s t i n v e s t i e r e n i n d i e

Z u r ü c k g e L a s s e n e n

03

„Leave no one behind“ – niemanden zurücklassen: Das ist der Leitgedan-ke der Agenda 2030. Es ist auch das diesjährige Leitmotiv, unter dem die Unterzeichnerstaaten erste Weichen stellen für ihre Beiträge zur Umset-zung der 17 Nachhaltigkeitsziele.

Dabei müssen die Anstrengungen zielgerichteter werden und an Tempo gewinnen, um die Grundlagen für bleibende Erfolge zu legen. Es ist also ein Umsteuern geboten zuguns-ten der Schwächsten, zugunsten je-ner Gruppen, die bisher unerreicht oder vernachlässigt blieben. Andern-falls bleiben die Ziele unerreichbar.

In Entwicklungsländern sind dies häufig Opfer von Krisen und Konflik-ten oder sie gehören Bevölkerungs-gruppen an, die aufgrund von Ge-schlecht oder Herkunft in ländlichen Räumen am Rande der Gesellschaften leben. Zurück bleiben Kinder, die ar-beiten, statt zu lernen, oder Jugend-liche, die sich durchschlagen ohne „gute Arbeit“. Das Gebot ist einfach: Die Ärmsten und Verwundbarsten nicht abhängen, sondern sie aufschlie-ßen lassen. Der Weg dorthin ist kom-pliziert und nicht frei von Konflikten.

Zugleich müssen die Erwartungen an die Entwicklungspolitik realistisch bleiben. Ohne ein besseres Zusam-menwirken mit Politikfeldern wie Nothilfe und Wiederaufbau, Sicher-heit, Wirtschaft, Handel und Finan-zen wird es nicht gehen. Zugleich sind seitens der Entwicklungs- und Schwel-lenländer eigene Strategien für die Teilhabe der Ausgegrenzten gefragt.

Immerhin hat sich die G20 in diesem Jahr erstmals zu inklusivem Wachs-tum bekannt, wenn auch noch vage. (1)

In ihrem Bericht an das Nachhal-tigkeitsforum (HLPF) der UNO vom Juli 2016 nennt die Bundesregierung ihren politischen Fokus in der Ent-wicklungspolitik zur Erfüllung der Ziele in fünf Punkten (2):

Die strukturellen Ursachen von Hunger und Mangelernährung be-kämpfen und extreme Armut beenden

Nachhaltige Zukunftschancen schaffen, besonders für Jugendliche, und Fluchtursachen bekämpfen (ins-besondere mittels Bildung, Beschäfti-gung und Investitionen in die grüne Wirtschaft, soziale Infrastruktur und gute Staatsführung)

Globalisierung fair gestalten, be-sonders durch den Einsatz für fairen Handel und nachhaltige Beschäfti-gung (mit Schwerpunkt auf verant-wortungsvollen Lieferketten sowie sozialen und ökologischen Mindest-standards)

Nachhaltige Entwicklung fördern im Privatsektor, bei Investitionen und der Fähigkeit der Partnerländer, ihren finanziellen Beitrag zu leisten

Klimawandel begrenzen, Anpas-sung fördern und natürliche Ressour-cen bewahren

Welthungerhilfe und terre des hommes können dies vorbehaltlos unterschreiben. Allerdings wollen wir im Kompass 2030 den Blick noch schärfen für relevante Felder, in de-

nen aus unserer Sicht akuterer Hand-lungsbedarf besteht als bisher. Sie folgen aus dem Prinzip „Leave no one behind“, zielen auf die bisher Zurück-gelassenen, und zeigen auf, wie das Leitmotiv umgesetzt werden kann, um Exklusion, Marginalität und Un-gleichheit abzubauen.

Umsteuern in der Flüchtlings-krise: In langfristigen Lösun-

gen denken

Armut überwinden, wo sie verfestigt ist: Das Verhältnis

zu den am wenigsten entwickelten und fragilen Staaten überprüfen

Hunger bekämpfen heißt Ernährung sichern: Strategi-

scher an die Ursachen gehen

Chancen am Rand der Gesell-schaft: Verwundbare, Kinder

und Frauen nicht länger ausgrenzen

Perspektiven schaffen: Ju-gendliche fit machen für

den Arbeitsmarkt

Um diese Schwerpunkte anzugehen, muss die Entwicklungspolitik aus ih-rem Nischendasein heraustreten und andere Ministerien kraftvoller ein-binden. Genug des Silodenkens: Die zielgerichtete Erfüllung der Agenda 2030 ist eine Gesamtaufgabe aller Ressorts. Sie sollte als Katalysator für stärkere Kohärenz verstanden wer-den (siehe S. 22).

10

Kommentierung

Page 11: „Kompass 2030“ als PDF

5Felder für vorrangiges Handeln

im Jahr eins der Agenda 2030, um niemanden zurück zulassen

11

Kompass 2030

Page 12: „Kompass 2030“ als PDF

d e u t s c h l a n dDie Zahl der Asylan­

träge stieg zum Vorjahr um mehr als Doppelte

auf 479 649

u s agaben 66 500

Migranten eine neue Heimat

s c h W e d e n35 800 unbegleitete

Kinder stellten 2015 Asylanträge, fünfmal mehr als

2014

u k r a i n eAllein 2015

flohen 148 400 Ukrainer vor

dem Konflikt im Osten

t ü r k e inahm

2,5 Mio. Geflüchtete

auf

s y r i e nBis Ende 2015 haben 4,9 Mio.

Syrer ihr Land verlassen

l i b a n o nAuf 1000

Einwohner kommen 183 Geflüchtete

a f g h a n i s t a n61 400 Afghanen

kehrten 2015 in die Heimat zurück

a u s t r a l i e nbrachte 2015 rund 9 400

Migranten unter

s o m a l i aNach zehn

Jahren Konflikt Schauplatz der

drittgrößten Flüchtlingskrise

weltweit

s u b s a h a r a -a f r i k a

4,4 Mio. Afrikaner fanden Zuflucht,

die meisten in Äthiopien, Kenia und Uganda

b u r u n d iWellen der Gewalt

trieben 221 600 Menschen in die Nachbarländer

s ü d s u d a nVor dem eskalieren­den Konflikt flohen

2015 mehr als 160 000 Menschen

z e n t r a l-a f r i k a n i s c h e

r e p u b l i kWiederkehrende Unruhen trieben

85 000 Einwohner in die Flucht.

Zusammen nun mehr als 471 100

m i t t e l m e e rEine Mio.

Menschen über­querten das Mit­telmeer 2015, die meisten mit dem

Ziel Griechenland. Mindestens 3 771 ertranken oder

gelten als vermisst

n i g e r i aGewaltsame Über­griffe im Norden

trieben die Zahl der Binnenflüchtlinge

auf 2,2 Mio.200 000 nahmen Kamerun, Tschad

und Niger auf

k o l u m b i e nTrotz des

Friedensprozesses meldete das

Land 6,9 Mio. Binnenflüchtlinge

2015

g u a t e m a l a , e l s a l V a d o r ,

h o n d u r a sZunehmende

Gewalt ließ die Asylanträge mit

mehr als 100 000 in Mexiko und den

USA seit 2012 sprunghaft ansteigen

m y a n m a r19 500 Migranten

wurden umgesiedelt

J e m e nzählte 2015 die

Rekordzahl von 2,5 Mio. Vertriebenen

s c h o n i m k r i s e n m o d u s L a n g f r i s t i g d e n k e n

Q u e l l e : u n h c r , s t a t i s t a s t a n d : 2 0 . J u n i 2 0 1 6

12

Handlungsfeld 01 — Flucht und Migration

Page 13: „Kompass 2030“ als PDF

12,6m i l l i o n e n m e n s c h e n

m ü s s e n J ä h r l i c h f l i e h e n .d a s e n t s p r i c h t d e r

e i n W o h n e r z a h l V o n g a n z b a y e r n

a b b . 0 8 : z u f l u c h t s o r t e Verteilung Geflüchteter weltweit nach Regionen, in Prozent.

Quelle: UNHCR, Stand: 20. Juni 2016

6 %Europa

29 %Mittlerer und Naher Osten

39 %Afrika

14 %Asien und Pazifik

12 %Nord­ und

Süd­amerika

02

01

04

03

Die Zahl der Geflüchteten hat welt-weit den traurigen Rekord von 65 Millionen erreicht. Nur ein ganz ge-ringer Anteil gelangt nach Europa. 90 Prozent leben in Entwicklungs- und Schwellenländern. Mehr als zwei Drittel überschreiten nicht einmal die Grenzen des Heimatlandes.

