4
Das Recht von Beschul- digten auf Konfrontation mit Belastungszeugen ist in der neuen eidgenössi- schen Strafprozessord- nung nicht explizit er- wähnt. Umso wichtiger ist die konkrete Ausge- staltung. Konfrontationen mit Zeugen oder Mitange- schuldigten sollten einzig vor dem urteilenden Gericht stattfinden. Denn ein faires Verfahren ver- langt, dass wesentliche Beweismittel vor einer unparteilichen Amtsperson abgenommen werden. Untersuchungsrichter und Ankläger erfüllen diese Voraussetzung nicht. D ie neue Strafprozessordnung (CH-StPO) wird voraus- sichtlich Anfang 2010 in Kraft treten. 1 Die Vereinheitlichung des Strafverfahrensrechts und die damit zusammenhängenden Fragen stellen, auch wenn die Themen nicht neu sind, eine tiefgreifende Neue- rung, ja eine kleine Revolution dar. 2 Insbesondere der Rechtsprechung wird das neue Gesetz eine grössere Präzision und Kohärenz bei der Be- antwortung von Einzelfragen er- möglichen. Das Bundesgericht wird sich nur mehr mit einer einzigen Verfahrensstruktur auseinanderzu- setzen haben. Es kann sich ganz auf diese konzentrieren und muss keine Rücksichten auf einzelne kantonale Lösungen mehr nehmen: Kom- promisse, welche für mehrere ver- schiedene Verfahrensmodelle pas- sen, entfallen. Das Recht auf Konfrontation mit Belastungszeugen erscheint von be- sonderem Interesse, da dieser Punkt mehrere (sich teilweise überschnei- dende) Grundfragen des Verfahrens- rechts berührt: Die Frage nach der Art und Weise der Beweiserhebung, die dabei getroffene Wahl der insti- tutionellen Struktur des Gesetzes und auch die Frage nach den Rech- ten des Angeschuldigten vor dem Hintergrund der Bundesverfassung (BV) und der Europäischen Men- schenrechtskonvention (EMRK). Das Recht auf Konfrontation und seine Ausgestaltung erzählt uns mit ande- ren Worten viel über das gewählte System als solches. Es soll an dieser Stelle auf die ge- troffene Wahl der institutionellen Struktur der entsprechenden Norm (Wer kontrolliert die Konfronta- tion?) und deren Folgen näher ein- gegangen werden. Die mehr mate- rielle Frage der Art und Weise der Beweiserhebung, vor allem die von der Eidgenössischen Strafprozess- ordnung speziell behandelten Fragen des Zeugenschutzes 3 , können hier nicht weiter besprochen werden. 1 Konfrontationsrecht mehrfach verbrieft Die Eidgenössische Strafprozessord- nung regelt das Recht auf Konfron- tation ohne dieses selbst ausdrück- lich zu erwähnen. 4 Soweit ersichtlich erwähnt auch die bundesrätliche Botschaft das Recht auf Konfronta- tion nicht explizit. 5 Das in Frage ste- hende Recht wird auch von der Bundesverfassung als Ausfluss des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) in Art. 32 Abs. 2 BV gewährt. 6 Nach allgemein anerkannter Auf- fassung verbrieft das Recht auf Kon- frontation die Regel, nach welcher der Beschuldigte eine hinreichende Gelegenheit haben muss, Belas- tungszeugen Fragen zu stellen. Es geht darum, dass der beschul- digten Person konkret ermöglicht wird, Zeugen und deren belastende Aussagen anzugreifen, das heisst auf die Probe zu stellen. Es soll ausge- schlossen werden, dass ein Strafurteil auf belastende Aussagen von Zeugen abgestützt wird, ohne dass dem Be- schuldigten wenigstens einmal ange- messene und hinreichende Gelegen- heit gegeben wird, das Zeugnis in Zweifel zu ziehen und Fragen an den Zeugen zu stellen. 7 Spezifisch geregelt wird das Recht auf Konfrontation in Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK. Es ist kein Zufall, dass das Recht auf Konfrontation, als ein- ziger Teilaspekt des rechtlichen Ge- hörs, speziell geregelt wird. Die Skep- sis gegenüber dem strafprozessualen Zeugenbeweis, einem immer noch bedeutsamen Teil des Schuldbewei- ses, reicht historisch weit zurück. Dem Zeugenbeweis wird im Straf- prozess von allen Seiten, das heisst vom Gericht, von der Strafverfol- gung und von der Verteidigung, je unter verschiedenen Vorzeichen, auch heute noch mit Vorbehalt be- gegnet. 8 Die Erhebung des strafpro- zessualen Zeugenbeweises benötigt daher umfassende Sicherungs- mechanismen. plädoyer 2/08 38 Konfrontationen nur vor dem Ger Sararard Arquint, Rechtsanwalt, Zürich, und Sarah Summers, Oberassistentin, Universität Zürich 38_41_1.Wissenschaft_2 26.3.2008 12:43 Uhr Seite 38

