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Kompetenz- orientierter Unterricht mit Portfolio Stefan Keller, Franz König (Hrsg.)

Kompetenz- orientierter Unterricht mit Portfolio€¦ · du stellst, und ich sage dir, was für eine Art Unterricht du vorhast!« Zweitens braucht es nicht immer neue Aufgaben, nicht

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Page 1: Kompetenz- orientierter Unterricht mit Portfolio€¦ · du stellst, und ich sage dir, was für eine Art Unterricht du vorhast!« Zweitens braucht es nicht immer neue Aufgaben, nicht

Kompetenz-orientierter

Unterricht mit Portfolio

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Wie können wir erreichen, dass Schülerinnen und Schüler nicht nur fachliches Wissen erwerben, sondern dieses in konkreten Handlungssituationenauch selbstständig und sicher anwenden? Anhand der Arbeit mit Portfolios im Unterricht lassen sich sowohl Lernprozesse anregen und be- gleiten als auch Leistungen dokumentieren und beurteilen. So verwundert es nicht, dass Portfo-lioarbeit beim kompetenzorientierten Unterricht immer wichtiger wird. Im ersten Teil dieses Buches werden zentrale pä- dagogische Konzepte der Portfolioarbeit anschau-lich erklärt. Im zweiten Teil finden sich vielfältige Praxisbeispiele von er fahrenen Lehrerinnen und Lehrern verschiedener Fächer und Schulstufen.

www.hep-verlag.com/kompetenzorientierter- unterricht-mit-portfolio

Stefan Keller, Franz König (Hrsg.)

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Kompetenzorientierte Aufgabenstellungen für PortfoliosMARTIN KELLER

1 Auf der Suche nach geeigneten Aufgaben

1.1 Aufgaben als Dreh- und Angelpunkte der Portfolioarbeit

Die Ausgangsfrage ist eine ganz praktische: Wenn Lehrkräfte in ihrem Unterricht mit Portfolios arbeiten möchten, so müssen sie den Schülerinnen und Schülern gut erklä-ren, was sie in ihr Portfolio legen sollen, wie sie diese Arbeit bewältigen können und welche Qualität erwartet wird. Das können die Lehrkräfte tun, indem sie einen Rahmen festlegen, Lernziele formulieren und dies den Lernenden auch klar und einleuchtend mitteilen. Der Dreh- und Angelpunkt jedoch sind die Aufgaben, wie in jedem Unter-richt. Sie vor allem steuern die Lernprozesse wie auch deren Ergebnisse. Wie sollten sie im Unterricht mit Portfolio gestaltet sein?

Im Portfolio-Unterricht sollen die Lernenden sich in ein fachliches Gebiet vertiefen, dazu Wissen erarbeiten, Produkte erstellen, sie im Dialog überarbeiten, ihre Arbeit reflektieren, auswählen und dokumentieren sowie auch präsentieren. Dabei entstehen Belege für ihre fachlichen und überfachlichen Kompetenzen. Die Portfoliomethode im Unterricht erleichtert es, verschiedenartige Typen von Aufgaben zu einem sinnvollen Lernarrangement zu verbinden; Aufgaben, die Initiative und Selbststeuerung verlangen, kommen häufiger vor, Reflexion, Überarbeitung und Präsentation der eigenen Arbeit werden regelmäßig verlangt (Winter 2003, S. 79/80).

Schauen wir uns ein konkretes Beispiel an. Eine Lehrerin der Sekundarstufe möchte mit den Schülerinnen und Schülern ein Fachportfolio zu Gedichten erstellen. Sie hat wenig Erfahrung mit Portfolios, mit dem Thema dafür mehr. Die Lehrerin greift auf eine Gedichtwerkstatt zurück, die sie schon einmal benutzt hat. Dabei sind ihr die Unterschiede zwischen Portfolio und Werkstatt durchaus bewusst. Während für ein Portfolio normalerweise eine Handvoll Aufträge genügen, bestehen Werkstätten aus einem Dutzend oder mehr Aufträgen, oft in Bereiche gegliedert. Und in einem Portfolio werden alle Aufträge bearbeitet, während in einer Werkstatt das Wahlprinzip gilt. Sie schaut alle Arbeitsaufträge oder Aufgaben – ich benutze beide Wörter als Synonyme – durch und überlegt sich, welche portfoliowürdig sein könnten, welche Anregung bieten könnten für anspruchsvolle Leistungen der Schülerinnen und Schüler. Machen wir das auch und betrachten einen Auftrag genauer.

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48 I Grundlagen und Instrumente der Portfolioarbeit

Wissen

HaikuEtsujin

»Es ist doch mein Schnee.« Wenn ich das denke, wird mir der Strohhut leichter!

Sampü, 1646–1732

Kirschblütenflor – Kuckucksruf und Mond und Schnee, und das Jahr ist um.

Dorothea

Leuchtendes Weinrot, strahlende Blütenblätter, vergängliche Pracht.

Ziele • sich mit einer fremden Gedichtform

ausein andersetzen • auf Silben statt auf Reime achten

Aufgabe Lies die Informationen rechts aufmerksam durch, mach ein paar Notizen zu den folgen-den Fragen:

• Woher stammen Haikus, wie alt sind sie? • Was sind typische Themen, Inhalte? • Was fasziniert bei dieser Gedichtform? • Wie sind sie inhaltlich auf gebaut? • Wie sieht der formale Aufbau (Zeilen,

Reime, Silben) aus?