Im Zentrum des deutschen Enga-gements steht derzeit die Konfliktre-gion Nahost. Bis 2018 sagte Kanz-lerin Angela Merkel 2,3 Milliarden Euro zur Lösung der Situation in und um das Bürgerkriegsland Syrien zu. Jeder vor Ort ausgegebene Euro habe die 50-fache Wirkung wie hierzulan-de, betonte Minister Gerd Müller. (1)

Humanitäre Nothilfe sorgt in den Aufnahmeländern für das Nötigste: ein Dach über dem Kopf, Nahrung, Medikamente. Doch die Mittel des UNO-Flüchtlingswerks (UNHCR) und des Welternährungsprogramms (WFP) für Notunterkünfte sind knapp. Ohnehin leben rund 80 Pro-zent der Geflüchteten außerhalb von Lagern in Städten und Gemeinden.

In dieser komplexen Situation wird Entwicklungszusammenarbeit (EZ) immer stärker dafür herangezo-gen, den Fluchtdruck aus unwürdi-gen Verhältnissen zu reduzieren. Im Haushaltsentwurf 2017 sind für die Sonderinitiativen „Fluchtursachen bekämpfen “ und „Stabilisierung und Entwicklung Nordafrika-Nahost“ zu-sammen 415 Millionen Euro veran-schlagt – 45 Millionen Euro mehr als im Vorjahr. Weitere 400 Millionen Euro sind (wie 2016) für „entwick-lungsfördernde und strukturbildende

Übergangshilfe“ reserviert, also für Aufbau im Anschluss an Nothilfe. (2)

Aber: Nothilfe und EZ finden ihre Grenzen in Konfliktsituationen. Sie können Not und Elend lindern, aber nicht verhindern. Hier sind po-litische Lösungen gefragt! Dennoch darf und muss man fragen, wie das Engagement wirksamer zu gestalten ist. Reichen die Mittel? Sind Strate-gien und Instrumente geeignet, das Los der Geflüchteten auch langfristig zu verbessern? Wie sind lokale Ver-waltungen, Zivilgesellschaft und Ge-flüchtete beteiligt?

Menschen auf der Flucht brauchen Schutz. Aber

Flüchtlingslager für die Ewigkeit sind keine Lösung. Auch wenn der Grat zur Einmischung schmal ist und man auf Lager wahrscheinlich nicht ganz verzichten kann: Es ist besser, loka-le Gemeinden und Verwaltungen zu fördern. Werden Geflüchtete aufge-nommen und eingebunden, steigt ihre wirtschaftliche und soziale Eigenstän-digkeit und mit ihr die Akzeptanz in der Bevölkerung. Schul- und Cash-for-Work-Programme in Jordanien, Nor-dirak und Türkei sind ein guter An-satz. (3) Um zu integrieren oder für die Heimkehr zu rüsten, muss er stärker lokal verankert werden.

Auswärtiges Amt (AA) und BMZ sollten sich ein ge-

meinsames Konzept geben und eine permanente Schnittstelle, die den nicht-ständigen Lenkungsausschuss „Bewältigung der Flüchtlingslage“ er-

setzt. Das AA ist zuständig für Stabi-lisierung, zivile Krisenprävention und humanitäre Hilfe, das BMZ für struk-turbildende Übergangshilfe. Dass bei-de Stränge frühzeitig ineinandergrei-fen, fordert die OECD seit Jahren.

Der Instrumentenkasten des BMZ muss moderner und

flexibler werden (s. a. S. 07). Auch hier rügt die OECD, oft sei unklar, welche Partner welche Aufgaben erhalten dürfen. Übergangshilfe ist auf zehn Länder beschränkt. Dort werden keine EZ-Projekte deutscher NRO finanziert. Den anerkannten verbundenen Ansatz aus Nothilfe, Aufbau und Entwicklung führt das ad absurdum. Gemüseanbau zur Ernährung in Haitis Norden geht nicht parallel zu Aufbau im erdbeben-geschädigten Süden? Warum können für Nothilfe entwickelte Cash Cards nicht auch in Entwicklungsvorhaben eingesetzt werden?

Deutschlands international anerkannte Kompetenzen für

zivile Krisenbewältigung und -präven-tion können stärker genutzt werden, um international mehr Kohärenz und Übereinstimmung herzustellen. Die im Anschluss an den Aktionsplan von 2004 für 2017 geplanten neuen Leit-linien (4) sind die Chance, sie außen-politisch stärker zu verankern. Welt-hungerhilfe und terre des hommes wünschen sich auch für Krisengebiete langfristig angelegte Kooperationen sowie Investitionen in Friedens- und Versöhnungsarbeit. Denn die gelingt nicht in kurzatmigen Projekten.

13

Kompass 2030

Page 14: „Kompass 2030“ als PDF

Ä r m s t e u n d f r a g i L e s t a a t e n n i c h t

v e r g e s s e n

a b b . 1 0 : e i n W e i t e r W e gAnteil extrem Armer an der

Bevölkerung, Stand 2012 und Prognose 2030, bei gleichbleibendem Wirtschaftsver­

lauf. Quelle: Weltbank Blog mit povertydata.worldbank.org

i n d i e n 141,7

d r k o n g o 64,1

n i g e r i a 62,3

t a n s a n i a 24,1

m a d a g a s k a r 23,0

i n d o n e s i e n 19,6

k e n i a 14,7

s a m b i a 13,9

p a k i s t a n 9,9

u g a n d a 9,8

3 2 a n d e r e 123,2

a b b . 0 9 : d i e 1 0 l ä n d e r m i t d e n

m e i s t e n e x t r e m a r m e n Prognose für 2025, in Mio. Menschen.

Quelle: DIE, Briefing Paper 15/2015 Garroway + Reisen

42,7 20,1Subsahara­Afrika

5,6 4,1Lateinamerika

18,8 1,11Südasien

Im Jahr 2015 lebten nach Schätzun-gen der Weltbank weltweit 700 Mil-lionen Menschen in extremer Armut von weniger als 1,90 US-Dollar/Tag. Das sind knapp zehn Prozent der Weltbevölkerung. Bei gleichbleiben-dem Wirtschaftsverlauf werde die-ser Anteil bis 2030 auf 4,2 Prozent sinken – wobei in Afrika noch jeder Fünfte, in Lateinamerika jeder Vierte und in Südasien noch Einer von Hun-

dert arm sein werde. Damit werden anteilig die meisten Armen in Afrika leben. (Abb. 10). (1)

Doch andere Prognosen zeigen weniger Zuversicht. Sie schwanken zwischen 250 Millionen und einer Milliarde Armen, bemerkt eine Stu-die, die im Auftrag des BMZ auch absehbare Verschiebungen in der Geographie der Armut untersucht hat. (2) Ausgehend von rückläufiger Weltkonjunktur projiziert sie rund 500 Millionen einkommensarme Menschen bis 2025 – davon 293 Millionen in Afrika, 140 Millionen in Indien und etwa 60 Millionen in Ostasien, Lateinamerika und Nordaf-rika/Nahost.

Auch in Afrika werden im Ver-hältnis weniger Arme leben, in der Menge wegen anhaltend hoher Ge-burtenraten aber mehr. Folgt man der o. g. Prognose, werden sieben der zehn Länder mit den meisten Armen afrikanisch sein (Abb. 09). Sie alle ge-hören heute zur Gruppe der ärmsten Länder, den am wenigsten entwickel-ten (LDC) und den mit niedrigsten Einkommen (LIC). Oder sie sind fra-gil und konfliktanfällig, wie Nigeria (Abb. 11).

Diese Ländergruppe läuft Gefahr, zurückgelassen zu werden. Anders als etwa Indien, ein Land mittleren Ein-kommens mit anhaltend hoher Ar-mut, wird sie in absehbarer Zeit von Zuschüssen und hochsubventionier-ten Darlehen abhängig bleiben. Die Länder bestreiten damit im Schnitt mehr als die Hälfte ihrer Staatsein-

nahmen. Als kleine Märkte ziehen sie wenig Auslandsinvestitionen an. 34 der LDC sind in Afrika, zehn in Asien, darunter Afghanistan.