Konfrontationen nur vor dem Ger D - UZHffffffff-e991-5fc7-ffff-ffffc001... · 2016. 2. 29. · Abs. 1 CH-StPO. 5 BBl 2006 1085. 6 Urteil 1P.650/2000 vom 26. Januar 2001, publ. in:

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Das Recht von Beschul-

digten auf Konfrontation

mit Belastungszeugen ist

in der neuen eidgenössi-

schen Strafprozessord-

nung nicht explizit er-

wähnt. Umso wichtiger

ist die konkrete Ausge-

staltung. Konfrontationen

mit Zeugen oder Mitange-

schuldigten sollten einzig

vor dem urteilenden

Gericht stattfinden. Denn

ein faires Verfahren ver-

langt, dass wesentliche

Beweismittel vor einer

unparteilichen Amtsperson

abgenommen werden.

Untersuchungsrichter und

Ankläger erfüllen diese

Voraussetzung nicht.

D ie neue Strafprozessordnung(CH-StPO) wird voraus-sichtlich Anfang 2010 in

Kraft treten.1 Die Vereinheitlichungdes Strafverfahrensrechts und die damit zusammenhängenden Fragenstellen, auch wenn die Themen nichtneu sind, eine tiefgreifende Neue-rung, ja eine kleine Revolution dar.2

Insbesondere der Rechtsprechungwird das neue Gesetz eine grösserePräzision und Kohärenz bei der Be-antwortung von Einzelfragen er-möglichen. Das Bundesgericht wirdsich nur mehr mit einer einzigenVerfahrensstruktur auseinanderzu-setzen haben. Es kann sich ganz aufdiese konzentrieren und muss keineRücksichten auf einzelne kantonaleLösungen mehr nehmen: Kom-promisse, welche für mehrere ver-schiedene Verfahrensmodelle pas-sen, entfallen.

Das Recht auf Konfrontation mitBelastungszeugen erscheint von be-sonderem Interesse, da dieser Punktmehrere (sich teilweise überschnei-dende) Grundfragen des Verfahrens-rechts berührt: Die Frage nach derArt und Weise der Beweiserhebung,die dabei getroffene Wahl der insti-tutionellen Struktur des Gesetzesund auch die Frage nach den Rech-ten des Angeschuldigten vor demHintergrund der Bundesverfassung(BV) und der Europäischen Men-schenrechtskonvention (EMRK). DasRecht auf Konfrontation und seineAusgestaltung erzählt uns mit ande-ren Worten viel über das gewählteSystem als solches.

Es soll an dieser Stelle auf die ge-troffene Wahl der institutionellenStruktur der entsprechenden Norm(Wer kontrolliert die Konfronta-tion?) und deren Folgen näher ein-gegangen werden. Die mehr mate-rielle Frage der Art und Weise der Beweiserhebung, vor allem die vonder Eidgenössischen Strafprozess-ordnung speziell behandelten Fragendes Zeugenschutzes3, können hiernicht weiter besprochen werden.

1 Konfrontationsrechtmehrfach verbrieft

Die Eidgenössische Strafprozessord-nung regelt das Recht auf Konfron-tation ohne dieses selbst ausdrück-lich zu erwähnen.4 Soweit ersichtlicherwähnt auch die bundesrätlicheBotschaft das Recht auf Konfronta-tion nicht explizit.5 Das in Frage ste-hende Recht wird auch von derBundesverfassung als Ausfluss desrechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2BV) in Art. 32 Abs. 2 BV gewährt.6

Nach allgemein anerkannter Auf-fassung verbrieft das Recht auf Kon-frontation die Regel, nach welcherder Beschuldigte eine hinreichendeGelegenheit haben muss, Belas-tungszeugen Fragen zu stellen.

