210

Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)
Page 2: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Das gute Buch für jedermann

KONFUZIUS

(Kung-fu-tse = Kung-tse}, ein Zeitgenosse des

Lao-tse, wurde 551 v. Chr. im Staate Lu (heute

Provinz Schantung) geboren. Er führte ein Wan­

derleben, das der Ausbreitung seiner Lehre

durch Unterricht und Unterweisung diente. Auch

war er Berater an Fürstenhöfen.

Konfuzius entwickelte, zurückgehend auf die

Oberlieferung seines Volkes, eine Sitten- und

Staatslehre, mit der er dem moralischen und

politischen Verfall seiner Zeit entgegenzuwir­

ken versuchte. Er stellte fünf Grundsätze des

sittlichen Verhaltens auf: menschenwürdiges

Betragen, Rechtlichkeit, Schicklichkeit im Ver­

kehr mit Menschen und im Kultus, Weisheit,

Treue.

Sein Werk ist Jahrtausende hindurch in China

lebendig geblieben. Nach seinem Tode im Jahre

479 v. Chr. wurde Konfuzius kultisch verehrt.

Glonzfolienko!chierung: Boode & Endrulot • Hornburg

FISCHER•BUCHEREI

Page 3: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

• . ~

Page 4: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Ober dieses Buch

Lin Yutang, mit der geistigen Tradition Chinas aus

Neigung und Herkunfi wohlvertraut, hat in der vor­

liegenden Auswahl versucht, das Wesen der konfuzia­

nischen Lehre dem westlichen Verständnis au/zuschlie­

ßen. Seine ausführlichen Kommentare erläutern die

überlieferten konfuzianischm Schri/te_n innerhalb ihres

historischm und geistesgeschichtlichen Zusammenhangs.

Noch heute gilt Konfuzius, der Zeitgenosse Laotses, als

einer der fundamentalen Staatsdenker der Menschheit.

Die sittliche Grundhaltung seiner Philosophie bestimmt

die von ihm aufgestellten Regeln /ür das Zusammen­

leben der Menschen. Im Mittelpunkt seines Denkens

steht die Familie, die er als Kern des Staatsgefüges er­

kmnt und in ihren Handlungen ethisch zu festigen

versucht.

Konfuzius faßt den von ihm aufgestellten Sittenkodex

in fünf Grundsätzen zusammen: Menschenliebe, Recht­

lichkeit, Ehrerbietung, Weisheit und Tret4e. Diese For­

derungen prägten das staatliche und religiöse Ge­

füge des alten China und bildeten, später mit der

buddhistischen Lehre vereint, den Hintergrund, vor

dem sich chinesisches Denken und Handeln abzeichnen.

Page 5: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

KONFUZIUS

HERAUSGEGEBEN VON

LINYUTANG

FISCHER BÜCHEREI

Page 6: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Umschlagentwurf: Wolf D.Zimmermann Konfuzius nach einem Steinabklatsch, der auf ein Bild von Wu Tao-Tzu

(etwa 700-760 n. Chr.) zutückgeht.

Die chinesischen Schriftzeichen bedeuten >gemacht von Wu Tao-Tzu in der Tang-Zeit<.

Erstmalig in der Fischer Bücherei

März 1957

Fischer Bücherei KG. Frankfurt am Main und Harnburg Die amerikanische Originalausgabe ersdtien 1938 unter dem Titel » TheWisdom of Confuciusc

bei RandOm Hause. lnc., New York. Deutsche Übersetzung von Gerolf Coudenhove.

Deutsche Rechte bei der Fischer Bücherei KG., Frankfurt am Main und Hamhurg.

Das 5. Kapitel wurde von Roma.na Segantini übersetzt und bildet einen Teil des vom Rasdler­

Verlag, Zürich, geplanten Werkes •Die Weisheit Chiuas und Indiens•, hrsg. v. Lin Yutang

Gesamtherstellung: Hanseatische Druckanstalt Hamburg-W andsbek'

Printed in Germany

Page 7: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

INHALTSVERZ.EICHNIS

HAUPTPERSONEN •.......

DIE JÜNGER DES KONFUZIUS

I. EINLEITUNG

7

9 I. Das Wesen der konfuzianischen Gedankenwelt 9

Die Gleichsetzung von Politik und Ethik I5 I Li oder die vernunftgemäße Sozialordnung I6 I Humanismus I9 I Selbstbildung als Grundlage einer Weltordnung 22 I Die gebildete Obersmimt 23

2. Kurze Charakteristik des Konfuzius 24

3· Quellen und Plan dieses Buches • . . . 3 r 4· Ober die Technik der Übertragung . . 40

II. DAS LEBEN DES KONFUZIUS 45 I. Abstammung, Kindheit und Jugend 45

2. Zwischen Dreißig und Fünfzig . . 48 3· Die Periode des großen Einflusses . . 50

4· Fünf Wanderjahre . . . . . . . . . . 54 5. Heimsuchungen in Thschen und Tschai 6 I 6. Weitere Wanderjahre .. .. .. .. .. 65 7· Werke und Eigenheiten des Konfuzius . . 67 8. Tod und Nachkommenschall:.. 72

III. EINKLANG DER MITTE 75 I. Der Einkiang der Mitte . . . . 76 2. Der 11;oldene Mittelweg 77 3· Die Allgegenwart des Sittengesetzes 79

4· Das humanistische Maß 8o 5· Vorbilder . . . . . . . . 8r 6. Ethik und Politik . . . . 84 7· Sein wahres Selbst sein 87 8. Wer wirklich sein wahres Selbst ist . . 89 9· Lobrede auf Konfuzius 9 r

Nachwort . . . . . . . . 94

IV. ETHIK UND POLITIK 96

I. Grundgedanke . . . . . . . . 98 2. Ober die Bedeutung einiger in diesem Abschnitt vorkommender

Ausdrücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3· Ober die Erlangung wahrer Erkenntnis.. roo 4· Ober das Redlichmachen des Wollens . . IOO

5. Das Herz ins Lot setzen . . . . . . . . . . I o I 6. Von der Beziehung zwischen Eigenleben und Familienleben . . IOI

7· Ober die Beziehung zwischen dem Leben der Familie und dem Leben des Staates • • . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . I02

8. Ober die Beziehung zwischen Staatsleben und Weltfrieden . . . . . . I03

Page 8: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

V. DIE APHORISMEN DES KONFUZIUS r. Besdtreibung des Konfuzius . • . • . . . . . . 2. Konfuzius als Gefühlsmensdt und Künstler 3. Im Gesprädtston • . . . • . • . • . . . 4· Geist und Weisheit •......... 5· Humanismus und edttes Mensdtentum

Humanismus u6 I Des Menschen Maß ist der Mensch 127 I Die goldene Regel u8 I Echtes Menschentum u8 I Weitere Beschreibungen des echten Menschen 130

6. Der. höhere und der niedrigere Mensdt .... ,, ............ . 7· Die Mitte als idealer Charakter und Mensdtentypen, die Konfuzius

haßte ......................•........... Menschen der Mitte 133 I Menschentypen, die Konfuzius haßte 133

8. Regierung • . • . . . . . . . • . . . . . Das sittliche Ideal der Regierung 135 I Regierung durch sittliches Bei­spiel 135 I Elemente der Regie.rung 136

9· Ober Erziehung, Zeremoniell und Didttkunst ••

VI. DREI KONFUZIANISCHE ABHANDLUNGEN OBER DIE GESELLSCHAFTSORDNUNG ...•.••••..•••••

I. Erste Abhandlung: Ober Erziehung mittels der sedts Klassiker 2. Zweite Abhandlung: Eine Unterredung mit dem Fürsten Ai .. 3· Dritte Abhandlung: Die Vision einer Gesellsdtafl:sordnung ..

Die beiden Ordnungen der menschlichen Gesellschaft ISZ I Die Entwicklung des Li 154l Das auf der Natur des Menschen begründete Li 157 I Li beruht auf dem Himmel 158 I Die Pflege des Li 159

VTI. OBER ERZIEHUNG I. Das Bedürfnis nadt Erziehung .. 2. Das Erziehungssystem der Alten .. 3· Nebenstudien •....... 4· Der ideale Lehrer . . .. . . . 5. Der Vorgang beim Lernen

VIII. OBER MUSIK I. Ursprung und Funktion der Musik 2. Ein V ergleim zwisdten Zeremoniell und Musik 3· Musik enthüllt den Charakter des Mensdten .. 4· Ober klassisdte und moderne Musik. • . . . . . . s. Konfuzius über die versdJ.iedenen Sätze der Tanzmusik

IX. MENCIUS •.•.•..••....•...••. r. Die Gutheit der mensdJ.lidten Natur. . . . . . . . 2. Wie unsere ursprünglidte Natur zerstört wird . . . . 3· Das höhere Leben und das größere Selbst

ANMERKUNGEN ..•........•..

I07

III

Il5 Il7 123 126

130

133

135

191

Page 9: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

HAUPTPERSONEN

KoNFUZIUS: Khung Futse, »Meister Kung«; auch Tschungni genannt, 55 1-479 v. Chr.

MENcms: Mengtse; der Zweite nach Konfuzius in den Kon­fuzianischen Tempeln; Vertreter des konfuzianischen Moral­ideals; Verfasser des »Buches des Mencius«, eines der »Vier Bücher«; 372-289 v. Chr.

TsESZE: Enkel des Konfuzius und angeblich Lehrer des Men­cius, Verfasser der »Zentralen Harmonie« sowie zweier Bücher des Liki; auch Khung Thschi genannt; 492-43 I v. Chr.; er kann daher nicht persönlich der Lehrer des Men­cjus gewesen sein.

HsuNTSE oder Hsun Thsching, auch Hsun Huang; Zeitgenosse und Rivale des Mencius, Vertreter einer anderen wichtigen Entwicklungsrichtung der konfuzianischen Lehre, mit dem Nachdruck auf Gelehrsamkeit und Zeremoniell; seine An­sichten sind häufig ins Liki aufgenommen; seine Werke sind erhalten, etwa 315 bis etwa 236 v. Chr.

SZEMA THSCHIEN: Verfasser des großen chinesischen Geschichts­werkes Shiki; Meister chinesischer Prosa; 145-8 5 (?) v. Chr.

TscHENG HsuAN oder Tscheng Khangthothscheng: Bedeutend­ster Kommentator der Ban-Dynastie; 127-200 n.Chr.

TscHU Hsx: Bedeutendster Kommentator der Sung-Dynastie; unter seinem Einfluß wurde die Sammlung »Vier Bücher« zum Unterrichtsgegenstand an allen chinesischen Volks­schulen; sein Kommentar war der einzig offiziell anerkannte bei den Staatsprüfungen; II3D-I200 n. Chr.

7

Page 10: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

DIE JUNGER DES KONFUZIUS UND DIE MKNNER UM IHN

YEN HuEI oder Yen Yuan: der Lieblingsjünger des Konfuzius, von dem dieser nur in den höchsten Ausdrücken spricht; 521-490 v. Chr.

KHUNG LI oder Poyu: einziger Sohn des Konfuzius, durchaus unbedeutend; 53.2.-483 v. Chr.

TsELU: Altester der ständigen Jünger des Konfuzius; kritisiert oft dessen Verhalten; wird von den Verfassern der »Ge­spräche« getadelt; starb in einem Duell, weil er darauf be­stand, während des Kampfes. die Quasten seiner Mütze nach Art der vornehmen Stände zu richten, und deshalb verwun­det wurde; gestorben 54.2. v. Chr.

TsEKUNG: Dertreueste Jünger des Konfuzius; galt als hervor­ragender Diplomat; geh. 520 v. Chr.

TsEHSIA, spr. Tse Shia: mehr ein Gelehrtentypus; wurde nach dem Tod des Konfuzius ein bedeutender Lehrer; geh. 507 v.Chr.

TsEYU: Ebenfalls ein dem Meister nahestehender Jünger und guter Diplomat; geh. 506 v .. Chr.

TsENGTSE oder Tseng Thsan: bekannt ob seiner Sohnesliebe; der jüngste und philosophischste der Jünger; Lehrer von Konfuzius' Enkel; in den konfuzianischen Tempeln der Nächste nach Mencius; geh. 505 v. Chr.

]AN THSCHIU oder Jan Yu: ein tüchtiger, fähiger Mann; wurde Schreiber des Adligen Khang Tschi; wird später von Kon­fuzius entlassen, weil er dem Adligen bei der Besteuerung des Volkes geholfen hatte; geh. 52.2. v. Chr.

Fürst AI von Lu, Graf KHANG TscHi von Lu (unter dem Für­sten), Fürst TscHING von Thschi, Fürst LING von Wei: zeit­genössische Herrscher, mit denen Konfuzius ständig Umgang pflag.

KöNIGIN NANCIA: eine berühmt schöne und ausschweifende Dame, Gattin des Fürsten Ling von Wei.

YANG Ho: ein mächtiger, aber korrupter Beamter in Lu, den Konfuzius nicht leiden mochte.

8

Page 11: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

I

EINLEITUNG

r. Das Wesen der konfuzianischen Gedankenwelt

Kann man sich heutzutage noch für Konfuzius begeistern? Wohl kaum. Es dürfte davon abhängen, ob man sich noch für bloße Verständigkeit begeistern kann, die selten viele begei­sterte Anhänger gefunden hat. Wichtiger ist die Frage, ob man heutzutage noch an den Konfuzianismus glauben kann. Sie ist für die heutigen Chinesen von besonderer Bedeutung, weil sie an den Kern des chinesischen Denkens rührt und sich nicht ein­fach beiseiteschieben läßt. Denn die konfuzianische Haltung und Weltanschauung zeigt eine Geschlossenheit oder besser ge­sagt Allgemeingültigkeit, die sich geradezu in einer Freude am Konfuzianismus ausdrückt - einer Freude, die ich sogar bei den heranreifenden, westlich erzogenen Chinesen unserer Tage fest­stellen konnte. Die Geschlossenheit und elementare Anziehungs­kraft seines Humanismus besitzt eine eigentümliche Stärke. Im politischen Chaos und KampfderWeltanschauungen während der unmittelbar auf Konfuzius folgenden Jahrhunderte siegte der Konfuzianismus über den Taoismus, den Motianismus, den Naturalismus, den Legalismus, den Kommunismus und eine Reihe anderer Systeme. Er bewahrte seinen bestimmenden Ein­fluß auf das chinesische Volk· für die Dauer von zweitausend­fünfhundert Jahren, abgesehen von kurzen Unterbrechungen, nach deren Verlauf er stets mit verdoppelter Stärke zurüdt­kehrte. Neben dem Taoismus, der vom dritten bis sechsten Jahrhundert n. Chr. verbreitet war, machte ihm der Buddhis­mus, der bei den Gelehrten der Sung-Dynastie viele Anhänger gewann, die schärfste Konkurrenz. Aber bei aller ausgeklügel­ten Metaphysik konnte sich der Buddhismus nur insoweit durchsetzen, als er den Methoden zur Erlangung des Wissens sowie auch dem Leitgedanken dieser humanistischen Kultur eine abgewandelte Auslegung verlieh. Er verlegte den Nachdruck auf gewisse freilich schon bei den konfuzianischen Klassikern vorkommende Gedanken und rückte sie in den Vordergrund, vermochte jedoch nicht, den Konfuzianismus zu verdrängen. Der Grund dafür mag ausschließlich in dem von alters über­kommenen Prestige des Konfuzianismus zu suchen sein; aber jedenfalls herrschte unter den konfuzianischen Gelehrten ein

9

Page 12: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

entschiedener Stolz und ein Glaube an die Richtigkeit ihrer eigenen Lehre, die sie veranlaßte, sich dem Buddhismus zu ver­schließen und ihn mit Toleranz oder mit Verachtung abzutun. Der gleiche Wirklichkeitssinn; der die Mystik des Tschuangtse zunichte machte, ließ sie auch die Mystik des Buddhismus ab­lehnen. Heute begegnet dem Konfuzianismus ein noch viel stärkerer Konkurrent, und zwar nicht so sehr das Christentum, als das gesamte System westlichen Denkens und westlicher Lebensauffassung und eine neue soziale Ordnung, die sich aus der fortschreitenden Industrialisierung ergibt. Als politisches System mit dem Ziel der Wiederherstellung einer Feudalord­nung wird der Konfuzianismus wohl durch die Entwicklung der modernen Staats- und Wirtschaftswissenschaften außer Kraft gesetzt werden. Aber als System einer humanistischen Kultur, als Grundhaltung der Lebens- und Gesellschaftsfüh­rung wird er sich meines Erachtens behaupten können. Noch sind wir nicht so weit, daß die Lehren des Karl Marx und Kon­fuzius sich nicht vereinbaren ließen oder keinen gemeinsamen Berührungspunkt besäßen. Der Konfuzianismus als lebendige Kraft im chinesischen Volke wird auch weiterhin unsere natio­nale Politik mitbestimmen und den Kommunismus, wenn er sich in China durchsetzen sollte, modifizieren. Das Chinesen­turn wird den gleichen Kampf gegen den westlichen Kommu­nismus führen, den schon Mencius gegen die frühen chinesischen Kommunisten siegreich bestanden hat. In diesem Sinne wird das Studium des Konfuzianismus und seiner Grundlehren auch für Menschen der abendländischen Welt von Nutzen·sein, da es ihnen helfen kann, das chinesische Ethos und die chinesischen mores zu verstehen.

Westliche Leser kennen Konfuzius meist als einen Weisen, der in Aphorismen oder moralischen Maximen sprach; aber das reicht kaum aus, um den tiefgehenden Einfluß des Konfuzia­nismus zu erklären. Ohne eine fundamentale Einheitlichkeit des Glaubens oder des Denksystems könnte eine bloße Aphoris­mensammlung die Geschichte eines Volkes niemals .so beherr­schen, wie der Konfuzianismus China beherrscht hat. Das über­ragende Ansehen und der mächtige Einfluß des Konfuzianis­mus muß daher andere Gründe haben. Ohne ein grundlegendes, als wahr akzeptiertes Glaubenssystem werden Denksprüche und Sprichworte leicht schal und abgedroschen. Die »Sprüche«, die konfuzianische Bibel, sind aber bloß eine solche Sammlung moralischer Maximen, und der Konfuzianismus gelangte hauptsächlich durch diese Sammlung zur Kenntnis des Westens. Nun sind aber diese »Sprüche« nichts anderes als eine Samm­lung ausgewählter, oft aus ihrem Zusammenhang gerissener

IO

Page 13: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Aussprüche des Konfuzius, deren genauere Zugehörigkeit und vollere Erklärung sich erst im Buche Mencius', im Liki und in anderen Büchern :finden. Schließlich hat ja Konfuzius nicht nur den ganzen Tag in abgehackten Aphorismen gesprochen. Es ist also unmöglich, zu einem vollen Verständnis des Einflusses und Ansehens des Konfuzianismus zu gelangen, ohne zuvor das System des konfuzianischen Gedankengefüges als solches zu erfassen.

Kurz gesagt, trat der Konfuzianismus für eine vernünftige, auf persönliche Bilder gegründete, ethisch ausgerichtete Sozial­ordnung ein. Er wollte eine politische Ordnung dadurch erzielen, daß er sie auf eine sittliche Ordnung aufbaute, und strebte nach politischer Harmonie, indem er versuchte, die moralische Harmo­nie beim einzelnen Menschen zu verwirklichen. So war das eigen­tümlichste Kennzeichen des Konfuzianismus die Abschaffung der Unterscheidung zwischen Ethik und Politik. Auch die Methode war unverkennbar ethisch, sehl,' zum Unterschied von der der Legalisten, die den Staat durch eine strenge Anwendung der Gesetze zu stärken suchten. Es war ferner eine durchaus posi­tive Auffassung, ein lebendiges Verantwortungsbewußtsein für den Mitmenschen und die gesamte Gesellschaftsordnung, zum Unterschied vom negativistischen Zynismus des Taoismus. Der Konfuzianismus war im Grunde eine humanistische Geistes­haltung, die jegliche müßige Metaphysik und Mystik beiseite­schob und sich hauptsächlich für die wesentlichen menschlichen Beziehungen interessierte, nicht aber für die Geisterwelt oder die Unsterblichkeit. Die stärkste Doktrin dieses besonderen Humanismus, auf welche dessen großer, dauernder Einfluß zu­rückgeführt werden kann, ist der Satz, daß »der Mensch des Menschen Maß« ist, eine Lehre also, die es einem jeden ermög­licht, irgendwann als Anhänger des Konfuzianismus anzufan­gen, indem er einfach den höchsten Trieben der eigenen Natur folgt, ohne die Vollkommenheit in einem göttlichen Ideal suchen zumü.ssen.

Im besonderen zielte der Konfuzianismus entschieden auf die Wiederherstellung einer aufgeklärten Feudalordnung mit deutlichen Rangabstufungen ab, und das zu einer Zeit, als das Feudalsystem der Tschou-Dynastie am Zusammenbrechen war. Um das zu verstehen, muß man sich diesen Zusammenbruch des Feudalsystems zur Zeit des Konfuzius und in den folgenden Jahrhunderten vergegenwärtigen. Es gab damals Hunderte von Fürstentümern, Grafschaften und Städten, die zu unab­hängigen Staatswesen geworden waren, wobei die größeren Staaten ihren Machtbereich und ihr Gebiet vermehrten und miteinander in ständiger Fehde lagen. Die Macht des Kaisers,

II

Page 14: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

der noch immer die theoretische Herrschaft über das Reich inne­hatte, war zu einem bloßen Schatten geworden; das ging so weit, daß weder Konfuzius noch später Mencius, die ihre Leh­ren mit Hilfe der Fürsten in die Praxis umsetzen wollten, auch nur versuchten, sich an den Kaiser zu wenden. Das widersprach zwar geradezu ihrer Theorie einer rationalistischen Sozialord­nung, welche für die Unterordnung aller. unter eine oberste Befehlsgewalt eintrat. Die Lage war aber tatsächlich derartig hoffnungslos, daß ein Besuch beim entmachteten Kaiser gegen­standslos gewesen wäre. Es herrschte somit eine zwischenstaat­liche Anarchie, ähnlich wie im heutigen Europa. Verträge wur­den außer Kraft gesetzt, es gab Bündnisse und große und kleine Ententen, die allesamt nicht von langer Dauer waren. Die Steuerlast war fürchterlich, da ständig wachsende Heere ge­halten werden mußten, und die kleineren Staaten schwebten in ständiger Gefahr, von den mächtigeren Nachbarstaaten über­rannt ZU werden. Es wurden Konferenzen abgehalten, bei denen die Herrscher der mächtigeren Staaten abwechselnd den Vorsitz führten. Philosophen begannen zwischen Angriffs- und Verteidigungskriegen und zwischen »Aggressoren« und »Op­fern« zu unterscheiden. Sonderbarerweise entwickelte sich eine Art internationaler Gelehrtenrepublik; Gelehrte zogen im Land umher und dienten bald diesem, bald jenem Staate. Die alten Riten und Rangordnungen waren in heillose Verwirrung geraten; der Reichtum war sehr ungleich verteilt; aber gerade dieses politische und moralische Chaos veranlaßte alle kühnen Denker zu der ernstlichen Überlegung, wie man wieder Frie­den und Ordnung schaffen könne. In dieser Atmosphäre führte die intensivierte Denktätigkeit, verbunden mit größter Ge­dankenfreiheit, zur höchsten und reichsten Entfaltung der chine­sischen Philosophie. Manche, wie Laotse und Tschuangtse, ver­warfen jegliche gesittete Ordnung; andere wurden primitive Kommunisten, die meinten, jedermann solle sich mit seiner Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt verdienen; manche lehr­ten die Einheit Gottes, die Liebe zu Gott und eine humanitäre, selbstlose, ja sogar asketische Lebensführung, die so weit ging, daß Motse sogar die Musik verpönte; und außerdem gab es Sophisten, Stoiker, Hedonisten, Epikuräer und ausgesprochene Naturverehrer. Manche begannen, wie die heutigen Europäer, sogar die Zivilisation in Frage zu stellen und strebten nach einer Rückkehr zum primitiven Leben, ähnlich wie gewisse mo­derne Denker sich nach dem afrikanischen Urwald oder nach der Insel Bali zurücksehnen. Andere, darunter auch Konfuzius, glaubten wie die heutigen Christen an die Kraft moralischer Ideale, an Erziehung, an Kunst, an die Kontinuität der Tradi-

12

Page 15: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

tion, an die Wahrung gewisser internationaler Anstandsregeln und eines hohen sittlichen Niveaus im Verkehr der Menschen miteinander; sie sind alle Elemente des konfuzianischen Glau­bens.

Das Kapitel »über das Betragen der Konfuzianer« im Liki (J uhsing, Kapitel4 1) unterscheidet die konfuzianische Gelehrten­schule von allen übrigen. Der Ausdruck J u (der Konfuzianis­-mus wird in· China seit den Tagen des Konfuzius als »]u«­Religion bezeichnet) war bereits zur Zeit des Konfuzius ge­bräuchlich, und die >> Ju« genannten Gelehrten bildeten wahr­scheinlich eine besondere Menschengattung, konservativ in ihren Anschauungen und voll historischer Gelehrsamkeit; als Sinn­bild ihres Glaubens an die Vergangenheit trugen sie eine be­sondere Ju-Mütze und ein besonderes Ju-Gewand. Die folgen­den Auszüge zeigen den hohen moralischen Idealismus dieser Gruppe von Konfuzianern:

Fürst Ai von Lu fragte den Konfuzius: »Ist das Gewand des Meisters das ]u-Gewand?« Konfuzius erwiderte: »Ich wuchs in Lu auf und trug dort ein weitärmeliges Gewand; später wohnte ich in Sung, wo ich eine schwarze Tuchmütze trug. Ich habe sagen hören, daß ein Herr zwar in seinem Wissen weit­herzig ist, aber die Tracht seiner Heimat trägt. Ich weiß nicht, ob das Kleid, das ich trage, ein ]u-Gewand genannt werden kann.« »Und wie benimmt sich ein ]u?« fragte der Fürst, und Konfuzius erwiderte: »Wenn ich das in allen Einzelheiten er­klären wollte, käme ich nie zu Ende; wenn ich es versuchen würde, müßte ich immer hier bleiben und wäre doch nicht im­stande, alles darzulegen, selbst wenn Ihr indessen Euer Ge­folge mehrmals ablösen würdet.« Da bat der Fürst den Kon­fuzius, sich auf der Matte niederzulassen; dieser leistete ihm Gesellschaft und sagte: .

»Ein ]u ist wie einer, der Juwelen besitzt, die er einlJlal ver­kaufen möchte; er pflegt sein Wissen früh und spät, um bereit zu sein, wenn sein Rat erbeten wird; er pflegt Rechtschaffen­heit und Ehrlichkeit in Erwartung seiner Amtsübernahme, und er ordnet nach Möglichkeit sein Verhalten im Hinblick auf die Zeit, da er ein Amt bekleidet. So wahrt er seine Unabhängig­keit!

Ein ]u ist sorgfältig in seiner Kleidung und behutsam in seinem Verhalten; wenn er etwas Großes verweigert, erscheint er respektlos; und wenn er etwas Kleines verweigert, erscheint er unmanierlich; wenn er in der Öffentlichkeit auftritt, sieht er ehrfurchtgebietend aus, bei kleineren Anlässen ist er zurück­haltend; seine Dienste sind schwer zu erlangen und schwer zu

13

Page 16: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

behalten, obwohl er scheinbar sanß: und nachgiebig ist. Solcher­art ist sein Auftreten!

Einem Ju kann man mit Höflichkeit beikommen, kann ihn aber nicht mit Gewalt zu etwas zwingen; er ist zuvorkom­mend, läßt sich aber nicht gegen seinen Willen zu einer Hand­lung bestimmen; man kann ihn töten, aber nicht demütigen. Er ist einfach und schlicht in seiner Lebensweise; man kann ihn sanß: auf seine Fehler und Unzulänglichkeiten aufmerksam machen, darf sie ihm aber nicht derb ins Gesicht sagen! Solcher­art ist die Stärke seines Charakters.

Ein fu lebt zwar mit seinen Zeitgenossen, studiert aber die Alten. Was er heute tut, wird für kommende Geschlechter bei­spielgebend sein. Wenn er in Zeiten politischer Verwirrung lebt, umschmeichelt er weder die Machthaber, noch läßt er sich von den Niederen aufhetzen. Und wenn sich die politischen Neider zusammentun, um ihn zu verleumden oder ihn zu ver­letzen, kann zwar sein Leben bedroht sein, aber sein Verhalten wird sich nicht ändern. ·Obwohl er in Gefahr schwebt, bleibt seine Seele sein, und selbst dann vergißt er nicht auf die Lei­den des Volkes. Solcherart ist sein Verantwortung~bewußt­sein!