Vieles spricht also dafür, mit die-sen Ländern Extra-Anstrengungen zu vereinbaren, mit denen die aus vie-lerlei Gründen verfestigte Armut zu

14

Handlungsfeld 02 — Armut überwinden

Page 15: „Kompass 2030“ als PDF

Bangladesch, Mauretanien,

Myanmar, Sudan, Jemen, Kiribati,

Salomonen, Osttimor, Tuvalu

DR Kongo, Eritrea, Guinea, Liberia,

Madagaskar, Sierra Leone, Somalia, Togo,

Komoren, Guinea­Bissau, Haiti, Afghanistan, Burundi, Zentralafr. Republik, Tschad,

Äthiopien, Mali, Nepal, Ruanda, Südsudan,

Uganda

Angola, Äquatorial­guinea, Bhutan, Laos,

Lesotho, Sambia, São Tomé und Príncipe,

Senegal, Vanuatu

Simbabwe, Nordkorea

Benin, Burkina Faso, Kambodscha,

Gambia, Mosambik,

Malawi, Tansania

Bosnien und Herzegowina, Kame­run, Kongo, Elfen­beinküste, Ägypten, Irak, Kenia, Kosovo,

Libyen, Nigeria, Pakistan, Sri Lanka, Syrien, Westjordan­land, Gazastreifen,

Marshall inseln, Mikronesien

a b b . 1 1 : a r m , u n t e r e n t W i c k e l t u n d f r a g i lDie bedürftigsten Länder gehören mehreren Kategorien an.

2014

12

8

4

0

2006 2008 2010 2012

e n t W i c k l u n g s -l ä n d e r

l d c

l i c

f r a g i l e s t a a t e n

01

03

04

02

a b b . 1 2 : ä r m s t e l ä n d e r a b g e h ä n g tNettoflüsse deutsche ODA in Mrd. $, zugeordnet nach Ländergruppen,

in konstanten Preisen. Quelle: OECD

l d c : l e a s t d e V e l o p e d c o u n t r i e s

( s . a . a b k ü r z u n g e n )

l i c : l o W i n c o m e c o u n t r i e s m i t b n e

p r o k o p f < 1 0 4 5 $

f r a g i l e s t a a t e n n a c h d e f i n i t i o n

d e r o e c d ( 7 )

deutscher ODA wären 8 Milliarden Euro, der komplette BMZ-Haushalt 2017. Wo möglich, kann multilate-ral gebündelt werden, etwa bei den Entwicklungsbanken für Afrika und Asien, die für die ärmsten Länder mit geringer Kreditwürdigkeit Entwick-lungsfonds aufgelegt haben und Un-terstützung für die Privatwirtschaft besser zuschneiden wollen. (5)

Kapitalflucht bekämpfen: Entwicklungsländer hät-

ten sich eine stärkere Offenlegungs-pflicht für Ergebnisse internationa-ler Konzerne gewünscht, als sie von Deutschland und der OECD derzeit beschlossen wird. (6) Nun sollte die Bundesregierung zumindest alles tun, um arme Länder zur Teilnahme an dem komplexen Informationsaus-tausch von Steuerverwaltungen zu befähigen.

Eigeneinnahmen stärken: Schwache Staaten sind auf-

grund ineffizienter Verwaltung häu-fig unfähig, Steuern einzutreiben. Ruanda, Senegal, Kamerun und El-fenbeinküste haben ihre Einnahmen zuletzt gesteigert. Die BMZ-Program-me für „Good Financial Governance“, die Finanzsysteme reformieren hel-fen, sollten daher nicht nur – wie angekündigt – verdoppelt, sondern den Partnerländern systematischer im Rahmen von Regierungsverhand-lungen angeboten werden.

überwinden ist. Aber: Seit 2010 sank der deutsche ODA-Anteil für LDC von 28 Prozent auf 23 Prozent. Im Schnitt waren das bis 2014 rund 2,74 Milliarden Euro (Abb. 12, OECD­Daten in Dollar, für 2015 liegen noch keine Zah­len vor). Für die deutsche Entwick-lungszusammenarbeit heißt das aus unserer Sicht:

Das 2015 unter deutscher G7-Präsidentschaft gemachte Ver-

sprechen einlösen, „den Rückgang öf-fentlicher Entwicklungsleistungen für die am wenigsten entwickelten Länder umzukehren“, und aufstocken. (3) Um die Lücke zu der bei der Finanzie-rungskonferenz von Addis Abeba ge-steckten EU-Marke von 0,15 Prozent des BNE zu schließen, müssten die Mittel nahezu verdoppelt werden. (4)

Mit anderen abstimmen: Die USA lenken bereits um

in die bedürftigsten Länder. Groß-britannien will künftig 50 Prozent seiner Entwicklungsausgaben in fra-gile und krisenanfällige Regionen mit schwacher Staatlichkeit und hoher Ungleichheit investieren. Die Hälfte

15

Kompass 2030

Page 16: „Kompass 2030“ als PDF

h u n g e r b e k Ä m p f e n , w o e r c h r o n i s c h i s t

a b b . 1 3 : c h r o n i s c h e r h u n g e r i s t s c h W e r z u b e s i e g e n

Unterernährung in Entwicklungsländern, Anteil an der Weltbevölkerung, Prognose, bei gleichbleibendem Trend bleibt das Ziel bis 2030 unerreichbar.

Quelle: FAO, State of Food Insecurity (2015)

2020 2030

20

15

10

0

5

1990 2000 2010

= a k t u e l l = p r o g n o s e = z i e l

01

02

Noch immer hungern weltweit knapp 800 Millionen Menschen. Zwei Milliarden Menschen mangelt es an Nährstoffen; sie leiden unter „verstecktem Hunger“. In der Folge sind 165 Millionen Kinder körperlich wie geistig in der Entwicklung ein-geschränkt. Das Nachhaltigkeitsziel Nr. 2 sieht vor, Hunger und Mangel-ernährung bis 2030 zu überwinden.

Um „niemanden zurückzulassen“, sollen vor allem die landwirtschaftli-che Produktivität und die Einkom-men kleiner Nahrungsmittelerzeuger verdoppelt werden. Aber: die bishe-rigen Ansätze und Mittel reichen bei weitem nicht aus, um die Chancen der mit Hunger zurückgelassenen zu verbessern. Das Tempo der Reduzie-rung müsste sich verdreifachen. Zu-gleich sind diese Menschen schwieri-ger zu erreichen (Abb. 13 und 14).

Deutschland misst der ländlichen Entwicklung seit einigen Jahren wie-der einen höheren Stellenwert bei. Auch die Gipfelerklärung der G7 ver-ankerte 2015 die Verpflichtung, 500 Millionen Menschen von Hunger und Fehlernährung zu befreien und Klein-bauern zu fördern. (1) Bisher ist die Zusage wenig belastbar, da weder der Weg dahin noch die Finanzierung auf-gezeigt sind.

Doch setzt die Regierung jährlich mehr als eine Milliarde Euro gegen Hunger und Fehlernährung und für das Recht auf Nahrung ein. Zentraler Bestandteil ist die Sonderinitiative „EINEWELT ohne Hunger“ (SE-WOH) mit den Aktionsfeldern Ernäh-rungssicherung, Resilienz, Innovati-on, Strukturwandel, Bodenschutz und Landpolitik. Im laufenden Haushalt sind dafür 220 Millionen Euro einge-

stellt, im Haushaltsentwurf 2017 ein Soll von 245 Millionen Euro.

Auch die Rechte angestammter Bevölkerungsgruppen gegenüber groß-flächigen Agrarinvestitionen sind der Regierung ein Anliegen. Sie setzte sich für die Umsetzung freiwilliger UNO-Leitlinien (Voluntary Guidelines on the Responsible Governance of Tenu-re/VGGT) ein, die Landraub entgegen-wirken sollen. Allerdings wird auch Kritik geübt, sie mahne deren Einhal-tung zu wenig an, etwa im Partnerland Äthiopien, wo Nichtregierungsorga-nisationen aufgrund von Menschen-rechtsverstößen und Vertreibungen Alarm schlagen. In vieler Hinsicht muss die Regierung konsequenter sein, um die Wirkung ihrer durchaus ambitionierten Bemühungen bei den Benachteiligten zu erhöhen.

Über die Sonderinitiative muss übersichtlicher und transpa-

renter berichtet werden. Die von der

OECD in ihrer Prüfung deutscher Entwicklungspolitik 2015 bemängelte Unklarheit, wie die Mittel zweckmä-ßig und planvoll ausgegeben werden, ist nicht beseitigt. Wir fordern eine öffentlich zugängliche jährliche Bi-lanz, aus der ein Mehrwert gegenüber laufenden Projekten erkennbar ist, so-wie einen mehrjährigen programmati-schen Ausblick, der für Qualität bürgt. Auch eine unabhängige Evaluierung der Initiative kann ihre Wirksamkeit verbessern und dazu beitragen, dass sie politische Priorität und finanzielles Gewicht behält – auch nach den Bun-destagswahlen.