Es geht darum, dass der beschul-digten Person konkret ermöglichtwird, Zeugen und deren belastendeAussagen anzugreifen, das heisst aufdie Probe zu stellen. Es soll ausge-schlossen werden, dass ein Strafurteilauf belastende Aussagen von Zeugenabgestützt wird, ohne dass dem Be-schuldigten wenigstens einmal ange-messene und hinreichende Gelegen-heit gegeben wird, das Zeugnis inZweifel zu ziehen und Fragen an denZeugen zu stellen.7

Spezifisch geregelt wird das Rechtauf Konfrontation in Art. 6 Ziff. 3lit. d EMRK. Es ist kein Zufall, dassdas Recht auf Konfrontation, als ein-ziger Teilaspekt des rechtlichen Ge-hörs, speziell geregelt wird. Die Skep-sis gegenüber dem strafprozessualenZeugenbeweis, einem immer nochbedeutsamen Teil des Schuldbewei-ses, reicht historisch weit zurück.

Dem Zeugenbeweis wird im Straf-prozess von allen Seiten, das heisstvom Gericht, von der Strafverfol-gung und von der Verteidigung, jeunter verschiedenen Vorzeichen,auch heute noch mit Vorbehalt be-gegnet.8 Die Erhebung des strafpro-zessualen Zeugenbeweises benötigtdaher umfassende Sicherungs-mechanismen.

plädoyer 2/0838

Konfrontationen nur vor dem Ger■ Sararard Arquint, Rechtsanwalt,Zürich, und Sarah Summers, Oberassistentin, UniversitätZürich

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2 Machtausgleich beiBefragung angestrebt

Von grösster Wichtigkeit erscheintder institutionelle Kontext, in wel-chem die Beweiserhebung stattfin-det, das heisst, das Recht auf Kon-frontation ausgeübt werden kann.

Bereits im Verlauf des 19. Jahr-hunderts vertraten namhafte Juris-ten9 die Auffassung, dass die Beweis-erhebungen am besten im Beisein eines unabhängigen und unpartei-ischen Richters, des Anklägers undder Verteidigung («Das Criteriumdes Anklageprocesses ist die accusa-torische Trinität von Richter, Ankla-ge- und Vertheidigungspartei»10)stattfinden sollen. Dieses Verständ-nis basierte auf der radikalen Ableh-nung der Prinzipien des Inquisi-tionsprozesses. Das Hauptproblemsahen die damaligen Juristen in derMachtkonzentration und der Perso-nalunion bei der Beweiserhebungund Anklageführung: «From the na-ture of the institution the public pro-secutor is a party; from his title it be-longs to him to prosecute, but forthat very reason it would be contra-ry to justice to allow him to conductthe examination proceedings.»11

Auch aufgrund des breiten Kon-senses im 19. Jahrhundert in dieserFrage überrascht es wenig, dass dieGründer der EMRK dieses Modellund besonders dessen institutionellenCharakter bei der Formulierung vonArt. 6 Ziff. 1 EMRK adaptierten.12

Das Recht auf Konfrontation istvor dem Hintergrund des allgemei-nen Fairnessgebotes von Art. 6 Ziff.1 EMRK zu interpretieren.13 Zen-traler Grundsatz der in Art. 6 Ziff. 1EMRK enthaltenen Rechte ist jenerdes fairen Verfahrens. Verkürzt ge-sprochen muss die Entscheidfin-dung über die strafrechtliche Ankla-ge «fair» sein, vor einem unabhängi-gen und unparteiischen Richter ineiner öffentlichen Anhörung undinnerhalb angemessener Frist statt-finden.

Aus dem allgemeinen Prinzip derFairness hat der Gerichtshof immerwieder weitere, zum Teil auch spe-zielle Aspekte entwickelt.14 Dabeiwurde insbesondere das Prinzip dervollständigen Waffengleichheit zwi-schen Staatsanwaltschaft und Vertei-digung und das Recht auf ein kontra-diktorisches Verfahren betont.15 DerText von Art. 6 Ziff. 1 EMRK gibtaber keine direkten Anhaltspunktefür die Regelung des Untersu-chungsverfahrens.