Ein Ju ist weitherzig und nicht engherzig in seinem Wissen; er arbeitet unaufhörlich an seinem Verhalten, und in seinem Privatleben läßt er sich niemals gehen. Auch wenn er Erfolg hat, weicht er nie von der Wahrheit ab. In seinem persönlichen Benehmen liebt er es, mit den anderen in Frieden und Einklang zu sein. Er pflegt die Schönheit seines inneren Wesens und ist gelassen in seinem Betragen. Er bewundert die, welche klüger sind als er, ist der Masse gegenüber großmütig und ist geschmei­dig im Grundsätzlichen. Solcherart ist seine geistige Gelassen­heit und seine Charaktergröße!«

Gegen diesen Hintergrund einer zwischenstaatlichen Anar­chie und eines zerfallenden Feudalismus lassen sich die ver­schiedenen Wesenszüge der konfuzianischen Lehre besser er­fassen und beurteilen, insbesondere auch die Bestrebungen des Konfuzius nach Wiederherstellung der alten Feudalordnung durch Zeremoniell und Musik. Die charakteristischen Grund­gedanken dieses Lehrgebäudes sind meiner Ansicht nach fünf an der Zahl; und da diese Gedanken auch in den folgenden Textübertragungen immer wieder vorkommen, erscheint eine Untersuchung ihrer Bedeutung und Tragweite zu einem echten Verständnis des Konfuzianismus wesentlich.

I4

Page 17: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Die Gleichsetzung von Politik und Ethik

Der große Nachdruck, den der Konfuzianismus auf Zeremo­niell und Musik legt, sowie seine anscheinende Voreingenom­menheit für moralisierende Gemeinplätze kommt westlichen Lesern meist sonderbar und beinahe unverständlich vor. Den­noch müßte es völlig klar sein, daß das, was gemeinhin >>Zere­moniell und Musik« genannt wird, besser als jeder andere Aus­druck das Gesamtziel der konfuzianischen Sozialordnung ver­körpert. Es klingt freilich beinahe kindlich-naiv, wenn Konfu­zius auf die Frage eines Schülers über Staatskunst antwortet: »Ah Schu, habe ich dir das nicht schon früher gesagt? Der vor­nehme Mensch braucht nichts weiter als das Zeremoniell und die Musik gründlich zu verstehen und beide dann auf die Re­gierung anzuwenden!« (Liki, Kapitel28.) Vomkonfuzianischen Standpunkt ist dieser Ausdruck aber durchaus verständlich, wenn wir uns daran erinnern, daß nach der konfuzianischen Definition die Regierungstätigkeit sich in dem Versuch er­schöpft, »die Dinge ins Rechte« und »die Dinge in Ordnung zu bringen«. Konfuzius zielte also auf eine moralische Basis des Friedens innerhalb der Gesellschaft hin, aus welchem sich dann der politische Frieden von selbst ergeben würde. Die »Sprüche« bringen folgende Unterredung: Jemand fragte Konfuzius: »Warum gehst du nicht in die Regierung?« Und Kon­fuzius erwiderte: »Wird nicht im >Buch der Geschichte< über die Kindespflicht berichtet, daß der König von Tschen ein guter Sohn und guter Bruder war und dann diese seine Grundsätze auf die Regierung anwandte? Ein solches Verhalten heißt also auch, in der Regierung sein. Weshalb sollte ich also in die Re­gierung eintreten?« Konfuzius war beinahe ein Anarchist, des­sen höchstes Ideal eine Gesellschaft war, in der das Volk in so vollkommenem moralischen Einklang lebte, daß sich eine Re­gierung dadurch erübrigte. Das ist der Sinn seines Ausspruches: »Als Richter bei einem Prozeß stehe ich keinem nach. Es kommt aber darauf an, einen Zustand zu erreichen, in welchem es gar keine Prozesse mehr gibt.« (>>Sprüche«, XII.) Wie das zu be­werkstelligen ist, wird erst in den folgenden Kapiteln erklärt. Es ist aber schon jetzt klar, daß Konfuzius die Endziele der Regierungstätigkeit, der Strafgesetze, des Zeremoniells und der Musik für identisch hielt. >>Die Endziele des Zeremoniells, der Musik, der Strafgesetze und der Regierungstätigkeit sind alle die gleichen, nämlich die Bestrebungen des Volkes zu verein­heitlichen und eine sich daraus ergebende soziale und politische Ordnung aufzurichten.« (Siehe Kapitel VIII »Über Musik«.) Konfuzius gab sich nie mit einer politischen Ordnung zufrieden,

15

Page 18: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

die nur durch die strenge Handhabung un~ Anv.:-endung der Strafgesetze erzielt wurde.>> Führt das Volk m1t Regierungsmaß­nahmen«, sagt er, »und lenkt es durcJ;l ~drohu~g vo_n Strafen: dann wird das Volk zwar trachten, mcht ms Gefangms zu kom­men wird aber kein Gefühl für Ehre oder Schande haben. Füh;t das Volk durch Tugend und lenkt es durch Li (Sinn für Anstand) und das Volk wird Ehrgefühl und Ehrfurcht emp­finden.« Es gibt also zweierlei politische Ordnungen; und in diesem Sinne sagte Konfuzius: »Wenn das Königreich Thschi einen Schritt vorwärts tut, so wird es die Kulturstufe des Königreichs Lu (seines Vaterlandes) erreichen, d. h. das erste von ihm geschilderte Friedensstadium; und wenn das König­reich Lu einen Schritt vorwärts tut, wird es wahre Kultur er­zielen, d. h. das zweite Stadium.«

Li, oder die vernunftgemäße Sozialordnung

Der Konfuzianismus ist in China als >>Religion des Konfuzius« und als »Religion des ]u« bekannt, außerdem aber noch als die »Lehre des Li oder des Zeremoniells«. Der abendländische Leser wird sofort spüren, daß der Inhalt des Begriffes Li ein viel weiterer sein muß, als bloßes Zeremonienwesen, denn sonst wäre ja das ganze konfuzianische System nichts als Trug und Schein. Wir müssen uns ehrlich mit dieser Frage ausein­andersetzen, denn der Ausdruck »Zeremoniell und Musik« wird uns in den konfuzianischen Texten immer wieder begeg­nen; er bezeichnet offenbar das gesamte konfuzianische System der äußeren Sozialordnung, so wie der konfuzianische Begriff >>echtes Mannestum« das Wesen der konfuzianischen Lehre über das persönliche Verhalten umfaßt. Die Bedeutung und der ge­naue Sinn des Ausdruckes »Zeremoniell und Musik« wird in den Drei Wechselreden des Konfuzius (Kapitel VI) noch ge­nauer erklärt werden. Hier genüge der Hinweis, daß die von Konfuzius selbst gegebenen Definitionen der Regierungs­tätigkeit und des Li sich genau decken. Die Regierungs­tätigkeit wird da als das »in Ordnung bringen von Menschen ~tder Dingen« definiert, die Definition des Li lautet ebenfalls >>Die Ordnung der Dinge« (Liki, 28). Das chinesische Wort Li läßt sich daher durch kein europäisches Wort genau wieder­geben. Am einen Ende bedeutet es »Zeremoniell, Schicklich­keit«; im gewöhnlichen Gebrauch bedeutet es einfach »An­stand«; und im höchsten philosophischen Sinne bezeichnet es einen Idealzustand, in welchem alles auf seinem gehörigen Platz steht, und insbesondere eine aufgeklärte Feudalordnung, eben jene Ordnung, welche, wie ich bereits erklärt habe, zur Zeit des

16

Page 19: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Konfuzius am Zusammenbrechen war. Im Sinne der philoso­phischen Wortbedeutung trachtete Konfuzius danach, eine auf Menschenliebe und Ehrfurcht vor der Obrigkeit begründete Sozialordnung wiederherzustellen, deren äußere Symbole die Gemeinschaftsbräuche der öffentlichen Religionsübung mit ihrem feierlichen Zeremoniell und ihrer Musik sein sollten. Natürlich gehen alle diese Zeremonien eigentlich auf primitive religiöse Bräuche zurück; diese sogenannte »Li-Lehre« war in Wirklichkeit eine halbreligiöse Lehre, indem sie sich einerseits durch das vom Kaiser darzubringende Himmelsopfer auf Gott bezog und anderseits, durch die Vorschriften der Nächstenliebe, der Zucht und der Ehrfurcht vor der Autorität im häuslichen Leben, auf das Volk ausgerichtet war. Es gab damals verschie­dene religiöse Opfer an den Himmel oder Gott, an die Ahnen der Herrscher, an die Erd-, Berg- und Flußgeister. Konfuzius, so wird wiederholt in den »Sprüchen« und im Liki berichtet, sagte, er kenne die Bedeutung dieser unter den Namen Tschiao und Thi bekannten besonderen Opfer für Gott und die kaiser­lichen Ahnen nicht, wenn er sie aber kennen würde, wäre es ihm ein leichtes, die Welt zu regieren. In dieser Hinsicht ähnelt das konfuzianische Lehrgebäude am ehesten den Lehren des Moses, und Konfuzius läßt sich in der Spannweite seiner Lehre eher mit Moses vergleichen als mit den Philosophen. Denn das Li des Konfuzius umfaßt, ebenso wie das mosaische Gesetz, sowohl religiöse als auch bürgerliche Vorschriften und betrachtet beide als wesentliche Bestandteile eines ein­zigen Ganzen. Schließlich war auch Konfuzius ein Kind seiner Zeit und lebte in einem Zeitalter, das Comte das »religiöse« nennt.

Wenn Konfuzius Christ gewesen wäre, wäre er vermutlich Katholik oder Anglikaner gewesen. Er liebte die Liturgie, und zwar keineswegs als bloßes Ritual; sein tiefer Sinn für Psycho­logie ließ ihn erkennen, daß eine rechte Liturgie beim Gläubi­gen eine ehrfurchtsvolle, gottesfürchtige Seelenhaltung hervor­ruft. Er war ferner konservativ wie alle Katholiken und Anglikaner und glaubte an Tradition und Kontinuität mit der Vergangenheit. Persönlich war er kunstsinnig und daher emp­fänglich für Riten und Musik, wie die »Sprüche« vielfach be­weisen (siehe Kapitel V, 2. Abschnitt, »Konfuzius als Gefühls­mensch und Künstler«). Und gleichwie die Verehrung Gottes und der Herrscherahnen einen Zustand echter Frömmigkeit herbeiführen sollte, so sollte auch die Begehung der zeremoniel­len Trinkgelage und Schützenfeste in den Dörfern mit ihren Chorgesängen, Reigentänzen und Verneigungen, welche die Dorfleute veranlassen sollten, bei ihren Festen auf Lebensform 21154 I7

Page 20: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

und Ordnung zu sehen, dem niederen Volk den Sinn für. Ord­nung, Sitte und Höflichkeit beibringen.

Psychologisch haben daher Zeremoniell und Musik die glei­chen Funktionen. Der Konfuzianismus gab dem Zeremoniell und der Musik und dem Tanz gleichsam eine philosophische, ja sogar poetische Bedeutung. Das hat nichts überraschendes, wenn man bedenkt, daß Konfuzius selbst hochmusikalisch war, im Alter von neunundzwanzig Jahren von einem Musikmei­ster das Spiel mehrerer Instrumente lernte und beständig, so­gar wenn ihn Sorgen bedrückten, sang und das Thschin (ein Saiteninstrument) schlug. Es wird ausdrücklich berichtet, daß es zu des Konfuzius Zeiten folgende sechs Studienfächer gab: Zeremoniell, Musik, Bogenschießen, Wagenlenken, Sd1reiben und Rechnen. Konfuzius selbst gab im Alter von vierundsech­zig Jahren das Liederbuch heraus, und bei dieser Arbeit sollen die verschiedenen Lieder zunächst nach der Melodie geordnet und eingeteilt worden sein. Auch wird berichtet, daß die eigene SdJ.Ule des Konfuzius stets von Sang und Musik widerhallte; und als Tsekung die Verwaltung einer Stadt übernahm, begann er damit, die Leute singen zu lehren, was dem Konfuzius ein Lächeln und einen Scherz entlockte (Kapitel V, 3· Abschnitt). Die philosophische Bedeutung des Zeremoniells und der Musik wird in Kapitel VIII ausführlich dargestellt. Der Kern dieser Lehre lautet: »wenn man den Tanz eines Volkes sieht, erkennt man sein Wesen«; »Musik kommt aus dem Herzen, Zeremoniell von außen«; »Musik ist Freude-etwas, das sich im Menschenherzen weder verdrängen noch ersetzen läßt«; »die verschiedenen Ar­ten der Musik in den verschiedenen Ländern sind ein Zeichen der verschiedenen Sitten der Völker«; »Musik bringt die Ge­meinde in Einklang, während das Zeremoniell den Standes­unterschied betont; Musik stellt den Himmel oder das Abstrakte dar, Zeremoniell die Erde oder das Konkrete«; endlich: »dar­um führten die alten Könige Zeremoniell und Musik ein: nicht bloß um die Bedürfnisse des Ohres, des Auges, des Mundes und d~s Bauches zu befriedigen, sondern um, das Volk zu lehren, den richtigen Geschmack, bzw. die rechten Neigungen und Ab­neigungen zu haben, und so die Menschenordnung ins Rechte zu bringen«.

Natürlich verkörperte das ganze Li-System zugleich auch den konkreten Plan einer Gesellschafl:sschichtung, die viel Ge­lehrsamkeit über liturgische Regeln und Vorschriften für die religiösen Zeremonien, die Trink- und Schützenfeste, das Be­nehmen der Männer, Frauen und Kinder und die Sorge für die Alten erforderte. Dieser Zweig des konfuzianischen Geschichts­wissens wurde vorzüglim von Hsuntse gepflegt, einem großen

r8

Page 21: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Philosophen, dessen Werke bis auf uns gekommen sind und der ein Zeitgenosse und Gegenspieler des Mencius war; ihre philo­sophische Bedeutung wird auch im Liki (siehe Drei konfuzia­nische Wechselreden, Kapitel VI), das meist die Auslegungen Hsuntses widerspiegelt, genau dargestellt.

Ein solches Verständnis der Bedeutung des Li wird uns auch helfen, eine verwandte Forderung der konfuzianischen Lehre zu begreifen, nämlich die Wichtigkeit der richtigen Termino­logie, d. h. daß alles beim richtigen Namen genannt werde. Als Konfuzius die Thschuthschiu oder »Frühlings- und Herbst­Annalen« genannte Chronik seiner Zeit und der beiden vor­hergehenden Jahrhunderte schrieb, war sein Hauptanliegen, die Sozialordnung durch scharfe Unterscheidung in der Termi­nologie wiederherzustellen. Ein Herrscher, der einen aufrühre­rischen General tötete, wurde etwa als scha bezeichnet, wäh­rend ein Fürst oder Minister, der seinen Herrscher umbrachte, schih hieß. Als der Edle von Wu den Königstitel annahm, schrieb Konfuzius weiter »Edler von Wu« und vermeinte ihn durch Verwendung dieses Wortes in seiner Chronik erniedrigt zu haben.

Humanismus

Die feinste philosophische Leistung des Konfuzius, so will mir scheinen, ist seine Erkenntnis, daß »des Menschen Maß der Mensch ist«. Ohne diese Erkenntnis müßte das gesamte System der konfuzianischen Ethik zusammenbrechen und sofort seinen praktischen Wert verlieren. Die ganze Philosophie des Zere­moniells und der Musik bezweckt ja nichts anderes als »das menschliche Herz ins Rechte zu setzen«, und für Konfuzius liegt das Reich Gottes tatsächlich im Menschen. Die Aufgabe eines jeden, der sein eigenes Leben verbessern will, besteht da­her lediglich darin, nach dem Besten in seiner. Menschennatur zu suchen und unbeirrt daran festzuhalten. Darin besteht das Wesen konfuzianischer Ethik. Das Ergebnis ist dann die Gol­dene Regel, die in Kap. III, »Einklang der Mitte«, am besten erklärt wird. Natürlich gehört zu diesem Humanismus wesent­lich auch der hohe, edle Begriff des Jen oder der »echten Mensch­lichkeit«, von der Konfuzius zwar unaufhörlich sprach, die er aber als Eigenschaft niemandem zuerkennen wollte als zweien seiner Jünger und drei großen Gestalten der Geschichte. Kon­fuzius zeigte sich stets abgeneigt, seine Auffassung vom »ech­ten Menschen« festzulegen, und .als er gefragt wurde, ob dieser oder jener gute Mensch auch ein »echter Mensch« sei, weigerte er sich in neun Fällen von zehn, diese Bezeichnung auf einen

Page 22: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Lebenden anzuwenden. Aber wie im Kapitel über »Einklang der Mitte« klargemacht wird, wies Konfuzius auch darauf hin, daß, wer hoch emporsteigen will, niedrig beginnen und, wer weit gehen will, mit dem ersten Schritt anfangen muß; einmal sagte er sogar: >>Ein guter Sohn und Bruder sein ist bereits die Grundlage zum echten Menschentum.«

Dieser Begriff Jen (echtes Menschentum) ist ebenso schwer zu übersetzen wie der Begriff Li. In der chinesischen Bilder­schrift besteht das Schriftzeichen aus den Elementen »Mensch« und »Zwei«, was die Beziehung zwischen Menschen zum Ausdruck bringt. In der heutigen Aussprache ist es mit dem Wort »Mensch« identisch, aber im Altchinesischen wurde e§ so ausgesprochen wie das Wort »Mensch« in einem bestimmten Satze, den ein Kommentator aus der Han-Zeit anführt, dessen Aussprache aber heute nicht mehr feststellbar ist. An manchen Stellen der konfuzianischen Bücher wird das Zeid1en für »ech­tes Menschentum« genau so verwendet wie das Zeichen für >>Mensch«; das deutlichste Beispiel dafür kommt in den »Sprü­chen« vor, als ein Jünger von einem »Menschen, der in ·einen Brunnen fällt« spricht; hier wird das Wort »Mensch« mit dem Zeichen für »echtes Menschentum« geschrieben, einem Zeichen, das sonst meist »Güte« oder >>Wohlwollen« bedeutet. Auch im Deutschen gibt es ja solche Wörter, wie human, Huma­nität, Menschentum, menschlich, Menschlichkeit, wobei die beiden letzteren Wörter doppelsinnig sind und sowohl »den Menschen betreffend« bedeuten können als auch »gütig« bzw. »Güte«. - Sowohl Konfuzius wie Mencius haben einmal »ech­tes Menschentum« als »Menschenliebe« definiert. Die Sache ist aber doch nicht ganz so einfach. Erstens, wie ich bereits er­wähnt habe, lehnte Konfuzius es ab, ein konkretes Beispiel für einen echten Menschen anzuführen, während er sich sicherlich nicht geweigert hätte, ein Beispiel eines bloß »gütigen Men­schen« anzugeben. Zweitens wird dieses »echte Menschentum« häufig als ein Geisteszustand bezeichnet, ein Zustand, nach dem man »Strebt«, den man »erlangt«, in dem man »befriedet« ist, von dem man >>abweicht«, auf den man »gegründet« ist, und in dem man >>wohnt« (Mencius) wie in einem Hause.

Der Grundgedanke des Jen ist daher derlnbegriff von jenem Zustand, in dem der Mensch wirklich er selbst ist; und auf die­sen Begriff gründet Mencius sein gesamtes System über das Wesen der menschlichen Natur; er findet, daß »der Mensch gut« sei, während Hsuntse, meinend, die menschliche Natur sei böse, das andere Ende der konfuzianischen Lehre über Erzie­hung und Musik, das System einer Gesellschaftsordnung sowie die äußeren Formen des moralischen Verhaltens aufgreift und

20

Page 23: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

vornehmlich den Begriff des Li entwickelt, der den Nachdruck auf Zucht und Selbstbeherrschung legt. Auch im deutschen Sprachgebrauch bezeichnen wir manchmal jemanden als einen »ganzen Mann«, einen »echten Menschen<<, und dieser Begriff kommt wohl dem konfuzianischen Jen-Begriff am nächsten. Einerseits fangen wir an zu begreifen, warum Konfuzius sich weigerte, so vielen vortrefflichen Zeitgenossen diese Eigen­schaft zuzuerkennen, so wie wir auch heute nur wenige als »ganzen Mann« im idealsten Sinne bezeichnen würden. Frei­lich sehen wir auch, daß der Versuch, ein ganzer Mann zu werden, gar nicht so schwierig ist - jedermann kann ein »ech­ter Mensch« werden, wenn er sein Herz auf dem rechten Fleck bewahrt und eine gewisse Geringschätzung für die Künst­lichkeit unserer Zivilisation bekundet- also kann jeder Mensch, wenn er nur will, ein »echter Mensch« werden. Das paßt ganz genau zur Aussage des Konfuzius und des Mencius, man brauche, um ein echter Mensch zu sein, bloß damit anzufangen, daß man ein guter Sohn, eine gute Tochter, ein guter Bruder, eine gute Schwester oder ein guter Staatsbürger ist. Ich halte daher meine Übersetzung des Wortes Jen- »echtes Menschen­tum«- für durchaus entsprechend. An manchen Stellen wird es freilich einfach mit »Güte« wiedergegeben werden müssen, so wie auch das Wort »Li« manchmal bloß mit »Zeremoniell«, »Ritus«, »Anstand« oder »Manieren<< übersetzt werden muß.

Mencius nahm schließlich den Standpunkt ein, daß alle Men­schen in der Güte ihres Herzens gleich gesd1affen seien und daß »alle Menschen so sein könnten wie die Kaiser Y ao und Schun « (die konfuzianischen Tugendmuster). Diese mensd1liche Auf­fassung von der Möglichkeit, aus der Niederung in die Höhe zu steigen, vom Nahen zum Fernen zu schreiten, und beim Streben nach Tugend und Selbstbildung mit dem Leichteren anzufangen, erklärt die große Anziehungskraft, die der Konfu­zianismus auf das chinesische Volk ausgeübt hat, zum Unter­schied von der viel idealistischeren Lehre des Motse, der die »Vaterschaft Gottes« und die »allgemeine Liebe«, zwei dem Christentum nahe verwandte Begriffe, lehrte. Der humanisti­sche Gedanke, den Menschen am Menschen zu messen, zwingt einen nicht bloß, sein wahres Selbst zu entdecken, sondern mündet von selber in die chinesisch schu genannte Goldene Regel ein, die lautet, wie Konfuzius des öfteren sagte: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.« Konfuzius bezeichnete das nicht nur als die Definition des >>echten Menschentums<<, sondern sagte sogar, dies sei der Leit­faden seiner gesamten Lehre. Das Schriftzeichen für schu (das Gegenseitigkeit bedeutet) besteht aus den beiden Schriftele-

21

Page 24: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

menten »Herz« und »gleich«. Im heutigen Chinesisch bedeutet es meist »Vergebung«, aber der Bedeutungswandel ist leicht zu verstehen, wenn man bedenkt, daß alle Menschen unter gleichen Umständen ähnlich reagieren und man daher dem an­deren vergeben kann, wenn man sich in seine Lage hineindenkt. Der Konfuzianismus kehrt daher immer wieder zur persön­lichen Probe zurück, wie man sich in einer bestimmten Lage fühlen würde, d. h. »etwas in sich selbst finden«. Die beste Analogie, die in Kapitel III vorkommt, ist die des Zimmer­manns, der einen Axtgriff anfertigt - er braucht da nur den Griff seiner eigenen Axt zum Muster zu nehmen. Er braucht nicht in der Ferne zu suchen. Des Menschen Maß ist der Mensch.

Selbstbildung als Grundlage einer Weltordnung

Daß der Konfuzianismus die Probleme der Politik von der Ethik her zu lösen suchte, wurde bereits dargelegt. Konfuzius meinte, um es auf eine einfache Formel zu bringen, ein Volk von guten Söhnen und guten Brüdern könne nicht anders als eine ordentliche, friedliche Nation bilden. Konfuzius führte damit die Ordnung im Staate auf die Ordnung des Familien­lebens und die Ordnung des Familienlebens auf die Selbst­bildung des einzelnen zurück. Das läufl: etwa auf die Ansicht der modernen Pädagogen hinaus, daß eine Reform der heutigen chaotischen Welt letzten Endes von der Erziehung abhänge. Die logischen Zusammenhänge zwischen einer Weltordnung als dem Endziel und der Selbstbildung des einzelnen als notwen­digem ersten Schritt werden im Kapitel »Ethik und Politik« in Kapitel III, 6. Abschnitt, sowie in Kapitel VI des näheren be­handelt. Daraus wird dann auch die chinesische Vorliebe für moralische Sinnsprüche und Gemeinplätze verständlich; sie sind nämlich keineswegs zusammenhanglose Aphorismen, sondern Teile einer geschlossenen Staatsphilosophie.

Im Lichte moderner Psychologie läßt sich diese Lehre leicht auf zwei Theorien zurückführen: die Gewohnheits- und die Nachahmungstheorie. Der ganze Nachdruck auf der »Kindes­liebe« - ich übersetze dieses Wort lieber mit »ein guter Sohn sein«- ist psychologisch auf der Gewohnheitstheorie aufgebaut. Konfuzius und Mencius sagten wörtlich, daß, wer zu Hause die Gewohnheit der Liebe und Ehrfurcht erworben hat, gar nicht anders könne, als diese Seelenhaltung der Liebe und Ehr­furcht auch auf die Eltern und älteren Brüder anderer Men­schen sowie auf die Obrigkeit auszudehnen. Wie es im Kapitel IV heißt: »Wenn die einzelnen Familien .Güte gelernt haben, hat

12

Page 25: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

der ganze Staat Güte gelernt, und wenn die einzelnen Familien Höflichkeit gelernt haben, hat der Staat Höflichkeit gelernt.« Die Unterweisung an die Kinder, ihre Eltern und Brüder zu 'lieben und ihre Vorgesetzten zu ehren, legt den Grund zu jener richtigen sittlichen und seelischen Haltung, die es ihnen ermög-1icht, zu guten Staatsbürgern heranzuwachsen.

Die gebildete Oberschicht

Die Nachahmungstheorie oder die Macht des Beispiels führt :zur Lehre von der gebildeten Oberschicht und von der »Regie­rung durch Beispiel«. Die gebildete Oberschicht soll zugleich eine moralische Oberschicht sein, sonst fehlen ihr die Eigen­sdlaften, die sie zur Oberschicht machen. Das ist die bekannte Lehre vom konfuzianischen »Edlen« oder »hochstehenden«, »höheren« oder »fürstlichen« Menschen. Dieser fürstlime Mensch ist jedom keineswegs ein »Übermensch Nietzschescher Prägung«. Er ist nichts anderes als ein gütiger, edler Mensch mit sittlichen Grundsätzen, und dazu nom ein Mensch, der das Studium liebt, der selbst ruhig und völlig gelassen ist und ständig auf sein Verhalten achtet, da er meint, sein Beispiel übe einen großen Einfluß auf die Gesellschaft im allgemeinen aus. Er füllt seine Lebensstellung mit völliger Sicherheit und Ge­lassenheit aus und empfindet eine gewisse Verachtung für den bloßen Lebensgenuß. Alle Morallehren des Konfuzius sind eigentlich auf diesen gebildeten Herrentypus hingeordnet. Das chinesische Wort dafür, Tschuntse, war ein bereits gehräum­licher Ausdruck, der durch Konfuzius einen neuen Sinn erhielt. An manchen Stellen bedeutet er einfach >>Herrscher« und konnte sinngemäß nimt mit >>Edler« oder >>vornehmer Mensch« übersetzt werden. An anderen Stellen bedeutet er wohl bloß einen »kultivierten Herrn<<. Mit der Entstehung einer gebilde­ten Oberschicht flossen die beiden Bedeutungen zusammen und bildeten einen einzigen Begriff, der dem platonismen >>könig­limen Philosophen« sehr nahe kommt. Die Lehre von der Macht des Beispiels wird in Kapitel XII der »Sprüche« (siehe Kapitel V, 8. Abschnitt, dieses Buches) näher ausgeführt. Kon­fuzius hatte ein unbedingtes Vertrauen in die Macht des sitt­lichen Beispiels. Als ein habgieriger reicher Beamter namens Tschikhangtse zu Konfuzius sagte, er sei wegen des überhand­nehmens der Diebe und Räuber in seinem Lande besorgt, gab ihm Konfuzius die offenherzige Antwort: »Wenn ihr selbst .das Geld nimt liebt, könnt ihr das Geld den Dieben geben und sie werden es nicht nehmen.«

.23

Page 26: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

2. Kurze Charakteristik des Konfuzius

Das große Ansehen des Konfuzius und seiner Lehren in den unmittelbar auf seinen Tod folgenden Jahrhunderten sowie in den späteren Zeiten chinesischer Geschichte ist drei Faktoren zuzuschreiben: erstens der wesentlichen Übereinstimmung der konfuzianischen Lehre mit dem Denken des chinesischen Vol­kes; zweitens der ungeheuren historischen Bildung und Gelehr­samkeit, welche die Konfuzianer ansammelten und praktisch monopolisierten, im Gegensatz zu anderen Schulen, die auf historische Bildung keinen Wert legten (obwohl dieses Fach an sich ein großes Ansehen genoß); und drittens der Persönlichkeit des Meisters. Es hat auf der Welt manche große Meister ge­geben, die mehr durch ihre Persönlichkeit gewirkt haben als durch ihre Gelehrsamkeit. Wir denken da an Sokrates oder Franz von Assisi, die selbst keine bedeutenden Bücher schrie­ben, aber einen so ungeheuren Eindruck auf ihre Zeitgenossen machten, daß ihr Einfluß die Zeiten überdauert hat. Der per­sönliche Zauber des Konfuzius muß dem des Sokrates ganz ähnlich gewesen sein; schon daß dieser die Zuneigung und Hochachtung eines Plato gewann, ist Beweis genug für die Macht seiner Persönlichkeit und die Krafl seiner Gedanken. Zwar hat Konfuzius das Liederbuch herausgegeben und eine skizzenhafte Chronik geschrieben, die in den Frühlings- und Herbst-Annalen enthalten ist, aber die große Tradition seiner Lehre wurde dennoch erst von seinen Jüngern und späteren Anhängern aufgezeichnet.