Statt tatsächlich kleine Fami-lienbetriebe in den Mittel-

punkt zu stellen, zielt ein Großteil der Mittel auf „grüne Innovationszentren“ ab. Diese „Leuchtturmprojekte“ in 13 Ländern fördern den Nord-Süd Trans-fer von Know-how, nicht aber den Aus-tausch zwischen diesen Ländern. Wenn

16

Handlungsfeld 03 — Hunger beenden

Page 17: „Kompass 2030“ als PDF

a b b . 1 4 : i n s u b s a h a r a - a f r i k a h ä l t s i c h d e r h u n g e r h a r t n ä c k i g

An Unterernährung leidende Menschen nach Regionen, Projektion in Mio. Menschen bei gleichbleibenden Entwicklungen. Quelle: OECD­FAO

AGRICULTURAL OUTLOOK 2016­2025, Seite 34

= a f r i k a

= a s i e n / p a z i f i k

= c h i n a

= i n d i e n

= l a t e i n a m e r i k a

= a n d e r e

b r a s i l i e n

n i c a r a g u a

p e r u

p a r a g u a y

m e x i k o

a b b . 1 5 :l a n d u n d l e b e n

Frauen sind bei Landeigentum benachteiligt, Beispiele aus

Lateinamerika für die Verteilung von Besitzrechten in Prozent.

Quelle: Bodenatlas 2015

m ä n n e r f r a u e n p a a r e

03

04

05

500m i l l i o n e n k l e i n b a u e r n

W e l t W e i t s i n d l a n d l o s , d i e m e i s t e n V o n i h n e n

s i n d a u c h u n t e r e r n ä h r t

2024

1 200

800

400

0

1994 2004 2014

lokale Produktionssysteme und -mittel – wie etwa Ölpressen oder einachsige Traktoren – bekannter werden, stärkt das innerafrikanische Wirtschaftskreis-läufe und damit Ernährungssicherheit. Deutsche Unternehmen sollten nur dann eingebunden werden, wenn Lö-sungen vor Ort fehlen, oder wenn ihr Wissenstransfer kleinbäuerliche Inno-vationskraft stärkt.

Es ist auch unverständlich, warum die Förderung von

Strategien zur Ernährungssicherung nicht Kern der Initiative ist. Dabei wird stets betont, wie relevant, ja sogar ausschlaggebend nationale Po-litiken und gute Regierungsführung sind, will Entwicklungszusammenar-beit hier etwas bewirken. (2)

Land ist Leben. In den von Landraub betroffenen Län-

dern darf die Regierung nicht nach-lassen, auf Institutionen und Rechte zu drängen, die Opfern eine Stimme geben. Zivilgesellschaftliche und gemeindebasierte Organisationen fordern Mitgestaltung bei Investi-tionsvorhaben und verdienen mehr Unterstützung, wenn sie sich gegen-über vermeintlich übergeordneten wirtschaftlichen Interessen für eine

gerechte Verteilung von Landtiteln und die Zuerkennung von Gemein-schaftsbesitz einsetzen (Abb. 15).

Hierzulande müssen Folge-abschätzungen mögliche ne-

gative Auswirkungen auf die Ernäh-rungssicherung im globalen Süden künftig prüfen. Das betrifft Außen-handels-, Agrar-, Rohstoff-, Energie- und Finanzpolitik gleichermaßen (s. a. Kohärenz S. 22ff). So kann unser Flächenverbrauch das Menschen-recht auf Nahrung verletzen: Um sei-nen Bedarf an Agrarprodukten zu de-cken, nimmt Deutschland geschätzt knapp 80 Millionen Hektar im Aus-land in Anspruch – fast fünfmal die innerdeutsche Agrarfläche. (3)

17

Kompass 2030

Page 18: „Kompass 2030“ als PDF

v e r w u n d b a r e g r u p p e n ,

f r a u e n u n d k i n d e r m i t n e h m e n

a b b . 1 6 : h o t s p o t s d e r m a r g i n a l i t ä tRegionen, in denen sich drei oder mehr der Ausschlussdimensionen Wirtschaft, Gesundheit,

Infrastruktur, Ökologie, Governance überlappen. Quelle: Mapping Marginality Hotspots, Valerie Graw und Christine Husmann, Kapitel in Marginality, Mapping the Nexus

of Poverty, Exclusion and Ecology, Editors: Joachim von Braun, Franz W. Gatzweiler, unwomen.org/en/what­we­do/economic­empowerment/facts­and­figures#notes

o s t a s i e n

50,3gg. 42,3

63,1gg. 56

s ü d o s t a s i e n /p a z i f i k

s ü d a s i e n

80,9gg. 74,4

n o r d a f r i k a

54,7gg. 30,2

s u b s a h a r a -a f r i k a

85,5gg. 70,5

= 4 d i m e n s i o n e n = 3 d i m e n s i o n e n

= a n t e i l V o n f r a u e n ( g e g e n ü b e r m ä n -n e r n ) i n p r e k ä r e r b e s c h ä f t i g u n g

18

Handlungsfeld 04 — Verwundbare Gruppen mitnehmen

Page 19: „Kompass 2030“ als PDF

01

02

03

04

05

400

300

2030

200

100

0

1990 2000 2010 2020

a b b . 1 7 : m ü t t e r s t e r b l i c h k e i t99 Prozent aller Frauen, die bei der Geburt ihres Kindes sterben, leben in Entwicklungländern, vor allem LDC – fatale Folge fehlender Bildung, Beratung und Gesundheitsfürsorge. Anzahl der

Todesfälle pro 100 000 Geburten. Quelle: ODI, Projecting Progress, 09/2015 und Stiftung Weltbevölkerung Datenreport 2015

= d e r z e i t = p r o g n o s e = z i e l

Bildung ist die Basis aller Entwick-lung. Bildung für Mädchen und Frauen hält die Weltbank für die ein-flussreichste Einzelinvestition in Ent-wicklungsländern. Immer noch sind knapp zwei Drittel aller 780 Millio-nen Analphabeten Frauen. In Afrika bleibt fast jedem vierten Mädchen der Schulbesuch verwehrt, der höchs-te Anteil weltweit. (1) (2) Das Millenni-umsziel, allen Kindern eine Grund-schulbildung zu ermöglichen, wurde verfehlt und auf 2030 verschoben.

Ein Grund dafür mag sein, dass der Radar die Benachteiligten an den Rändern der Gesellschaften nicht er-reichte. Dort ist Bildung nur eine der Entwicklungsdimensionen, bei denen indigene Völker, ethnische Minder-heiten, Behinderte und andere diskri-minierte und marginalisierte Gruppen erschreckend schlecht abschneiden: Diese Schichten haben nur begrenz-ten Zugang zu Land, Wasser, Märkten, Bildung und zum Gesundheitswesen. Ihre Kinder sind häufiger chronisch unternährt, die Müttersterblichkeit liegt über dem Durchschnitt aller Ent-wicklungsländer (Abb. 17).

Das Konzept „Marginalität“ und damit der Verwundbarkeit geht also über die rein materielle Definition von Armut hinaus (Abb.16). (3) Oft lässt sie sich konkret verorten, in unerschlossener kleinbäuerlicher Umgebung, selbst in Ländern, die wohlhabender geworden sind. Wie in Peru, das mit einem mittleren Pro-Kopf-Einkommen von fast 10 000 Dollar pro Jahr im Index der mensch-lichen Entwicklung (HDI) fast ein Viertel schlechter abschneidet, wird der Faktor Ungleichheit eingerech-net. (4) Statt 14 Prozent im Schnitt ist im ärmsten Fünftel der Bevölkerung jedes dritte Kind unterernährt – der Wert von Subsahara-Afrika.

Gleichermaßen ist anzuneh-men, dass viele der noch 263 Milli-onen Kinder, die im Grundschulalter nicht Lesen, Schreiben und Rechnen lernen, zu diesen marginalisierten Gruppen gehören: arbeitende Kin-der und Schulabbrecher. Häufig sind es Frauen in ländlichen Räumen, die zu viele Hürden davon abhalten, sich

mit einem eigenen Stück Land oder regelmäßiger Beschäftigung wirt-schaftlich zu entwickeln (Abb. 16).

Deutschland muss die ausgeschlos-senen Menschen in Entwicklungspro-zesse integrieren. Die Weltbank hat erkannt, dass für ein Ende von Armut die ärmsten 40 Prozent nicht „zurück-gelassen“ werden dürfen. (5) Bei uns hat die Debatte erst begonnen. (6)

Zuerst bedarf es des politi-schen Willens der Regierun-

gen vor Ort und der Geber, bisherige Programme jenseits von vorherrschen-dem Silodenken kritisch zu überprü-fen. Marginalität und die betroffenen sozialen Gruppen müssen in ihrer Komplexität erfasst werden. Länder- und Sektoranalysen, die Projektpla-nungen zugrunde liegen, sollten dann alle Dimensionen und ihre Schnitt-mengen identifizieren sowie nach Gruppen Lösungsansätze priorisieren.