3 Auswirkungen desFairnessgebots

Während das von Art. 6 Ziff. 1EMRK geforderte Fairnessgebot alssolches in ganz Europa akzeptiertwird, besteht auch in der Schweizwenig bis kein Konsens über seineAuswirkungen für das Untersu-chungsverfahren. Die Anwendungvon Art. 6 Ziff. 1 EMRK auf das Er-mittlungs- und Untersuchungsver-fahren ist umstritten. So wird teil-weise weiter vertreten, dass das Fair-nessprinzip auf das Gerichts- undnicht auf das Ermittlungs- undUntersuchungsverfahren zugeschnit-ten sei und diese Einschränkungsinngemäss allgemein auch für Art. 6Ziff. 1 EMRK gelte.16

Diese vom Gerichtshof heute klarabgelehnte Ansicht17 zeigt zumin-dest ein Problemfeld auf: der Textvon Art. 6 EMRK scheint in seinemWortlaut auf das unmittelbare Ver-fahren vor dem urteilenden Gerichtzugeschnitten zu sein. Verfahrens-systeme, welche wenig Betonungauf das Gerichtsverfahren legen be-ziehungsweise in welchen grössereTeile der Beweiserhebung imUntersuchungsverfahren stattfin-den, erscheinen unterreguliert. Aufder Suche nach solchen Regulie-rungsmechanismen lohnt es sichnach der ratio legis von Art. 6Ziff. 1 EMRK, nach dessen Schutz-objekt zu fragen.

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1 BBl 2007 6977: Die Referendumsfristlief am 24. Januar 2008 unbenutzt ab.

2 Bereits der Schweizerische Juristentagvom 9. September 1946 behandeltedas Thema «Das Verhältnis desBundesstrafrechts zum kantonalenStrafprozessrecht».

3 Siehe Art. 149 ff.4 Siehe Art. 146 Abs. 2 i. V. m. Art. 147

Abs. 1 CH-StPO.5 BBl 2006 1085.6 Urteil 1P.650/2000 vom 26. Januar

2001, publ. in: Pra 90/2001 Nr. 93, S. 543, E. 3b.

7 BGE 129 I 151.8 Vor diesem Hintergrund ist auch die

Glaubwürdigkeits- und Beweislehre zubegreifen. Vor allem gegenüber Anga-ben von Mitbeschuldigten zeigt dieheutige Praxis, dass eine grundsätzlicheSkepsis angebracht ist.

9 Etwa F. Hélie, Traité de L’instructionCriminelle, 2. Aufl., Paris 1866–1867;C.J.A. Mittermaier, Die Gesetzgebungund Rechtsübung über Strafverfahrennach ihrer neusten Fortbildung, Erlan-gen 1856; J.F. Stephen, A History ofthe Criminal Law of England, Bd. I–III, London 1883; H.A. Zachariä,Handbuch des deutschen Strafprozes-ses, Göttingen 1861 & 1868.

10 J. Vargha, Die Verteidigung in Straf-sachen, Wien 1879, S. 288.

11 A. Esmein, A History of ContinentalCriminal Procedure with special refe-rence to France, Boston 1913; Nach-druck New Jersey 2000, S. 502.

12 Auch Schweizer Juristen vertraten dieseMeinung, etwa H.-F. Pfenninger, Pro-bleme des schweizerischen Strafpro-zessrechtes, Zürich 1966.

13 Etwa S.N. c. Schweden, N° 34209/96ECHR 2002-V, 245, § 43: «the Courtnotes that the guarantees in Article 6§ 3(d) of the Convention are specificaspects of the right to a fair trial setforth in the first paragraph of this Arti-cle.» Siehe auch S. Trechsel, HumanRights in Criminal Proceedings, Ox-ford 2005, S. 292 ff.

14 R. Eser, Auf dem Weg zu einem euro-päischen Strafverfahrensrecht, Berlin2002, S. 400.

15 Kamasinksi c. Österreich, Urteil vom19. Dezember 1989, Serie A N° 318-B, § 102 (kontradiktorisches Verfah-ren); Bulut c. Österreich, Urteil 22.Februar 1996, Reports 1996-II, 346, § 47 (Waffengleichheit). Siehe weiterS. Trechsel, a.a.O., S. 89 ff.