Natürlich kommen viele Wesenszüge der Persönlichkeit des Konfuzius in den verschiedenen konfuzianischen Büchern zum Ausdruck. Wir bekommen davon einen Vorgeschmack am Ende des Kapitels III über den »Einklang der Mitte«. Auch sein Jünger Yen Huei lobte ihn ganz überschwenglich, indem er ihn mit einem großen geheimnisvollen Wesen verglich. »Man hebt das Haupt, um es anzusehen, und es scheint so hoch; man ver­sucht es zu durchdringen, und es scheint so hart; es scheint vor dir zu sein, und ist plötzlich hinter dir.« Zu den besten Schilde­rungen des Konfuzius gehören die folgenden: Es wurde von ihm gesagt, er sei »freundlich, aber würdevoll, streng, aber nicht schroff, höflich und völlig ungezwungen«. Die Selbst­schilderungen des Konfuzius sind noch besser. Einst befragte ein König einen seiner Jünger über ihn, aber dieser wußte keine Antwort. Als dieser Konfuzius von dem Vorfall erzählte, er­widerte dieser: »Warum hast du ihm nicht gesagt, daß ich ein Mensch bin, der das Essen vergißt, wenn er begeistert ist, und der nicht merkt, daß das Alter naht?« In dieser Schilderung

.24

Page 27: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

sehen wir etwas von seiner Lebensfreude, seiner Begeisterungs­fähigkeit und seinem ständigen Tatendrang. Er sagte auch öf­ters von sich, daß er kein »Heiliger« sei, gab aber zu, daß er unermüdlich im Lernen und im Lehren sei. Als Beispiel für diesen ständigen Tatendrang des Konfuzius wird auch die fol­gende Begebenheit berichtet: Einer seiner Jünger wollte in einer bestimmten Ortschaft übernachten, und der Torhüter fragte ihn, woher er sei. Tselu erwiderte, er komme von Konfuzius, worauf der Torwart bemerkte: »Ist das nicht der Kerl, der etwas tun will, selbst wenn er weiß, daß man es nicht tun kann?« Konfuzius hatte ein hohes sittliches Ideal, einen Sen­dungsglauben, der ihm volles Selbstvertrauen gab.

Der Zauber seines Wesens liegt eigentlich in seiner Leutselig­keit, die sich so recht in seinem Gesprächston mit seinen Jüngern zeigt. Viele in den »Sprüchen« enthaltenen Worte des Konfu­zius können nur als ungezwungene, manchmal scherzhafte Un­terhaltungen eines schalkhaften Lehrers mit seinen Schülern aufgefaßt werden. In diesem Lichte erscheinen manche seiner beiläufigsten Bemerkungen als seine besten. Ich liebe z. B. ganz beiläufige Aussprüche wie die folgenden: Eines Tages sagte er zu seinen Jüngern: »Glaubt ihr, daß ich irgend etwas vor euch verberge? Ich verberge euch nichts. Ich tue nichts, das ich nicht mit euch teile. So bin ich eben.« Ein anderes Beispiel: Tsekun~ liebte es, die Leute zu kritisieren, und Konfuzius sprach zu ihm, indem er ihn bei seinem Spitznamen rief: » Ah Sze, du bist wohl verflucht gescheit? Ich habe für derlei keine Zeit.« Ein anderes Beispiel: Konfuzius sprach: »Ich bin voller Bewunderung für einen Burschen, der den ganzen Tag mit vollem Bauch und leerem Geist herumläuft. Wie macht er das bloß? Er sollte lieber Schach spielen, das wäre wohl besser.« Einmal spottete Kon­fuzius über die Tätigkeit eines seiner Schüler, und dieser wun­derte sich. Da erklärte Konfuzius, er habe ihn bloß necken wollen, und gab damit zu verstehen, daß er es in Wirklichkeit billige. Denn Konfuzius war ein durchaus fröhlicher Mensch. Seine Freundlichkeit und Gastfreundschaft für alle, die von ihm lernen wollten, erhellt aus der folgenden Begebenheit, die an Jesu Ausspruch: »Lasset die Kleinen zu mir kommen« er­innert: Die Leute aus einem bestimmten Dorf waren Spitz­buben; eines Tages kamen einige Jünglinge aus diesem Dorf zu Konfuzius, und die Jünger wunderten sich, daß er sie emp­fing. Da bemerkte Konfuzius: >>Weshalb seid ihr so streng? Mich kümmert ja nur, wie sie zu mir kommen, und nicht, was sie tun, wenn sie wieder weggehen. Wenn einer mit reinen Ab­sichten kommt, achte ich seine reinen Absichten, obwohl ich nicht dafür einstehen kann, was er später anstellen wird.«

Page 28: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Aber Konfuzius war nicht bloß höflich und sanft - er war ja ein »echter Mensch«. Er konnte singen und ausgesucht höf­lich sein, er konnte aber auch hassen und mit dem ganzen Haß und der ganzen Verachttlng eines »echten Menschen« höhnen, so wie J esus über die Schriftgelehrten und Pharisäer höhnte. Es hat ja auf der Welt keinen großen Mann gegeben, der nicht manchmal gründlich zu hassen vermochte. Konfuzius konnte auch außerordentlich grob sein, und in den »Sprüchen« sind ein paar recht beißende Bemerkungen verzeichnet, die er in Gegenwart der Betroffenen machte. Er konnte in einer Weise unhöflich sein, wie es kein heutiger Konfuzianer wagen würde. Keine Menschengattung haßte er mehr als die hochehrsamen Heuchler, die er als >> Tugenddiebe« bezeichnete. Einmal wollte so einer ihn besuchen, aber Konfuzius ließ ihm sagen, er sei nicht zu Hause. Als Ju Pei jedoch noch vor seiner Tür stand, ergriff Konfuzius seine Laute und sang, damit er es höre und wisse, daß er doch zu Hause sei. Diese Stelle in den >>Sprüc:hen<< hat alle konfuzianisc:hen Kritiker in Verwirrung gebracht, weil sie von der Auffassung ausgingen, Konfuzius sei ein Heiliger gewesen und kein Mensch, und habe sich daher immer höflic:h betragen. Eine so orthodoxe Beurteilung hat Konfuzius natür­lich völlig entmensc:hlic:ht. Eine andere Stelle der >>Sprüche«, die von Mencius beric:htet wird, gab den Kritikern ebenfalls ein Rätsel auf: Ein korrupter Beamter namens Yang Ho wollte Konfuzius eine Schweinekeule zum Gesc:henk mac:hen. Da die beiden einander herzlich verabscheuten, erfragte Yang Ho, wann Konfuzius außer Hause sei, und gab dann die Sdlweine­keule in dessen Haus ab, um der Höflichkeit zu genügen. Kon­fuzius aber fand ebenfalls die Zeit heraus, wann Yang Ho außer Haus weilte, machte da seinen Dankbesuch und hinter­ließ seine Besuc:hskarte. Auf eine Frage seiner Jünger über die damaligen Herrscher bemerkte Konfuzius: »0 diese Reissäckel « (d. h. Menschen, die zu nic:hts zu gebrauchen sind, als sich mit Reis zu füllen). Ein anderesmal bemerkte er über einen Men­schen, der angeblich beim Tode seiner Mutter gesungen hatte: >>Als Kind warst du frech, als Erwac:hsener hast du nichts ge­leistet und jetzt in deinem Alter willst du nicht sterben. Du Dieb!« Und Konfuzius schlug ihn mit dem Stock aufs Schien­bein.

Konfuzius war sehr zu Späßen aufgelegt. Er führte ein er­fülltes, frohes, reiches Leben, voll Gefühl und Kunstfreuden. Denn er war sehr empfindsam und von äußerst feinem Ge­schmack. Beim Tode seines Lieblingsjüngers weinte er bitter­lich. Auf die Frage, warum er so weine und so tief erschüttert sei, erwiderte er: >>Wenn ich beim Tod eines solchen Menschen

26

Page 29: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

nicht weinte, für wen sonst sollte ich denn weinen?« Seine son­derbare Rühr- und Tränenseligkeit zeigte sich auch bei einem anderen Anlaß, als er zufällig an der Leichenfeier eines alten Bekannten vorbeikam. Er trat in das Trauerhaus ein und brach, vom Weinen der anderen bewegt, gleichfalls in Tränen aus. Als er heraustrat, bat er seine Jünger, einen Teil seiner auf seinem Pferd verstauten Habseligkeiten als Beileidsgeschenk herunter­zunehmen, und sagte: »Bringt es als mein Geschenk hinein. Ich kann doch nicht grundlos geweint haben.«

Dieser Konfuzius, welcher sang und mehrere Instrumente spielte (das Thschin, das seh und das hsuan) und ein Liederbuch mit Noten herausgab, war eben ein Künstler. Wie schon gesagt, liebte er Zeremoniell und Musik. Als Beispiel seiner Liebe zu äußeren Formen sei eine Begebenheit erwähnt, in der er sich ganz anders verhielt als Jesus, der bedeutend weniger Respekt vor dem Gesetz, den Propheten und dem damit verbundenen Formalismus zeigte. Jesus erlaubte, am Sabbat eine Kuh aus einer Grube herauszuziehen. Konfuzius hätte das vielleicht ge­billigt, vielleicht aber auch nicht. Denn als sein Jünger Tsekung einmal vorschlug, das Winteropfer von Lämmern abzuschaffen, erwiderte Konfuzius: »Ah Sze, du liebst das Lamm, aber ich liebe das Zeremoniell!« Jedenfalls interessierte er sich nicht für Tiere. Denn als er hörte, daß ein Stall abgebrannt sei, fragte er nur, ob Menschen verletzt worden seien, >>fragte aber nicht nach den Pferden«. Als der Künstler, der er war, meinte er, die Erziehung des Menschen müsse mit der Dichtkunst beginnen, müsse durch gesittetes Betragen gestärkt und »durch Musik« vollendet werden. Es wird auch berichtet, wenn er einen ande­ren singen hörte und der Gesang ihm gefiel, habe er den Sänger um eine Wiederholung gebeten und den Kehrreim mitgesungen. Als künstlerischer Mensch hielt er große Stücke auf Essen und Kleidung. Ich habe schon an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß seine Frau ihn wahrscheinlich aus dem Grunde verließ, weil er im Essen so überaus wählerisch war (Anmerkung: siehe »The Importance of Living«, S. 2.49). Er weigerte sich ent­schieden, etwas zu essen, was der Jahreszeit nicht entsprach, nicht ordentlich zubereitet oder nicht mit der entsprechenden Sauce serviert war. Er zeigte auch in der Farbenzusammen­stellung seiner Kleider viel Geschmack. Ein heutiger Mode­zeichner wird leicht verstehen, warum er einen schwarzen Lammpelz schwarz, einen weißen weiß und einen Fuchspelz gelb überziehen ließ. (Dieser Oberzug entspricht dem euro­päischen Futter, denn die Chinesen tragen den Pelz innen und die Seide außen.) Er war auch eine Art Modeerfinder. Sein Nachtgewand war um die Hälfte länger als er selbst, um seine

27

Page 30: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Füße warmzuhalten, und er hatte den köstlichen Gedanken, seinen rechten Ärmel kürzer machen zu lassen als den linken, um bequemer arbeiten zu können - eine Erfindung, die seine Frau erbost haben dürfte und mit ein Grund gewesen sein mag, weshalb sie diesen wunderlichen Mann verließ. (Siehe darüber Kapitel V, 2. Abschnitt, dieses Buches.) Seine aristokratischen Neigungen erstreckten sich sogar auf seine Ehescheidung. Drei Generationen, also der Meister selbst, sein Sohn und sein Enkel, waren geschieden oder von ihren Ehefrauen getrennt. Sogar in der geistigen Nachfolge kehrte die Scheidung durch drei und eine halbe Generation wieder (der Meister, sein großer Schüler Tseng-Tse und Tsengtses Schüler Tszesze) -der Vierte in der geistigen Nachfolge war dann Mencius (Tszeszes Schüler), der sich beinahe von seiner Gattin trennte. Somit waren alle diese Leute zwar keineswegs besonders reich, aber doch traditions­bewußte Aristokraten.

Eine der hervorstechendsten Eigenschaften des Konfuzius, die sein großes Ansehen begründete, war unzweifelhafl: seine Gelehrsamkeit und sein Lerneifer. Konfuzius spricht selbst wiederholt darüber. Er gab unumwunden zu, daß er nicht zu jenen gehöre, die »die Wahrheit von Geburt an besitzen«, sagte aber von sich, er sei ein unermüdlicher Leser und Lehrer, der unaufhörlich nach Erkenntnis und Wissen strebe. In jedem Dorf von auch nur zehn Familien gebe es gewiß rechtschaffene, ehrliche Leute, diegenauso viel taugten wie er, aber wohl nie­manden, der das Studium so liebe. Eines der Dinge, die ihn bekümmern würden, wäre die »Vernachlässigung seiner Stu­dien«. In einem seiner Aussprüche glaube ich sogar den resi­gnierten Seufzer eines modernen Forschers zu erkennen. In seinem Bestreben, die alten religiösen Zeremonien und Bräuche der Dynastien der Vergangenheit zu rekonstruieren, begab er sich in die Stadt Tschi, um nach alten Bräuchen aus der Hsia­Zeit zu suchen, und nach der Stadt Sung, um die noch erhalte­nen religiösen Zeremonien der uralten Schang-Dynastie zu er­forschen. »Ich wüßte gern über die religiösen Bräuche der Hsia­Dynastie Bescheid, aber es gibt in der Stadt Tschi keine ge­nügenden Unterlagen mehr. Ich wüßte gern über die religiösen Bräuche der Schang-Dynastie Bescheid, es gibt aber in der Stadt Sung nicht mehr genug Unterlagen. Es sind einfach nicht mehr genug Urkunden und Belege vorhanden. Wenn es sie gäbe, könnte ich sie an Hand der Unterlagen rekonstruieren.« Er war also eigentlich ein Geschichtsforscher, der versuchte, auf Grund noch bestehenden Brauchtums und auf Grund historischer Ur­kunden die alten, bereits in Verfall geratenen sozialen und religiösen Bräuche sowie die verschüttete Theokratie für die

28

Page 31: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Geschichte zu retten. Er tat dennoch sein möglichstes, und das Ergebnis seiner Bemühungen war die Sammlung der konfu­zianischen »Fünf Klassiker«, die (nach einem Ausspruch eines Gelehrten aus der Thsching-Zeit, Tschang Hsüeh-Thscheng) streng historisch sind, zum Unterschied von den Vier Büchern. Ich bin überzeugt, daß die Menschen nicht so sehr zu Konfuzius kamen, weil er der weiseste, sondern weil er der gelehrteste Mann seiner Zeit war, der einzige, der ihnen etwas über die alten Bücher und das Wissen des Altertums beibringen konnte. Er besaß einen großen Schatz historischen Wissens über die großen Regierungssysteme der alten Zeit und einen noch grö­ßeren Schatz historischer Kenntnis über die Bräuche und Zere­monien einer verfallenden oder bereits verfallenen Theokratie, vor allem aus der Schang-Zeit, wie wir aus den Fünf Klassikern erfahren. Konfuzius soll insgesamt fünftausend Schüler gehabt haben, von welchen zweiundsiebzig das Liederbuch, das Ge­schichtsbuch und die Theorie und Praxis der Zeremonien und der Musik beherrschten. Er glaubte an die Geschichte und die Bedeutung der Geschichte, weil er an die Kontinuität glaubte. Wie wir noch in dem Kapitel über den »Einklang der Mitte« (Kapitel III) sehen werden, betrachtete er folgende drei Dinge als wesentlich zur Regierung der Welt: Charakter, Machtstel­lung und die Lehre aus der Geschichte. Wo eines dieser drei fehle, könne niemand mit einem Regierungssystem - möge es auch noch so gut sein - Erfolg haben und >>Glauben finden«. Das praktische Ergebnis war, daß innerhalb der konfuziani­schen Schule ein großer Schatz historischer Gelehrsamkeit auf­ges.tapelt wurde, der den anderen Schulen völlig abging; und meinem persönlichen Dafürhalten nach ist der Sieg der konfu­zianischen Schule über die des Laotse und des Motse ebensosehr auf ihre hochangesehene Gelehrsamkeit zurückzuführen wie auf ihren inneren Wert. Die konfuzianischen Lehren vermoch­ten nämlich etwas ganz Bestimmtes zu lehren und die konfu­zianischen Schüler etwas ganz Bestimmtes zu lernen, nämlich historische Tatsachen, während die anderen Schulen bloß ihre eigenen Ansichten äußern konnten, sei es über die »allgemeine Liebe« oder über die »Liebe zum eigenen Selbst«.

Schließlich wäre noch einiges über den behaglichen Humor des Konfuzius zu sagen, als Unterlage und Illustration für seine echte, heitere Lebensfreude, die ich bereits erwähnt habe. Sie unterscheidet sich so grundlegend von dem üblichen Bild, das uns die sauertöpfischen Prinzipienreiter der Sung-Zeit von ihm überliefert haben, und hilft: uns am besten seine schlichte Größe begreifen. Konfuzius war zwar durchaus kein Witzbold, aber manchmal konnte· er sich ein Wortspiel doch

Page 32: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

nicht verkneifen, wie z. B.: >>Wenn einer nicht zu sich selbst sagt: Was tun? was tun?- weiß ich auch nicht was tun- näm­lich mit ihm«; oder: »Wissen, was man weiß, und wissen, daß man nicht weiß, was man nicht weiß- das ist Wissen« (wört­lich: Wissen wissen, Nichtwissennichtwissen- das ist Wissen); oder: »Wer weiß, daß er einen Fehler begangen hat, und ihn nicht verbessert, begeht einen neuen Fehler«. Manchmal zeigte er sogar ein wenig poetischen Humor, verbunden mit einer ge­wissen Schalkhaftigkeit. So gibt es im Liederbuch eine Stelle, in der eine Liebende klagt, daß sie sich zwar nach dem Gelieb­ten sehne, aber daß >>sein Haus so weit sei«. Ober diese Stelle bemerkte Konfuzius: »In Wirklichkeit sehnte sie sich gar nicht nach ihm, sonst wäre ihr sein Haus gar nicht so weit vorge­kommen.«

Aber der charakteristischste Humor, den wir bei Konfuzius finden, ist der beste, den es überhaupt gibt, nämlich das Lachen über sich selber. Er hatte ja reichlich Anlaß, über seine äuße­ren Mißerfolge zu lachen oder zuzugeben, daß die Kritik, die andere an ihm übten, durchaus berechtigt war. Manchmal war sein Humor nichts als eine beiläufige leichte Neckerei zwischen dem Meister und seinen Jüngern. Einmal bemerkte ein Dorf­bewohner: »Dieser Konfuzius ist wirklich ein großer Mann. Ober alles weiß er Bescheid und ist doch nirgends Fachmann.« Konfuzius sprach darauf zu seinen Jüngern: »Wo soll ich denn Fachmann sein? Etwa im Bogenschießen oder Wagenlenken?« (In diesem Zusammenhang sagte er einmal scherzend, wenn man allein durch Anstrengung reich werden könnte, so würde er es versuchen, selbst wenn er dazu Lohnkutscher werden müßte.) Als er in seiner politischen Laufbahn scheiterte, be­merkte Tsekung einmal: »Hier ist ein Stück kostbare Jade, es wird in einem Kästchen aufbewahrt und wartet auf einen guten Kaufpreis.« Da erwiderte Konfuzius: »Ja, der Kauf­preis, der Kaufpreis ... Ich bin es ja, der auf einen guten Kauf­preis wartet!« Kritiker und Kommentatoren, die bei Konfuzius den Humor nicht sehen wollen, geraten bei der Auslegung sol­cher und ähnlicher Stellen ofl: in lächerliche Schwierigkeiten. In Wirklichkeit aber scherzten der Meister und seine Jünger unaufhörlich miteinander. Konfuzius geriet auf einer Reise einmal in Not. Er wurde für einen anderen Mann gehalten, der das Volk gequält hatte, und daher von Soldaten umstellt. Schließlich entkam er, aber sein Lieblingsjünger Yen Huei er­schien erst nach geraumer Zeit, so daß Konfuzius ihm sagte: »Ich glaubte, sie hätten dich umgebracht.« Yen erwiderte: ,.Wie dürfte ich mich umbringen lassen, solange Ihr noch lebt!« In einer anderen Erzählung wird berichtet, wie der Meister und

30

Page 33: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

seine Schüler einander aus den Augen verloren hatten. Schließ­lich hörten die Jünger von den Leuten, beim Osttore stünde ein hochgewachsener Mann mit hoher Stirn, der den Kaisern der Frühzeit ähnele, aber betrübt aussehe wie ein verirrter, streu­nender Hund. Die Jünger fanden ihn am Ende wieder und wiederholten ihm die Bemerkung. Konfuzius erwiderte: »Üb ich den Kaisern des Altertums ähnlich sehe, weiß ich nicht, aber mit meiner Khnlichkeit mit einem verirrten, streunenden Hund hat er vollkommen recht. Da hat er vollkommen nicht!« Das ist wohl die beste Art Humor, und mich beeindruckt am tief­sten eine Stelle aus dem Leben des Konfuzius (Kapitel II, 5. Abschnitt), in der Konfuzius im Regen steht und singt. Wie rührend ist doch diese Schar fahrender Scholaren, die drei Jahre in der Wildnis zwischen Thschen und Thsai umherziehen, nach­dem sie gerade einer großen Gefahr entronnen sind, mit nichts als ihrer ungeheuren Gelehrsamkeit und ohne einen Ort, wohin sie sich wenden könnten! Diese letzten Wanderjahre waren ein Wendepunkt im Leben des Konfuzius, wonach er sich einge­stehen mußte, daß seine politischen Hoffnungen gescheitert waren, und er in die Heimat zurückkehrte, um sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Er verglich sich da mit einem Rudel unbestimmbarer Tiere, »weder Büffel noch Tiger«, die in der Wildnis umherschweifen, und begann seine Jünger zu befragen, was eigentlich an ihm nicht in Ordnung sei. Nach ihrer dritten Antwort stimmte er ihnen zu und sprach zum Jünger, der ihm diese kluge Antwort gegeben hatte: »Stimmt das wirklich? Oh, Sohn des Yen, wenn du nur reich genug wärest, würde ich gern dein Diener werden!« Diese Stelle hat mich ganz für Konfuzius gewonnen. Sie ist beinahe so schön und rührend wie Gethse­mane, hat aber einen heiteren Ausklang.

3· Quellen und Plan dieses Buches

Ich habe bereits festgestellt, daß die konfuzianische Schule das damalige historische Wissen eigentlich allein beherrschte, ein­sdJ.ließlich der Fertigkeit, die bereits archaische Schrift zu lesen; und dieses gesamte historisdJ.e Wissen wurde, dann als die kon­fuzianischen Fünf Klassiker weitergegeben. Im Jahre 213

v. Chr. ereignete sich die große »Bücherverbrennung« (mit Ausnahme der medizinisdJ.en, der astrologischen und der Gar­tenbaubüdter), und im folgenden Jahre, 212 v. Chr., wurden 460 konfuzianische Gelehrte lebendig begraben, weil sie sich über Kaiser Thschin SdJ.ih-huang, den Erbauer der Großen Mauer, abfällig geäußert hatten. Nun fügte es sich aber, daß

JI

Page 34: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

DIE KANONISCHEN SCHRIFTEN

FÜNF KLASSIKER

LIEDERBUCH (Schiking)

GESCHICHTSBUCH (Schuking)

BucH DER WANDLUNGEN (Yiking)

FRÜHLING UND HERBST (Thschun Thschin)

ZEREMONIENBUCH (Liki)

VIERBÜCHER

ETHIK UND PoLITIK* (Tahsueh)

EINKLANG DER MITTE'~ (Tschungyung)

SPRÜCHE (Lunyu)

MENCIUS

* Kapitel aus dem Liki.

32

DREIZEHN KLASSIKER

LIEDERBUCH Mao *• Tschi #, Han *

und Lu * Lesarten

GESCHICHTSBUCH 33 Kapitel * und * 28 Kapitel *

BucH DER WANDLUNGEN Pi *, Schih * und Meng * Liang * und Tsching * Lesarten

Frühling und Herbst TscHo*, KuNGYANG * und KuLiANG # Erweiterungen

TscHouu *• YILI (Liking)

LIKI Große Tai-Sammlung: 85 Kapitel # Kleine Tai-Sammlung *, gewöhnlich als Liki bezeichnet

SPRÜCHE

MENCIUS

BucH DER KINDESLIEBE (Hsiaoling)

THESAURUS (Erhya)

Page 35: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

DER CHINESEN

Dreihundert Lieder und Sakralgesänge, dazu noch sechs weitere mit Noten ohne Text. Herausgegeben von Konfuzius.

Besteht aus frühen historischen Urkunden, besonders Königsprokla­mationen. Die ältesten chinesischen Urkunden, geschrieben im alter­tümlichsten Stil aller klassischen Bücher.

Die Philosophie von den Wandlungen menschlicher Begebnisse. Ur­sprünglich ein Wahrsagesystem- beruhend auf der wechselnden An­ordnung von Linien auf einem Achteck (ähnlich den wechselnden Kombinationen von Punkten und Strichen beim Morsealphabet) -, das aber später zu einem umfassenden System menschlichen Verhal­tens in allen Lebenslagen ausgestaltet wurde.

Dieses klassische Buch, eine Chronik lediglich von zwei Jahrhunder­ten (722-481 v. Chr.), wurde von Konfuzius verfaßt, um die richtige Terminologie wiederherzustellen. Die drei Erweiterungen (Tschuan) schildern die Ereignisse in allen Einzelheiten oder erklären die Be­deutung der konfuzianischen Texte.

Angeblich eine Darstellung des Regierungssystems der frühen Tschou­Dynastie. Verschiedene Riten und Zeremonien.

Eine uneinheitliche Sammlung verschiedener >alter Schriften<, tejls den Sprüchen ähnlich, teils Aussprüche der Jünger des Konfuzius, teils Erläuterungen zum Yili. Stellen die Oberlieferung der konfu­zianischen Schule dar.

Die besten Aussprüche des Konfuzius, ausgewählt von seinen Jün­gern, oft aus dem Zusammenhang gerissen. >Zitatenschatz<.

Sieben Bücher, wahrscheinlich von Mencius selbst verfaßt.

Spätere Abhandlung eines Gelehrten der Han-Zeit.

Das früheste chinesische Reallexikon; geordnet nach Ideen. Ein Be­helf beim Studium der alten Klassiker.

3(154 33

Page 36: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

die für >>Zehntausend Generationen« gegründete Herrschaft dieser Dynastie bereits fünf Jahre nach dem Massenmord zu­sammenbrach, so daß viele alte konfuzianische Gelehrte, wel­che die Klassiker auswendig wußtel), den Zusammenbruch überlebten. Diese alten Gelehrten bewahrten also die konfu­zianischen Klassiker durch mündliche Oberlieferung und durch ihr bloßes Gedächtnis, wobei ihnen aber, wie ich vermute, doch wohl einige beschriebene Bambustäfelchen, die sie zu verbergen gewußt hatten, mithalfen. Diese Männer unterrichteten dann ihre Jünger und ließen die Klassiker in der sogenannten »neuen Schrift<< niederschreiben, denn die chinesische Schrift hatte unter der Regierung dieses großen Kaisers eine bedeutende Verein­fachung erfahren. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte ka­men aber noch mit der alten Schrift beschriebene Bambustäfel­chen zutage, welche versteckt gewesen waren und so der Ver­nichtung entgingen. Das wichtigste Ereignis war die Entdeckung alter Urkunden durch einen »König von Lu«, der die Mauern von Konfuzius' eigenem Hause und Tempel öffnen ließ und dort die Schriften wohlerhalten vorfand. Da sie in der alten Schrift abgefaßt waren, machten sich die Gelehrten alsbald ans Entziffern, eine damals schwierige, aber keineswegs unmög­liche Aufgabe. Auf diese Weise entstand eine besondere, die sogenannte »Altschrift«-Tradition, die zum Teil von der vor­hin erwähnten »Neuschrift«-Tradition verschieden war, insbe­sondere, soweit sie sich auf die alten Gesellschaftsformen und Regierungssysteme sowie die Geschichte der mythischen Herr­scherpersönlichkeiten bezog. Diese beiden Traditionen existier­ten bereits zur Zeit der Han-Dynastie nebeneinander; und der bedeutendste Kommentator, Tscheng Hsuan, versuchte z. B., sie miteinander in Einklang zu bringen. Schließlich kam es zu einer Kompromißlösung. Während der folgenden Dynastien war der anerkannte Wortlaut und die anerkannte Auslegung des Lie­derbuchs und der Frühlings- und Herbst-Annalen auf die »Altschrift«-Tradition gegründet, während das Liki, das als einer der »Fünf Klassiker<< betrachtet wurde, entschieden zur Tradition der »Neuschrift« gehörte. Die Unterscheidung zwi­schen den beiden Traditionen wurde erst scharf gezogen, als die Gelehrten derThsching-Zeit im siebzehnten, achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert mit ihrer vergleichenden Textkritik darangingen, die Tradition der »Neuschrift« wiederherzustel­len. Alle vorhandenen Beweismittel und alle Methoden histori­scher Kri.tik und sprachwissenschaftlicher Forschung kamen zur Anwendung. Die wichtigste Leistung dabei war der schlüssige Nachweis, daß fünfundzwanzig von den achtundfünfzig vor­handenen Kapiteln des Geschichtsbuches Fälschungen waren,

34

Page 37: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

wodurch dieses Werk als eine aus dreiunddreißig Kapiteln be­stehende Sammlung wiederhergestellt wurde, auf welche sich schließlich die Tradition der »Neuschrift« gründete. Das allge­meine Ergebnis ist nun aber nicht etwa, daß die »Altschrift« selbst eine Fälschung gewesen sei, sondern bloß, daß unsere Les­art der sogenannten »Altschriften« gefälscht war.