Wenn du die Antworten auf die Fragen aufschreibst und miteinander verbindest, entsteht eine gute Zusammenfassung. Zeig sie mir, bevor du sie einträgst!

Haikus gibt es seit dem 16. Jahrhundert, und trotzdem wirken sie modern. Sie stammen aus Japan und werden, gerade wegen ihrer Kürze, überall verstanden.

Die poetische Knappheit, mit der landschaft-liche und jahreszeitliche Beobachtungen dargestellt werden, wirkt verblüffend. Ein Haiku zwingt zum Weglassen: ein Gedanke, ein, Bild oder ein Augenblick wird skizzen-artig festgehalten.

Wichtigstes Thema ist die Natur mit den Jahres zeiten, gefolgt von Beziehungen und von Problemen. Reizvoll wirken Haikus, wenn in der letzten, dritten Zeile ein Wi-derspruch oder eine unerwartete Auf lösung auftaucht.

Reime kommen nicht vor, da das Japanische zu viele Endungen hat. Die Form wird viel-mehr durch die Anzahl der Silben bestimmt. Dies erschwert eine Übersetzung ungemein, doch reizt es dafür umso mehr, selbst zu dichten. Die Formvorschriften sind aller-dings einzuhalten: eine erste Zeile zu fünf Silben, eine zweite zu sieben und eine dritte, abschließende wieder mit fünf.

Zum Schluss: Wie wäre es, wenn du nun selbst ein Haiku schreiben würdest?

Abbildung 1 Schreibaufgabe »Haiku« (nach Keller 1998, S. 28). © Zytglogge Verlag

Inhaltlich bringt der Auftrag Spannendes, die extreme Kürze dieser Gedichtform spricht viele Jugendliche an. Die Aufgabe lautet, die bereitgestellten Informationen über Haikus zu verarbeiten und einen kurzen Text zu verfassen. Schon jetzt kommt der Verdacht auf, diese Aufgabe eigne sich nicht so recht für ein Portfolio. Die Schülerinnen und Schüler müssen Fragen beantworten und diese zu einem Text zusammenfügen – bei-des keine sehr herausfordernden Aufgaben. Es geht vor allem darum, Aussagen aus dem Text herauszulesen, die Fragen dazu sind vorgegeben. Es würden lauter ähnliche Texte entstehen, ohne eine persönliche Handschrift. Im Rahmen der Portfolioarbeit hingegen können und sollen intensive, vielfältige und selbstständig vorangetriebene

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49Kompetenzorientierte Aufgabenstellungen für Portfolios

Lernprozesse stattfinden, und die dabei entstehenden Arbeiten zeigen üblicherweise etwas Persönliches, Individuelles, worauf die Schülerin, der Schüler stolz sein kann. »Ja, aber die Schlussfrage dieser Haiku-Aufgabe verlangt doch genau das«, kann man einwenden. Stimmt, sie zielt in die gewünschte Richtung. Eine solche Aufgabe könnte trotzdem in einem Portfolio zur Unterrichtseinheit Gedichte ihren Platz haben. Man müsste sie aber umformulieren, etwa so: »Schau dir die vorgegebenen Haikus genau an und schreibe ein ähnliches Gedicht. Lege außerdem dar, wie du dabei vorgegangen bist und was du gedacht hast.«

Aber die Lehrerin sucht weiter in der herkömmlichen Sammlung von Aufgaben, und gleich der nächste Auftrag fällt ihr ins Auge. Er stammt wie der vorherige aus dem Bereich »Wissen« und heißt »Ihre Meinung, bitte!«

Wissen

Ihre Meinung, bitte!ThemaWas halten eigentlich die Leute von Gedichten?

Mögen sie Gedichte? Welche? Kennen sie eini ge auswendig? Bevorzugen sie bestimmte Dich terinnen oder Dichter? Wie viele haben überhaupt einen Gedichtband zu Hause?

Ziele • Meinungen anderer Leute zu einem

Thema erfragen • Resultate zusammenfassen, darstellen und

kommentieren

AufgabeSetzt euch zusammen und schreibt möglichst viele Fragen auf. Das Durcheinander spielt im Moment keine Rolle.

Nun solltet ihr einen Fragenkatalog ausbrü-ten. Überlegt, in welche Richtung eure Fra-gen zielen, wie viele es überhaupt sein sollen, welche Reihenfolge sinnvoll wäre.

Als Nächstes will der Personenkreis sorg-fältig ausgewählt sein. Wen befragen wir? Warum gerade diese Leute? Wie viele? Wo?

Beim Interview solltet ihr nicht verges-sen, zuerst euch selbst und den Zweck der Umfrage vorzustellen. Eine höfliche Bitte um Mitarbeit wird sicher geschätzt.

Schließlich müssen die Antworten zusam-mengefasst, geordnet und – vor allem – kommentiert werden.

Tragt die Ergebnisse eurer Arbeit der Klasse vor, macht vielleicht eine Folie mit den spannendsten Antworten oder erstellt eine Grafik, und vergesst nicht eure Eindrücke!