16 N. Schmid, Strafprozessrecht, 4. Aufl.2004, N 235, mit Verweis auf BGE106 IV 88; M.E. Villiger, Handbuchder europäischen Menschenrechtskon-vention, 2. Auflage 1999, N. 483.

dem Gericht

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4 Diskussionsbedarfbei Entscheidfindung

Als Schutzobjekt von Art. 6 Ziff. 1EMRK muss die Entscheidfindungüber die Anklage (in den Original-texten: «determination of the char-ge», «soit du bien-fondé de toute ac-cusation») betrachtet werden. Diesehat fair zu sein.

Es fragt sich nun, was unter demBegriff der Entscheidfindung überdie Anklage zu verstehen ist. ImKontext von Art. 6 Ziff. 1 EMRK,das heisst den grundsätzlichen Erfordernissen des unparteiischenRichters, der Waffengleichheit unddem kontradiktorischen Verfahren,kann dieser Begriff nur weit ausge-legt werden: Um die Entscheidfin-dung effektiv schützen zu können,muss vom Begriff neben der Beweis-würdigung auch die Beweiserhe-bung grundsätzlich umfasst sein.

Es geht hierbei nicht darum zu be-haupten, dass der gesamte institutio-nelle Kontext, welchen Art. 6 Ziff. 1EMRK verbrieft, unbesehen im gan-zen Vorverfahren Anwendung fin-den kann. Betont soll aber werden,dass es mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK nichtvereinbar erscheint, wenn dessenwichtigster Anknüpfungspunkt, diegesamte Beweiserhebung, aus demabgesicherten Rahmen herausgelöstwird. Anders zu entscheiden bedeu-tete, Art. 6 Ziff. 1 EMRK seines in-stitutionellen Gehalts völlig zu ent-leeren.

Es kann damit nicht entscheidendsein, in welchem VerfahrensstadiumBeweise erhoben werden. Vielmehrmuss vom nationalen Strafverfah-rensrecht dafür gesorgt werden, dassden Prinzipien von Art. 6 Ziff. 1EMRK in jedem Verfahrensstadiumbeziehungsweise so oder andersnachgelebt wird. In einem System,in welchem die Unmittelbarkeit desGerichtsverfahrens zumindest ein-geschränkt ist, stellt die verfahrens-rechtliche Regulierung und Be-handlung des Vorverfahrens – wie

oben erwähnt – eine besonderswichtige Frage dar.18 Dazu gehörtauch, dass wesentliche Beweisauf-nahmen vor einer unparteiischenAmtsperson erfolgen. Die Befra-gung von wichtigen Zeugen, vor al-lem auch Konfrontationen, stellensolche wesentliche Beweisaufnah-men dar.

Das Recht auf Konfrontation wiees in Art 6 Ziff. 1 in Verbindung mitArt. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK verbrieftist, wird von der Rechtsprechungdahingehend interpretiert, dass dieentsprechenden Beweise normaler-weise in einer öffentlichen Verhand-lung im Beisein des Angeklagten er-hoben werden müssen, um ihm dieMöglichkeit zur [Gegen-]Darstel-lung zu geben.19 Dieser Grundsatzlegt nahe, dass die Konfrontationanlässlich der Gerichtsverhandlungstattfinden soll.20 Der Gerichtshoflegt seine Formulierung aber nichtin dieser (strikten) Weise aus undlässt es vom Grundsatz her zu, dassBeweise auch im Vorverfahren erho-ben werden, vorausgesetzt, dass dieVerteidigungsrechte im Ganzen ge-wahrt werden.21 Betont wird in die-sem Zusammenhang stark, dass demBeschuldigten «ausreichend und an-gemessen» Gelegenheit zu geben ist,seine Rechte wahrzunehmen.22

Das Bundesgericht verfolgt dengleichen Ansatz.23 Es erscheint dabeiklar, dass eine «ausreichende und an-gemessene» Gelegenheit, das Kon-frontationsrecht wahrzunehmen,aber eben auch formalen Charakterhaben muss.24 Im Besonderen ergibtsich daraus, neben dem Teilnahme-recht bei Befragungen von Zeugen,auch der Anspruch, dass die Befra-gung (Beweiserhebung) vor einerunparteiischen Verfahrensleitungstattfindet. Eine Konfrontationsein-vernahme, vorgenommen und über-wacht durch den Staatsanwalt, mussso notgedrungen als weit wenigerfair bezeichnet werden als eine sol-che, welche vor einer unparteiischenAmtsperson erfolgt.