Der Ausdruck »Konfuzianische Klassiker« bezieht sich heute gewöhnlich auf die »Fünf Klassiker« und die »Vier Bücher«. Die »Fünf Klassiker« stellen, wie bereits erwähnt, den gesam­ten von Konfuzius selber herausgegebenen Schatz an histori­schem Wissen dar, während die »Vier Bücher« meist aus den Werken seiner Nachfolger, den von ihnen aufgezeichneten Aus­sprüchen des Konfuzius und ihren Auslegungen und Weiter­führungen seiner Gedanken bestehen. Manchmal spricht man auch von »Dreizehn Klassikern«. Der Inhalt dieser verschiede­nen Sammlungen erhellt aus de~ Tabellen auf Seite 32 und 33· Es muß aber daran erinnert werden, daß es zur Zeit des Kon­fuzius sechs, nicht fünf Klassiker gab: das sechste Werk war das Buch der Musik, dessen noch vorhandene Teile heute als ein Kapitel des Liki (Kapitel VIII unseres Buches) erhalten sind. Die vergleichenden Tabellen auf Seite 32 und 33 zeigen auch die Quellen an: *bezeichnet die »Altschrift«- (Ku-wen-) Tradi­tion,# bezeichnet die >>Neuschrift«- (Schin-wen-) Tradition.

Wenn man, wie üblich, das Studium der konfuzianischen Weisheit mit dem Lesen der »Sprüche« beginnt, dann begeht man einen Fehler, weil man daraus nichts lernt. Die »Sprüche« sind nämlich bloß eine ungeordnete und unbearbeitete Samm­

.lung von Worten des Konfuzius und häufig aus ihrem Zusam­menhang, d. h. aus längeren, anderswo verzeichneten Unter­redungen gerissen, die den Sinn erst verständlich machen. Auch gibt es Überschneidungen und Doppelzitate in den zwanzig Kapiteln, was beweist, daß das Werk in verschiedenen Händen selbständig gewachsen ist und nicht etwa von einem einzigen Herausgeber ediert wurde. Manche offenbar von Jüngern Tsengtses verfaßte Kapitel enthalten mehr Aussprüche des Tsengtse als des Konfuzius. Die verschiedenen Aussprüche in den einzelnen Kapiteln sind nicht nach dem Gedankeninhalt geordnet; bisweilen läßt sich eine Art Gedankenfolge ent­decken, aber meist ist das nicht der Fall. Am Ende man­cher Kapitel finden sich spätere Einschübe, und manche Text­stellen, z. B. am Ende des VIII. Kapitels, sind offenbar unvoll­ständig.

Die größte Schwierigkeit für einen abendländischen Leser, der mit den >>Sprüchen« in die konfuzianische Gedankenwelt eindringen will, liegt jedoch in der westliche!-1 Art des Lesens.

3* 35

Page 38: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Der Abendländer verlangt eine zusammenhängende Darstel­lung und begnügt sich damit, zuzuhören, während der Autor unablässig zu ihm sprechen soll. Er denkt gar nicht daran, etwa eine Zeile eines Buches vorzunehmen und ein paar Tage über sie nachzusinnen, sie sozusagen geistig zu zerkauen und zu ver­dauen und sie an seinen eigenen Gedanken und Erfahrungen zu messen. In Wirklichkeit müßte man, wenn man die »Sprüche« überhaupt lesen will, die verschiedenen Aphorismen auf die Blätter eines Abreißkalenders schreiben und den Leser veran­lassen, täglich nicht mehr als einen Ausspruch gründlich zu überdenken. Das ist die klassische Methode des Studiums der »Sprüche<<; d. h. also nur eine oder zwei Zeilen vorzunehmen und sich deren Gedankeninhalt mit allen Folgerungen und Weiterungen gründlich anzueignen. Das kann man natürlich einem heutigen Leser nicht mehr zumuten. Außerdem läßt sich bloß aus den »Sprüchen« allein gar kein abgerundetes, ge­schlossenes Bild von der Entwicklung des konfuzianischen Den-kens gewinnen. ·

Aus diesem Grunde war ich genötigt, aus den klassischen Büchern des Konfuzius und aus den »Vier Büchern« jene Kapi­tel auszuwählen, die zusammenhängende Abhandlungen über einzelne Themen enthalten. Es gibt nämlich auch im Liki zu­sammenhängende Unterredungen des Konfuzius, für die unser Kapitel VI ein gutes Beispiel ist. In den.Kapiteln III und IV, »Einklang der Mitte<< und »Ethik und Politik«, finden wir ebenfalls zusammenhängende Abhandlungen. Von den neun Kapiteln konfuzianischer Texte (d. h. mit Ausnahme von Szema Thschiens Leben des Konfuzius), die ich für dieses Buch ausgewählt habe, stammen sieben aus dem Liki, während die übrigen zwei Kapitel aus einer Mencius-Auswahl sowie einer Sammlung von »Aphorismen des Konfuzius« bestehen, das sind ausgewählte und geordnete Zitate aus den »Sprüchen« mit einer kleinen Auswahl aus anderen Kapiteln des Liki. Neben fünf neuen Kapiteln aus dem Liki behandeln vier Kapitel (III, IV, V, XI) den gleichen Stoff wie die Vier Bücher, welche von den chinesischen Kindern in der Volksschule gelernt wer­den mußten. Diese Auswahl entspricht somit der Tradition. Zwei der Vier Bücher, >>Einklang der Mitte« und »Ethik und Politik«, stammen ohnehin aus dem Liki und wurden erst von Tschu Msi (IIJ0-12oo), einem Gelehrten der Sung-Zeit, zu­gleich mit den »Sprüchen« und dem »Buch des Mencius« zu einem Bestandteil der Vier Bücher erhoben. Es besteht daher kein Grund, weshalb nicht auch die anderen Kapitel aus dem Liki das gleiche Ansehen genießen sollten wie die von Tschu Hsi ausgewählten Teile.

j6

Page 39: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Es bleibt noch die allgemeine Frage nach der Echtheit und Wörtlichkeit der im Liki und ·in den »Sprüchen« enthaltenen Aufzeichnungen der Worte des Konfuzius. Es ist die immer wieder gestellte Frage, was denn Konfuzius oder Buddha oder Sokrates wirklich gesagt haben und inwieweit wir z. B. glau­ben dürfen, daß Platos Aufzeichnungen der sokratischen Ge­spräche wortgetreu sind. Eine synoptische Gegenüberstellung der vier Evangelien zeigt ebenfalls manche Abweichungen. Und so finden sich auch manche Varianten der Aussprüche des Konfuzius, die in jeweils ein wenig anderen Worten in den »Sprüchen«, dem >>Buch des Mencius« und dem >>Liki« ange­führt werden. Es war geradezu unvermeidlich, daß Plato den Aussprüchen des Sokrates einige eigene Gedanken beimengte, und das gleiche gilt von vielen Kapiteln des Liki. Moderne Po­litiker, die oft von Zeitungsleuten interviewt werden, wissen nur zu gut, daß es praktisch ausgeschlossen ist, eine ganz wort­getreue Niederschrift ihrer Aussprüche zu erwarten. So vermag höchstens eine Tonbandaufnahme die Politiker nachträglich davon zu überzeugen, was sie eigentlich gesagt haben.

Das Liki selbst ist, wie bereits erwähnt, bloß eine Sammlung verschiedener im Besitz der konfuzianischen Schule befindlicher Aufzeichnungen und stammt gewiß aus sehr unterschiedlichen Quellen. Manche Teile, einschließlich der Abhandlung über den »Einklang der Mitte«, werden Tszetze, dem Enkel des Kon­fuzius, zugeschrieben, andere, namentlich die der »Großen Tai«-Sammlung, wurden wohl von Tsengtse oder seinen Schü­lern überliefert. Die Kapitel über Erziehung und Musik geben jedenfalls die Auffassung des konfuzianischen Philosophen Hsuntse wieder, eines Zeitgenossen des Mencius, der diesen jedoch verachtete und ihn als »Gossenphilosophen« bezeichnete. Im übrigen enthält ein überraschend großer Teil des Liki bloß Abhandlungen über Begräbniszeremonien; die »Große Tai«­Sammlung behandelt hingegen keine derartigen Themen.

Eine Anzahl Kapitel behandelt die philosophische Bedeu­tung der beim öffentlichen Gottesdienst verwendeten liturgi­schen Gewänder und Gefäße. Andere Kapitel betreffen die Re­geln und Gebräuche bei allen möglichen Festen - Hochzeiten, Bogenschießen, Tänzen, Dorffesten, Trinkgelagen und Spielen (Kapitel 40 beschreibt z. B. in allen Einzelheiten ein Spiel, wie es ähnlich in unseren Wurfbuden geübt wird). Ein wichtiges Kapitel, Nummer 5, bildet die Grundlage der »Neuschrift«­Schule über das alte Verwaltungssystem, ähnlich wie sich die >>Altschrift<<-Schule auf das Tschouli gründet. Wieder andere Kapitel behandeln das Betragen der Frauen und Kinder und bringen die üblichen Anstandsregeln; z. B. gibt das erste Kapi-

37

Page 40: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

tel, außer der philosophischen Rechtfertigung des Zeremonien­wesens, noch folgende Ratschläge:

»Man knete den Reis nicht zu Kugeln; man lasse Reis nicht auf dem Tisch stehen; man lasse die Suppe nicht zum Munde herausfließen. Man schmatze nicht; man lasse keinen· Knochen trocknen, man drehe den Fisch nicht um, man werfe den Hun­den keine Knochen zu, man wähle nicht besondere Fleisch­stücke aus. Man rühre den Reis nicht um, um ihn abzukühlen, und esse den Brei nicht mit Eßstäbchen. Man schlinge die Suppe nicht hinunter, rühre nicht in ihr herum, stochere nicht in den Zähnen und gieße keine Sauce in die Suppe ... Map darf ge­sottenes Fleisch abbeißen, nicht aber gepökeltes.«

Das klingt ganz nach dem Deuteronomium; man muß eben wissen, daß die >>Li-Religion«, wie das Judentum, sowohl die Gottesverehrung wie das tägliche Leben, einschließlich des Essens und Trinkens, bestimmte.

Der Plan dieses Buches ist darum der folgende: Kapitel II gibt zum erstenmal eineübertragungdes »Lebens des Konfu­zius« in eine europäische Sprache; es ist das die früheste und eigentlich einzige Lebensbeschreibung des Konfuzius, verfaßt vom großen Geschichtsschreiber Szema Thschien. Kapitel III über den >>Einklang der Mitte<< liefert eine vollständige, brauch­bare philosophische Grundlage des gesamten konfuzianischen Systems, während Kapitel IV, »Ethik und Politik<<, eine ge­schlossene Darstellung der Zusammenhänge zwischen Ethik und Politik gibt (mögen sie nun richtig oder falsch sein), sowie zwischen dem Leben des einzelnen, dem Familienleben, dem Leben der Gemeinschafl: und der Weltordnung. Kapitel V ent­hält sodann die Aphorismen des Konfuzius, eine neugeordnete Auswahl aus den »Sprüchen<<; es ist wohl das geistreichste Ka­pitel des ganzen Werkes überhaupt. Kapitel VI bildet die von mir so genannten >>Drei konfuzianischen Abhandlungen über die Gesellschafl:sordnung« und sollte genügen, um die wahre Bedeutung des Wortes Li, das meist fälschlich als bloßes Zere­monienwesen geschildert wird, klarzustellen. Die >Dritte Ab­handlung< des Kapitels VI enthält insbesondere eine kurze, aber wichtige Schilderung der Auffassungen des-Konfuzius über den Weltfrieden und sein höchstes Ideal einer sittlichen Ordnung. Kapitel VII und VIII geben uns hierauf die konfuzianischen Ideen über Erziehung und Musik, deren Auffassung uns manch­mal eigentümlich modern anmutet. Das Kapitel über Musik ist eines der längsten des Liki und ist eigentlich einem Dutzend Kapiteln aus einem verlorengegangenen. Buch über Musik

JS

Page 41: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

bruchstückweise entnommen. Am Schlusse folgt dann noch eine Auswahl aus Mencius, der die wichtigste und einflußreichste Weiterbildung der konfuzianischen Weltanschauung darstellt. Sämtliche Kapitel außer der >Dritten Abhandlung< des Kapi­tels VI und Kapitel VIII sind im vollen Wortlaut übertragen; diese beiden Kapitel mußten wegen ihres Umfanges gekürzt werden.

Ich habe alle Texte selbst übersetzt, mit Ausnahme des Ka­pitels »Einklang der Mitte«. Ku Hung Ming's Übertragung dieses Kapitels ist nämlich so glänzend und dabei so sinngetreu und verständlich, daß ich nur bedauern kann, daß er nicht auch andere konfuzianische Texte übersetzt hat. Seine Übertragung bringt dieses Kapitel dem Verständnis des heutigen Menschen wirklich nahe. Ich habe es freilich für richtig gehalten, Ku Hung Ming's eigene Kommentare fortzulassen, in welchen er die Be­deutung des Konfuzianismus durch Zitate aus Goethe, Matthew Arnold und dem Buch der Sprüche aus der christlichen Bibel zu erläutern unternimmt; Leser, die sich dafür interessieren, seien auf Ku Hung Ming's Buch The Conduct of Life, John Murray, London, verwiesen. Ich habe es auch für notwendig gehalten, eine Anzahl von Korrekturen von Stellen anzubringen, an denen Ku ein wenig vom chinesischen Originaltext abweicht; außerdem kann ich mich Ku's Umstellung der Textanordnung nicht anschließen, sondern habe den Text auf meine Weise an­geordnet. Ich habe im allgemeinen keine Erklärungen hinzuge­fügt, sondern mich darauf beschränkt, den Text in Abschnitte einzuteilen und diese mit Überschriften zu versehen, die dem Leser helfen sollen, dem Gedankenablauf besser zu folgen. Aber das ganze übersetzungswerk ist ja eigentlich bereits Er­klärung, d. h. eine jede derartige Übersetzung ist an sich zu­gleich auch eine Erläuterung; es gibt nämlich gar keine intelli­gente Übertragung, bei der der Obersetzer nicht seine eigene Auslegung des zu übertragenden Textes wiedergibt. Das gilt ganz besonders von der Übertragung eines altchinesischen Tex­tes in eine moderne europäische Sprache. Erstens sind ja die verwendeten Wörter in ihrer allgemeinen Bedeutung von Grund aus verschieden, und zweitens sind die altchinesischen Texte meist knapp und prägnant und stellenweise sogar bei­nahe orakelhaft, und die erforderlichen Verbindungswörter so­wie andere durch den europäischen Satzbau geforderte Wör­·ter müssen erst eingefügt werden. Dazu kommt noch, daß auch die chinesischen Auslegungen eines und desselben Textes viel­fach sehr verschieden sind und der Übersetzer zwischen ihnen seine Wahl treffen oder gar selbst eine neue Auslegung finden muß, wenn er zur Oberzeugung gelangt, einen neuen Sinn in

39

Page 42: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

' dem Text gefunden zu haben. Ich versage es mir daher, in der Art Ku Hung Ming's meine eigenen Erläuterungen hinzuzu­fügen, außer dort, wo solche Erläuterungen durchaus unerläß­lich sind, um den Leser in der Entwicklung gewisser Gedanken anzuleiten oder bestimmte Ausdrücke klarzustellen.

Endlich habe ich es in den Kapiteln III und IV für nötig be­funden, die alten Texte neu zu ordnen, bzw. umzuredigieren. Ich bin mir der damit verbundenen Verantwortung durchaus bewußt; anderseits wird ja allgemein zugegeben, daß die Texte der Kapitel III und IV möglicherweise Fehler in der Anord­nung aufweisen, die darauf zurückzuführen sind, daß die ein­zelnen Absätze in verschiedenen Bambustäfelchen eingeritzt waren, die später zusammengebündelt wurden. Manche Anzei­chen sprechen dafür, daß diese Texte beim Umschreiben der Bambusinschriften auf Seide in der Han-Zeit eine Umstellung erfuhren. Jedenfalls wird allgemein zugegeben, daß mehrere jetzt aufeinanderfolgende Absätze des >>Einklangs der Mitte« logisch in keinem Zusammenhang stehen, obzwar das zentrale Thema immer vorhanden ist. Tschu Hsi faßte den kühnen Ent­schluß, das Kapitel »Ethik und Politik« umzuredigieren und einen ganzen Abschnitt an den Anfang der Abhandlung zu . setzen, wodurch die Verfolgung des Gedankenablaufs bedeu­tend erleichtert wurde. Er ging sogar so weit, einen ganzen Ab­satz selbst zu verfassen, wobei er erklärte, er täte das nur, um einen fehlenden _Absatz zu ersetzen; freilich ermöglichte ihm dieses Vorgehen, ein wenig Sung-Philosophie über Meditation des Weltalls in den geheiligten Text hineinzuschmuggeln. Wenn man sich jedoch wirklich darauf beschränkt, bereits bestehende Texte neu zu ordnen, um einen zusammenhängenden Ge­dankenablauf herzustellen, ohne dem Text selbst etwas Eigenes hinzuzufügen, halte ich das für gerechtfertigt, wenn es bloß zu dem Zwecke geschieht, die Gedanken zu verdeutlichen. Natür­lich habe ich eine solche Umstellung nie ohne die sorgfältigste Überlegung vorgenommen und nie ohne mir über die Gründe klarzuwerden, weswegen der Originaltext so durcheinander­geraten ist,

4· Ober die Technik der Obertragung

Es wäre hier noch einiges über die hier angewandte Überset­zungstechnik zu sagen. Ich betrachte hier eine Übertragung eigentlich als ununterscheidbar von einer Neufassung und halte dies auch für die beste und zweckmäßigste Methode.

Die Sachlage ist nämlich folgende: Die alten Texte waren dadurch, daß sie auf Bambusstäbchen geschrieben waren, im

40

Page 43: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Gebrauch der Wörter von äußerster Sparsamkeit. Die meisten wichtigen Gedanken und Beschreibungen, welche eine ganze Gruppe von Eigenschaften umfassen mochten, wurden in ein­silbigen Wörtern ausgedrückt, und gemäß der Eigenart der chinesischen Grammatik wurde die Bedeutung mehr durch Satz­bau und Wortstellung ausgedrückt als, wie im Deutschen, durch Verbindungswörter und Endungen. Wir geben hier zwei Bei­spiele der chinesischen Satzform: »Konfuzius völlig abschnitt Vier - kein Gedanke - kein Muß - kein ku - kein Ich«; »Sprache Ausdruck bloß«. Selbstverständlich muß der über-. setzer da die Verbindungswörter hinzufügen, sonst wird die Übersetzung einfach unlesbar. Aber inwieweit Verbindungs­wörter und Ergänzungen zulässig sind, muß dem Urteil des Übersetzers überlassen bleiben, und dieser hat wiederum keine andere Richtschnur als seine eigene Einsicht in die Gedanken­welt des Konfuzius, wobei ihm freilich die Kommentatoren zur Seite stehen.

Die erste Aufgabe ist da natürlich, die Bedeutung eines Aus­druckes im allgemeinen klassischen Sprachgebrauch festzustel­len, und zweitens seine besondere Bedeutung und Schattierung im gegebenen Falle. Im obigen Beispiel hatte das Wort Ku meh­rere verschiedene Bedeutungen: >>stark«; »starrköpfig«, »derb«, »Hartnäckigkeit«, »Engherzigkeit«, »Gewöhnlichkeit«, »Be­schränktheit<<, schließlich »manchmal auch<<. Unter diesen ver­schiedenen Bedeutungen hat der Übersetzer seine Wahl zu tref­fen. Darin besteht ja gerade seine furchtbare Verantwortung, aber auch die Freiheit, die ihm altchinesische Texte einräumen; denn es versteht sich von selbst, daß die Wahl eines anderen Wortes den Sinn des Satzes von Grund aus verändern würde. In diesem besonderen Fall habe ich den Satz folgendermaßen übersetzt: >>Konfuzius lehnte folgende vier Dinge völlig ab (oder: versuchte sie völlig zu vermeiden): Voreingenommen­heit, Starrköpfigkeit, Engherzigkeit und Ichsucht.« Es ist natür­lich die Frage, ob die Wendung »kein muß« zu übersetzen wäre: »nicht auf einem bestimmten Verhalten bestehen«·oder »nicht hartnäckig sein« oder >>nicht meinen, man habe unbedingt recht« (oder: nicht stur sein). Eine jede der Obersetzungen be­deutet eine N eufassung. Beim übersetzen dieser Wendung >>kein Gedanke<< habe ich sie als >>geh nicht von vorgefaßten Meinungen aus« oder >>sei nicht voreingenommen« aufgefaßt. Es ist das eine Schattierung, die ich aus meiner Kenntnis der allgemeinen Bedeutung des Wortes >>Gedanke<< im Chinesischen, sowie aus einer Einsicht in das Wesen der Verhaltungsweise des Konfuzius geschöpft habe. Aber schon die bloße Verwendung der Ausdrücke »Voreingenommenheit« oder »vorgefaßte Mei-

4I

Page 44: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

nung« drückt bereits etwas aus, was im chinesischen Wort »Ge­danke<< höchstens implizite angedeutet war.

Bei der Übertragung der mehr grundlegenden Begriffe wie Li, Jen, Hsin, Tschung usw. habe ich die Methode angewendet, diese Wörter zunächst im Geist zu übersetzen und diese über­.setzung dann aii Hand der vielen Texte, die das Wort enthal­ten, zu überprüfen, um zu sehen, welches Wort der Bedeutung des Urtextes in den meisten Fällen am nächsten käme, wobei natürlich einem Worte mehrere Bedeutungen zugesprochen wer­den können. So gelangte ich zu der Überzeugung, daß Li, wel­clJ.es gewöhnlich mit »Zeremoniell« oder »Ritus<< übersetzt wird, in Wirklichkeit im Zusammenhang mit der allgemeinen Gesellschaftslehre des Konfuzius, mit »Gesellschaftsordnungs­prinzip«, und an manchen auf das persönliche Verhalten be­züglichen Stellen mit »sittliche Selbstzucht« wiedergegeben werden müßte. Ich bin ferner zum Beschluß gelangt, daß die übliche Wiedergabe des Wortes »Jen« mit »Güte«, »Mitleid« oder» Wohlwollen« ganz unzulänglich ist, und daß dieses Wort vielmehr das konfuzianische Ideal des »echten Menschen«, des >>ganzen Menschen« oder des »großen Menschen« ausdrückt. Ebenso kann »Hsin« nicht immer mit »Ehrlichkeit<< oder »Ein­halten eines Versprechens<< übersetzt werden, welch letztere Eigenschaft Konfuzius sogar eher verachtete und selbst nicht immer bewies; manchmal bedeutet Hsin >>gegenseitiges Ver­trauen in den bestehenden Zustand« und manchmal auch >>Treue<<.

Bei der eigentlichen Übertragung stellt sich dem Obersetzer eine zweifache Aufgabe, sobald er die Bedeutung des zu über­setzenden Satzes begriffen hat. Erstens muß er unter mehreren Synonymen eines auswählen; und bei Auswahl des falschen Wortes würde dem Leser der Sinn des Satzes ganz .und gar nicht klar werden. Ich habe es z. B. unmöglich gefunden, das Wort Teh in allen Fällen mit »Tugend<< oder »Charakter« zu übersetzen, da sonst der Sinn dem Leser völlig verlorenginge. So sagte Konfuzius: »Vollblut, lobe nicht Kraft, lobe Charak­ter.<< Der Sinn wird erst dann klar, wenn wir übersetzen: »Bei der Beurteilung eines Vollblutpferdes bewundert man nicht seine Kraft, sondern sein Temperament.« Oder das gleiche Wort »Teh« (Tugend) an einer anderen Stelle: »Konfuzius sprach: wer Tugend hat, hat nicht immer Worte; wer Worte hat, hat nicht immer Tugend.« Der Sinn wird erst klar, wenn wir Teh hier statt mit» Tugend« oder >>Charakter<< mit >>Seele« wiedergeben, also: »Konfuzius sp~ach: Wer eine schöne Seele hat, findet immer schöne Worte, aber wer schöne Worte findet, braucht darum noch lange nicht eine schöne Seele zu haben.«

42

Page 45: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

DasWort kommt ferner in der Zusammensetzung Teh Yin vor; diesen Ausdruck mit »Tugend haften Klang« zu übersetzen würde zwar den Eindruck wissenschaftlicher Akribie erwecken, würde aber in Wirklichkeit nur die Tatsache verschleiern, daß der gelehrte Übersetzer keine Ahnung davon hat, daß der Aus­druck hier »Sakralmusik<< bedeutet. An anderer Stelle sagt Konfuzius: »Ausschweifend als nicht demütig; frugal als Ku (vulgär oder starrköpfig usw.). Lieber als nicht demütig sei man Ku.<< Der Zusammenhang zwischen Ausschweifung und Mangel an Demut bleibt ganz unklar, solange wir nicht erfas­sen, daß Menschen, die ein ausschweifendes Leben führen, meist hochmütig sind. Eine völlig verständliche sinngemäße Überset­zung verlangt daher eine Sicherheit in der Auswahl der Aus­drücke. Meinem Dafürhalten nach müßte die Stelle folgender­maßen übersetzt werden: »Konfuzius sprach: Leute, die ein ausschweifendes Leben führen, sind meist Snobs (oder einge­bildet) und Leute, die einfach leben, sind ofl: ungeschliffen. Mir ist aber UngesChliffenheit noch immer lieber als Snobismus (oder: mir sind rauhbeinige Leute lieber als Snobs).«

Zweitens kann der Übersetzer nicht umhin, den Gedanken in die genaueren Begriffe einer modernen Sprache zu kleiden. Der Übersetzer wird nicht nur die Verbindungswörter hinzu­fügen, sondern wird auch eine präzisere Begriffsbestimmung vornehmen müssen, wenn seine Übersetzung nicht reichlich dürr ausfallen soll. So sieht sich ein moderner Obersetzer genötigt, im obigen Falle: »Sprache Ausdruck bloß« etwa folgender­maßen zu übersetzen: »Die Ausdrucksfähigkeit ist der einzige Grundsatz der Sprache«, oder: >>Einen Gedanken auszudrücken, ist der einzige Zweck oder das einzige Ziel oder der einzige Gegenstand der Rhetorik.« Es ist ganz klar, daß es Dutzende von Möglichkeiten gibt, diesen Satz wiederzugeben. Es ist aber unerläßlich, in der Übersetzung ein Wort wie Grundsatz oder Zweck oder Ziel oder Gegenstand oder Maßstab einzufügen. Es gibt gar keine andere Möglichkeit, wenn die Übersetzung nicht unlesbar werden soll.

Die Verwendung von Klammern. - In den sich daraus er­gebenden übersetzungstexten mußte ich in Anbetracht der oben erwähnten Schwierigkeiten zu Einklammerungen grei­fen. Die Klammern dienen einem zweifachen Zweck. Erstens um eine alternative Übersetzung zu geben, was meist durch >(oder ... )< ausgedrückt wird. Es ist nämlich ofl: so, daß man nicht sicher sein kann, ob eine bestimmte Auffassung des Tex­tes die allein richtige ist. Zweitens werden die Klammern aus­schließlich zu solchen Erklärungen verwendet, die zum Ver­ständnis des Textes ohne Fußnoten unbedingt erforderlich sind.

43

Page 46: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Ohne solche Klammern würden derartige Erklärungen endlos lang werden. In unserem Falle werden die Einklammerungen einzig und allein dazu verwendet, möglichst kurze, unerläß­liche Erklärungen zu liefern, die es dem Leser ermöglichen sol­len, eine Textstelle glatt zu lesen und ihren Sinn ohne Schwie­rigkeiten zu verstehen. Dadurch bleiben die Anmerkungen (Seite 191-203) meinen eigenen Erläuterungen sowie andere Referenzen vorbehalten.