Material • Fragebogen • eventuell Diktiergerät

Abbildung 2 Schreibaufgabe »Ihre Meinung, bitte!« (nach Keller 1998, S. 29). © Zytglogge Verlag

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50 I Grundlagen und Instrumente der Portfolioarbeit

Was für eine Art Lernen wird mit dieser Aufgabe angeregt? Das Zentrum bilden die Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von Kurzinterviews, das heißt, Schüle-rinnen und Schüler arbeiten an einer überfachlichen Kompetenz. Doch auch fachlich sind sie gefordert. Sie müssen die Fragen klug zusammenstellen und ihre Auswahl auf das Ziel abstimmen. Und bei der Auswertung ist erst recht gründliches Verstehen ge-fordert. Sicherlich würde nicht geschätzt, wenn die Jugendlichen Antwort um Antwort herunterlesen würden. Vielmehr müssen sie zusammenfassen, die besten Antworten auswählen oder etwas in eine Grafik umarbeiten. Und schließlich verlangt das Kom-mentieren eine persönliche Stellungnahme statt nur die Wiedergabe von Fakten.

Das Produkt der Arbeit ist zwar vorgeschrieben, die Ergebnisse sollen präsentiert werden. Trotzdem besteht genügend Spielraum für vielfältige Erkenntnisse und persönliche Stel-lungnahmen, die Form ist offen genug. Kurz und gut, dieser Auftrag eignet sich – von den Lernprozessen wie von den Lernergebnissen her – für die Portfolioarbeit. Dazu müssten die Ergebnisse der Arbeit von den einzelnen Schülerinnen und Schülern auch schriftlich formuliert und in ihrem Portfolio dokumentiert werden.

Von diesem Fundstück beflügelt, blättert die Lehrerin die Gedichtwerkstatt in schnel-lerem Tempo durch, denn langsam entwickelt sie ein immer besseres Gespür für ›ge-eignete‹ Aufgaben. In den Bereichen »Wissen« und »Lesen« ist die Ausbeute karg oder braucht Umformulierung, bei »Schreiben«, »Gestalten« und »Vortragen« hingegen findet die Lehrerin weitere geeignete Aufgaben und besitzt bald einige, wenn nicht zu viele Kandidaten für das Gedichtportfolio. Wichtig ist, dass die Aufgaben die Schüle-rinnen und Schüler zu intensivem, selbstständigem fachlichem Handeln anleiten und zu Produkten führen, die im Portfolio dokumentiert werden können.

Anhand der soeben geschilderten Situation möchte ich zwei Dinge zeigen. Erstens spielen Aufgaben die zentrale Rolle in jedem Unterricht, und jede Art Unterricht benö-tigt die dazu passenden Aufgaben. Etwas verkürzt gesagt: »Zeig mir die Aufgaben, die du stellst, und ich sage dir, was für eine Art Unterricht du vorhast!« Zweitens braucht es nicht immer neue Aufgaben, nicht alles muss selbst erfunden werden. Man erzielt sehr gute Erfolge, wenn man sich die Lernziele und das Lernarrangement – in diesem Fall Portfoliounterricht – klar vor Augen hält, und damit bestehende Lehrmittel und Materialien nach geeigneten Aufgaben durchforstet.

1.2 Portfoliowürdige Aufgaben

Die Hoffnung der Lehrerin, in ›altbewährten‹ Lehrmitteln geeignete Aufgaben für ein Portfolio zu finden, hat sich erfüllt, mehr sogar: Sie hat zu viele Aufgaben und muss, oder besser darf, auswählen. Auch wird sie Aufgaben abändern, damit sie noch besser zur Klasse und zu den Lernzielen passen – und auch zur Portfolioarbeit. Überlassen wir nun die Lehrerin ihren Planungsarbeiten, und wenden uns der Frage zu, was denn eine portfoliowürdige Aufgabe ausmacht.

Wenn wir die beiden Aufträge in der Zusammenschau betrachten, so wird klar: Es geht vor allem um die Art und die Qualität der Lernhandlungen, die eine Aufgabe auslösen will:

• produktiv: etwas machen, herstellen, kreieren; • herausfordernd: »Zeig, was du kannst!«; • selbstständig: angeleitet, aber eigenständig arbeiten;

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51Kompetenzorientierte Aufgabenstellungen für Portfolios

• verstehensorientiert: Fragen aufwerfen, recherchieren, zusammenfassen, bildlich darstellen, hinterfragen usw.;

• mit persönlichem Anteil: eigene Interessen, Erfahrungen, Gedanken und Ge-fühle einbringen können – damit auch differenzierend, individualisierend und personalisierend;

• fachliche und überfachliche Kompetenzen kombinieren; • Bezug zur Lebenswelt herstellen.

Bei den Lernergebnissen, den Produkten, ist es wichtig, dass diese Art von Leistungen der Schülerinnen und Schüler dokumentiert, gezeigt und besprochen werden kann. Aufgaben, die diese Merkmale haben, entsprechen dem, was Wiggins (1998, S. 28 f.) als authentische Aufgaben bezeichnet, nämlich solchen, die alltäglichen Anforderungs-situationen des Berufslebens ähneln, Urteilsfähigkeit und Innovation sowie fachliches Handeln in komplexen Anforderungssituationen verlangen und bei deren Bearbeitung es möglich ist, sie zu verbessern und Rückmeldungen zu nutzen. Sie weichen damit von den typischen Überprüfungsaufgaben der Schule ab (vgl. Winter 2016, S. 31 f.).