Über den Aufbau sozialer Si-cherungssysteme und Trans-

ferleistungen für besonders Ver-wundbare wird viel diskutiert, ohne auf der politischen Tagesordnung je Prominenz zu erlangen. Deutsch-land kann hier im Einvernehmen mit NRO vorangehen, seine Erfahrung in Konzeption und Umsetzung um ein Vielfaches einbringen.

Gleichermaßen sollte es Partnerländer dabei unter-

stützen, die Schwächen ihrer Bil-dungssysteme abzubauen, damit die bislang Ausgegrenzten eine Zukunfts-chance bekommen. Trotz Bildungs-ausgaben von rund 1,3 Milliarden Euro pro Jahr entfallen auf Grund-bildung nur 125 Millionen Euro im Schnitt der letzten Jahre.

Frauen produzieren welt-weit die Hälfte aller Nah-

rungsmittel und besitzen dennoch weniger als 20 Prozent der Landti-tel. Die Regierung nennt als einen Baustein ihres Aktionsplans zur Gleichberechtigung der Geschlech-ter für 2016 nur Uganda, Peru und Benin, wo der Anteil von Frauen mit formal anerkannten Landtiteln um 20–50 Prozent erhöht werden soll (7) Drei Länder sind aber viel zu wenig.

Derselbe Aktionsplan soll in diesem Jahr ermitteln,

wie viele Frauen und Mädchen durch eigene Programme in Ent-wicklungsländern beruflich qualifi-ziert wurden. Denn die G7 sagten in Elmau zu, diese Zahl bis 2030 um 30 Prozent zu steigern. Solange unklar ist, wo man beginnt, darf durchaus schon durchgestartet werden.

19

Kompass 2030

Page 20: „Kompass 2030“ als PDF

J u g e n d f i t m a c h e n f ü r g u t e J o b s

Arge

ntin

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Boliv

ien

Kolu

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Mex

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Peru

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Mal

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Keni

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Mal

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Sene

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Süda

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Uga

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40

30

20

10

0

l a t e i n -a m e r i k a

s ü d o s t -a s i e n

s u b s a h a r a - a f r i k a

a b b . 1 8 : a r b e i t s l o s e n Q u o t e i s t n i c h t d a s r e c h t e m a s sAnteil Jugendlicher von 15 bis 24 Jahren, nach Geschlecht in ausgewählten Ländern, die weder in Beschäftigung,

Bildung noch Ausbildung stehen (NEETs), in Prozent. Quelle: Assaad Levison Employment for Youth Research Paper for High Level Panel on the Post­2015­Agenda­Development, Assaad & Levison, Mai 2013

= m ä n n e r = f r a u e n

Beschäftigung ist der beste Weg aus der Armut. Ziel 8 der UNO-Nachhal-tigkeitsziele hebt die Förderung von inklusivem Wirtschaftswachstum, produktiver Vollbeschäftigung und menschenwürdiger Arbeit für alle hervor. Die schwächste Position auf den Arbeitsmärkten haben Jugendli-che und Frauen. Ihr Potenzial stärker und nachhaltiger zu nutzen, ist eine Schlüsselaufgabe, um „niemanden zurückzulassen“.

In Afrika, Asien und Lateiname-rika leben mehr als eine Milliarde Jugendliche zwischen 15 und 24

Jahren. (1) Ihre Zahl ist in den vergan-genen Jahren in Ost- und Südasien, aber vor allem in Afrika südlich der Saharaa (SSA), im zweistelligen Mil-lionenbereich gestiegen. Jeder fünfte ist jung – und oft perspektivlos.

Den höchsten Anteil Jugendli-cher an der arbeitsfähigen Bevölke-rung weist mit 37 Prozent Afrika auf. Jeder dritte Jugendliche geht dort we-der einer Beschäftigung noch (Aus-)Bildung nach (Abb. 18). (2) Arbeitslo-senraten sind niedriger, sagen aber wenig aus, weil die meisten Jugend-lichen sich im informellen Sektor

durchschlagen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet, dass bis 2035 jährlich 18 Millionen afrikanische Jugendliche auf den Arbeitsmarkt drängen. (3) In seinem Wirtschaftsausblick 2015 fordert er dringend politische Programme für Investitionen in Bildung und Jobs.

Weltweit besuchen mehr als 70 Millionen Jugendliche bis 16 Jahre keine weiterführende Schule. Selbst wer studiert, findet häufig keinen hochwertigen Arbeitsplatz, weil es den nicht gibt oder am Bedarf vorbei qualifiziert wird. Als Brücke bietet

20

Handlungsfeld 05 — Gute Jobs für Jugendliche

Page 21: „Kompass 2030“ als PDF

= p r e k ä r ( l a n d -

W i r t s c h a f t )

= p r e k ä r

( a n d e r e )

= a n g e s t e l l t

< 1 2 m o n a t e

= a n g e s t e l l t

> 1 2 m o n a t e

= a n d e r e

a b b . 1 9 : V i e l e u n s i c h e r e J o b s a u f d e m l a n dBeschäftigung Jugendlicher im ländlichen Raum nach

Regionen in Prozent. Quelle: Internationale Arbeitsorganisation, Youth and Rural development, Work4Youth Publication Series No. 29, April 2015

l a t e i n -a m e r i k a u n d

k a r i b i k

m i t t l e r e r o s t e n u n d n o r d -

a f r i k a

s u b s a h a r a -

a f r i k a

18m i l l i o n e n

a r b e i t s p l ä t z e m ü s s e n J ä h r l i c h i n a f r i k a

g e s c h a f f e n W e r d e n f ü r J u g e n d l i c h e , d i e

a u f d e n a r b e i t s m a r k t d r ä n g e n

01

02

05

04

03

a s i e no s t e u r o p a

u n d z e n t r a l-a s i e n

sich eine Berufsvorbereitung an. Da-rin ist Deutschland mit seinem dua-len System anderen Gebern voraus. Viele Partnerländer haben großes Interesse, praxisorientierte Systeme aufzubauen oder aufzuwerten.

Seit 2010 hat die deutsche bila-terale EZ ihre Mittel für berufliche Bildung von 56 Millionen Euro auf 147,2 Millionen Euro mehr als ver-doppelt: Durchschnittlich kommen so jährlich 100 Millionen Euro vor allem in Afrika und Asien zusammen. 2016 sind 134 Millionen Euro einge-plant. Für Beschäftigungsförderung gab Deutschland in Projekten der nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung von 2012 bis 2015 rund 704 Millio-nen Euro aus. (4)

Deutschland muss seine Vorreiterrolle ambitioniert

ausbauen, auch wenn Erfolge sich nur langsam einstellen und messen lassen. Strategisch hat sich das BMZ zuletzt 2012 zur beruflichen Aus- und Fortbildung neu aufgestellt. Es wäre also an der Zeit für eine umfassende Auswertung der Erfahrungen, um da-rauf aufbauend mit Partnerländern standortbezogene Konzepte zu ent-wickeln.

Es reicht nicht aus, deut-sche Unternehmen zu för-

dern, die im globalen Süden schon präsent sind und ausbilden. In Ab-sprache mit Partnerländern können geeignete Wirtschaftszweige identi-fiziert werden, um Fördermaßnah-men der Wirtschafts-, Arbeits- und Umweltressorts zu verzahnen und interessierte deutsche Firmen für Investitionen mit Ausbildungskom-ponenten zu gewinnen. Davon aus-gehend können sich Trägerschaften für Berufsbildung organisieren. Auch die Handelsförderung (Aid for Trade) sollte strategischer zugeschnitten werden. (5)

Wer für Jugendliche Unter-nehmertum im ländlichen

Raum attraktiv macht, hat gewon-nen. Berufsbildungspartnerschaften können Curricula modernisieren

und auf dynamische Regionen zu-schneiden. Gerade in Afrika, wo die Industrialisierung anders als in Asi-en und Lateinamerika stockt – und daher wenig zu Beschäftigung und inklusivem Wirtschaftswachstum beiträgt –, empfehlen Experten die Landwirtschaft und ihre Schnittstelle zur Nahrungsmittelverarbeitung und

zu anderen lokalen Wertschöpfungs-ketten als Motoren für „gute Jobs“ (Abb. 19). (6)

Gemeinsam mit den Nach-barn, die vergleichbare Be-

rufsbildungssysteme haben, kann Deutschland schneller mehr errei-chen. Zu lange spielte Ausbildung in der Entwicklungspolitik eine Neben-rolle, weil sie viel Zeit zum Aufbau braucht. Deutschland hat ein Geber-komitee für Berufsausbildung mit Österreich, der Schweiz und Liech-tenstein gegründet. (7) Es sollte sich zügig Ziele setzen.