44

Page 47: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

II

DAS LEBEN DES KONFUZIUS [Khungtse Schitschia - Schiki, Buch 47]

Das Folgende ist eine Übersetzung der Lebensbeschreibung des Konfuzius aus dem Schiki des Szema Thschien, der etwa drei­hundert Jahre nach Konfuzius gelebt hat (145-85? v. Chr~). Die Übersetzung dieses Werkes ist aus zwei Gründen von Wich­tigkeit. Erstens ist es die früheste, ja die einzige zusammen­hängende Biographie des Konfuzius, und ist ein Teil des gro­ßen Standardwerkes der chinesischen Geschichte, das den aner­kannten Vater der chinesischen Geschichtsschreibung und einen Meister chinesischer Prosa zum Verfasser hat. Das Ansehen des Schiki ist über jeden Zweifel erhaben und sein Verfasser Szema Thschien hat selbst weite Reisen unternommen und den Ge­burtsort des Konfuzius besucht, wo er mit alten Leuten zu­sammenkam, welche die alte Tradition über Konfuzius leben­dig erhielten. Sein Werk ist daher die wahrheitsgetreueste Dar­stellung des Lebens des Konfuzius, deren wir habhafl: werden können. Zweitens war Szema Thschien durchaus aufgeschlos­sen und unvoreingenommen; er war ein strenger Historiker und keineswegs ein parteiischer Verfechter des Konfuzianismus. Er gibt zwar seiner aufrichtigen Bewunderung für Konfuzius Ausdruck, ist aber selbst kein strenger Anhänger der doktrinä­ren Konfuzianerschule. Infolgedessen gibt er uns eher ein Bild des Menschen als des Heiligen Konfuzius; viele konfuziani­schen Kritiker haben daher versucht, den Sinn mancher Stellen dieser Lebensbeschreibung durch weithergeholte Auslegungen zu verzerren und bisweilen sogar die Wahrhaftigkeit des Be­richtes in Zweifel zu ziehen. Wir dürfen ihn jedoch als ein sehr wahrheitsgetreues Bild des Konfuzius betrachten, wie es uns der gelehrteste Mann seiner Zeit, der etwa dreihundert Jahre nach Konfuzius lebte, hinterlassen hat.

I. Abstammung, Kindheit und fugend 551-52-3 v. Chr.

Konfuzius wurde in der Stadt Tsou, im Gau Thschangping im Lande Lu geboren. Einer seiner Vorfahren war Khung Fang­schu (ein Nachkomme eines Königs von Sung in der neunten Generation; Khung Fangschu war in der vierten Generation Ahne des Konfuzius).

45

Page 48: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Dieser FangsdlU war der Vater des Pohsia, und Pohsia der Vater des Schuliang Ho. Ho war der Vater des Konfuzius durch eine außereheliche Verbindung mit einem Mädchen aus der Familie Yen [I]. Dieses Mädchen betete auf dem Berge Nitschiu und empfing Konfuzius als Erhörung ihres Gebetes im zweiundzwanzigsten Jahre der Regierung des Fürsten Hsiang von Lu (5 5I v. Chr.). Bei der Geburt hatte Konfuzius einen auffallenden Höcker auf. dem Kopfe und wurde deshalb >>Thschui« (d. i. Hügel) genannt. Sein Schriftstellername war Tschungni und sein eigentlicher Zuname Khung (Konfuzius)­(Khung Futse bedeutet »Meister Khung«).

Kurz nach der Geburt des Konfuzius starb sein Vater und wurde in Fangschan im östlichen Lu (in Schantung) begraben. Konfuzius kannte daher das Grab seines Vaters nicht, weil seine Mutter ihm die Wahrheit verheimlicht hatte. Als er noch ein Kind war, gehörte das Darbringen von Opfern und die Verrichtung der Zeremonien zu seinen Lieblingsspielen. Als seine Mutter starb, begrub er sie vorsichtshalber nur proviso­risch an der Straße der Fünf Väter, und erst als eine alte Frau, die Mutter des Wanfu aus Tsou, ihm den Ort des väterlichen Grabes mitteilte, bestattete er seine beiden Eltern in Fangschan. Einst gab ein Edler Tschi aus Lu ein Festmahl zu Ehren der Ge­lehrten der Stadt, und Konfuzius ging hin, obwohl er noch in Trauer war. Ein korrupter Beamter namens Yang Ho sagte da spottend zu ihm: »Der Edle gibt den Gelehrten ein Fest­mahl, denkt aber gar nicht daran, Euch einzuladen.« Also ging Konfuzius wieder fort. ·

Als Konfuzius siebzehn Jahre alt war, erkrankte der Edle Li Meng. Auf dem Sterbebett erteilte er seinem Sohn, dem Edlen Yi Meng, folgenden Rat: >>Khung Tschiu (d. i. Konfu­zius) ist der Nachkomme großer Herren. Das Haus Khung wurde im Lande Sung vernichtet (die Ahnen des Konfuzius wurden von ihren Gegnern aus dem Lande vertrieben und flüchteten in das Land Lu). Sein großer Ahnherr Fufu Ho war der älteste Sohn des Fürsten von Sung, verzichtete aber zugun­sten seines Bruders, des späteren Fürsten Li, auf die Nachfolge. Ein späterer Ahne, Tscheng Khaofu, stand dem Fürsten Tai Wu und Hsuan von Sung bei der Regierung zur Seite. Seine Bescheidenheit wuchs, je öfter er befördert wurde. Daher trug der Dreifuß des Hauses Khung die Inschrift: >Bei der ersten Beförderung beuge ich mein Haupt, bei der zweiten beuge ich meinen Nacken und bei der dritten beuge ich meinen Rücken. Ich gehe an der Wand entlang und niemand wagt es, mich zu beleidigen. Hierin (in diesem Dreifuß) finde ich meinen Reis und hierin meinen Brei, um meinen Mund zu ernähren.< So

46

Page 49: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

groß war seine Bescheidenheit. Ich habe sagen hören, daß Phi­losophen aus den Häusern großer Männer stammen müssen, auch wenn diese gerade nicht an der Macht sind. Dieser Khung Tschiu ist jung und liebt das Studium der Geschichte sehr. Viel­leicht wird ein Philosoph aus ihm. Wenn ich tot bin, solltest du hingehen und ihm nachfolgen.<< Bei seinem Tode ging also der Edle von Lu zu Konfuzius, um bei ihm zu studieren, zugleich mit Nankung Tschingschu (höchstwahrscheinlich seinem jünge­ren. Bruder). In diesem Jahr starb der Edle Tschi von Lu und sein Sohn Tai wurde sein Nachfolger.

Konfuzius stammte zwar aus einer unbemittelten, nichtade­ligen Familie, aber als er heranwuchs, wurde ihm der Getreide­speicher des Edlen Tschi anvertraut, wo er sich durch gerechte Amtsführung auszeichnete. Dann vertraute man ihm die Vieh­und Schafherden an, worauf sie sich rasch vermehrten. So wurde er bald zum Minister für öffentliche Arbeiten befördert. Aber bald verließ er seine Heimat Lu, wurde aus dem Lande Thschi ausgewiesen, aus Sung und Wei vertrieben und gelangte endlich mit Schwierigkeiten und unter Lebensgefahr in die Vor­stadt zwischen Tschen und Tschai. Nach all diesen Irrfahrten kehrte er nach Lu zurück. ·

Konfuzius maß neun Fuß sechs Zoll (die alten Längenmaße waren viel kleiner als die späteren, denn König Wen soll zehn Fuß gemessen haben). Die Leute bewunderten seine Körper­größe und nannten ihn »einen Hochgewachsenen«. Die Regie­rung von Lu war immer höflich zu ihm gewesen; darum kehrte er nach Lu zurück. Sein Jünger Nankung Tsching bat den Herr­scher von Lu um Erlaubnis, eine Reise nach der kaiserlichen Residenz Tschou zu unternehmen. Der Fürst von Lu gab ihnen einen Wagen mit zwei Pferden und einen Lakaien und sie fuh­ren beide nach Tschou, um die alten Riten und Zeremonien zu studieren; dort trafen sie auch Laotse. Als sich Konfuzius von Laotse verabschiedete, gab ihm dieser den Rat: »Ich habe sagen hören, daß reiche Menschen Geld verschenken und freundliche Menschen Ratschläge erteilen; ich will Euch daher einen Rat geben. Wer geistvoll und nachdenklich ist, kommt oft in Lebens­gefahr, weil er an anderen Kritik übt. Wer gelehrt, belesen und i~ der D~~kussion geschickt ist, kommt oft in Gefahr? weil er d1e Schwachen anderer aufdeckt. Betrachtet Euch mcht aus­schließlich als .Sohn oder Staatsbeamter.«

47

Page 50: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

2. Zwischen Dreißig und Fünfzig 522-503

Konfuzius kehrte dann von Tschou in seine Heimat Lu zurück, wo immer mehr Schüler zu ihm kamen, um von ihm zu lernen. Damals war Phing von Thschi, ein haltloser Mensch, Fürst des Landes. Seine sechs Minister rissen die Macht an sich und fielen in die östlichen Länder ein. Fürst Ling von Thschu (dessen Land südwestlich von Lu lag) besaß ein mächtiges Heer, das ganz China in Schach hielt. Thschi war ein großes, an Lu (im Norden) angrenzendes Land. Lu war ein kleines, schwaches Land; wenn es sich mit Thschu verbündete, würde Thschin erbost sein, und wenn es sich mit Thschin verbündete, würde Thschu in das Land einfallen; und wenn es sein gutes Ein­vernehmen mit Thschi nicht festigte, würde auch Thschi es an­greifen.

Im zwanzigsten Jahre der Regierung des Fürsten Tschao von Lu (522 v. Chr.), als Konfuzius bereits dreißig Jahre alt war (neunundzwanzig nach europäischer Zähl weise), besuchte Fürst Tsching von Thschi mit seinem Minister Yen Ying das Land Lu. Der Fürst von Thschi fragte den Konfuzius: »Wie kam es eigent­lich, daß Fürst Mu von Thschin alle anderen Länder beherr­schen konnte, obwohl sein Land klein und abgelegen war?« »Obwohl Thschin klein war«, erwiderte Konfuzius, »war sein Ehrgeiz groß, und obwohl es abgelegen war, wurde es nach sittlichen Grundsätzen regiert. Der Fürst nahm den Poli Hsi aus dem Gefängnis und erhob ihn in den Adelsstand; nachdem er drei Tage mit ihm gesprochen hatte, setzte er ihn an die Spitze der Regierung. So gelangte der Fürst an die Macht. Er hätte sogar ein rechtmäßiger >König< werden können statt eines >Diktators<, da er auch die anderen Staaten beherrschte.« Diese Antwort gefiel dem Fürsten von Thschi.

Als Konfuzius fünfunddreißig war (5 17 v. Chr.), entzweiten sich der Edle Phing von Thschi und der Fürst Tschao von Hou über einen Hahnenkampf. Fürst Tschao führte seine Truppen zum Angriff gegen den Edlen Phing, und dieser kämpfte ge­meinsam mit den beiden anderen Edlen aus Lu, Meng und Schusun, gegen den Fürsten. Der Fürst verlor die Schlacht und floh nach Thschi, wo er in Kanhou eine Stadthauptmannschafl: erhielt. Bald darauf brachen in Lu Wirren aus, und Konfuzius begab sich nach Thschi, wo er, in der Hoffnung, Beziehungen mit dem Fürsten von Thschi anzuknüpfen, als Schreiber in die Dienste des Edlen Tschao Kao trat. Er besprach auch Fragen der Musik mit dem Musikmeister von Thschi. Dort hörte er die Hsiao-Musik (eine einem Kaiser der Vorzeit, Schun, 2255 bis

·t-8

Page 51: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

2204 v. Chr., zugeschriebene symbolistische Tanzmusik) und versuchte sie zu erlernen. Drei Monate lang enthielt er sich des Genusses von Fleisch. Die Leute von Thschi waren tief beein­druckt. Eines Tages befragte der Fürst den Konfuzius über Probleme der Regierung, und dieser erwiderte: »Der König sei wie ein König, die Minister wie Minister, die Väter wie Väter und die Söhne wie Söhne.« »Gut«, sagte der Fürst.» Wenn der König nicht wie ein König ist, die Minister nicht wie Minister, die Väter nicht wie Väter und die Söhne nicht wie Söhne, wie könnte ich da etwas zu essen kriegen, selbst wenn es genug Getreide im Lande gibt?« Ein andermal befragte er den Kon­fuzius wiederum über die gute Regierung, und dieser antwor­tete: >>Eine gute Regierung besteht darin, die Staatsausgaben zu beschränken.« Das gefiel dem Fürsten, und er wollte dem Konfuzius die Regierung des Landes Nitschi übertragen. Da sprach der Minister Yen Ying zum Fürsten: »Die fu (spätere Bezeichnung für die Konfuzianer) sind schlechte Vorbilder, denn sie sind geschwätzig; sie sind schlechte Untertanen, denn sie sind eingebildet und selbstsüchtig. Man darf ihre Lehre nicht auf das Volk anwenden; sie legen nämlich den größten Wert auf Begräbniszeremonien und setzen eine Familie der Gefahr des finanziellen Zusammenbruches aus, nur um ein teures Begräbnis zu veranstalten. Sie sind auch darum schlechte Herrscher, weil sie predigend, bettelnd und borgend umher­ziehen. Seitdem die Großen verstorben sind und die Kaiser­dynastie der Tschou auf dem Abstieg ist, sind unsere Zere­monien und unsere Musik entartet und zum Teil in Vergessen­heit geraten. Jetzt kommt aber dieser Konfuzius und besteht auf der Verwendung ritueller Gewänder und auf der Beob­achtung aller Einzelheiten feierlicher Umzüge und höfischen Zeremoniells. Man kann ein ganzes Leben damit verbringen und wird diese Dinge doch nicht meistern; auch nach Jahren kann man nicht alle Einzelheiten dieses Zeremoniells beherr­schen. Ich bezweifle, daß es ratsam wäre, diesem Mann die Macht zu übertragen und ihn die Landesbräuche ändern zu lassen - man muß doch die Interessen des niederen Volkes be­rücksichtigen.« Daraufhin empfing der Fürst den Konfuzius zwar immer noch zuvorkommend, befragte ihn aber nie mehr über historische Riten und Gebräuche. Ein andermal sagte der Fürst zu Konfuzius, weil er ihn im Lande festzuhalten wünschte: »Ich kann Euch zwar die Stellung des Edlen Thschi nicht an­bieten, möchte Euch aber ein Amt ungefähr zwischen den Edlen Thschi und Meng übertragen.« Da verschwor sich der Adel von Thschi gegen Konfuzius, und dieser erfuhr davon. Der Fürst sagte zu ihm: »Leider bin ich schon zu alt, um Eure Lehren 4/154 49

Page 52: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

durchzuführen.« Da verließ Konfuzius das Land und kehrte nach Lu zurück.

Als Konfuzius zweiundvierzig Jahre alt war (p r v. Chr.), starb Fürst Tschao von Lu in Kanhou in der Verbannung. Fürst Ting wurde sein Nachfolger, und im Sommer des fünften Jah­res seiner Amtsführung starb der Edle Phing von Thschi, und sein Sohn Huan wurde sein Nachfolger. (Es folgen hier zwei kurze Anekdoten: Konfuzius wurde, als der gelehrte Histo­riker, der er war, über einige Ausgrabungen zu Rate gezogen. Es handelte sich um Knochen, die bei der Schleifung einer Stadtmauer zutage gekommen waren. Einer der Knochen soll so lang gewesen sein wie ein ganzer Wagen, war also offenbar ein Saurierknochen, und der König sandte einen Boten zu Konfuzius, um ihn zu fragen, was das für Knochen seien. Kon­fuzius gab bereitwillig eine aus seiner Kenntnis der alten Ge­schichte geschöpfte Auskunft.)

Der Edle Huan hatte einen Lieblingssdueiber namens Tschungliang Huai, der mit Yang Hu (in den »Sprüchen« auch als Yang Ho erwähnt) einen persönlichen Streit hatte. Dieser wollte ihn aus der Stadt vertreiben, gab aber auf Eingreifen des Kungschan Puniu dieses Vorhaben auf. Yang verhaftete ihn schließlich; Edler Huan protestierte erbost, Yang warf den Edlen ins Gefängnis und ließ ihn erst frei, nachdem er Urfehde geschworen hatte. Von da ab benahm sich Yang dem Edlen gegenüber noch anmaßender, aber da auch der Edle Huan Tschi sich widerrechtlich die Herrschaftsbefugnisse des Fürsten an­gemaßt hatte, geriet die Regierung des Staates Lu am Ende doch in die Hände der Adligen. Infolgedessen verfiel das Land von der Aristokratie bis zum Volke in einen Zustand mora­lischer Unordnung, und Konfuzius beschloß, nicht in den Staatsdienst einzutreten, sondern sich ins Privatleben zurück­zuziehen, um zu studieren oder Bücher über Dichtkunst, Ge­schichte, Zeremoniell und Musik herauszugeben. Die Zahl sei­ner Schüler wuchs rasch an, und viele kamen aus fernen Gegen­denzu ihm.

3· Die Periode großen Einflusses 50:Z-496

Im achten Jahre der Regierung des Fürsten Ting von Lu {502

v. Chr.) zerwarf sich Kungschan Puniu mit dem Edlen Huan Tschi und verbündete sich mit Yang Hu, um einen Aufstand anzuzetteln, den ältesten Sohn Huan Tschis abzusetzen und die Kinder der Kebsweiber, welche Y ang freundlich gesinnt waren, zu dessen Erben einzusetzen. Daher verhafteten sie Huan Tschi,

Page 53: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

welcher jedoch durch eine List entkam. Y ang wurde im folgen­den Jahr besiegt und floh nach dem Lande Thschi.

Damals war Konfuzius fünfzig Jahre alt. Kungschan Puniu begann in der Stadt Phi einen Aufstand gegen Huan; dieser sandte einen Boten zu Konfuzius, um ihn zu sich zu berufen. Konfuzius hatte sich damals bereits lange Zeit hindurch ganz dem Studium gewidmet; er war milde und abgeklärt geworden und wußte nicht mehr recht, wie er seine Lehren auf die Regie­rungspraxis anwenden sollte. Er sagte: »Die Könige Wen und Wu gelangten von den kleinen Städten Feng und Khao aus an die Madtt und gründeten schließlich das Reich Tschu. Ich weiß ja, daß Phi nur ein kleiner Ort ist, will es aber dennoch ver­suchen.« So schickte er sich schon an, hinzugehen, aber sein Jünger Tselu (eine Art Apostel Petrus) war damit nicht ein­verstanden und suchte ihn zurückzuhalten. »Da der Edle mich zu sehen wünscht«, erwiderte Konfuzius, >>muß er einen Plan im Sinn haben; und wenn er mir die Macht anvertrauen wollte, könnten wir wohl zusammen etwas Ahnliches erreichen wie der Kaiser Phing« (der die Madtt der Tschu-Dynastie wieder­herstellte und die sogenannte östliche Tschu-Periode begann). Aber am Ende ging er dann doch nicht hin.

Später ernannte Fürst Ting den Konfuzius zum Beamten der Stadt Tschungtu. Nach einem Jahr war die Stadt zum Vor­bild aller Nachbarstädte geworden. Darum wurde Konfuzius zum Arbeitsminister und schließlich zum Justizminister be­fördert. Im Frühling des zehnten Regierungsjahres des Fürsten Ting (500 v. Chr.) schloß der Staat Lu einen FreundschaRs­vertrag mit Thschi, und im Sommer sagte ein Minister von Thschi mit Namen Li Tschu zum Fürsten von Thschi: »Dieser Konfuzius als Minister von Lu wird für uns langsam gefähr­lidt.« Man bereitete daraufhin eine FreundschaRskonferenz der beiden Staaten in Tschiaku vor. Fürst Ting von Lu wollte in seinem Wagen an der Konferenz teilnehmen, aber Konfuzius riet ihm in seiner EigenschaR als stellvertretender Erstminister: »Idt habe sagen hören, man solle zu Zivil-Konferenzen Mili­tärabordnungen und zu Militär-Konferenzen Zivilabordnun­gen entsenden. Die Herrscher des Altertums nahmen immer eine militärische Eskorte mit, wenn sie sich ins Ausland be­gaben. Ich empfehle daher, die Kriegsminister zur Linken und zur Rechten mitzubringen.« Der Fürst stimmte zu, und sie machten sich mit den beiden Kriegsministern nach Tschiaku auf. Der vorgesehene Ort, an dem der Eid geschworen werden sollte, war mit einem Altar versehen, der auf einer dreistufigen, aus Erde aufgeworfenen Terrasse stand. Die beiden Abordnungen trafen sich mit den üblichen Zeremonien. Sie verneigten sich 4*

Page 54: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

voreinander und bestiegen die Terrasse, und nach der Leerung der rituellen Weinschale trat ein Beamter von Thschi vor und bat um Erlaubnis, ein Orchester aus vielen Ländern aufspielen zu lassen. Der Fürst von Thschi stimmte zu, worauf die Musi­kanten vortraten und ein großes Getöse machten- die Zivil­tänzer mit ihren Fahnen und Bannern aus Ochsenschweifen und Fasanenfedern, die Kriegstänzer mit ihren Lanzen, Spießen, Schwertern u11d Schilden. Da stieg Konfuzius die Treppen hin­auf, blieb knapp unter der ersten Terrasse stehen, hob seine weiten Krmel empor und sprach: »Wozu so barbarische Musi­kanten, wenn unsere Herrscher zu einer freundlichen Bespre­chung zusammenkommen? Ich ersuche, sie heimzuschicken.<< Der Beamte von Thschi versuchte sie fortzuschicken, aber die Musikanten weigerten sich zu gehen. Alle blickten auf den Fürsten von Thschi und seinen Minister Yen Ying. Der Fürst war sehr verlegen und winkte schließlich den Musikanten, den Ort zu verlassen. Nach einiger Zeit trat der Zeremonienmeister von Thschi vor und bat um Erlaubnis, Palastmusik aufführen zu lassen, was der Fürst gestattete. Da traten Gaukler und Zwerge auf, aber Konfuzius stieg wieder bis zur ersten Terrasse hinauf und sprach: »Männer aus dem niederen Volk, die es ver­suchen, die Herrscher gemein zu machen, sollten getötet werden. Ich fordere vom Zeremonienmeister eine entsprechende Anord­nung.<< Der Zeremonienmeister ließ daraufhin die Gaukler hin­richten und ihre Glieder von den Rümpfen trennen.

Der Fürst von Thschi war äußerst beschämt und beeindruckt und wollte in seiri Land heimkehren. Tief bekümmert sagte er zu seinem Minister: »Die Leute von Lu haben ihrem Herrscher geholfen, sich wie ein Herr zu benehmen, während Ihr mir bei­gebracht habt, wie ein Barbar zu handeln. Und jetzt habe ich mir in den Augen des Herrschers von Lu eine Blöße gegeben. Was soll ich da tun?« Ein Beamter erwiderte: >>Wenn ein Herr seinen Fehler bereut, trachtet er, ihn durch Taten gutzumachen; wenn ein Gemeiner seinen Fehler bereut, macht er ihn bloß durch Worte gut. Wenn Euch also Euer Verhalten gereut, würde ich empfehlen, daß Ihr es durch konkrete Taten gut­macht.« Darum gab der Fürst von Thschi die Länder Yun, Wenyang und Kueithien, die er dem Lande Lu entrissen hatte, zum Zeichen seiner Reue zurück. Im Sommer des dreizehnten} ah­res der Regierung des Fürsten Ting (497) sagte Konfuzius zum Fürsten: »Ein Untertan solltekeinen eigenen Harnisch besitzen, und ein Vasall sollte keine Stadt mit mehr als hundert Wehr­türmen haben.« (Jeder Wehrturm entsprach dreißig Fuß Mauer­werk.) Daraufhin machte der Fürst den Tselu, einen Jünger des Konfuzius, zum Beauftragten für den Gau Tschi und befahl

Page 55: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

die Schleifung der befestigten Städte der drei Edlen. Zuerst wurde die Stadt Hou des Schusun geschleift; Tschi war schon im Begriffe, seine feste Stadt Pi zu schleifen, aber Kungschan Puniu und Sun Tscheh führten das Volk von Lu zum Angriff gegen das Fürstentum Lu. Der Fürst und die drei Edlen zogen zur Burg des Edlen Tschi und bestiegen die Schanze des Edlen Wu. Dort wurden sie vom Volk von Lu angegriffen, der Ort konnte jedoch nicht erobert werden. Dann wütete die Schlacht um den Fürsten, und Konfuzius befahl den Herren Sehen Kouhsu und Yo Thschi, sich hinunterzubegeben und die Angreifer abzu­wehren. Infolgedessen wurden die Rebellen geschlagen, und die Truppen von Lu verfolgten und besiegten sie bei Kumi. Die beiden Edlen Schusun und Tschi flohen nach dem Lande Thschi, und die Stadt Tschi wurde bis auf die Grundmauern geschleift. Als nächste sollte die Stadt Thscheng, die Feste des Edlen Meng, geschleift werden, aber der Stadthauptmann von Thscheng sagte Meng: »Wenn diese Feste geschleift wird, werden die Leute aus Thschi ohne weiteres Lu von Norden angreifen kön­nen. Außerdem ist die Feste Tsching das Bollwerk des Hauses Meng. Ich lehne es ab, die Feste schleifen zu lassen.« Im De­zember begann der Fürst die Stadt zu belagern, konnte sie aber nicht einnehmen.

Im vierzehnten Jahre der Regierung des Fürsten Ting (496 v. Chr.) war Konfuzius sechsundfünfzig Jahre alt. Er, der bis­her Justizminister gewesen war, wurde zum Erstminister be­fördert. Als er über diese Nachricht Freude zeigte, sprachen seine Jünger: >>Wir hören, daß ein Herr sich bei der Nachricht von einem Unglück nicht fürchtet und bei der Nachricht von einem Erfolg nicht freut.« »Stimmt das wirklich?« bemerkte Konfuzius, »soll man sich denn nicht freuen, wenn man über das gemeine Volk emporgehoben wird?« Er ließ darauf den Schaotschengmao, einen Minister, der die Regierung in Ver­wirrung gestürzt hatte, hinrichten. Nach drei Monaten seiner Amtsführung verfälschten die Lamm- und Schweinemetzger ihre Ware nicht mehr, undMännerund Frauen benutzten ge­trennte Straßenseiten. Gegenstände, die auf der Straße ver­loren gingen, wurden nicht mehr gestohlen, und Fremde, die ins Land kamen, brauchten sich nicht mehr an die Polizei zu wen­den- alle kamen nach Lu wie in ihr Heimatland.

Als die Leute von Thschi das erfuhren, waren sie sehr be­sorgt und sprachen: »Wenn Konfuzius in Lu an der Macht bleibt, wird Lu schließlich die anderen Staaten beherrschen, und wenn es die Großmacht wird, werden wir als seine näch­sten Nachbarn als erste unterliegen. Könnten wir da nicht seine Gun:st durch eine kleine Gebietsabtretung gewinnen?« Der

53

Page 56: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Minister Li Tschu sagte:» Versuchen wir doch zuerst, den Kon­fuzius lahmzulegen, und wenn uns das nicht gelingt, bleibt uns noch immer die Möglichkeit einer Gebietsabtretung.« Darauf wählten sie achtzig der schönsten Mädchen des Landes aus, die gestickte Kleider anhatten und den Khang-Reigen zu tanzen verstanden. Diese Mädchen wurden zugleich mit hundert­zwanzig edlen Pferden als Geschenk an den Herrscher von Lu gesandt und außerhalb des Großen.Südtors von Lu zur Schau gestellt. Dreimal begab sich Huan Tschi in gewöhnlicher Klei­dung hin, um sie anzusehen; er vermeinte, er würde sie zum Geschenk erhalten, und forderte auch den Fürsten auf, auf Schleichwegen zur· Schaustellung zu kommen. So hielten sich der Fürst urid der Edle tagelang dort auf und versäumten ihre Regierungspflichten. »Mir scheint, es ist für uns an der Zeit, zurückzutreten«, sagte Tselu. »Warte noch ein wenig«, sagte Konfuzius, »bald kommt die Zeit des Himmelsopfers; wenn der Fürst sich dann erinnert, nach dem öffentlichen Gottes­dienst die Brandopfer an die Minister zu senden, will ich mich entschließen, dennoch zu bleiben.« Huan erhielt schließlich die Tanzmädchen aus Thschi zum Geschenk; er blieb drei Tage lang den Staatsgeschäften fern und vergaß, den Ministern die Brandopfer zu senden. Darauf trat Konfuzius ab. Bei einem Aufenthalt in der Stadt Tun sagte Schischi beim Abschied zu Konfuzius: »Meister, ich weiß, es ist nicht Eure Schuld, daß Ihr Lu verlaßt.« Konfuzius erwiderte: »Darf ich Euch ein Lied vorsingen?« Dann sang er:

Hütet euch vor Weiberränken, Die den Sinn zum Bösen lenken. Wer auf Weiberlist vertraut, Kommt am End' um seine Haut. Heißa ho! Meck meck meck! Ich begebe mich hinweg!

Als Schischi zurückkehrte, fragte Huan, was Konfuzius gesagt habe. Schischi berichtete es ihm wahrheitsgemäß; Huan seufzte tief auf und sprach: »Der Meister zürnt mir wegen dieser Dirnen.«

4· Fünf Wanderjahre 496-492

Konfuzius begab sich darauf in das Land Wei (westlich von Lu) und kehrte bei Yen Tutsou, dem Bruder der Gattin des Tselu, ein. Fürst Ling von Wei fragte an, was für ein Gehalt Konfu­zius in Lu bezogen habe; als er erfuhr, das Gehalt habe sechzig-

54

Page 57: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

tausend Scheffel Reis betragen, bot ihm der Staat Wei gleich­falls sechzigtausend Scheffel Reis. Aber nachdem Konfuzius einige Zeit in Wei verbracht hatte, sprach jemand zum Fürsten schlecht über Konfuzius, und der Fürst befahl einem gewissen Kungsun Yutschia, in voller Waffenrüstung durch das von Konfuzius bewohnte Zimmer zu schreiten. Konfuzius verstand den Wink und verließ Wei nach einem Aufenthalt von zehn Monaten.