2 Kompetenzorientierte Aufgaben

2.1 Charakteristika von kompetenzorientierten Lernaufgaben

Bis jetzt wurde ›nur‹ von Portfolios und dazu passenden Aufgaben gesprochen. Doch manchen Leserinnen und Lesern wird aufgefallen sein, dass Portfolio-Aufgaben und kompetenzbezogene Aufgaben sehr viele Gemeinsamkeiten aufweisen. In den Arbeiten von Leuders (2006), die ursprünglich der Mathematikdidaktik entstammen, findet sich eine gute Definition, was »kompetenzorientierte Aufgaben« ausmacht:

Kinder zum eigenständigen Erkunden, individuellen Entdecken und kreativen Erfinden anregen:

– Offenheit für verschiedene individuelle Lernwege, – Keine Engführung durch vielfach »atomisierte« Teilaufgaben, – Aktivierung zum Denken (nicht nur zum Handeln), – Ermöglichen von vielfältigen Erfahrungen, – Orientierung an herausfordernden, aber zugänglichen Problemen, – Zulassen von Schülersprache und vorläufigen Begriffen, – Anstoßen von Kommunikations- und Kooperationsprozessen.

(Leuders 2006, S. 88)

Diese Beschreibung gibt in vielerlei Hinsicht eine gute Charakterisierung von port-foliowürdigen Aufgaben, die vielfältige Bezüge zur Darstellung im letzten Abschnitt zeigt. Offenheit und das Ermöglichen individueller Lernwege und Lernergebnisse sind in beiden Konzepten dabei zentral. Die kognitive Aktivierung bei Leuders entspricht dem Merkmal »verstehensorientiert«. Die Herausforderung und die Kooperation haben ebenfalls in beiden Merkmalslisten ihren Platz. Was Leuders zusätzlich anspricht, ist das Problem der »atomisierten« Teilaufgaben. Das erinnert an die oben dargestellte Wissens aufgabe zum Haiku. Besonders wichtig ist dabei das Zulassen von Schülerspra-che und vorläufigen Begriffen. Dies gehört ebenso zur Tradition der Portfolioarbeit, welche die Schülerinnen und Schüler sowohl in einen Dialog mit der Sache bringen

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52 I Grundlagen und Instrumente der Portfolioarbeit

will als auch in einen Austausch mit anderen. Dabei ist es notwendig, eigene Worte und Bilder zu gebrauchen, bevor die offiziellen Begriffe ausgebildet werden. Dafür hebt die Definition portfoliowürdiger Aufgaben noch den Bezug zur Lebenswelt hervor. Dieser zeigt sich besonders deutlich bei der Interview-Aufgabe: Da werden Schülerinnen und Schüler aufgefordert, andere Menschen zu befragen, sie um ihre Meinung zu bitten. Das ist der Schritt aus dem Schulzimmer hinaus, in andere Lebenswelten.

Bleiben wir bei den kompetenzorientierten Aufgaben und richten den Blick in die Schweiz, auf den Lehrplan 21. Dieser wurde gemeinsam von allen deutschsprachi-gen Kantonen erarbeitet und 2015 veröffentlicht (siehe www.lehrplan.ch, 15.10.2015). Kernpunkt ist die Kompetenzorientierung und damit die Ausrichtung auf (Lern-)Auf-gaben, die geeignet sind, die erwünschten Kompetenzen auszubilden, zu festigen und zu prüfen. Reusser (2014) war bei der Erarbeitung als Experte beteiligt und formulierte seine Vorstellungen, was ›gute‹ Lernaufgaben/Lernaufträge sind, die sich für einen kompetenzorientierten Unterricht eignen, folgendermaßen:

fachlich bedeutsam repräsentieren fachbedeutsame Kernideen und Gegen-stände und erfordern für ihre Bearbeitung fachspezifische Kompetenzen

gründlich verstehend regen Lernprozesse an, die in die Tiefe des Wissens und Denkens eines Fachs gehen; laden zu gründlichem Verstehen und Problemlösen ein

interessierend, motivierend

wecken Neugier und motivieren, sich auf den Gegenstand einzulassen (durch Handlungs- und Alltagsnähe, Anschaulich-keit, Spielcharakter, Überraschendes, ...)

differenzierend (bis individualisierend)

lassen sich auf unterschiedlichen Niveaus und unter verschie-denen Perspektiven lösen, ermöglichen verschiedene Lösungs-wege und Dar stellungsformen, eignen sich für stärkere wie schwächere Schüler/-innen

kognitiv aktivierend ermöglichen das Austauschen, Vergleichen, Strukturieren, In-Beziehung-Setzen, Diskutieren, Kritisieren, Dokumentieren ...

fachlich und überfachlich trainieren und festigen fachliche und überfachliche Fertigkei-ten und Strategien

»Ich kann was« stärken bei erfolgreicher Bearbeitung das Bewusstsein des eigenen Könnens; umso mehr, wenn sorgfältig Gruppen von Aufgaben ein immer anspruchsvolleres und vernetztes Lernen möglich machen

»Ich schaffe das selbst« ermöglichen aktiv-entdeckendes und selbstgesteuertes Arbeiten und Anwenden von Vorwissen – und stärken das Autonomieerleben

»Ich gehöre dazu, ich trage etwas bei«

stimulieren Schülerpartizipation, Lerndialog, Kommunikation und Kooperation – und stärken das Erleben sozialer Einge-bundenheit

Abbildung 3 Charakteristika von guten Lernaufgaben für den kompetenzorientierten Unterricht (nach Reusser 2014, S. 334 f.)