Gerade bei Bildung und Jobs ist der Gender-Gap oft rie-

sig (Abb. 18). Geschlechtergerechtig-keit ist ein Nachhaltigkeitsziel (Nr. 5) und „niemanden zurücklassen“ gilt auch hier. Mädchen und Frauen müssen die gleichen Chancen erhal-ten. Dazu braucht es für sie gezielte Investitionen.

21

Kompass 2030

Page 22: „Kompass 2030“ als PDF

d e u t s c h e e n t w i c k L u n g s Z u s a m m e n -

a r b e i t m e s s e n

m e f i r b t l

01. i r l a n d 0,65 1,05 0,82 0,66

02. d ä n e m a r k 0,04 0,9 0,69 0,18

03. g r o s s b r i t a n n i e n 0,27 0,45 0,36 0,1

12. d e u t s c h l a n d -0,34 0,12 -0,16 0,29

25. b e l g i e n 0,1 -0,69 -0,56 -0,54

26 . i t a l i e n -0,24 -0,39 -0,53 -0,62

27. u n g a r n -0,26 -2,17 0,7 -0,48

a b b . 2 0 : V o r r e i t e r u n d s c h l u s s l i c h t e r Die drei laut QUODA­Index am besten und am schlechtesten platzierten Länder

in der Qualitätsmessung, Deutschland im Mittelfeld. ME= Effizienz maximieren, FI = Institutionen fördern, RB = Partner entlasten, TL = Transparenz.

Quelle: The Quality of Official Development Assistance (QuODA), third edition, Nancy Birdsall and Homi Kharas, Center for Global Development &

Brookings Institution (2014)

Die UNO-Nachhaltigkeitsziele wer-ten die Entwicklungszusammenar-beit (EZ) auf, erhöhen aber auch die Dringlichkeit, die globalen Herausfor-derungen anzugehen. Natürlich be-darf es dazu deutlich mehr Mittel als bisher. Aber: Geld allein genügt nicht! Es geht auch um Qualität und Wirk-samkeit. Und darum, wie Deutschland im internationalen Vergleich dasteht.

All dies einzuschätzen ist von ho-her Komplexität. Wir haben dazu den QUODA-Index des renommierten und unabhängigen Center for Global Deve-lopment (www.cgdev.org) ausgewählt. Der QUODA misst Qualität anhand von 31 Indikatoren aus vier Bereichen, die sich aus den Selbstverpflichtungen der Geberländer – zum Beispiel der Paris-Erklärung – ergeben:

Effizienz maximieren: Wie strate-gisch werden ODA-Mittel eingesetzt?

Institutionen fördern: Wie gut werden bestehende Strukturen der Partnerländer genutzt und ihre Ent-wicklungsprioritäten respektiert?

Partner entlasten: Wie werden Doppelungen, Überlappungen und Fragmentierung der EZ der Geber in einem Land vermieden?

Transparenz und Lernen: Wie tra-gen Transparenz, Evaluierung und Da-ten evidenzbasiert zu Lernprozess und kontinuierlicher Verbesserung bei?

Der QUODA ist also ein hochaggre-gierter Index, der Qualität auf der Makroebene misst. Für die Beurtei-lung der Qualität einzelner Sektoren,

der durchgeführten Projekte oder Landesprogramme eignet er sich nicht. Hier besteht eine Lücke, die es zu schließen gilt. Deutschland liegt in allen vier Dimensionen des QUODA-Index höchstens im Mittelfeld der Geber. Im Bereich der Effizienz liegt es sogar lediglich auf Platz 30 aller 31 beurteilten Geber. Die Bewertung macht den Nachholbedarf deutlich, den Deutschland in allen vier Dimen-sionen des QUODA-Index hat, um Steuermittel optimal einzusetzen. Wir empfehlen deshalb:

Deutschland sollte eine Neu - orientierung der Entwick-

lungszusammensarbeit an den Nach-haltigkeitszielen nutzen, um die Qualität deutlich zu steigern. Die Verpflichtungen, die zum Beispiel bei den Gipfeln von Accra 2008 und Busan 2011 eingegangen wurden, sind in allen betroffenen Ministerien umzusetzen.

Deutlich ausbaufähig sind Bemühungen um Wirksam-

keit auch bei der Mittelverwendung.

01

02

22

Bewertung

Page 23: „Kompass 2030“ als PDF

a b b . 2 1 : n a c h h o l b e d a r fDeutschland schneidet in allen vier Bereichen schlechter ab als Irland. Bei Qualität der Hilfe und

Transparenz gleichauf mit den USA, die wiederum bei der Förderung von Institutionen und der Entlastung der Partnerländer schlechter abschneiden. Quelle: Center for Global Development, 2014, verändert

e f f i z i e n z m a x i m i e r e n

i n s t i t u t i o n e n f ö r d e r n

t r a n s p a r e n z

p a r t n e r e n t l a s t e n

5 8

02

04

-0,34

0,120,29

03 01

= d e u t s c h l a n d = u s a = i r l a n d = s c h W e d e n

-0,16

Evaluierungen sind hinsichtlich ih-rer Systematik und Unabhängigkeit unzulänglich, die Offenlegung lässt viele Wünsche offen. Zur Rechen-schaftslegung gehören neben zu-gänglichen Studien über Sozial- und Umweltverträglichkeit auch funkti-onale Beschwerdemechanismen in den Partnerländern.

Trotz aller Kritik schneiden die DAC-Länder im QUO-

DA deutlich besser ab als die neu-en Geberländer aus den Reihen der Schwellenländer. Deutschland hat bereits einige entwicklungspolitische Anliegen erfolgreich in den Kreis der G20-Staaten getragen. Nun sollte es auch darauf hinwirken, dass sich mehr Länder kohärent in der Ent-wicklungszusammenarbeit engagie-ren und bisherige Erfahrungen dabei effektiv genutzt werden.

Generell ist die Lücke zwi-schen politischen Ankündi-

gungen, allen voran dem Ausgaben-ziel von 0,7 Prozent des BNE, und den bisweilen mageren Folgen bei der tatsächlichen Umgestaltung deut-scher EZ zu groß. Dieses Missverhält-nis schadet dem Ruf von Glaubwür-digkeit und Zuverlässigkeit.

k o h ä r e n z V e r b e s s e r n

Ein wesentliches und neues Merkmal der UNO-Nachhaltigkeitsziele liegt darin, dass jedes Land als Teil des glo-balen Ganzen gesehen wird. Daher gewinnt auch die Kohärenz deutscher Politik an Relevanz. Ein Umdenken ist bei allen Akteuren gefragt.

Da verlässliche und belastbare In-dices zur Umsetzung der SDG noch nicht vorliegen, wird im Folgenden

mit Unterstützung des Projekts 2030 Watch der Open Knowledge Founda-tion Deutschland (http://2030­watch.de) anhand von vier Themenberei-chen, die durch Indices erfasst wer-den, beispielhaft hervorgehoben, wo für die Bundesregierung Handlungs-bedarf besteht. Es sind dies:

Der Financial Secrecy Index 2015 (http://www.financi­

alsecrecyindex.com) des Tax Justice Networks vergleicht die Möglich-keiten der Steuervermeidung und das Ausmaß finanzieller Offshore-Aktivitäten.

Der Climate Change Perfor-mance Index 2016 von Ger-

manwatch (https://germanwatch.org/en/ccpi). CCPI vergleicht 58 Länder, die für 90 Prozent der klimarelevan-ten Emissionen verantwortlich sind.

23

Kompass 2030

Page 24: „Kompass 2030“ als PDF

a b b . 2 2 : n o c h l u f t n a c h o b e n Den Rand des schraffierten Bereichs würden die Werte für Klimapolitik, Finanzsysteme,

Integration und Hunger bei optimalen Ergebnissen erreichen, eigene Darstellung.

c l i m a t e c h a n g e p e r f o r m a n c e i n d e x

f i n a n c i a l s e c r e c y

i n d e x

p r o d u c e r s u b s i d i e s a n d

t r a d e r e s t r i c t i o n s

m i g r a n t i n t e g r a t i o n p o l i c y i n d e x

= d e u t s c h l a n d = u s a = d ä n e m a r k = s c h W e d e n

04

58

61

64 44

Der Migrant Integration Policy Index 2015 (www.

mipex.eu) misst anhand von 167 Indi-katoren die Möglichkeiten der gesell-schaftlichen Beteiligung und Integ-ration von Migranten in 38 Ländern, zu der sich die Länder im Nachhaltig-keitsziel 10.7 verpflichtet haben.