5 Teilnahmerecht absolut gewährt

Die Eidgenössische Strafprozessord-nung gewährt institutionell ohneEinschränkung den ersten Aspekt,das heisst denjenigen des Teilnahme-rechts: Gemäss Art. 147 Abs. 1 CH-StPO haben die Parteien «das Recht,bei Beweiserhebungen durch dieStaatsanwaltschaft und die Gerichteanwesend zu sein und einvernom-menen Personen Fragen zu stellen».Art. 147 Abs. 4 CH-StPO legt sodannfest, dass «Beweise, die in Verletzungder Bestimmungen dieses Artikelserhoben worden sind, nicht zulastender Partei verwertet werden dürfen,die nicht anwesend war»25. Das Teil-nahmerecht wird damit unter einemquasi aufgeweichten Vorbehalt derUnverschiebbarkeit der angesetztenTermine absolut gewährt.

Es besteht kein Anspruch auf Ter-minverschiebung – bei zwingenderVerhinderung des Verteidigers oderder Partei (ohne Rechtsbeistand)kann aber eine Wiederholung derBeweiserhebung verlangt werden.Eine solche Wiederholung kanndann nur bei anderer Wahrung desrechtlichen Gehörs verweigert wer-den.26

Aus dem Wortlaut von Art. 147Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 3CH-StPO muss im weiteren ge-schlossen werden, dass sowohl diebeschuldigte Person als auch der Ver-teidiger von Anfang an bei jederZeugenbefragung anwesend seinund Ergänzungsfragen stellen kön-nen. Das Fragerecht muss von bei-den wahrgenommen werden kön-nen. Damit geht die Bestimmunginsofern weiter als Art. 6 Ziff. 3EMRK, als es nach dieser genügt,wenn entweder Verteidiger oder diebeschuldigte Person das Fragerechtwahrnehmen können.

Art. 146 Abs. 2 CH-StPO lässt dieKonfrontation grundsätzlich von derStaatsanwalt durchführen bezie-hungsweise überwachen. Mit dieser

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institutionellen Regelung scheinender Eidgenössischen Strafprozess-ordnung Schwierigkeiten betreffenddie Frage der Unparteilichkeit derVerfahrensleitung bei Erhebungwichtiger Beweise, das heisst demFairnessgebot, beschert zu sein: DieStaatsanwaltschaft wird vom Gesetzfür das Hauptverfahren und dasRechtmittelverfahren ausdrücklichals Partei bezeichnet27 und ist funk-tional auch im Vorverfahren als sol-che aufzufassen. Ein Splitting istnicht möglich. Ihre Aufgabe ist dieStrafverfolgung, ihre Tätigkeit istvon der Berufsstruktur auf die Über-führung von Tatverdächtigten ge-richtet28 und schränkt sie im Vermö-gen, der beschuldigten Person unbe-fangen gegenüberzutreten, stark ein.Dies muss umso mehr gelten, wenndie Staatsanwaltschaft zugleichUntersuchungs- und Anklagebe-hörde ist.

Auch der Umstand, dass dieStaatsanwaltschaft in den kantonal-rechtlichen Gesetzen vor allem imUntersuchungsverfahren zur Objek-tivität verpflichtet werden könnte29,kann den Anforderungen, welcheArt. 6 Ziff. 1 EMRK an die Unpar-teilichkeit stellt, nicht genügen.Damit scheint die von der Eidgenös-sischen Strafprozessordnung getrof-fene Regelung die Mindestanforde-rungen, welche Art. 6 Ziff. 1 EMRKan eine unparteiische Verfahrens-leitung bei den wesentlichen Beweis-erhebungen stellt, nicht zu erfüllen.

6 Beweisabnahmenvor Gericht zentral

Art. 343 CH-StPO scheint für dasGerichtsverfahren eine einge-schränkte Unmittelbarkeit zu ver-briefen. In der heute geltenden,schliesslich in das Gesetz übernom-menen Version30 erhebt das Gerichtneue und ergänzt unvollständig er-hobene Beweise (Abs. 1), darüberhinaus erhebt es im Vorverfahren

nicht ordnungsgemäss erhobene Be-weise nochmals (Abs. 2), ebenfallserhebt es im Vorverfahren ordnungs-gemäss erhobene Beweise nochmals,sofern die unmittelbare Kenntnis desBeweismittels für die Urteilsfällungnotwendig ist (Abs. 3).