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53Kompetenzorientierte Aufgabenstellungen für Portfolios

Wie in den beiden vorangehenden Definitionen finden sich auch hier die Merkmale gründliches Verstehen, interessierend und differenzierend, kognitiv aktivierend, fach-liche und überfachliche Kompetenzen zugleich anstrebend sowie den Blick auf das persönliche Lernen der Schülerinnen und Schüler richtend. Eine besondere Dimension des Lernens sprechen die letzten drei Merkmale an. Hier wird der Bezug zu der Selbst-bestimmungstheorie der Motivation von Deci und Ryan (1993) offensichtlich, und für die Umsetzung im Unterricht einleuchtend beschrieben.

Betrachtet man die hier dargestellten Merkmale von Aufgaben des kompetenzorien-tierten Unterrichts, so wird deutlich, dass sie gut vereinbar mit dem sind, was zuvor für portfoliowürdige Aufgaben beschrieben wurde. Kompetenzbezogene Aufgaben sind natürlich auch außerhalb des Rahmens der Portfolioarbeit einsetzbar. Es dürfte aber deutlich geworden sein, dass im Rahmen der Portfolioarbeit erstens notwendig solche Aufgaben gebraucht werden und sie zweitens dort – genügend Zeit und geeignete Arbeitsbedingungen vorausgesetzt – optimal von den Lernenden bearbeitet werden können. Portfolioarbeit stellt daher eine günstige, wenn nicht sogar notwendige Be-dingung für kompetenzorientierten Unterricht dar.

Gibt es, trotz der vielen Gemeinsamkeiten, auch Unterschiede zwischen portfoliowür-digen und kompetenzorientierten Aufgaben? Eine Differenz betrifft das Spannungsfeld Individualität versus Normen für alle. Während Portfolioarbeit das Lernen individu-alisiert, das Persönliche, Individuelle herausfordert und die je eigenen Interessen so-wie Stärken sichtbar zu machen versucht, formuliert die Kompetenzorientierung eher gleiche Ansprüche an alle, hier sind Ziele und Normen vorgegeben, die Schülerinnen und Schüler können vergleichend eingestuft werden. Bei der Portfolioarbeit hingegen spielt die Diagnose von Kompetenzen zunächst eine untergeordnete Rolle, es geht um die Organisation intensiver, persönlicher und reflektierter Lernprozesse. Dennoch – und gerade deshalb – können die Portfolioarbeit und die Portfolios als eine gute Basis für eine Diagnose von Kompetenzen betrachtet werden (vgl. den Beitrag von Felix Winter, S. 27 ff.).

2.2 Checkliste für kompetenzorientierte Lernaufgaben

Im vorherigen Abschnitt wurde aufgezeigt, was kompetenzorientierte Aufgaben aus-macht. Die große Übereinstimmung mit portfoliowürdigen Aufgaben, wie im ersten Teil dargestellt, war augenfällig. Obwohl die pädagogischen Absichten des Portfolioansatzes einerseits und der Kompetenzorientierung andererseits recht unterschiedlich sind, tref-fen sie sich an diesem Punkt. Daher versuche ich, die Merkmale der oben vorgestellten Definitionen in einer Checkliste zusammenzuführen. Sie soll helfen, portfoliowürdige wie auch kompetenzorientierte Aufgaben auszuwählen und zu prüfen. Es versteht sich von selbst, dass eine einzelne Aufgabe, so gut sie auch sein mag, kaum alle diese An-forderungen erfüllen wird. Aber anhand dieser Checkliste kann man sie daraufhin befragen, ob sie wirklich herausfordernd und authentisch im oben genannten Sinne sind. Die Messlatte ist hier freilich sehr hoch gelegt, insbesondere was das eigenständige und interessengeleitete Lernen angeht. Viele Aufgaben, die im kompetenzorientierten Unterricht eingesetzt werden, greifen hier kürzer und dienen dazu, kleinschrittig vor-gegebene Teilkompetenzen auszubilden.

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54 I Grundlagen und Instrumente der Portfolioarbeit

Kompetenzorientierte Aufgaben, die sich für Portfolioarbeit eignen, sollen ...

herausfordernd und ansprechend sein

• fachlich bedeutsam • an herausfordernden, aber zugänglichen Problemen orientiert • nach dem Motto »Zeig, was du kannst!« (die typische Portfolio-Aufforderung) • produktiv: etwas machen, herstellen, kreieren • alltagsnah, authentisch: mit dem Leben und dem Alltag der Lernenden verbunden

offen, differenzierend, persönlich sein

• mehrere Niveaus und Perspektiven möglich • verschiedene Lernwege und Darstellungsformen stehen offen • keine Engführung durch atomisierte Teilaufgaben, Zusammenhang der Aufgaben • vielfältige Erfahrungen möglich • persönlich: die eigenen Erfahrungen, Gedanken und Gefühle der Lernenden können

und sollen eingebracht werden

gründliches Verstehen anregen (Aktivierung zum Denken und zum Handeln)

• Informationen beschaffen: recherchieren, analysieren, interviewen, beobachten, sammeln ...