Von dort begab er sich in das Land Thschen (weiter west­lich); sein Weg führte ihn durch die Stadt Khuang. Yen Kheh lenkte den Wagen. Er zeigte mit der Peitsche auf eine Lücke in der Stadtmauer und bemerkte: »Seht, das vorige Mal kam ich durch diese Lücke in die Stadt.« Einige Einheimische hörten diese Bemerkung und vermeinten, Yang Hu von Lu käme in die Stadt. Nun hatte sich Yang Hu einmal sehr grausam gegen die Einwohner von Khuang gezeigt, und diese umstellten daher den Konfuzius. Konfuzius sah dem Yang ähnlich und wurde daher fünf Tage lang gefangengesetzt. Yen Yung (oder Yen Huei, sein Lieblingsjünger) tauchte später auf, und Konfuzius sprach zu ihm: >>Ich glaubte schon, sie hätten dich umgebracht.« »Wie dürfte ich mich umbringen lassen, solange Ihr lebt!« er­widerte Yen.

Die Lage wurde immer bedrohlicher und die Jünger fürchte­ten sich. Aber Konfuzius sprach: »Ist nicht seit dem Tode des Königs Wen die Tradition dieses Königs (die moralische Ober­lieferung des Königs Wen, der für Konfuzius das ideale Regie­rungssystem verkörperte) in meinem Besitz oder in meiner Ver­wahrung? Wenn es der Wille des Himmels ist, daß diese mora­lische Tradition verloren geht, wird die Nachwelt nie mehr von dieser Überlieferung Kenntnis erhalten. Wenn es aber des Him­mels Wille ist, daß diese Tradition nicht verloren gehe, was können die Leute von Khuang mir dann anhaben?<< Konfuzius durfte schließlich unter der Bedingung fortgehen, daß er einen seiner Anhänger, den Edlen Wu Ning, bat, in die Dienste des Staates Wei zu treten.

Darauf zog er durch Phu, wo er sich über einen Monat auf­hielt, um dann wieder nach Wei zurückzukehren. Er kehrte im Hause des Tschu Poyu ein (eines hochgebildeten alten Herrn, den Konfuzius schätzte). Die Königin Nancia von Wei ließ Konfuzius sagen: »Die ausländischen Herren, die unser Land mit ihrem Besuch beehren und die Freundschaft unseres Königs wünschen, kommen mich immer besuchen. Darf ich nicht auch um die Ehre Eures Besuches bitten?« Konfuzius versuchte ab­zusagen, fand aber keine Ausrede. Die Königin empfing Kon­fuzius hinter einem Leinenvorhang. Konfuzius trat ein und

55

Page 58: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

machte seinen Kotau nach Norden, die Königin machte hinter dem Vorhang eine doppelte Verbeugung, und ihre Jadeanhän­ger klingelten. Nach der Unterredung sagte Konfuzius: »Ich wollte sie anfangs nicht besuchen, aber während unseres Ge­spräches wurde der vollkommene Anstand gewahrt.« Tselu war äußerst empört (denn die Königin war ob ihres zügellosen Lebenswandels berüchtigt), aber Konfuzius beteuerte: »Wenn ich etwas Unrechtes getan habe, dann möge mich der Himmel strafen! Der Himmel möge mich strafen!«

Konfuzius verweilte länger als einen Monat in Wei. Eines Tages fuhr der Fürst mit der Königin aus, wobei der Eunuch Yung Tschu den Wagen lenkte und Konfuzius in einem zweiten Wagen nachfolgte (oder: den zweiten Platz auf dem Kutsch­bock einnahm). So fuhren sie feierlich durch die Straßen und zogen die Blicke der Umstehenden auf sich, so daß Konfuzius bemerkte: »Ich habe noch nie erlebt, daß das Volk von tugend­samen Gelehrten ebenso betört wird wie von schönen Frauen!« Konfuzius betrachtete dies als Schande und begab sich von W ei fort nach Tschao. In diesem Jahr (495 v. Chr.) starb der Fürst Tingvon Lu.

Von Tschao begab sich Konfuzius nach Sung und studierte dort mit seinen Jüngern unter einem großen Baum die Praxis des Zeremonienwesens. Ein Krieger aus Sung, Huan Tuei, wollte den Konfuzius töten und entwurzelte den Baum. Da be­schloß Konfuzius, Sung zu verlassen; seine Jünger sagten: »Wir sollten uns sputen!« Konfuzius erwiderte: »Der Himmel hat mir ein moralisches Schicksal (oder: eine Sendung) anvertraut. Was kann mir da Huan Tuei anhaben?«

Konfuzius begab sich hierauf nach Tscheng (im heutigen Honan}, wo der Meister und seine Jünger einander aus den Augen verloren. ·

Als Konfuzius einsam beim Osttor der Außenstadt stand, be­richteten die Ortseinwohner dem Tsekung: »Am Osttore steht ein Mann, dessen Stirne der des Kaisers Y ao ähnelt, dessen Hals dem des Ministers Kaoyao gleicht und dessen Schultern denen des Tsehtschan ähnlich sind; unterhalb des Gürtels jedoch ist er drei Zoll kleiner als Kaiser Yu. Er sieht bekümmert aus, wie .ein verirrter, streunender Hund.« Tsekung erzählte· das dem Konfuzius (als sie sich wiedergefunden hatten}, und dieser sagte lachend: »Über die Beschreibung meiner Gestalt weiß ich nichts zu sagen, aber mit meiner Khnlichkeit mit einem ver­irrten, streunenden Hund hat er ganz recht. Da hat er wohl recht!«

Von da begab sich Konfuzius nach Thschen (Thschen, Tscheng, Tschai und Sung lagen ganz nahe beieinander}, wo er

s6

Page 59: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

über ein Jahr im Hause des Stadthauptmanns von Tsengtse verbrachte. Der König von Wu (ein großes Land im Südosten, im heutigen Kiangsu) fiel in Thschen ein und eroberte dort drei Städte. Tschao Yang drang in Tschuk.o ein (494 v. Chr.); das Heer von Thschu belagerte Tschai und die Bevölkerung von Tschai wanderte nach Wu aus. Wu besiegte den König Kou­tschien von Yueh (im Südosten, im heutigen Tschekiang) bei Kueitschi. Ein Falke, der von einem Pfeile durchbohrt war, ließ sich im Hofe von Thschien (wo Konfuzius weilte) nieder und verendete. Der Pfeil war aus Khu-Holz und hatte eine Feuer­steinspitze, die anderthalb Fuß und einen Zolllang war. Der Fürst von Thschen sandte einen Boten an Konfuzius, um ihn über diesen Pfeil zu befragen, und dieser antwortete: »Dieser Falke muß von sehr weit hergeflogen sein. Solche Pfeile wer­den von den Barbaren von Schuschen benützt. Als der Kaiser Wu das Land Schang eroberte und Straßen zu den >neun Yi< und >Hundert Mann<-Barbaren baute, forderte er von den ver­schiedenen Ländern Tribut zum Zeichen ihrer ewigen Unter­werfung. Die Barbaren von Schuschen sandten als Tribut Pfeile aus Khu-Holz mit Feuersteinspitzen, welche einen Fuß und einen Zoll maßen. Der Kaiser schenkte diese Pfeile seiner älte­sten Tochter zum Zeichen seiner Zuneigung. Sie heiratete den Fürsten Yunu, der später der erste Fürst von Thschen wurde. Es war damals Brauch, den kaiserlichen Verwandten gleichen Zu­namens zum Zeichen der Anhänglichkeit Geschenke aus Jade zu überreichen, und den kaiserlichen Verwandten mit anderen Zunamen Tribute aus fernen Ländern zu bringen, damit sie ihre Treuepflicht dem Kaiserhaus gegenüber nicht vergäßen. Auf diese Weise kamen die Pfeile aus Schuschen nach Thschen. Ihr könnt in den alten Archiven nachsehen und werdet dort wohl noch einige finden.« Wirklich fanden sich in den alten. Archiven noch andere derartige Pfeile, genau wie Konfuzius es gesagt hatte.

Konfuzius blieb drei Jahre in Thschen. Damals kämpften die Länder Tschin (das heutige Schensi) und Thschu (das heutige Hupei) um die Macht und fielen oft in Thschen ein. Als das Land Wu in Thschen einfiel und Thschen Thschang angegrif­fen wurde, sagte Konfuzius: »Ach, laßt uns heimgehen! Die jungen Männer aus unserer Heimat sind entweder geistreich und sprunghaft oder schlicht und bescheiden. Sie haben aber alle ihre ursprüngliche Biederkeit nicht verloren.« Konfuzius verließ daher Thschen und zog durch die Stadt Phu. ·

Damals machte ein gewisser Kungschu gerade einen Auf­stand in Phu und das Volk umstellte den Konfuzius. Dieser hatte einen Jüngernamens Kungliang Ju mit, der mit fünfWa-

57

Page 60: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

genhinter Konfuzius einherfuhr. Kungliang Ju war ein hochge­wachsener, tüchtiger, ob seiner Tapferkeit bekannter Mann. Er sagte: »Welch eine Fügung! Das vorige Mal, als ich Euch nach Khuang begleitete, gerieten wir in Schwierigkeiten und heute geschieht uns das abermals. Diesmal möchte ich lieber kämpfen und fallen.« Es folgte ein wütender Kampf; die Einwohner von Phu bekamen aber schließlich Angst und versprachen, den Kon­fuzius freizulassen, wenn er versprechen würde, nicht nach Wei zu gehen. Konfuzius schwur also, nicht hinzugehen, ver­ließ Phu durch das Osttor und begab sich geradeswegs nach Wei. >>Wie, darf man denn einen Eid brechen?« fragte Tsekung. »Gewiß«, erwiderte Konfuzius, »es war ja ein erzwungener Eid und den beachten die Götter nicht.«

Der Fürst von Wei war hocherfreut, als er von der Rückkehr des Konfuzius erfuhr, und ging .ihm bis in die Vorstadt ent­gegen. »Meint Ihr, ich könne die Stadt Phu angreifen?« fragte der Fürst. »Gewiß«, antworteteKonfuzius. »Aber meine Mini­ster raten davon ab«, sagte der Fürst, >>denn Phu dient uns als Pufferstaat zum Schutz gegen Tschin und Thschu. Ist es da nicht eher ratsam, einen Angriff zu unterlassen?« Konfuzius erwi­derte: >>Die Männer von Phu sind bereit, ihr Land bis zum äußersten zu verteidigen, und auch ihre Frauen sind gewillt, ihre Heimstätten zu verteidigen. Wir wollen aber bloß vier oder fünf Rebellenführer bestrafen.« »Gut«, sagte der Fürst. Schließlich griff er aber Phu doch nicht an.

Damals war der Fürst schon alt, kam seinen Pflichten nicht mehr nach und wollte dem Konfuzius die Macht übertragen. Konfuzius seufzte und sprach: »Wenn mich nur jemand an die Macht lassen wollte, so würde ich bloß einen Monat brauchen (um eine neue Ordnung zu begründen) und würde innerhalb dreierJahreGroßes erzielen.«

Darauf verließ Konfuzius Wei. Ein gewisser Pi Hsi war da­mals Stadthauptmann von Tschungmou (im Lande Tschin); und der Edle Tschen Tschao, der gegen Fan Tschunghsing kämpfte, griff seine Stadt an. Pi Hsi setzte sich zur Wehr und sandte einen Boten an Konfuzius mit der Bitte, ihm ,zu helfen. Konfuzius ~atte Lust, hinzugehen, aber Tselu widersprach: »Meister, ich habe Euch sagen hören, daß ein Herr nicht in das Land eines Herrschers geht, der ein schlechtes Privatleben führt. Wie könnt Ihr also diesem Rebellen Pi Hsi helfen wol­len?«» Ja, ichhabedas zwar gesagt«, erwiderteKonfuzius, >>aber, wie das Sprichwort sagt, ein wirklich harter Stein fürchtet das Schleifen nicht und ein wirklich weißer Stoff scheut die Farbe nicht. Bin ich denn ein vertrockneter Kürbis, der es aushält, ein­fach an der Wand zu hängen und {tagelang) nichts zu essen?«

ss

Page 61: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Konfuzius spielte einmal auf einem klingenden Steine, dem Thsching, und ein Mann, der einen Weidenkorb trug, ging vor­bei und sagte: »Wie kann man nur einfach so herumsitzen und müßig auf einem klingenden Steine spielen? So ein Klotz kennt sich ja selber nicht. Was soll man von einem solchen Menschen halten?«

Konfuzius lernte einmal vom Musikmeister Hsiangtse Thschin (ein Saiteninstrument) spielen und machte scheinbar zehn Tage lang keine rechten Fortschritte. Der Musikmeister sagte ihm: >>Jetzt solltet Ihr zu etwas anderem übergehen.« Konfuzius erwiderte: »Ich habe die Melodie schon gelernt, habe aber den Rhythmus noch nicht recht erfaßt.« Nach einiger Zeit sagte der Musikmeister: »Jetzt habt Ihr auch den Rhythmus er­lernt und müßt zum Nächsten übergehen.« >>Ich habe aber den Ausdruck noch nicht erlernt«, erwiderte Konfuzius. Nach einer Weile sagte der Musikmeister wiederum: »Jetzt habt Ihr auch den Ausdruck gelernt und müßt Euch weiterbilden.« Aber Kon­fuzius erwiderte: »Ich kann mir aber im Geiste noch kein Bild von der Persönlichkeit des Künstlers machen.« Und nach einer Weile sagte der Musikmeister: ·,,Hinter dieser Musik steht ein Mann, der, in tiefes Sinnen versunken, bisweilen glücklich das Haupt erhebt und in die Ferne schaut, den Geist auf das Ewige gerichtet.« >>Ja, jetzt hab ich's«, sprach Konfuzius, >>es ist ein hochgewachsener, dunkelhaariger Mann, der wie ein Reichs­gründer aussieht. Kann es denn ein anderer sein als König Wen (der Gründer der Tschou-Dynastie) selbst?« Der Musikmeister stand auf und verneigte sich zweimal. »Das Stück ist wirklich von König Wen«, sagte er.

Konfuzius meinte, in Wei nichts ausrichten zu können, und begab sich darum nach Tschin, um den Edlen Tschien Tschao zu besuchen. Als er an das Ufer des Gelben Flusses kam, erhielt er die Nachricht vom Tode des Tu Mingtu und des Schuan Hua. Er blieb am Ufer stehen und seufzte: >>Wie schön strömt das Was­ser dahin! Ewig strömt es fort! Das Schicksal hat beschlossen, daß ich den Fluß nicht überschreiten soll.«» Wiemeint Ihr das?« fragte Tsekung vor ihn tretend. Und Konfuzius erwiderte: >>Tu Mingtu und Schuan Hua waren gute Minister von Tschin. Ehe der Edle Tschien Tschao an die Macht kam, sagte er, er werde unbedingt diese beiden Männer in seine Dienste nehmen, wenn er an die Macht gelangen sollte, und jetzt, da er mächtig geworden ist, hat er sie umgebracht. Ich habe sagen hören, wenn die Leute ungeborene Kinder aus dem Mutterleib schneiden oder Kinder töten, dann meidet das Einhorn das Land, und wenn die Leute einen Teich trockenlegen, um Fische zu fangen, weigert sich der Drache, die Prinzipien des Yin und Yang in

59

Page 62: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Einklang zu bringen (was zu Hungersnot und überschwem­mung führt); und wenn die Leute Vogelnester ausnehmen und die Eier zerbrechen, dann kommt der Phönix nicht mehr. Wes­halb? Weil der vornehme Mensch den Leuten aus dem Wege geht, die ihresgleichen umbringen. Wenn sogar das Getier und die Vögel das Böse meiden, wieviel notwendiger muß ich das · tun!« [2]. Er kehrte daher in das Dorf Tsou zurück und ver­faßte zum Gedenken an die beiden guten Minister ein Musik­stück für das Saiteninstrument » Tsou Thsao«.

Darauf kehrte Konfuzius nach Wei zurück und wohnte bei Tschu Poyu. Eines Tages befragte ihn der Fürst von Wei über taktische Angelegenheiten. Konfuzius erwiderte: »Ich weiß manches über Opferzeremonien, aber in Militärwissenschaft bin ich völlig ahnungslos.« Als Konfuzius am nächsten Tag wieder mit dem Fürsten sprach, wandte dieser bloß den Kopf nach oben und blickte den Wildgänsen am Himmel nach, ohne Konfuzius Beachtung zu schenken. So begab sich Konfuzius wieder nach Tschin.

Im Sommer dieses Jahres (493 v. Chr.) starb der Fürst. Sein Enkel Tscheh, bekannt unter dem Namen Fürst Thschu von Wei, wurde sein Nachfolger. Im Juni nahm Tschao Yang den ältesten Sohn des Fürsten, Kuei Huei, in Thschi bei sich auf [3]. Yang Hu sandte darauf Kuei Huei acht Männer in Trauerklei­dung entgegen, die den Anschein erwecken sollten, als hätten sie ihn in Anerkennung seiner Rechte aus seinem Fürstentum W ei hergeleitet. Die Abordnung klagte in der üblichen Art eines Leichenzuges und Kuei Huei blieb seitdem in Thschi.

Im Winter verlegte der Staat Tshai seine Hauptstadt nach Tschulai. Das geschah im dritten Regierungsjahr des Fürsten Ai von Lu (492 v. Chr.), als Konfuzius sechzig Jahre alt war. Der Staat Thschi entsandte damals ein Heer, um dem Staat Weibeider Belagerung der Stadt Thschi [4] zu helfen, wo der verbannte Prinz Kuei Huei wohnte. Im Sommer brannte der Ahnentempel zu Huanli in Lu ab und Nankung Tschingschu führte die Löschmannschaft an. Konfuzius weilte damals in Thschen, aber als er vom Brande erfuhr, meinte er, es müsse sich um den Ahnentempel von Huanli handeln (weil der Got­tesdienst in Huanli der Alten Feudalordnung widersprach). Später fand man, daß Konfuzius richtig geraten hatte.

Im Sommer erkrankte der Edle Huan Thschi und ließ sich in die Stadt Lu hinüberfahren. Beim Anblick der Stadtmauer s~ufzte er auf und sprach: »Di.eses Lu hatte einst Gelegenheit, em starker Staat zu werden, dte es aber leider versäumte, weil ich den Konfuzius kränkte.« Dann wandte er sich um und sprach zu seinem Erben, dem Edlen Khang Tschi: »Wenn ich

-60

Page 63: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

sterbe, so wirst du Er:;tminister von Lu werden; dann mußt du den Konfuzius in sein altes Amt einsetzen.« Ein paar Tage spä­ter starb Huan und Khang wurde sein Nachfolger. Nach den Begräbnisfeiern wollte er den Konfuzius kommen lassen, aber sein Bruder Yu sagte: »Unser verstorbener Vater hat den Kon­fuzius einmal zu einer hohen Stellung berufen und dann verab­säumt, diese Berufung durchzuführen, wodurch er den anderen Fürsten zum Gespött wurde. Wenn du ihn jetzt abermals er­nennst, und dann wiederum anderen Sinnes wirst, wirst auch du zum Gespött der anderen Staaten werden.« »Was würdest du also vorschlagen?« fragte Khang. >>Laß den Yan Thschiu kommen«, war die Antwort. Also wurde ein Bote gesandt, um den Yan Thschiu herzubitten. Als dieser sich anschickte, abzu­reisen, sagte Konfuzius: »Wenn die Leute aus Lu den Thschiu kommen lassen, werden sie ihm eine echte Machtstellung geben und nicht bloß einen kleineren Posten.« An diesem Tag sprach Konfuzius: »Kehren wir heim! Kehren wir heim! Die jungen Leute bei uns sind entweder gescheit aber sprunghafl: oder zu schlicht und scheu. Sie sind aus gutem Holz und ich muß ver­suchen, sie zurechtzuschnitzen.« Tsekung wußte, daß Konfu­zius sich mit dem Gedanken trug, heimzukehren, und sagte da­her zu Yan Thschiu: >>Wenn Ihr an der Macht seid, müßt Ihr den Konfuzius berufen.«

5· Heimsuchungen in Thschen und Tschai 491-489

Nach dem Weggang des Yan Thschiu begab sich Konfuzius im folgenden Jahr (491) von Thschen nach Thsa.i. Fürst Tschao von Thsai war vom König von Wu zu sich beschieden worden, und war im Begriffe, sich nach Wu zu begeben. Dieser Fürst Tschao hatte aber früher einmal seine Untertanen getäuscht, indem er seine Hauptstadt nach Tschoulai verlegte, und als er sich anschickte, nach Wu zu gehen, fürchteten seine Minister, er werde die Hauptstadt abermals verlegen, und darum erschoß Kungsun Phien den Fürsten.

Im folgenden Jahr (490) begab sich Konfuzius von Tschai nach Yeh (einem anderen Kleinstaat) und der Fürst von Yeh befragte ihn, was eine gute Regierung sei. Konfuzius erwiderte: >>Eine gute Regierung besteht darin, die Leute in der Nähe für sich zu gewinnen und die Leute iq der Ferne anzuziehen.<< Ein anderes Mal erkundigte sich der Fürst bei dessen Jünger Tselu über Konfuzius, und Tselu wußte nichts zu antworten. Als Konfuzius dies erfuhr, sagte er: >>Ah Yu (Kosenamen des

61

Page 64: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Tselu), warum hast du ihm nicht gesagt, daß ich ein Mensch bin, der unermüdlich die Wahrheit sucht, die Leute unaufhörlich be­lehrt, das Essen vergißt, wenn er über etwas begeistert ist, alle seine Sorgen vergißt, wenn er glücklich oder hochgestimmt ist, und nicht merkt, daß das Alter naht?«

Konfuzius verließ Yeh und kehrte nach Thsai zurück. Thschangtschu und Thschiehni pflügten gemeinsam ein Feld. Konfuzius meinte, sie seien Philosophen, die sich zurückgezo­gen hatten, und sandte Tselu zu ihnen, um sie nach dem Weg zu fragen. »Wer ist der Mann, der den Wagen lenkt?« fragte Thschangtschu. »Das ist Konfuzius«, war die Antwort. »Der Khung Tschiu aus Lu?« »Ja«, sagte Tselu. »Ja, der müßte doch den Weg kennen!« Und Thschiehni fragte den Tselu: >>Wer seid denn Ihr?« »Ich bin Tschung Yu.« »Seid Ihr ~in Jünger des Khung Tschiu?« Tselu bejahte. »Ja, die Welt ist voller Leute, die umherziehen, - aber wer kann schon die heutigen Zustände ändern? Und wäre es nicht besser, statt einem Mann zu folgen, der eine bestimmte Art Menschen vermeidet, einem zu folgen, der die Menschen insgesamt vermeidet?« Tselu berichtete das dem Konfuzius und dieser sprach: »Vögel und wilde Tiere (oder Menschen, die sie nachahmen wollen) sind nicht die rich­tige Gesellschaft für uns. Und wenn es in der heutigen Welt be­reits eine sittliche Ordnung gäbe, weshalb sollte ich mir die Mühe nehmen, sie zu ändern?«

Ein anderes Mal wanderte Tselu auf der Straße und traf einen alten Mann, der einen Korb aus Weidengeflecht trug. Er fragte ihn: >>Habt Ihr den Meister gesehen?« Der Alte antwor­tete: »Wer ist denn dieser >Meister<? Ein Mann, der es nicht versteht, seine Arme und Beine zur Arbeit zu gebrauchen, und nicht einmal imstande ist, die verschiedenen Getreidearten zu unterscheiden!« Und der Alte steckte seinen Stab in den Boden und begann zu jäten. Tselu erzählte das dem Konfuzius und dieser sprach: »Das muß ein abgedankter Philosoph sein.« Tselu ging ihn holen, aber er war verschwunden.

Konfuzius wanderte drei Jahre lang in Thsai umher. Der Staat Wu griff damals Thschen an und Thschu kam Thschen zu Hilfe (das geschah im Jahre 489 v. Chr.). Das Heer von Thschu hatte sich in Thschengfu verschanzt, und als die Leute von Thschu erfuhren, daß sich Konfuzius irgendwo zwischen Thschen und Thsai aufhielt, schickten sie zu ihm. Da berieten sich die Minister von Thschen und Thsai und sagten: »Konfuzius ist ein äußerst fähiger Mann. Er hat die Schwächen der Herrscher der verschiedenen Staaten bloßgestellt. Jetzt hält er sich schon länger hier auf und findet offenbar keinen Gefallen an dem, was wir treiben. Nun ist aber Thschu ein mächtiger Staat und

62

Page 65: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

trägt sich mit dem Plane, Konfuzius anzustellen, und wenn er in Thschu zur Macht kommen sollte, stünde es schlecht um un­sere Länder und auch wir als Minister wären gefährdet.« Sie sandten daher Soldaten aus, die den Konfuzius auf dem Lande umzingelten. Konfuzius und seine Begleiter konnten nicht fort und ihre Lebensmittelvorräte schwanden dahin. Viele erkrank­ten und mußten das Bett hüten, aber Konfuzius fuhr fort, ohne Unterlaß zu lesen und zu singen und sich auf einem Saiten­instrument zu begleiten. Tselu trat mit wütendem Gesicht zu Konfuzius und sagte: »Befindet sich denn ein vornehmer Herr nicht auch manchmal in Not?« »Ja«, erwiderte Konfuzius, »auch ein Vornehmer befindet sich manchmal in einer Notlage, aber nur ein gemeiner Mensch vergißt sich, wenn er in Not ge­rät, und treibt allerlei Unsinn.« Tsekung war offenbar von dieser treffenden Antwort beeindruckt; da sagte Konfuzius: »Ah Sze, glaubst du denn wirklich, daß ich lediglich versucht hätte, möglichst viel zu lernen und das Wissen in meinem Ge­dächtnis aufzustapeln?« >>Ja, das glaube ich wohl. Stimmt es etwa nicht?« »Nein«, sprach Konfuzius, »es gibt einen Faden, der mitten durch mein ganzes Gewissen läuft.«

Konfuzius erkannte daraus, daß seine Jünger erbost und enttäuscht waren, und darum ließ er den Tselu eintreten und befragte ihn: »Es heißt im Liederbuch: Weder Büffel noch Tiger- sie schweifen in der Wildnis (ein Vergleich mit ihrer eigenen Lage). Meint ihr, daß meine Lehren falsch sind? War­um bin ich in diese Lage geraten?« Tselu erwiderte: »Vielleicht sind wir nicht groß genug und haben es nicht verstanden, uns Vertrauen zu erwerben. Vielleicht sind wir nicht weise genug und die Leute haben keine Lust, unsere Lehren zu befolgen.« »Meinst du?« sprach Konfuzius. »Ah Yu, wenn die Großen immer das Vertrauen des Volkes gewinnen könnten, warum mußten dann Poyi und Schotschi in den Bergen verhungern? Und wenn die Weisen immer die Menschen bewegen könnten, ihre Lehren zu befolgen, weshalb mußte Prinz Pikan Selbst-mord begehen?« .