Zusammengefasst soll die Beweis-aufnahme des Gerichts also neue,unvollständige beziehungsweise feh-lerhaft erhobene oder auch für dieUrteilsfällung besonders wichtigeBeweise umfassen. Insbesondere mitder letzteren Umschreibung solltedas Gericht über Raum verfügen, dieBeweisaufnahme an sich zu ziehen.

Eine zu enge Auslegung dieserVorschrift oder eine Nichtausübungdieser Kompetenz durch das Gerichtführte, betrachtet man die oben er-läuterten Regelungen über die Be-weiserhebungen des Staatsanwalts,zu einem System, welches Art. 6 Abs.1 EMRK in keiner Weise entspräche.Wichtigste Teile der Beweiserhe-bung würden so einzig vor und voneiner Partei erhoben, deren Wirkenfunktional ganz auf eine erfolgreicheStrafverfolgung ausgerichtet ist.

Es ist damit zu fordern, dass we-sentliche Beweisabnahmen grund-sätzlich immer auch vom urteilen-den Gericht durchgeführt werdenkönnen. Wenn die eigentlichenKonfrontationen mit Zeugen oderMitangeschuldigten einzig vor demurteilenden Gericht stattfinden,können Doppelspurigkeiten vermie-den werden. Das auch dem Verteidi-ger früh bei jeder Zeugeneinver-nahme auch vor dem Staatsanwalteinzuräumende Teilnahme- und Fra-gerecht sichert dabei ab, dass ersteZeugenaussagen rechtskonform zu-stande kommen. Es verhindert auch,dass Zeugen in späteren Einvernah-men gleichsam versucht sind, jedenWiderspruch zu einer früheren Aus-sage zu vermeiden, und das Frage-recht so zu einem späteren Zeitpunktins Leere laufen könnte.31

plädoyer 2/08 41

17 John Murray c. das Vereinigte König-reich, Urteil vom 8. Februar 1996, Re-ports 1996-I, 30, § 62; Imbrioscia c.die Schweiz, Urteil vom 24. November1993, Serie A N° 275, § 36.

18 Probleme bestehen so etwa auch beider Frage des Zeitpunkts des effektivenBeizugs eines Verteidigers, S. Arquint,«‹Anwalt der ersten Stunde?› – Ein Po-sitionspapier!», in R. Schlauri / B.Schindler (Hrsg.), Auf dem Weg zu ei-nem einheitlichen Verfahren, Zürich2001, S. 175 ff.

19 Barberà, Messengué und Jabardo c.Spanien, Urteil vom 6. Dezember1988, Serie A N° 146, § 78.

20 S. Trechsel, «Unmittelbarkeit undKonfrontation als Ausfluss von Art. 6EMRK», in: AJP 2000, S. 1366 ff.

21 Kostovski c. die Niederlande, Urteilvom 20. November 1989, Serie A, Nr.166, § 41.

22 van Mechelen und andere c. dieNiederlande, Urteil vom 23. April1997, Reports 1997-III, 691.

23 Vergleiche etwa BGE 125 I 127, 134.24 Siehe auch S. Summers, Fair Trials:

The European Criminal ProceduralTradition and the European Court ofHuman Rights, Oxford 2007.

25 Beachtenswert ist hierbei Art. 141CH-StPO, welcher unter bestimmtenBedingungen auch «ein aus den Aktenweisen» (separate Aufbewahrung unterVerschluss) ermöglichen soll.

26 Vergleiche Abs. 2 und 3 von Art. 147CH-StPO.

27 Vergleiche Art. 104 CH-StPO.28 Gemäss Art. 16 CH-StPO ist die

Staatsanwaltschaft für die gleichmässi-ge Durchsetzung des staatlichen Straf-anspruchs verantwortlich.

29 Eine solche Verpflichtung findet sichin der CH-StPO – soweit ersichtlich –nicht.

30 Der Begleitbericht zum Vorentwurfvom Juni 2001 enthielt ausdrücklicheHinweise zum hier besprochenen Pro-blem.

31 Vergleichbare Regelungen werden heu-te bereits in verschiedenen Kantonen(etwa Bern oder Basel-Stadt), unterverschiedenen institutionellen Voraus-setzungen, praktiziert.

S T R A F P R O Z E S S

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