• Informationen verarbeiten: vergleichen, strukturieren, ordnen, bildlich darstellen, reduzieren ...

• kommunizieren: austauschen, begründen, diskutieren, kritisieren, darstellen, erklären • eigenes Gestalten von Produkten und Lernspuren

überfachliche Kompetenzen miteinbeziehen

• personale Kompetenzen: eigene Ressourcen kennen, selbstständig lernen, reflektieren, Ausdauer entwickeln ...

• methodische Kompetenzen: Informationen nutzen und bewerten, Lernstrategien erwerben, planen ...

• soziale Kompetenzen: austauschen, zusammenarbeiten, mit Vielfalt umgehen, ...

interessierend und motivierend wirken

• »Ich interessiere mich«: eigene Fragen und Interessen entwickeln und ihnen nachgehen • »Ich kann was«: das Bewusstsein eigenen Könnens stärken, Kompetenz erleben • »Ich schaffe das selbst«: eigenständig lernen, selbst steuern, Autonomie erleben • »Ich gehöre dazu, ich trage etwas bei«: Partizipation, Dialog, sozial eingebunden sein

Abbildung 4 Checkliste für kompetenzorientierte Aufgaben, die sich für Portfolioarbeit eignen

3 Herausfordernde Aufgaben und ihr Einsatz in der Portfolioarbeit

Aufgaben, die entsprechend den zuvor genannten Kriterien als prinzipiell portfoliowür-dig eingeschätzt werden, müssen allerdings noch daraufhin geprüft werden, wie sie im Rahmen der Portfolioarbeit eingesetzt werden können. Die Rahmenbedingungen

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55Kompetenzorientierte Aufgabenstellungen für Portfolios

für die Portfolioarbeit sind ja – wie oben bereits geschildert – deutlich anders als in einem Unterricht, bei dem die kleinschrittige Wissensvermittlung im Vordergrund steht. Insbesondere die Zeitperspektiven, die Rahmenbedingungen und die Arbeits-formen sind anders. Das wird deutlich, wenn man sich die Schritte der Portfolioarbeit vergegenwärtigt, die in der folgenden Abbildung dargestellt sind.

einen Rahmen abstecken

gemeinsam Ziele und Kriterien für die Portfolioarbeit vereinbaren

erarbeiten entsprechend den Vereinbarungen in Dialog mit Fachgegenstän-den treten, sich auf eine Sache einlassen, initiativ werden, Produkte erarbeiten

sammeln eigene Arbeiten und andere Belege in einem Ordner, einer Mappe o. Ä. auf bewahren

reflektieren Distanz nehmen, Ziele und Prozesse bedenken, beschreiben, Kriterien anlegen, begründen

in Dialog treten und rückmelden

mit anderen über Produkte sprechen, Kriterien entwickeln und anwenden, Rückmeldungen erarbeiten, mitteilen und nutzen

überarbeiten Arbeiten entsprechend neuen Einsichten und Hinweisen über-arbeiten

auswählen Arbeiten nach Vorgaben und eigenen Wünschen für das Portfolio auswählen

dokumentieren Belege so zusammen- und darstellen, dass sie von anderen gelesen und verstanden werden können; das Portfolio gestalten

präsentieren und wahrnehmen

Portfolios vor anderen Menschen präsentieren und Portfolios anderer wahrnehmen

bewerten Qualitäten und Schwächen des Portfolios und des Portfolioprozesses ein- und wertschätzen, Stellung nehmend begutachten

schlussfolgern Schlussfolgerungen für nachfolgende Lernprozesse und über den Autor/die Autorin des Portfolios ziehen

Abbildung 5 Einbettung von Aufgaben in den Unterricht mit Portfolios

Anhand der hier dargestellten Schritte wird deutlich, dass es bei der Portfolioarbeit da-rum geht, einen intensiven gemeinsamen Forschungs- und Lernprozess in einer Klasse in Gang zu setzen und so zu organisieren, dass alle Schülerinnen und Schüler etwas dazu beitragen und für sich maximal davon profitieren können. Das klingt kompliziert, vieles davon organisieren und gestalten aber die Lernenden selbst.

Wenden wir uns diesbezüglich noch einem weiteren Beispiel zu. Die Lehrerin Bianca Ederer bot in ihrem Sachunterricht zum Thema »Müll« (3./4. Schuljahr) den Schülerin-nen und Schülern einen ganzen Strauß von Aufgaben zur Auswahl an (Abbildung 6).

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56 I Grundlagen und Instrumente der Portfolioarbeit

1. Besorge dir in der Gemeinde Informationen zum Müll.

2. Gestalte deine eigene Abfall-Mindmap. Das alles fällt mir zum Müll ein: ...

3. Deine eigene Idee: ...

4. Wer produziert alles Müll? Befrage drei verschiedene Personen. Erstelle eine Stichwortliste.

5. Welche Abfälle kennst du? Sortiere alle Dinge nach Oberbegriffen.

6. Schreibe eine Woche lang auf, was bei dir zu Hause an Abfall anfällt. Erstelle eine Tabelle und notiere in einer Strichliste die Mengen.