Tselu ging hinaus und Tsekung trat ein, und Konfuzius sprach: »Ah Sze, es heißt im Liederbuch: Weder Büffel noch Tiger - sie schweifen in der Wildnis. Sind denn meine Lehren falsch? Wie kommt es, daß ich mich auf einmal in einer solchen Lage befinde?« Tsekung erwiderte: »Des Meisters Lehren sind zu groß für das Volk und deshalb kann die Welt sie nicht an­nehmen. Warum steigt Ihr nicht ein wenig von Euren Höhen herab?<< Konfuzius erwiderte: »Ah Sze, ein rechter Bauer be­stellt sein Feld, kann aber nicht für die Ernte einstehen; ein rechter Handwerker macht sein Meisterstück, kann aber nicht

63

Page 66: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

dafür einstehen, daß es der Kundschaft zusagt. Nun liegt· dir aber nichts daran, dich selbst zu vervollkommnen, sondern nur den Leuten zu gefallen. Ich fürchte, du legst nicht eben den höchsten Maßstab an dich an.<<

Tsekung ging hinaus und Yen Huei trat ein; Konfuzius sprach zu ihm: »Ah Huei, es heißt im Liederbuch: Weder Büf­fel noch Tiger - sie schweifen in der Wildnis. Sind denn meine Lehren falsch? Wie kommt es, daß ich mich jetzt in dieser Lage befinde?« Und Yen Huei antwortete: »Die Lehren des Mei­sters sind so groß. Eben deshalb kann die Welt sie nicht anneh­men. Ihr solltet dennoch alles daransetzen, um sie zu verbrei­ten. Was kümmert es Euch, daß sie nicht befolgt werden? Ge­rade, daß sie nicht befolgt werden, beweist ja, daß Ihr ein wah­rer Herr seid. Wenn die Wahrlieit nicht gepflegt wird, so ist das eine Schande für uns; aber wenn wir die Lehren der sittlichen Ordnung bereits redlich verkündet haben und nur die Men­schen sie nicht befolgen wollen, ist das eine Schmach für die, welche an der Macht sind. Was kümmert es Euch, wenn Ihr nicht aufgenommen werdet? Gerade, daß Ihr nicht aufgenom­men werdet, beweist ja, daß Ihr ein wahrer Herr seid.« Kon­fuzius freute sich und sagte lächelnd: »Meint Ihr? Oh, Sohn des Yen, wenn Ihr bloß reich wäret, wäre ich gern Euer Diener!<<

Konfuzius entsandte darauf Tsekung nach Thschu, und Kö­nig Tschao von Thschu schickte Truppen zu Konfuzius, die ihn willkommen hießen und aus seiner Zwangslage befreien soll­ten. Der König beabsichtigte, dem Konfuzius einen Landsitz von siebenhundert Li (oder Grundstücke zur Seßhafl:machung von je fünfundzwanzig Familien) zu übertragen. Ein Minister von Thschu, namens Tschsi, sprach: >>Haben Eure Majestät einen Diplomaten, der so fähig ist wie Tsekung?« »Nein«, ant­wortete der König. »Und haben Eure Majestät einen Erstmini­ster, der so fähig ist wie Yen Huei?« »Nein«, sagte wiederum der König. »Und haben Eure Majestät einen Verwaltungsbeam­ten, der Tselu gleichkäme?« »Nein«, sagte der König. »Außer­dem«, fuhr der Minister fort, »wurde der Ahnherr der Herr­scher von Thschu mit dem Range eines Edlen in dieses Land berufen, dessen Gebiet ursprünglich nur eine Ausdehnung von 50 Li hatte (ein Li ist etwa eine Drittelmeile). Jetzt kommt aber dieser Konfuzius, der fortwährend von den altertümli­chen Methoden der Drei Großen Könige und von den morali­schen Oberlieferungen des Fürsten Tschou und des Fürsten Schao spricht. Wie kann denn unser Land in kommenden Jahr­hunderten weiterhin über Tausende von Quadratmeilen herr­schen, wenn Konfuzius seine ideale Sozialordnung in die Praxis umsetzt? König Wen kam aus der Stadt Feng und sein Sohn,

64

Page 67: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

König Wu, aus der Stadt Khao; sie fingen mit einem Gebiet von ein paar hundert Li an, aber am Ende gelang es ihnen, ihre Herrschaft über ganz China auszudehnen. Ich meine nicht, daß es im Interesse unseres Landes liegt, Konfuzius, dem so tüchtige Jünger zur Seite stehen, in den Besitz eines Herrschaftsgebietes zu setzen.« Das führte beim König eine völlige Gesinnungs­änderung herbei.

Im Herbste dieses Jahres (489 v. Chr.) starb König Tschao zuThschengfu. In Shschu gab es einen Narren namensTschiehyu, der, als er an Konfuzius vorbeikam, folgendes Lied sang:

Vogel Phönix, Vogel Phönix, Was ist deinem Sinn geschehn [ 5] ? Was vergangen, sei vergangen; Aber denke, was noch kommt! Wehe, wehe, dreimal wehe, Weh den Herrschern dieser Zeit!

Konfuzius stieg von seinem Wagen herab, um mit ihm zu reden, aber er lief davon, so daß Konfuzius nicht mit ihm reden konnte. So kehrte er von Thschu nach Wei zurüds.. Das war im fünften Regierungsjahr des Fürsten Ai von Lu (489 v. Chr.), als Konfuzius dreiundsed1zig Jahre alt war.

6. Weitere Wanderjahre 488-484

Im nächsten Jahre (488 v. Chr.) hielten Wu und Lu eine Kon­ferenz ab, bei der hundert Opferkühe dargebracht wurden (eine ganz unangemessene Zahl, die im Widerspruch zur konfuzia­nischen Feudalordnung stand). Der Wu-Minister Phi ersuchte den Edlen' Khang Tschi, den Staat Lu ZU vertreten, aber da Khang keine Lust dazu verspürte, entsandte er an seiner Statt den Tselu.

Nun hatte Konfuzius gesagt, daß Lu und Wei Vettern seien (da die Ahnherren der beiden Herrscherhäuser Brüder gewesen waren); der Thronfolger des Fürstentums Lu weilte damals im Ausland, weil er sich zu Hause nicht durchsetzen konnte, und die Herrscher der Einzelstaaten schmiedeten unaufhörlich Pläne für die Zukunft.

Zahlreiche Jünger des Konfuzius standen damals bereits im Dienste von Wei, und der Herrscher von Wei beabsichtigte, sich auch noch die Dienste des Korifuzius zu sichern. Tselu fragte ihn: »Wenn der Herrscher von Wei Euch die Regierung über­trüge, wie würdet Ihr da beginnen?« »Ich würde zunächst den

5/154

Page 68: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Gebrauch des rechten Namens (für Ränge und Titel) ein­führen«, antwortete Konfuzius. »Ist das Euer Ernst?« fragte Tselu. »Wie sonderbar unpraktisch! Wozu bedarf es der Ein­führung des rechten Namens?<< »Ah Yu, Ihr seid aber wirk­lich einfältig!« erwiderte Konfuzius. »Wenn der Name nicht stimmt, ist ja die ganze Art unseres Sprechens nicht in Ord­nung; wenn unsere Sprechweise nicht in Ordnung ist, können Befehle nicht durchgeführt werden; wenn Befehle nicht durch­geführt werden, können die geziemenden Formen des Gottes­dienstes und des gesellschaftlichen Verkehrs (in Zeremoniell und Musik) nicht wiederhergestellt werden; wenn die gezie­menden Formen des Gottesdienstes und des gesellschaftlichen Verkehrs nicht wiederhergestellt werden, wird die Rechtspre­chung des Landes versagen [ 6]; wenn die Rechtsprechung ver­sagt, weiß das Volk nicht mehr, was es tun soll und was es nicht tun soll. Wenn ein Herr etwas einführt, muß er sicher wissen, mit welchen Ausdrücken es zu bezeichnen ist, und wenn er einen Befehl erteilt, muß er wissen, daß dieser Befehl auch fraglos durchgeführt werden kann. Ein Herr gebraucht daher seine Ausdrücke niemals leichtfertig.« . .

Im folgenden Jahr (484 v. Chr.) [7] führte Jan Thschiu, der damals in der Verwaltung des Staates Lu tätig war, die Trup­pen ·des Edlen· Khang Tschi gegen Thschi und siegte in der Schlacht bei Lang. Khang fragte J an Thschiu: »Wieso beherrscht Ihr die Wissenschaft der Kriegführung? Habt Ihr sie studiert oder ist das natürliche Begabung?« Jan Thschiu erwiderte: »Ich habe sie von Konfuzius gelernt.« »Was für ein Mann ist dieser Konfuzius?« fragte Khang. Und Jan Thschiu antwortete: ,. Wenn Ihr ihm die Regierung übertrüget, würde sich sein Ruf sofort verbreiten. Ihr könnt seine Lehren am Volk versuchen und den Göttern vorlegen, und sogar die Götter könnten kei­nen Fehler daran finden. Er trachtet danach, ein Land in den Zustand vollkommener moralischer Ordnung zu versetzen. Selbst wenn Ihr ihm die Herrschaft über 25 ooo Familien über­trüget, würde er die Macht nie zu eigennützigen Zwecken miß­brauchen.« >>Soll ich ihn also herbeirufen?« fragte Khang. »Nein«, erwiderte Jan Thschiu. »Ihr dürft ihn niemals berufen -das wäre unhöflich; Ihr müßt ihn ersuchen zu kommen.« Da­mals schickte sich Khung Wentse von Wei gerade an, Thaischu anzugreifen. Er erbat den Rat des Konfuzius in Fragen der Taktik, aber Konfuzius lehnte höflich ab, ihm einen Rat zu erteilen, und sagte, er verstünde.nichts von Taktik. Nach dieser Unterredung bestellte Konfuzius seinen Wagen zur Abfahrt und sagte: »Ein Vogel kann den Baum wählen, auf dem er wohnen will, aber ein Baum kann sich nicht seinen Vogel aus-

66

Page 69: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

wählen.« Khung Wentse versuchte noch immer, ihn zum.Blei­ben zu bewegen. Dann. vertrieb der Edle. Khang Tsch1 den Kung Huai, den Kung Pm und. den Kung Lm un~ sandte Kon­fuzius Geschenke, um ihn willkommen zu he1ßen. parauf kehrte Konfuzius in seine Heimat Lu zurück. Er war v1erzehn Jahre im Ausland gewesen, ehe er nach Lu heimkehrte (484 v. Chr.) [8].

7· Werke und Eigenheiten des Konfuzius 484-481

Fürst Ai von Lu befragte den Konfuzius über die richtige Art zu regieren, und Konfuzius antwortete: »Das Geheimnis der Regierung liegt in der richtigen Auswahl der Minister.« Der Edle Khang Tschi befragte den Konfuzius über die richtige Art zu regieren, und Konfuzius antwortete: »Nehmt die redlichen Männer in die Regierung und laßt sie zum Maßstab für die unredlichen werden; dann werden die Unredlichen zur Red­lichkeit zurückkehren« [9]. Der Edle Khang machte sich Sor­gen wegen der Diebe und Räuber im Lande, und Konfuzius sprach: >>Wenn Ihr selber das Geld nicht liebt, könnt Ihr den Dieben Geld anbieten, und sie werden es nicht nehmen.«

Aber schließlich entschloß sich die Regierung von Lu doch nicht, dem Konfuzius ein Amt zu geben, und Konfuzius be­warb sich auch nicht darum. Zur Zeit des Konfuzius war die Macht der Tschou-Kaiser geschwunden, die Formen des Gottes­dienstes und des gesellschaftlichen Umgangs (»Zeremoniell und Musik«) waren in Verfall geraten und Studium und Gelehr­samkeit befanden sich im Niedergang. Konfuzius studierte die religiöse oder kultische Ordnung und die Geschichtsurkunden der Drei Dynastien (Hsia, Schang und Tschou), erforschte die historischen Ereignisse von den Zeiten der Kaiser Yao und Schun bis zu den Zeiten der Fürsten Mu und Thschin und ord­nete sie in zeitlicher Folge [ 10]. Einmal sagte er: »Ich könnte manches überdie Feudalordnung (Li oder >>Zeremonienwesen«) von Hsia berichten, aber es gibt nicht viele Bräuche in der Stadt Tschi (in der die Nachkommen der Hsia-Dynastie herrschten, die sich gehalten haben). Ich könnte über die Feudalordnung der Schang-Dynastie vieles sagen (bekannt wegen der Herr­schaft der Priester), aber es gibt nicht genug erhaltene Bräuche in der Stadt Sung (wo die Nachkommen der Schang-Dynastie herrschten). Wenn die Bräuche in genügender Zahl erhalten wären, könnte ich sie auf Grund der vorhandenen Unterlagen wiederherstellen.«

5*

Page 70: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Er durchforschte hierauf die Veränderungen der Bräuche zwischen den Dynastien Hsia und Schang, stellte fest, inwie­weit und mit welchen Abänderungen diese Bräuche in die Tschou-Zeit übernommen wurden, und sagte: »Ich vermag sogar vorauszusagen, wie die historische Entwicklung in den kommenden hundert Generationen· verlaufen wird.« Er be­merkte, wie die eine Dynastie (Schang) eine an rituellen For­men sehr reiche Kultur darstellte, die andere (Hsia) eine Kultur des einfachen Lebens, und wie die Tschou-Dynastie die beiden vorangehenden Kulturen zu einem vollkommenen und schönen Ganzen vereinigt und verquickt hatte; er beschloß daher, diese Tschou-Kultur zum Vorbild zu wählen. Infolgedessen hinter­ließ Konfuzius der Nachwelt einen Schatz historischer Urkun­den (z. B. das Geschichtsbuch) sowie verschiedene Aufzeich­nungen über Brauchtum und Volkskunde.

Konfuzius unterhielt sich mit dem Großmusikmeister von Lu über Musik und sprach: >>Die Grundsätze der Musik dürften bekannt sein. Die Aufführung sollte friedvoll beginnen, sich zu voller Harmonie und Klarheit steigern und mit einer Fort­führung oder Wiederholung des Themas schließen.« Einmal sagte er auch: >>Nach meiner Rückkehr aus Weinach Lu konnte ich die musikalischen Oberlieferungen wiederherstellen, die Musik von Sung (rituelle Hymnen) und Y a (klassische Tschou­Musik) klassifizieren und die Lieder mit ihren ursprünglichen Noten versehen« [11]. Ursprünglich gab es mehr als dreitau­send Lieder; Konfuzius nahm die doppelt vorhandenen heraus und wählte die aus, die sich an die strenge Form hielten [ 12]. Die Sammlung beginnt mit den Liedern des Thschi und des Houtschi (mystische Ahnen der Tschou-Kaiser), erstreckt sich über die große Zeit der Schang- und Tschou-Könige und reicht bis in die Zeit der Tyrannen Yu und Li. Sie beginnt mit einem Lied über die Gattenliebe, und darum heißt es: »Das Lied Kuanthschih leitet die Sammlung Feng ein; Luming leitet die Sammlung des >kleinen Y a< ein; Wenwang leitet die Sammlung des >großen Ya< ein; und Tschingmiao die Sammlung Sung.« Konfuzius sang alle dreihundertfünf Lieder selbst und beglei­tete sich auf einem Saiteninstrument, um festzustellen, daß sie mit den H siao-, W u-, Y a- und S ung-Melodien übereinstimmten. Durch ihn wurden somit die Oberlieferungen der alten Riten und der alten Musik der Vergessenheit entrissen und der Nachwelt erhalten, damit sie bei der Durchführung seines Ideals einer »königlichen Regierung« und bei der Verbrei­tung der »sechs Künste« mithelfen könnten (die sechs Lehr­gegenstände in den damaligen konfuzianischen Schulen: Zere­monien [Sitte], Musik, Bogenschießen, Wagenlenken, Lesen

68

Page 71: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

und Rechnen; von manchen auch als die »sechs Klassiker« auf­

gefaßt). 1 · f · · V 1· b f·· d y· In seinem A ter ze1gte Kon uz1us. eme or 1e e ur as t-king oder Buch der Wandlungen, seine Vorrede, Thuan, Hsi, Hsiang, Schuokua und Wenyuan. Er las das Yiking so gründ­lich, daß der Lederriemen (der das Bündel der Bambustäfel­chen zusammenhielt) durchgewetzt wurde und mehrmals er­neuert werden mußte. Er sagte: >>Gebt mir noch ein paar Jahre Zeit zum Studium des Yiking, dann würde ich mir zutrauen, die Philosophie der Wandlungen des Menschenschicksals eini­germaßen zu verstehen.«

Konfuzius unterwies JOOO Schüler in Dichtkunst, Geschichte, Zeremonien und Musik, von denen 72, wie Yen Tutsou, die >>sechs Künste« (gemeint sind wahrscheinlich die »sechs Klassi­ker«) beherrschten. Eine große Zahl Menschen kam zu ihm, um bei ihm zu studieren. ·

Konfuzius betOnte vier Dinge: Literatur, Betragen, die Ver­wirklichung des wahren Selbst und Redlichkeit in menschlichen Beziehungen.

Er lehnte vier Dinge ab (oder versuchte sie völlig zu ver­meiden): Voreingenommenheit, Starrköpfigkeit, Engherzigkeit und Selbstsucht. Er war um drei Dinge ernstlich besorgt: ritu­elle Bäder (als Vorbereitung zum Gottesdienst), Krieg und Krankheit. Er sprach selten von Gewinn, dem Willen des Him­mels oder des Schicksals und dem echten Menschen [ 1 3]. Wenn einer nicht wirklich um die Wahrheit bemüht und nicht wirk­lich entschlossen war, sie zu suchen, versuchte er gar nicht erst, sie ihm zu erklären oder ihn zum Denken anzuregen; und wenn Konfuzius jemandem ein Viertel dessen mitteilte, was er sagen wollte, und dieser nicht nachsann, um sich die übrigen drei Viertel durch eigenes Denken zu erarbeiten, unterrichtete er ihn nicht weiter.

In seinem Privatleben [14], in seinem Heimatdorf oder mit seiner Verwandtschaft war er sanft und vornehm zurückhal­tend wie einer, der nicht viel reden kann, aber an Orten öffent­lichen Gottesdienstes und an den Gerichtshöfen war er beredt, wenn auch höchst behutsam in der Wahl seiner Worte. Bei Hof sprach er sehr gemessen und ehrerbietig mit Höheren und leut­selig mit Niederen. Wenn er einen Amtssaal betrat, verneigte er sich und eilte beflissen nach vorne. Wenn ein Bote des Königs erschien, legte er ein ernstes Betragen an den Tag, und wenn ein König ihn zu sid1 berief, brach er sofort auf, ohne auf den Wagen zu warten. Wenn der Fisch oder das Fleisch nicht frisch oder nicht sauber vorgeschnitten waren, aß er sie nicht. Wenn die Matte nicht ordentlich gebreitet war, ließ er sich nicht auf

69

Page 72: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

ihr nieder. Wenn er in Gesellschaft Trauernder speiste, nahm er nur wenig zu sich, und wenn er weinen sollte (bei einer Lei-. chenfeier), sang er an diesem Tage nicht. Wenn er Menschen in Trauerkleidung sah oder an Blinden vorüberging, änderte er seinen Gesichtsausdruck, auch wenn es bloß Kinder waren. (Er sagte:) »Wenn ich auch nur mit drei Menschen spazierengehe, so ist doch immer einer darunter, der mir noch etwas beibringen kann.« »Was mich beschäftigt und mir Sorgen macht, ist fol­gendes: daß ich es unterlassen habe, meinen Charakter zu bil­den, daß ich meine Studien vernachlässigt habe, daß ich den rechten Weg nicht gehen konnte, selbst wenn ich ihn sah, und daß ich meine Fehler nicht zu verbessern vermochte.<< Wenn er jemanden singen hörte und das Lied ihm gefiel, bat er um Wiederholung und stimmte in den Kehrreim ein. Er lehnte es ab, über Mythologisches, körperliche Leistungen, unbotmäßige Menschen und die Geisterwelt zu reden [ 1 5).

Tsekung sagte von Konfuzius: »Der Meister lehrte uns Lite­ratur und Gelehrsamkeit; das können wir von ihm lernen; seine Gedanken über die Natur oder die Wege der Natur (oder des Himmels) aber konnten wir nicht von ihm lernen und konnte er uns nicht lehren.« Yen Yuan (oder Yen Huei) seufzte und sprach: »Man sieht zu ihm auf, und es scheint so hoch. Man versucht es zu durchdringen, und es scheint so hart. Man glaubt es vor sich zu sehen, und es steht plötzlich hinter einem. Der Meister lehrt und leitet sanft und gütig. E~: unterwies mich, meine Persönlichkeit durch das Lesen literarischer Werke zu bereichern, und mich dann durch gebührliches Betragen zu be­herrschen. Ich fühle mich mitgerissen, aber wenn ich mein Bestes getan und alles, was in mir ist, entfaltet habe, bleibt dennoch etwas übrig, das sich meinem Zugriff entzieht. Ich mag mich noch so sehr bemühen, seinen Standort zu erreichen - ich ver­mag den Weg nicht zu finden.« Ein Jüngling aus Tahsiang sprach: »Groß ist Konfuzius- er weiß über alles Bescheid und ist doch nirgends Fachmann!<< Als Konfuzius das erfuhr, sprach er: »Wo soll ich denn Fachmann sein? Etwa im Bogenschießen oder Wagenlenken?<< Tselu sagte: »Konfuzius sagt von sich, daß er nicht in den Staatsdienst eintrete und daher reichlich Zeit habe, um die verschiedenen Kunstarten und die Literatur zu studieren.«

Im Frühling des vierzehnten Regierungsjahres des Fürsten Ai von Lu (481 v. Chr.) fand im Lande eine Jagd statt, auf welcher der Wagenlenker des Edlen Schusun, namens Tschu­schang, ein seltsames Tier fing, was als übles Vorzeichen ange­sehen wurde. Konfuzius betrachtete es und, erklärte, es sei ein Einhorn, worauf die Leute das Tier nach Hause brachten [16].

70

Page 73: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Da sagte Konfuzius: »Leider ist keine Schildkröte mit magi­schen Scllriftzeichen im Gelben Fluß erschienen, und keine hei­ligen Schriften sind in dem Flusse Lo aufgetaucht. Ich habe die Hoffnung aufgegeben« [17].

. Als Yen Huei starb, sagte Konfuzius: »Nun nimmt der Himmel mir meine Sendung.« Und als er bei einer Jagd im Westen das Einhorn erblickte, sprach er: »Nun ist alles zu Ende.« Und er stieß einen Seufzer aus und sprach: »Es gibt niemand auf dieser Welt, der mich versteht.« Und Tsekung sprach: »Warum sagt Ihr, daß niemand Euch versteht?« Kon­fuzius sprach: >>Ich mache weder dem Himmel noch den Men-­schen einen Vorwurf. Ich suche bloß Wissen zu erwerben und nach einem höheren Ideal zu streben. Vielleicht versteht mich niemand als der Himmel!« Er sagte über Poyi und Schuthschi, daß sie ihre Grundsätze nicht preisgäben und nicht in Schande gerieten (diese und die folgenden Personen waren berühmte Gelehrte, die als Einsiedler lebten); er sagte über Liuhsia Huei und Schaolien, daß sie ihre Grundsätze preisgäben und in Schande gerieten; er sagte über Yutschung und Yiyi, daß sie abgeschlossen lebten und sich hochtrabenden philosophischen Gesprächen hingaben, aber wenigstens keine Materialisten seien und sich ihren Umständen im Rahmen des Gegebenen anpaß­ten. »Aber ich bin anders als sie alle. Ich entscheide mich, so wie es die Zeitumstände erfordern, und handle dementsprechend.« (Wörtlich: Kein Dürfen, kein Nicht-Dürfen.)

Konfuzius sprach: »Das genügt aber nicht! Nein, das genügt durchaus nicht! Ein Vornehmer schämt sicl:J. zu sterben, ohne etwas geleistet zu haben. Ich bin mir bewußt, daß ich nicht zur Macht gelangen und meine politischen Ideale in die Praxis um­setzen kann. Wie kann ich vor der Nachwelt bestehen?« Er schrieb daher die Frühling und Herbst (-Annalen) mit Hilfe der vorhandenen Geschichtswerke, angefangen vom Fürsten Yin (722 v. Chr.) bis zum vierzehnten Regierungsjahr des Für­sten Ai (481 v. Chr.), ein Werk, das die Regierungszeiten von zwölf Fürsten (von Lu) umspannt. Er schrieb vom Standpunkt des Landes Lu, mit der gebührenden Hocl:J.achtung für die Tschou-Kaiser, griff auf die Schang-Dynastie zurück und zeigte die Veränderungen in den Systemen der Drei Dynastien auf. Er bediente sich eines sehr knappen Stils, dem er jedoch einen tiefen Sinn zu verleihen wußte. Daher setzten z. B. die Früh­ling- und Herbst-Annalen den Rang der Herrscher von Wu und Thschu, die sich den Königstitel erschlichen hatten, einfach herunter und nannten sie »Edle«. Bei einem bestimmten Anlaß wurde der Kaiser von den Fürsten tatsächlich aufgefordert, vor ihnen zu erscheinen, aber in den Frühling- und Herbst-An-

71

Page 74: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

nalen, die die Sache beschönigen wollen, steht bloß geschrieben: »Der Himmelskaiser kam nach Hoyang, um zu jagen.« Auf diese Weise gehrauchte er verschiedene Ausdrücke, welche Billi­gung oder Mißbilligung in sich schlossen, um die Gepflogen­heiten seines Zeitalters zu geißeln; wenn in den kommenden Tagen einmal ein großer König erstehen sollte, der das Buch läse und sich die darin enthaltenen Grundsätze zu eigen machte, dann hoffte er, daß sich die unbotmäßigen Fürsten und Usur­patoren der Macht beschämt zurückhalten würden. Als Konfu­zius noch ein Amt hatte, besprach er stets die Rechtsfälle und Urkunden mit sei.nen Kollegen und fragte sie nach ihrer Meinung, ohne selbst eine Entscheidung zu treffen, aber bei der Abfassung der Frühling- und Herbst-Annalen schrieb er alles genau nie­der und führte auch Streichungen durch, so wie er es für rich­tig hielt, und Jünger wie Tsehsia durften kein einziges Wort hin­zufügen. AlsKonfuzius seinen Jüngern die Frühling- und Herbst­Annalen vortrug, sagte er: »Künftige Geschlechter sollen mich durch die Frühling- und Herbst-Annalen kennen lernen und mich auf Grund der Frühling- und Herbst-Annalen beurteilen.«

8. Tod (479) und Nachkommenschaft

Im folgenden Jahr {480 v. Chr.) starb Tselu in W~i. Konfuzius erkrankte ebenfalls, und Tsekung kam ihn besuchen. Konfuzius wandelte gerade langsam, auf seinen Stab gestützt, um das Tor und sprach zu ihm: »Ah Sze, warum so spät?« Dann seufzte er und sang ein Lied: '

Es stürzt und fällt der große Berg! Der Pfeiler stürzt zusammen! Der alte Weise geht!

Dann vergoß er Tränen und sprach zu Tsekung: >>Lange Zeit hindurch hat die Welt in sittlichem Chaos gelebt; kein Herr­scher vermochte, mir zu folgen. Die Leute der Hsia-Dynastie bewahrten ihre Särge vor dem Begräbnis über den Oststufen (des chinesischen Innenhofes) auf, die Leute der Tschou-Dyna­stie über den Weststufen, und die Leute der Schang-Dynastie {in der Haupthalle) zwischen den Säulen. In der :vorigen Nacht träumte mir, ich säße zwischen zwei Pfeilern und erhielte (oder: spendete) ein Trankopfer, vielleicht weil ich ein Nachkomme der Schangs bin.« Sieben Tage darauf starb er im Alter von dreiundsiebzig Jahren (oder: zweiundsiebzig, nach europä­ischer Zeitrechnung). Das war am Tage Tschitschou im April, im sechzehnten Regierungsjahre des Fürsten Ai (479 v. Chr.).

]2.

Page 75: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Fürst Ai sandte zur Leichenfeier des Konfuzius ein Gebet, welches lautete: »Ach, der Himmel hat kein Erbarmen mit mir und hat mir den Großen Alten nicht verschont. Er ließ mich Armen einsam und hilflos an der Spitze des Landes und ich bin jetzt ein Siecher. Wehe, Vater Ni (oder: Tschung Ni, Name des Konfuzius)! Groß ist mein Leid! Vergeßt meiner nicht (wört­lich: kümmert Euch nicht um Euch)!« Tsekung sprach: »Starb.· denn Konfuzius nicht im Lande Lu (es war die Schuld des Für­sten, daß Konfuzius kein Amt erhalten hatte)? Der Meister sprach: >Wenn das Zeremoniell ungebührlich ist, geraten die Dinge in Unordnung, und wenn die verwendete Ausdrucks­weise unrichtig ist, sind die Dinge nicht an ihrem Platz. Unord­nung bedeutet, daß einer seine sittlichen Grundsätze eingebüßt hat, und nicht am Platze heißt, daß einer nicht das erhält, was ihm gebührt (oder: nicht in die rechte Stellung eingesetzt wird).< Als der Meister noch lebte, wollte er ihn nicht verwen­den, und wartete, bis er tot war, um ein Gebet zu seiner Lei­chenfeier zu senden; das ist ungebührlich. Indem er sich selbst als >ich Armer< bezeichnet, verwendet er ebenfalls eine falsche Bezeichnung.«

Konfuzius wurde in Lu am Flusse Sze im Norden der Stadt begraben. Seine Jünger hielten alle die vorgeschriebene Trauer­zeit von drei Jahren ein, und als die drei Trauerjahre vorbei waren, nahmen sie voneinander Abschied und schieden, nach­dem sie noch einmal am Grabe geweint hatten. Manche blieben eine Weile, aber nur Tsekung weilte noch sechs Jahre in einer Hütte in der Nähe der Grabstätte, bevor auch er fortzog. Mehr als hundert Familien, Jünger des Konfuzius und Einwohner von Lu, ließen sich in der Nähe der Grabstätte nieder, wo eine Kungli oder »Kung-Dorf« benannte Ortschaft entstand. Durch Generationen wurden zu den entsprechenden Zeiten im Tem­pel des Konfuzius Opfer dargebracht, und die Konfuzianer hielten an der Grabstätte auch akademische Diskussionen und Dorffeierlichkeiten und Preisschießen (mit Pfeil und Bogen) ab. Das zur Grabstätte gehörige Grundstück umfaßte hundert Mau [I 8] und in seinen Hallen konnten alle Jünger Unterkunft finden. Die persönlichen Besitztümer des Konfuzius, seine Mützen, Gewänder, Saiteninstrumente, Wagen und Bücher, wurden von den folgenden Geschlechtern im Tempel aufbe­wahrt. Das war der Brauch durch zweihundert Jahre bis zur Zeit des ersten Han-Kaisers (206 v. Chr.), der dem Konfuzius Großopfer (Kühe, Schweine und Schafe- eine große Ehre) dar­brachte. Immer wenn Fürsten und hohe Würdenträger eintra­fen, verrichteten sie zuerst im Konfuziustempel ihre Andacht, ehe sie ihr Amt antraten.