Der Agrarpolitik und Subven-tions-Index 2015 von Broo-

kings (https://endingruralhunger.org/data/rankings/) vergleicht die DAC-Staaten anhand von zehn Indikatoren und zeigt auf, wie stark Produktions-subventionen im Agrar- und Biotreib-stoffbereich sowie Handelsbarrieren globale Agrarmärkte verzerren und sich so negativ auf andere Länder aus-wirken.

Aus dem ersten Index ist abzulesen, dass z. B. der deutsche Beitrag zur

Stärkung der nationalen Steuersys-teme in Partnerländern teilweise konterkariert wird durch die Intrans-parenz des deutschen Finanzsystems, welche Steuerflucht aus anderen Län-dern nach Deutschland erleichtert.

Unser Steuersystem ist mit einer Bewertung von 44 von 100 mögli-chen Punkten intransparenter als das fast aller EU- oder OECD-Län-der. Nur Großbritannien, Japan, die Schweiz und die USA erhalten noch schlechtere Noten. Deutschland muss seine Steuerschlupflöcher auch für ausländische Gelder schließen und sich für die rasche Umsetzung strenger einheitlicher internationaler Standards einsetzen.

Ein Testfall für Deutschlands Glaubwürdigkeit ist auch die bis 2050 im Koalitionsvertrag vereinbar-te Reduzierung von Treibhausgasen um 80–95 Prozent. Klimaverände-

rungen führen vor allem in Entwick-lungsländern zu Umweltkatastro-phen, Verlust von Agrarflächen und Missernten. Trotz des starken En-gagements gegen den Klimawandel gehört Deutschland zu den Ländern mit den höchsten klimaschädlichen Emissionen pro Kopf. Im CCPI er-reicht Deutschland lediglich Rang 22 von 58 Ländern.

Die Bekämpfung des Hungers und die Förderung der Landwirt-schaft in Entwicklungsländern ist Bundesminister Gerd Müller ein Herzensanliegen. Gleichzeitig scha-det heimische Agrarpolitik der Land-wirtschaft in Entwicklungsländern: Im Ending Rural Poverty Index, der die Politik aller OECD-Länder auf ih-ren positiven Einfluss auf die Ernäh-rungssituation in Entwicklungslän-dern misst, erreicht Deutschland nur Rang 22 von 28 bewerteten Ländern.

03

24

Bewertung

Page 25: „Kompass 2030“ als PDF

a b b . 2 3 : d e u t s c h l a n d m u s s h a n d e l nDas Ergebnis zeigt deutlich, dass Deutschland in 16 der 17 SDG Handlungsbedarf hat

(Methodik unter sdgindex.org).

= d r i n g e n d h a n d e l n

= n o c h e i n i g e s z u t u n

= a u f g u t e m W e g

keine armut01 kein

hunger02 gesundheit und Wohl-ergehen

03 hochWertige bildung04

geschlechter - gleichheit05 sauberes Wasser

und sanitär-einrichtungen

06 bezahlbare und saubere energie07 menschen-

Würdige arbeit und Wirtschafts-Wachstum

08

industrie, innoVation und infrastruktur

09 Weniger ungleichheit10 VerantWortungs-

Voller konsum und produktion

12nachhaltige städte und gemeinden

11

leben an land15 frieden,

gerechtigkeit und starke institutionen

16massnahmen zum klimaschutz13 leben unter

Wasser14

partnerschaft zur erreichung der ziele

17

Um das zu ändern, bedarf es auch stärkerer Kohärenz und Kooperation von BMZ und Agrarministerium.

In ihrem Bericht zum HLPF in New York im Juli 2016 betont die Bun-desregierung ihren Beitrag zur Lösung globaler Flüchtlingskrisen durch die Bekämpfung von Fluchtursachen und durch die Aufnahme von Geflüchteten. Im MIPEX erreicht Deutschland Rang

10 unter 38 Ländern. Insbesondere bei der Bekämpfung von Rassismus und dem Zugang zu Gesundheitsver-sorgung und Bildung gibt es Verbesse-rungsbedarf.

Deutschland ist also nicht der Vorreiter, als den es die Bundesre-gierung gerne präsentiert – weder in der Entwicklungspolitik noch in der Umsetzung der Agenda 2030. Von

wirklich kohärentem Handeln sind wir ein gutes Stück entfernt. Dazu wird es nötig sein, dass die Bundes-regierung die Botschaft aussendet, dass „Business as usual“ keine Option mehr ist, und konsequent im Sinne der Nachhaltigkeitsziele handelt, auf allen Ebenen. Das wäre vielleicht nicht die beste, aber sicher eine der ehrlichsten Botschaften.

25

Kompass 2030

Page 26: „Kompass 2030“ als PDF

i n a n u t s h e L Le m p f e h L u n g e n i m J a h r

e i n s d e r a g e n d a 2 0 3 0

01

03

0204

05

06

07

Nur eine Politik, die nachweislich und nachhaltig Armut, Ausgrenzung und Ungleichheit abschafft, wird der Agenda 2030 gerecht. Die Herausfor-derungen der Nachhaltigkeitsziele erfordern Mut zum Umdenken, in allen Ressorts. „Niemanden zurück-lassen“ heißt die Benachteiligten mit-nehmen, die an Entwicklung nicht teilhaben, und an den Ursachen der Exklusion ansetzen.

Deshalb fordern wir für eine wirksamere Entwicklungszusammen-arbeit:

Entwicklungszusammen-arbeit, Nothilfe und Kri-

senbewältigung müssen sich besser und flexibler verzahnen, im Zusam-menspiel mit Partnerländern und der Zivilgesellschaft. Das gilt für die Flüchtlingskrise, deren Bewältigung an Ursachen statt an Symptomen an-setzen muss, sowie im Umgang mit den ärmsten und fragilen Ländern und Gruppen, die aus dem toten Winkel der Entwicklungspolitik he-rausmüssen.

Hunger und Mangelernäh-rung bleiben die schwers-

te Hypothek. Sie zu überwinden erfordert, das bisherige Tempo zu verdreifachen. Wir begrüßen den hohen Stellenwert der Sonderin-

itiative EINEWELT ohne Hunger (SEWOH) und wünschen, dass Er-nährungssicherung auch künftig Vorrang erfährt. Die Initiative muss aber verbessert werden: in Strategie, Transparenz, Dialog mit den Partner-ländern und selbstkritischer Evaluie-rung.

Mehr Mittel! Nicht die Zi-vilgesellschaft hat das 0,7-

Prozent-Ziel festgelegt. Es waren die Regierungen vor mehr als 50 Jahren! Das Ziel ist ein Kind seiner Zeit. Auch im Kontext geteilter Ver-antwortungen bleibt es jedoch eine Messlatte für die Leistung der Indus-triestaaten. Die brechen konsequent ihr Versprechen: durch Rechenküns-te und durch Zeitschinden – nun bis 2030. Deutschland sollte ehrlicher sein und auch im Vorsitz der G20 mit den Schwellenländern erhöhtes Engagement zur Finanzierung der Agenda 2030 vereinbaren.

Deutschland braucht einen Nachhaltigkeits-TÜV: Es

muss systematischer geprüft werden, wo Agrar-, Entwicklungs-, Handels- und Steuerpolitik zuwiderlaufend den Entwicklungsländern schaden. Staatssekretärsrunden und Kompe-tenz im Kanzleramt reichen nicht mehr aus. Es ist Zeit für eine neue

Architektur und Aktionspläne. Es wäre ein Aufbruchssignal, noch vor den Bundestagswahlen Nachhaltig-keit in der Verfassung zu verankern.

Mehr Gestaltung statt Ver-waltung! „Die Zusammen-

arbeit mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen strategisch gestalten“, war die klare Ansage der OECD – im Jahr 2010. Der Dialog erlebt Höhen und Tiefen, bleibt aber Stückwerk und oft Mikromanagement. Das Po-tenzial als Partner wird nicht ausge-schöpft.

Kriege und Krisen sind der Feind nachhaltiger Entwick-

lung. Deutschland muss sich für eine neue Friedens- und Sicherheitsarchi-tektur starkmachen. Nothilfe, Kon-fliktbewältigung und Aufbauarbeit gehören zusammen.