7. Welchen Abfall produzierst du selbst in einer Woche? Gibt es etwas, was du vermeiden könntest? Schreibe einen Bericht.

8. Wie funktioniert das mit der Müllabfuhr bei uns? Zeichne eine Skizze dazu. Beginne mit dem Abfall bei dir zu Hause und beschreibe den Weg bis zur Müllhalde oder Müllverbrennungsanlage. Tipp: Befrage einen Erwachsenen oder schaue im HSU-Buch nach.

9. Wie geht das bei euch mit dem Müll, der in den Wertstoffhof gehört? Zeichne alle Behälter auf und beschrifte sie. Begleite deine Eltern zum Wertstoffhof und schreibe einen Bericht.

10. Was ist Recycling-Papier? Schreibe deine Meinung dazu auf. Kannst du selbst welches herstellen?

... ...

Abbildung 6 Fächeraufgabe für das »Müllportfolio« (Ederer 2011)

Das ist eine Ideenliste, auf deren Basis die Schülerinnen und Schüler eigene Fragen und Ideen entwickeln können, insgesamt waren 15 Aufträge enthalten. Manche dieser Aufträge bzw. Anregungen eignen sich dazu, von allen bearbeitet zu werden (Pflicht), andere könnten von Einzelnen zum Schwerpunkt ihrer Portfolioarbeit genommen werden (Kür). Die Aufgaben 4 bis 10 sind ähnlich gestrickt: Es geht um Erkunden und Beobachten, Informationsbeschaffung, verknüpft mit Anregungen zum Selbsttun, das Erstellen von Ordnungen oder Grafiken, Pro-/Kontradiskussionen, Interviews usw. Damit decken die Aufgaben viele Bereiche der Checkliste ab, von »herausfordernd« über »offen«, »gründliches Verstehen anregen« bis zu »überfachliche Kompetenzen miteinbeziehen«, jede Aufgabe natürlich mit einem etwas anderen Schwerpunkt. Die Kategorie »interessierend, motivierend« ist im Voraus schwer zu klären. Hier ist letztlich entscheidend, wie die Schülerinnen und Schüler die Anregungen aufnehmen und ob sie eigene Ideen und Wege dazu entwickeln. Von der Form her fällt der Unterschied zu den beiden Gedichtaufträgen auf. Die Müllaufgaben sind sehr kurz, meist eine bis zwei Zeilen lang. Inhaltlich wird nur eine Kernidee oder Frage angetippt, dann der Zugang sowie das Produkt stichwortartig erwähnt. Das kann nur funktionieren, wenn Lehrkraft und Klasse einander kennen und die Arbeit mit solchen Aufgabenstellungen gewohnt sind. Sicher steckt hier einige Aufbauarbeit hinter der vermeintlich simplen Formulierung.

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57Kompetenzorientierte Aufgabenstellungen für Portfolios

Ein derartiges Aufgabenset nennen Groeben und Kaiser (2012) eine »Fächeraufgabe«: Aus einer Kernaufgabe werden unterschiedliche Zugänge abgeleitet und zur Wahl ge-stellt, ein Fächer eben. Die Frage stellt sich: Wie viele Aufgaben müssen die Schüle-rinnen und Schüler bearbeiten, das heißt, gehören als Belege ins Müllportfolio? Ich würde vier Aufgaben vorschlagen, da für jede mehrere Lektionen plus Zeit außerhalb der Schule benötigt werden. Diese vier Aufgaben wären meiner Meinung nach frei wählbar, allerdings erst nach Beratung durch Peers und durch die Lehrkraft. Die Be-ratungsphasen sind beim Einstieg in die Portfolioarbeit extrem wichtig, damit nicht Zufall und Überforderung regieren.

Last but not least: Die Fächeraufgabe »Müllportfolio« stammt aus einer Grundschul-zeitschrift, Frau Ederer hat sie also mit Schülerinnen und Schülern der 3. oder 4. Klasse durchgeführt! Ich staune, denn als Sekundarlehrer (in der Schweiz: 7.–9. Schuljahr) hätte ich mich die eine oder andere Aufgabe gar nicht zu stellen getraut, oder positiv formuliert: Ich hätte meinen Schülerinnen und Schülern einiges mehr zumuten dürfen, ja müssen! Aber das ist ja auch ein Prinzip des kompetenzorientierten Lehrplans 21, dass Themen auf verschiedenen Niveaus wiederkehrend behandelt werden, wie auch eine wichtige Grundhaltung der Portfolioarbeit: »Ich trau dir das zu!«

4 Aufgaben verändern den Unterricht

Bis jetzt sind wir den Wirkungen von Aufgaben auf das Lernen von Kindern und Ju-gendlichen nachgegangen. Insbesondere »portfoliowürdige« bzw. »kompetenzorien-tierte« Aufgaben versprechen andere, gründlichere Lernprozesse und Lernergebnisse hervorzubringen. Doch nicht nur Schülerinnen und Schüler müssen diese Art zu ar-beiten lernen, auch Lehrerinnen und Lehrer.

Das beginnt bei der Aufgabenwahl, also bei der Vorbereitung und Planung des Un-terrichts, wie in diesem Artikel gezeigt. In der Folge muss diese Art Aufgaben auch anders eingesetzt werden als im klassisch geführten Unterricht. Schon kurz nach der Einführung eines Oberthemas ist die Lehrkraft eher in der Rolle der Lernbegleitung und Lernberatung gefordert. Einiges davon wird sie selbst übernehmen, einiges wird sie als Austausch unter den Schülerinnen und Schülern organisieren.