Wir wünschen uns, dass die Bundesregierung im Parla-

ment jährlich Rechenschaft ablegt, wie es um die Nachhaltigkeitsziele Deutschlands steht. Derzeit ist ihr nächster Bericht an das UNO-Nach-haltigkeitsforum (HLPF) für 2021 angekündigt, eine Fortschrittsbilanz zur nationalen Nachhaltigkeitsstrate-gie nach deren Neuauflage in diesem Jahr erst 2020. Das reicht nicht aus!

26

Zusammenfassung

Page 27: „Kompass 2030“ als PDF

k o m m e n t i e r u n g(1) Rede Kanzlerin Angela Merkel vor dem Nachhaltigkeitsrat. 31.05.2016w(2) ODA­Pressemitteilung BMZ: bmz.de/de/presse/aktuelleMeldungen/2016/juli/160706_pm_065_Bundesminister­Mueller­Haushalt­2017­ist­eine­Investition­in­unsere­Zukunft/index.jsp Vgl.: bundeshaushalt­info.de/#/2016/soll/ausgaben/einzelplan/23.html(3) Mittelfristige Finanzplanung Bundes­finanzministerium(4) VENRO­Position Haushalt: venro.org/presse(5) Grüner Finanzplan: gruene­bundestag.de/themen/entwicklungszusammenarbeit/der­gruene­finanzplan­2020­14­06­2016.html(6) bmz.de/de/ministerium/zahlen_fakten/oda/geber/index.html und oecd.org/dac/stats/ODA­2015­detailed­summary.pdf(7) Entwurf zum Bundeshaushaltsplan 2017, Einzelplan 23, Bundesministerium für wirt­schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung(8) venro.org/presse/?presseUID=85&v=0&cHash=7b55ebbd883b38891c7720b91246d879(9) OECD­Prüfbericht über die Entwicklungs­zusammenarbeit Deutschland, 2010, S. 19(10) OECD­Prüfbericht über die Entwicklungs­zusammenarbeit Deutschland, 2015, S. 19

e i n f ü h r u n g(1) bloomberg.com/news/articles/2015­02­10/g­20­confronts­income­inequality­scourge­for­first­time­in­draft (2) sustainabledevelopment.un.org/con­tent/documents/10374GER_Report_to_HLPF_2016_Exec_Summary.pdf

f l u c h t(1) Rede im Bundestag bei der Debatte zur Fluchtursachenbekämpfung Juni 2016(2) Haushaltsentwurf vom 13.7.2016, Einzelplan 23 und bundeshaushalt­info.de/fileadmin/de.bundeshaushalt/content_de/dokumente/2016/soll/epl23.pdf(3) giz.de/de/html/39372.html(4) auswaertiges­amt.de/DE/Aussenpolitik/Friedenspolitik/Krisenpraevention/5_Projekt­beispiele/160601_Leitlinien.html?nn=382590

a r m u t(1) blogs.worldbank.org/opendata/archi­ve/201606, blogs.worldbank.org/opendata/what­does­it­mean­eradicate­extreme­pover­ty­and­halve­national­poverty­2030(2) DIE, Briefing Paper 15/2015 Garroway + Reisen, basierend auf IWF World Economic Outlook und World Bank PovcalNet tool(3) g7germany.de/Content/DE/_Anlagen/G8_G20/2015­06­08­g7­abschluss­deu.pdf?__blob=publicationFile&v=5 Seite 22(4) bmz.de/de/ministerium/ziele/ziele/mon­terreykonsens/index.html

f u s s n o t e n Abkürzungen

a a Auswärtiges Amtb m u b Bundesministerium für Umwelt,

Naturschutz, Bau u. Reaktorsicher­heit

b m z Bundesministerium für Wirt­schaftliche Zusammenarbeit u. Entwicklung

b n e Bruttonationaleinkommenc c p i Climate Change Performance Indexd a c Development Assistance Commit­

tee, Entwicklungsausschuss der OECD

d e g Deutsche Investitions­ u. Entwick­lungsgesellschaft der KfW

d i e Deutsches Institut für Entwick­lungspolitik

e r p i Ending Rural Poverty Indexe z Entwicklungszusammenarbeitf a o Food and Agriculture Organisation,

Landwirtschafts­ u. Ernährungsor­ganisation der UNO

f s i Financial Secrecy Indexg 7 Gruppe der führenden Industriena­

tioneng 2 0 Gruppe der führenden Industrie­

und Schwellenländer h d i Human Development Index h l p f High Level Political Forum, Nach­

haltigkeitsforum der UNOi W f Internationale Währungsfondsk f W Kreditanstalt für Wideraufbaul d c Least developed countries: definiert

durch soziale u.wirtschaftliche Kriterien, u.a. des Human Assets Index, desEconomic Vulnerability Index und einem BNE unter 1035 $ im Mittel von drei Jahren. unohrlls.org/about­ldcs/criteria­for­ldcs/

l i c Low Income Countries m i p e x Migrant Integration Policy Index n e e t Not in Employment, Education or

Training, Jugendliche außerhalb von Beschäftigung, Aus­ und Fortbildung

n r o Nichtregierungsorganisationo d a Official Devolopment Assistance,

staatliche Entwicklungshilfeo d i Overseas Development Instituteo e c d Organisation for Economic

Co­operation and Development, Industrieländerorganisation

Q u o d a Qualitätsindex des Center for Global Development

s d g Sustainable Development Goals, Ziele für nachhaltige Entwicklung

s e W o h Sonderinitiative EINEWELT ohne Hunger

s s a Subsahara­Afrika u n h c r UNO­Flüchtlingswerku n o Vereinte Nationen V e n r o Verband Entwicklungspolitik

und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen

V g g t Voluntary Guidelines on the Responsible Governance of Tenure

W f p UNO Welternährungsprogramm

(5) afdb.org/fileadmin/uploads/afdb/Docu­ments/Policy­Documents/2013­2017_­_Priva­te_Sector_Development_Strategy.pdf(6) oecd.org/berlin/presse/steuervermeidung­multinationaler­unternehmen­eindaemmen­oecd­praesentiert­reformen­fuer­internatio­nales­steuersystem.htm(7) www.oecd.org/dac/states­of­fragility­2015­9789264227699­en.htm

h u n g e r(1) Schlusserklärung G7 Elmau https://g7germany.de/Content/DE/_Anlagen/G8_G20/2015­06­08­g7­abschluss­deu.pdf?__blob=publicationFile&v=5(2) Ending Rural Hunger, Brookings Institu­tion (2015)(3) Bodenatlas – Daten und Fakten über Acker, Land und Erde, Heinrich­Böll­Stiftung/Insti­tute for Advanced Sustainability Studies/Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland/Le Monde Diplomatique (2015), S. 24

V e r W u n d b a r e(1) Unesco Institute for Statistics, Policy Paper 27, July 2016, Zahlen von 2014(2) EFA GMR (2015): Education for All 2000­2015: Achievements and Challenges – Summary. Paris, UNESCO(3) Marginality, Mapping the Nexus of Po­verty, Exclusion and Ecology, Editors Joachim von Braun, Franz W. Gatzweiler (4) UNDP: Human Development Report 2016(5) worldbank.org/en/news/press­re­lease/2015/04/07/world­bank­president­strat­egy­end­poverty­new­development­partners (6) kfw­entwicklungsbank.de/PDF/Download­Center/PDF­Dokumente­Deve­lopment­Research/2013­02­25_EK_Ultra­Armut_EN.pdf (7) bmz.de/de/mediathek/publikationen/reihen/strategiepapiere/Strategiepa­pier365_2016.pdf, Roadmap 2016

J o b s (1) esa.un.org/unpd/wpp/Publications/Files/WPP2015_Volume­II­Demographic­Profiles.pdf(2) post2015hlp.org/wp­content/up­loads/2013/06/Assaad­Levison­Global­Youth­Employment­Challenge­Edited­June­5.pdf(3) imf.org/external/pubs/ft/reo/2015/afr/eng/pdf/sreo0415.pdf(4) BMZ, Sprecherin(5) deval.org/files/content/Dateien/Evalu­ierung/Policy%20Briefs/DEval_Policy%20Brief_AfT_032015.pdf(6) berlin­institut.org/publikationen/discus­sionpapers/Jobs_fuer_Afrika.html(7) dcdualvet.com/wp­content/uploads/ 2016/06/DCdVET_Duale_Berufsbildung_als_Option_in_der_Entwicklungszusam­menarbeit_Studie_Matthias_Jaeger.pdf

27

Kompass 2030

Page 28: „Kompass 2030“ als PDF

d e u t s c h e W e l t h u n g e r h i l f e e . V .

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