Diagnosefragen wie »Wer steht gerade wo? Und was machst du als Nächstes?« werden in dieser Art Unterricht häufig gestellt werden müssen. Dabei ist nicht nur die Lehr-kraft gefordert, Antworten zu geben, sondern auch die Lernenden. Das Portfoliomotto »Zeig, was du kannst!« führt zu intensiven Auseinandersetzungen mit der Sache und mit anderen Menschen, verschiedenste Kompetenzen werden gezeigt, diskutiert, belegt. Die Kompetenzdiagnose findet auf einer guten Basis statt, denn die Leistung liegt für alle einsichtig vor, ›auf dem Tisch‹.

Die Lehrkraft gerät öfters in die Rolle der Reflexionshilfe, denn Reflektieren ist natürli-cher Bestandteil der Portfolioarbeit. Damit die Reflexion nicht an der Oberfläche bleibt, aber auch nicht mit Bewertung verwechselt wird, braucht es etwas Vorbereitung und eine kluge Wahl, wie und wozu reflektiert werden soll, nach dem Grundsatz: »Lieber wenig, aber mit Wirkung.« Sie muss nicht immer am Schluss einer Lerneinheit gesche-hen, sondern kann gerade auch am Anfang erfolgen, siehe die Beratungssequenzen oben, oder in der Mitte als Zwischenhalt mit Folgen.

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Page 13: Kompetenz- orientierter Unterricht mit Portfolio€¦ · du stellst, und ich sage dir, was für eine Art Unterricht du vorhast!« Zweitens braucht es nicht immer neue Aufgaben, nicht

58 I Grundlagen und Instrumente der Portfolioarbeit

Schließlich ist diese Art Unterricht mit entsprechenden Haltungen verbunden. Den An-stoß gibt die Lehrkraft, welche die Lernenden mittels Aufträgen auf Erkundungsreisen schickt und fordert: »Zeig mir, was du gefunden hast und was du gelernt hast!« Und dementsprechend fördert die Lehrkraft auch die drei Haltungen bei den Schülerinnen und Schülern, die wir kennengelernt haben: »Ich kann etwas« (Kompetenz erleben), »Ich schaffe das selbst« (Autonomie erleben) und »Ich gehöre dazu, trage etwas bei« (soziale Eingebundenheit erleben).

Damit schließe ich den Bogen. Angefangen hat alles mit der Frage, ob es genügend geeignete Aufgaben für ein Gedichtportfolio gibt. Bei der Suche wurde rasch klar, dass es durchaus solche in bestehenden Lehrmitteln und Unterrichtsmaterialien gibt, vor-ausgesetzt man weiß, wonach man sucht und wie man Aufgaben gegebenenfalls umfor-mulieren muss. Danach schälte sich im Feld des kompetenzorientierten Unterrichts ein ganz ähnlicher Aufgabentyp heraus. Daraus entstand eine Checkliste, die Lehrkräften helfen kann, geeignete Aufgaben für die Portfolioarbeit wie auch für einen kompetenz-orientierten Unterricht zu finden oder zu formulieren. Und schließlich wurde deut-lich, dass die Aufgaben in den Prozess der Portfolioarbeit sinnvoll eingebaut und ihre Bearbeitung betreut werden muss. Mit diesem Wissen in der Hand – oder ist es eine Kompe tenz? – wünsche ich Ihnen und Ihren Schülerinnen und Schülern viel Erfolg beim Lernen und Lehren mit Portfolio.

Literatur

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Ederer, Bianca (2011): Gute Aufgaben im Sachunterricht – Herausfordernde Aufgaben im Müll-portfolio. Grundschule aktuell 113, S. 17–20.

Groeben, Annemarie von der und Kaiser, Ingrid (2012): Werkstatt Individualisierung. Hamburg: Bergmann + Helbig.

Keller, Martin (1998): GedichtWerkstatt. Ein Einstieg in die Welt der Poesie. Bern: Zytglogge.Leuders, Timo (2006): Kompetenzorientierte Aufgaben im Unterricht. In: Werner Blum u. a.

(Hrsg.) Bildungsstandards Mathematik: konkret. Sekundarstufe I, S. 88. Berlin: Cornelsen Scriptor.

Reusser, Kurt (2014): Kompetenzorientierung als Leitbegriff der Didaktik. In Beiträge zur Leh-rerinnen- und Lehrerbildung, 32 (3), S. 325–339.

Wiggins, Grant (1998): Educative Assessment: Designing Assessments to Inform and Improve Student Performance. San Francisco: Jossey-Bass.

Winter, Felix (2003): Person – Prozess – Produkt. Das Portfolio und der Zusammenhang der Aufgaben. Friedrich Jahresheft 2003, S. 78–81.

Winter, Felix (2016): Das Portfolio und die schulische Leistungsbeurteilung. In: Sascha Ziegel-bauer und Michaela Gläser-Zikuda (Hrsg.): Portfolio als Innovation in Schule, Hochschule und Lehrerbildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 27–44.

Keller_Koenig.indb 58 04.10.2017 09:30:13