73

Page 76: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Konfuzius zeugte Li, auch Poyu genannt, der noch vor Kon­fuzius im Alter von 50 Jahren starb; Poyu zeugte den Thschi, auch Tsesze genannt, der mit 62 Jahren starb, einmal in Sung verhaftet wurde und den Einklang der Mitte verfaßte; Tsesze zeugte Po, amh Tseschang genannt, der mit 47 Jahren starb; Tseschang zeugte den 'Thschiu, auch Tsetschia genannt, der mit 45 Jahren starb. Dieser zeugte den Thschi, auch Tsetsching, der mit 46 Jahren starb; Tsetsching zeugte den Thschuan, auch Tsekao, der mit 51 Jahren starb; Tsekao zeugte Tsetschen, der mit 57 Jahren starb und einmal Minister von Wei war; Tse­tschen zeugte den Fu, der mit 57 Jahren starb und einmal unter König Thschen Scheh Poschih (Gelehrter und Lehrer bestimm­ter klassischer Bücher) war; Fus jüngerer Bruder Tsehsiang, der mit 57 Jahren starb, diente als Poschihunter Kaiser Hsiaohuei (aus der Han-Dynastie) sowie auch als Beamter von Thschang­scha; er maß neun· Fuß sechs Zoll; Tsehsiang zeugte Tschung, der mit 57 Jahren starb; Tschung zeugte Wu; Wu zeugte Yen­nien und Ankuo; Ankuo war Poschihunter dem jetzigen Kai­ser sowie Beamter und starb jung; Ankuo zeugte den Ang und Ang zeugte den Huan.

Der Meister der Geschichte [19] schreibt: Im Liederbuch heißt es: Hoch ist der Berg, zu dem ich hinaufschaue, und hell ist sein Beispiel zur Nachahmung! Wenn ich den Gipfel auch nicht zu erreichen vermag, springt mein Herz doch zu ihm empor! Als ich die Bücher des Konfuzius las, stellte ich mir vor, wie er wohl ausgesehen haben mag. Bei meinem Besuch in Lu sah ich, im Tempel aufgestellt, die Wagen, Gewänder und hei­ligen Gefäße, schaute, wie die konfuzianischen Studenten in seinem Heime die historischen Systeme studierten, und konnte mich von dem Ort nicht losreißen. Es hat in der Geschichte viele Kaiser, Könige und große Männer gegeben, denen zu ihren Lebzeiten Ruhm und Ehre zuteil wurde und die im Tode alles verloren, während Konfuzius, der bloß ein gewöhnlicher Scho­lar in einem Baumwollkleide war, der anerkannte Meister aller Scholare für mehr als zehn Generationen wurde. Alle Menschen in China, welche von den sieben Kunstgattungen sprechen, an­gefangen von Kaisern, Königen und Fürsten, erkennen Kon­fuzius als die höchste Instanz an.

74

Page 77: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

III

EINKLANG DER MITTE

Das .Buch Tschungyung, gewöhnlich mit >>Die Lehre von der Mitte« oder >>Der Goldene Mittelweg« übersetzt, war ursprüng­lich Kap. 3 r des Liki. Es ist das zweite der» Vier. Bücher«; das fol­gendeKapitel (unser Kapitel IV) ist eigentlichdas erste der» Vier Bücher«. Die große Bedeutung dieses Tschungyung in der konfu­zianischen Philosophie wird beim Lesen des Textes sofort klar­werden. Ich habe es deshalb hier an die Spitze der konfuziani­schen Texte gesetzt, weil es die beste Einführung in die konfu­zianische Philosophie darstellt. Schon für sich allein bildet es eine ziemlich vollständige Basis für die Weltanschauung des Konfuzianismus. Nach frühen Quellen wurde das Buch von Tsesze, dem Enkel des Konfuzius, verfaßt, der ein Jünger des Tsengtse und der Lehrer des Mencius war. Außer diesem Ka­pitel soll Tsesze nach der Oberlieferung noch die Kapitel 30, 32 und 3 3 des Liki verfaßt haben. Es ist nicht zu verkennen, daß die Werke des Mencius und die vorliegende Abhandlung, ins­besondere die Abschnitte r, 7 und 8, im Stil und Gedankengut identisch sind; ein Teil des Abschnittes 7 wird sogar bei Mencius nochmals wiederholt; wenn also dieses Werk wirklich dem Tsesze zuzuschreiben ist, so war er ein würdiger Lehrer des Mencius, denn es finden sich hier keimhafl: manche Gedanken, die erst bei Mencius zur vollen Reife gelangen. Aufmerksame Leser werden den tiefen Zusammenhang zwischen dem vor­liegenden Kapitel und der Philosophie des Mencius (unser Ka­pitel IX) unschwer feststellen können.

Dieses Kapitel war das einzige, das ich nicht selbst über­tragen habe; die hier verwendete Übersetzung stammt vom verstorbenen Ku Hungming. Seine Übersetzung weist so offen­kundige Vorzüge auf, daß eine Rechtfertigung ihrer Verwen­dung sich erübrigt. Es ist interessant, daß in der Übertragung Ku Hungmings die Ausdrücke Jen mit »der, Sinn für Sittlich­keit«, Yi mit »der Sinn für Gerechtigkeit«, Li mit »moralisch­religiöse Institutionen« (der Drei Dynastien) und an anderen Orten mit >>die Satzungen und Bräuche des Gemeinschafts­lebens« wiedergegeben werden, ferner Tao mit »das Sitten­gesetZ«, Tschuntse mit »der sittliche Mensch«, Hsiaojen mit >>der gewöhnliche Mensch«, Tschungyung mit »die allgemeine sitt­liche Ordnung« und an einer anderen Stelle mit »in unserem sittlichen Ich jenen zentralen Anhaltspunkt zu finden, der uns

75

Page 78: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

mit der allumfassenden Ordnung vereinigt«. Alle diese Wie­dergaben sind im wesentlichen richtig; manche sind sogar glän­zend. Ich habe es dennoch für nötig befunden, manches hinzu­zufügen und einzelne Wendungen oder Sätze zu streichen oder durch andere zu ersetzen, wenn ich glaubte, dadurch den Ur­text sinngetreuer wiederzugeben, und habe schließlich einzelne chinesische Namen dem übrigen Text angepaßt.

Ku Hungming hat die Abschnitte anders geordnet; darin bin ich ihm nicht gefolgt. Es wird im allgemeinen zugegeben, daß die einzelnen Abschnitte oder »Kapitel«, wie sie im Chinesi­schen genannt werden, ohne den Anspruch auf sinngemäße An­ordnung aneinandergefügt wurden, wobei· die auffallendsten Fälle die der Kapitel6, 14 und 16 sind (die Zahlen entsprechen der Anordnung des Originals, die im folgenden nicht beibehal­ten wurde).

Das Kapitel 28 ist sehr schlecht und enthält eine offenbar spätere Einschaltung, die ich gestrichen habe; den Rest habe ich in das »Kapitel 29« unseres 9· Abschnittes mit hineingenom­men. Es ist mir hier wegen des Raummangels nicht möglich, auf die inneren Gründe dieser Umstellung näher einzugehen. Für diejenigen Leser, denen der chinesische Text zugänglich ist, führe ich im folgenden die Nummern der von mir vorgenom­menen neuen Anordnung an, worauf die chinesischen »Ka­pitel«-Bezeichnungen folgen:

I. Abschnitt: x; 2. Abschnitt: 2, J, 4, 5, 7, 8, 9, xo, 11; J. Ab­schnitt: 12, x6; 4· Abschnitt: IJ, 14, 15; J. Abschnitt: 6, 17, 18, 19; 6. Abschnitt: der größte Teil von 20, 21; 7· Abschnitt: das Ende von 20, 21; 8. Abschnitt: 22, 23, 24, 25, 26; 9· Abschnitt: 27, 28 (teilweise gestrichen und teilweise mit 29 verschmolzen), 29, JO, J 1, 32; Io. Abschnitt: JJ·

1. Der Einklang der Mitte

Was von Gott gegeben ist, das nennen wir die menschliche Natur. Das Gesetz unserer menschlichen Natur erfüllen, nen­nen wir Sittengesetz. Die Pflege des Sittengesetzes nennen wir Kultur.

Das Sittengesetz ist ein Gesetz, vor dessen Auswirkung wir in unserem Dasein keinen Augenblick entfliehen können. Ein Gesetz, dem wir entfliehen können, ist kein Sittengesetz. Aus diesem Grunde wacht der sittliche Mensch (oder der höhere Mensch) eifrig über alles, was seine Augen nicht sehen können, und ist voller Furcht und Scheu vor allem, was seine Ohren nicht hören können.

76

Page 79: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Nichts ist offenbarer als das, was mit Augen nicht gesehen werden kann; und nichts ist greifbarer als das, was durch die Sinne nicht wahrgenommen werden kann. Daher wacht der sittliche Mensch eifrig über seine geheimen Gedanken.

Wenn die Leidenschaften wie Freude, Zorn, Gram und Ver­gnügen nicht erwacht sind, ist dies unsere Mitte oder unser sittliches Sein (Tschung). Wenn diese Leidenschaften erwachen und einzeln oder alle das richtige Maß oder den angemessenen Grad erreichen, dann ist dies Einklang oder sittliche Ordnung (ho). Unsere Mitte oder sittliches Sein ist das große Fundament des Daseins; und Einklang oder sittliche Ordnung ist das all­umfassende Gesetz der Welt.

Wenn unsere wahre Mitte und der Einklang verwirklicht sind, wird das All zum Kosmos, und alles erreicht volles Wachstum und volle Entwicklung.

z. Der goldene Mittelweg

Konfuzius bemerkte: »Das Leben des sittlichen Menschen ist ein Beispiel der allumfassenden sittlichen Ordnung (Tschung­yung, gewöhnlich mit »Die Mitte« übersetzt) [1]. Das Leben des gewöhnlichen Menschen hingegen steht in Widerspruch zur allumfassenden sittlichen Ordnung.«

>>Das Leben des sittlichen Menschen ist ein Beispiel der all­umfassenden Ordnung, weil er eine sittliche Persönlichkeit ist und unentwegt sein wahres Selbst oder sittliches Sein kultiviert. Das Leben des gewöhnlichen Menschen steht in Widerspruch zur allumfassenden Ordnung, weil er eine gewöhnliche Persön­lichkeit ist und im Grunde des Herzens das sittliche Gesetz we.der achtet noch fürchtet.«

Konfuzius bemerkte: »Wahrlich, es ist der höchste Triumph des Menschen, den Schwerpunkt seines sittlichen Seins zu fin­den, der ihn mit der allumfassenden Ordnung verbindet. Lange Zeit ist man dazu selten fähig gewesen.«

Konfuzius bemerkte: »Jetzt weiß ich, warum das sittliche Leben nicht verwirklicht wird. Die Weisen verwechseln das Sittengesetz mit etwas Höherem, als es wirklich ist; und die Törichten haben nicht genügend Kenntnis, worin das Sitten­gesetz eigentlich besteht. Ich weiß jetzt, warum das Sittengesetz nicht verstanden wird. Die Edlen streben zu hoch, hoch über ihr sittliches Selbst hinaus; und die Unedlen streben nicht hoch genug, d. h. nicht bis zum Niveau ihres wahren sittlichen We­sens. Essen und trinken tut jeder, aber nur wenige verstehen sich auf die Feinheiten des Geschmacks.«

77

Page 80: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Konfuzius bemerkte: »Jetzt gibt es in der Welt wahrlich keinerlei sittliche Gesellschaftsordnung mehr.«

Konfuzius bemerkte: »Die Menschen sagen alle >ich bin klug<; aber wenn sie in ein Netz oder eine Falle geraten, gibt es keinen, der einen Ausweg wüßte. Die Menschen sagen alle >ich bin klug<; aber wenn es sich darum handelt, den wahren Schlüs­selpunkt und das Gleichgewicht ihres sittlichen Seins zu finden (d. h. ihr normales, wahres Selbst), sind sie nicht fähig, länger als einen Monat daran festzuhalten.<<

Konfuzius bemerkte über seinen Lieblingsschüler Yen Hui: »Hui war ein Mensch, der während seines ganzen Lebens den Schlüsselpunkt seines sittlichen Wesens suchte, und wenn er etwas Gutes erkannt hatte, hielt er mit ganzer Kraft daran fest und verlor es nie wieder.«

Konfuzius bemerkte: »Ist ein Mann auch fähig, ein Land in Ordnung zu bringen, auf Ehren und Einkünfte einer Stellung zu verzichten, blanke Waffen mit Füßen zu treten- so bedeutet dies alles noch nicht, daß er fähig wäre, den Schlüsselpunkt seines sittlichen Selbst zu finden.«

Tselu erkundigte sich, worin Charakterstärke bestehe. Kon­fuzius antwortete: »Meinst du die Charakterstärke der Men­schen südlicher Gegenden oder die Charakterstärke der Men­schen nördlicher Gegenden; oder meinst du die Charakter­stärke der Menschen deiner Art? Geduldig und freundlich sein, bereit zu lehren und Böses nicht mit Bösem zu vergelten, ist die Charakterstärke der Menschen südlicher Gegenden. Es ist der ideale Ort für sittliche Menschen. Unter den Waffen stehen und dem Tod ohne Furcht begegnen, ist die Charakterstärke der Menschen nördlicher Gegenden. Es ist das Ideal der Tapferen deiner Art. Daher ist der Mensch mit wahrer sittlicher Charak­terstärke freundlich, aber fest; unerschütterlich ist seine Kraft. Wenn in einem Land eine sittliche Gesellschaftsordnung herrscht, ändert er bei seinem Eintritt ins öffentliche Leben seine Art nicht, sondern bleibt genau so, wie er in der Zurückgezogenheit war. Wenn in einem Lande keine sittliche Gesellschaftsordnung herrscht, bescheidet er sich bis in den Tod. Wie unerschütterlich ist seine Kraft!«

Konfuzius bemerkte: »Es gibt Menschen, die nach dem Be­sonderen und Ausgefallenen streben und ein außergewöhnliches Leben führen, damit sich die Nachwelt ihrer erinnere. Dies würde ich niemals tun. Sodann gibt es gute Menschen, die ver­suchen, im Einklang mit dem Sittengesetz zu leben, es aber auf halbem Wege wieder aufgeben. Schließlich gibt es wahrhaft sittliche Menschen, die unbewußt ein Lehen in völligem Ein­klang mit der allumfassenden sittlichen Ordnung führen, aber

7&

Page 81: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

unbekannt und von allen unbeachtet bleiben. Nur Menschen von heiligem, göttlichem Wesen sind dazu fähig.«

3· Die Allgegenwart des Sittengesetzes

Das Sittengesetz kann überall gefunden werden, und doch ist es ein Geheimnis. Die einfache Klugheit gewöhnlicher Männer und Frauen aus dem Volk reicht aus, um das Sittengesetz teil­weise zu begreifen; aber in seinen letzten Bereichen gibt es etwas, das sogar die weisesten und heiligsten Menschen nicht begreifen können. Das ungeschliffene Wesen gewöhnlicher Männerund Frauen aus dem Volke kann imstande sein, das Sittengesetz einzuhalten, aber in seinen letzten Bereichen ver­mögen auch die weisesten und heiligsten Menschen nicht, im Einklang mit ihm zu leben.

So groß das Weltall auch ist, der Mensch ist doch nicht immer damit zufrieden. Denn nichts ist so groß, daß sich der Geist des ·sittlichen Menschen nicht noch etwas Größeres vorstellen könnte, das nichts in der Welt umfassen könnte. Und nichts ist so klein, daß sich der .Geist des sittlichen Menschen nicht noch etwas Kleineres vorstellen könnte, das nichts in der Welt zer­spalten könnte.

Im Liederbuch heißt es: »Der Habicht steigt zum Himmel empor und Fische tanzen in die Tiefe nieder.« Das bedeutet, daß weder oben in den höchsten Himmeln noch unten in den tiefsten Wassern ein Ort wäre, wo das Sittengesetz nicht ge­funden werden könnte. Für den sittlichen Menschen beginnt das Sittengesetz im Verhältnis zwischen Mann und Frau, aber es endet in den weiten Bereichen des Weltalls.

Konfuzius bemerkte:» Wie wirkend ist überall die Macht der geistigen Kräfte im Weltall! Den Augen unsichtbar und den Sinnen nicht wahrnehmbar, ist sie in allen Dingen enthalten. und nichts kann sich ihrer Wirkung entziehen.«

Es steht fest, daß diese Kräfte die Menschen aller Gegenden zum Fasten und zur rituellen Reinigung anhalten, damit sie in feierlichen Gewändern Opfer darbringen und Zeremonien reli­giöser Verehrung durchführen. Wie der Andrang mächtiger Wasser ist das Dasein unsichtbarer Mächte spürbar; manchmal über uns, manchmal rings um uns.

Im Liederbuch heißt es:

Das Dasein des Geistes Kann nicht Einbildung sein, Wie könnte es nicht beachtet werden!

79

Page 82: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

So offenkundig sind die unsichtbaren Dinge, daß es unmög­lich ist, die geistige Natur des Menschen zu bezweifeln.

4· Das humanistische Maß

Konfuzius sagte: »Die Wahrheit entfernt sich nicht von der menschlichen Natur. Wenn das, was als Wahrheit angesehen wird, sich von der menschlichen Natur entfernt, darf man es nicht als Wahrheit ansehen. Im Liederbuch heißt es: >Beim Zu­rechtstutzen eines Axtstieles ist das Vorbild nicht weit.< Wenn wir nun einen Axtstiel zur Hand nehmen, um einen anderen Axtstiel zu schnitzen, und von einem zum anderen blicken, wird es manchen dennoch so vorkommen, als sei das Vorbild uner­reichbar weit. Daher wird sich der sittliche Mensch im Umgang mit seinen Mitmenschen auf die allgemein menschliche Natur berufen und so ihre Lebensweise verändern- weiter nichts.«

»Wer nach den Grundsätzen der Gewissenhaftigkeit und Ge­genseitigkeit lebt, ist nicht weit entfernt vom Sittengesetz. Was du nicht willst, das andere dir tun, das tue auch ihnen nicht.« · »Es gibt vier Dinge im sittlichen Leben eines Menschen, von denen ich keines in meinem Leben durchzuführen vermochte. Meinem Vater zu dienen, wie ich erwarte, daß mein Sohn mir diene: dazu bin ich nicht fähig gewesen. Meinem Herrscher zu dienen, wie ich erwarten würde als Herrscher von meinem Minister bedient zu werden: dazu bin ich nicht fähig gewesen. Meinen älteren Brüdern gegenüber so zu handeln, wie ich möchte, daß mein jüngerer Bruder mir gegenüber handle: dazu bin ich nicht fähig gewesen. Mich als erster meinen Freunden gegenüber so zu verhalten, wie ich von ihnen erwarte, daß sie sich mir gegenüber verhalten: dazu bin ich nicht fähig ge­wesen.«

»In der Erledigung der Alltagspflichten des Lebens und der Behutsamkeit im Alltagsgespräch verfehle man nie, wenn etwa Unzulänglichkeiten auftauchen, nach Verbesserung zu streben. Wenn es viel.zu sagen gibt, sage man stets weniger als notwen­dig. Worte stehen in Beziehung zu Taten, und Taten stehen .in Beziehung zu Worten. Sind makellose Lauterkeit und das Fehlen jeglichen Scheins nicht gerade das Kennzeichen des sitt­lichen Menschen?«

Das sittliche Leben des Menschen läßt sich mit einer Reise an einen fernen Ort vergleichen: man muß von der nächstliegen­den Station aufbrechen. Es läßt sich auch mit der Besteigung einer Höhe vergleichen: aber man muß bei der untersten Stufe beginnen. Im Liederbuche heißt es:

So

Page 83: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Wenn Frauen, Kinder und ihre Gebieter eins sind, Tönt es wie Harfe und Laute im Einklang. Wenn Brüder in Eintracht und Frieden leben, Wird die Melodie stets harmonisch klingen. Das Licht glücklicher Verbindung beleuchtet das Heim, Und heitere Tage folgen mit dem Erscheinen der Kinder.

Hierüber bemerkte Konfuzius: »Was kann den Eltern größere Befriedigung gewähren als solch glückliche Zustände?«

Der sittliche Mensch paßt sich den Umständen des Lebens an; er wünscht sich nichts, das seiner Stellung nicht entspricht. Be­findet er sich in einer Stellung, die ihm Reichtum und Ehren einbringt, so lebt er, wie es einem Mann von Reichtum und Ehren zukommt. Befindet er sich in einer Stellung, die ihm Armut und kleine Verhältnisse aufzwingt, so lebt er, wie es einem Mann in Armut und kleinen Verhältnissen zukommt. Befindet er sich in unzivilisierten Gegenden, so lebt er, wie es einem Mann in unzivilisierten Gegenden zukommt. Befindet er sich in Gefahren und Schwierigkeiten, so zeigt er sich den An­forderungen gewachsen, die unter diesen Umständen an jeden Menschen gestellt werden. In einem Wort: der sittliche Mensch kann im Leben in keine Lage geraten, in der er nicht Herr sei­ner selbst wäre.

In hoher Stellung tyrannisiert er seine Untergebenen nicht; in untergeordneter Stellung buhlt er nicht um die Gunst seiner Vorgesetzten. Er achtet auf sein eigenes Benehmen und ver­langt nichts von den anderen; somit hat er keinen Grund zum Klagen. Er murrt nicht gegen Gott und schmäht nicht über die Menschen.

Solcherart ergibt sich der sittliche Mensch dem Gleichmaß seines Lebens und wartet ruhig auf Gottes Ratschluß, während der gewöhnliche Mensch sich auf gefährliche Bahnen begibt und auf den unsicheren Zufall des Glückes wartet.

Konfuzius bemerkte: »Beim Bogenschießen gibt es etwas, das im Prinzip dem Leben eines sittlichen Menschen ähnlich ist. Wenn der Schütze das Schwarze der Zielscheibe verfehlt, kehrt er in sich und sucht in sich selbst die Ursache seines Fehlschusses.«

5. V orbitder

Konfuzius bemerkte: »Einst lebte Kaiser Schun. Er war viel­leicht ein Mann von wirklich bedeutendem V erstand. Schun hatte eine natürliche Neugierde und liebte es, die Wirkungen des alltäglichen Gespräches auszuforschen. Er kannte nichts 6/154 81

Page 84: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Böses (keine bösen Worte?) und verbreitete das Gute. Im Angesicht von zwei extrem entgegengesetzten Ratschlägen wählte er den Mittelweg und folgte ihm im Umgang mit sei­nem Volke. Dies war das Bezeichnende an Schuns großem Ver­stande.«

Konfuzius bemerkte: »Kaiser Schun kann vielleicht im wahr­sten Sinn des Wortes als ein frommer Mann bezeichnet werden. In seinem sittlichen Empfinden war er ein Heiliger. In der Würde seines Amtes war er der Herrscher über das Reich. An Reichtum gehörte ihm alles, was die weite Welt enthielt. Nach seinem Tode wurde seinem Geist im Ahnentempel geopfert, und seine Kinder und Kindeskinder opferten ihm weiterhin viele Generationen hindurch.

Wer hohe sittliche Eigenschaften besitzt, wird daher gewiß eine entsprechend hohe Stellung, entsprechend großen Reich­tum, einen entsprechend großen Namen und ein entsprechend hohes Alter erreichen.

Denn wenn Gott allen erschaffenen Wesen Leben gibt, dann bestimmt er das Maß seiner Freigebigkeit zweifellos nach ihren Eigenschaften. So pflegt und erhält er den Baum, der voller Leben ist, während er das, was zu fallen bereit ist, trennt und vernichtet.«

Im Liederbuch heißt es: Der große und edle Fürst verlieh All seinem Tun den Sinn des Rechten; Der Geist seiner Weisheit beherrschte Bauern und Adel; die Menge, den Hof. So verlieh ihm der Himmel, der seine Vorfahren krönte, Die zahllosen Ehren, die jene gekannt. Denn der Himmel bewacht und beschützt jenen, Dem der Auftrag erteilt ward, den Thron zu besteigen.

Es ist somit wahr, daß demjenigen, der hervorragende sittliche Eigenschaften besitzt, der göttliche Auftrag erteilt wird, den Kaiserthron zu besteigen.

Konfuzius bemerkte: >>Wahrscheinlich war Kaiser Wen der Mann, dem das vollkommenste Glück zuteil ward. Sein Vater, Kaiser Tschi, war ein· ebenso bemerkenswerter Mann wie sein Sohn, Kaiser Wu. Sein Vater hatte den Grundstein seines Hau­ses gelegt, und sein Sohn setzte das Werk fort. Kaiser Wu, der das von seinem Großvater, Kaiser Tschi, und seinem Vater, Kaiser Wen, begonnene Werk fortführen sollte, brauchte nur seinen Harnisch anzulegen, und das ganze Reich fiel ihm zu. In der Würde seines Amtes war er der Beherrscher des Reiches. An Reichtum gehörte ihm alles, was die weite Welt enthielt.

82

Page 85: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Nach seinem Tode wurde seinem Geist im Ahnentempel geop­fert, und seine Kinder und Kindeskinder opferten ihm weiter­hin viele Generationen hindurch.

Kaiser Wu wurde vom Himmel zur Herrschaft berufen, als er schon ein alter Mann war. Sein Bruder, Fürst Tschou, schrieb die gelungene Gründung des kaiserlichen Hauses ebenfalls den sittlichen Eigenschaften der Kaiser Wen und Wu zu. Er führte den kaiserlichen Titel auf den Großen Kaiser (Wens Groß­vater) und Kaiser Tschi (Wens Vater) zurück. Er opferte allen früher regierenden Fürsten des Hauses mit kaiserlichen Ehren.«

(»Diese Regel wird nun von den regierenden Fürsten, den Adligen und den Herren bis hinunter ins Volk allgemein ein­gehalten. Wenn der Vater ein Adliger war, der Sohn aber nur ein vornehmer Herr, wird der Vater nam seinem Tode mit allen Ehren des Edelmannes begraben, aber es wird ihm wie einem vornehmen Herrn geopfert. Wenn der Vater ein vor­nehmer Herr ist, der Sohn aber ein Adliger, wird der Vater nach seinem Tode wie ein vornehmer Herr begraben, aber es wird ihm wie einem Edelmann geopfert. Die Regel, daß die Verwandten ein Jahr lang trauern, ist beim Adelsstand Ver­pflichtung; die Verwandten des Kaisers aber sind verpflichtet, drei Jahre lang um ihn zu trauern. Im Betrauern von Eltern gibt es nur eine Regel; hier besteht kein Unterschied zwischen Adel und Volk.«) [2.]

Konfuzius bemerkte: »Kaiser Wu und sein Bruder Prinz Tschou waren in der Tat außergewöhnlich fromme Männer. Nun besteht wahre Kindespflicht darin, das unvollendete Werk der·Vorfahren erfolgreich fortzuführen und es den Nachkom­men zu vererben.

Im Frühling und Herbst setzten sie den Ahnentempel in­stand, ordneten die Opfergefäße, stellten die Insignien und Erbstücke der Familie aus und brachten die der Jahreszeit ent­sprechenden Opfergaben dar.

Die Rangordnung bei Zeremonien im Ahnentempel besteht vor allem darin, daß die Familienangehörigen nach ihrem Ver­wandtschaftsgrad eingestuft werden. Sodann wird der Rang berücksichtigt in Anerkennung des gesellsmaftlichen Standes. Schließlich werden geleistete Dienste berücksichtigt in Anerken­nung des sittlichen Wertes.

Wenn, während des allgemeinen Festmahls, auf das Wohl der Gesellschaft getrunken wird, bringen die Unteren im Rang vor den Oberen den Trinkspruch aus, wodurm bewiesen wer­den soll, daß auch den Geringsten Anerkennung gezollt wird. Zum Schluß wird den Alten ein besonderes Mahl geboten, um auf diese Weise den Vorrang des Alters zu würdigen.

6''

Page 86: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Höchste Vollendung wahrer Sohnespflicht besteht darin, sich an denselben Orten zu versammeln, an denen sich die Väter vor uns versammelten; dasselbe Zeremoniell zu beobachten, das sie vor uns beobachteten; dieselbe Musik zu spielen, die sie vor uns spielten; diejenigen zu ehren, die sie verehrt haben; diejenigen zu lieben, die ihrem Herzen wirklich nahestanden; den Toten dienen, als wären sie noch unter den Lebenden, und den Abwesenden, als wären sie noch gegenwärtig.

Dem Himmel und der Erde Opfer darbringen, gehört zum Gottesdienst. Im Ahnentempel Zeremonien abhalten, gehört zum Ahnenkult. Wer den Sinn der Himmel und Erde darge­brachten Opfer verstünde und die Bedeutung der Ahnenver­ehrung im Sommer und Herbst, der könnte ebenso leicht ein Land regieren, wie mit dem Finger auf die innere Handfläche deuten.«

6. Ethik und Politik [3]

Fürst Ai (der Herrscher über Lu, das Geburtsland des Kon­fuzius) fragte, worin eine gute Regierung bestehe.

Konfuzius antwortete: »Die Prinzipien guter Regierung der Kaiser Wen und Wu sind in den überlieferten Urkunden hin­reiChend beschrieben. Sind die Männer da, wird die gute Re­gierung blühen, sind sie nicht da, wird die gute Regierung in Verfall geraten und untergehen. Unter richtigen Männern voll­zieht sich das Wachstum einer guten Regierung ebenso schnell wie das Wachstum der Pflanzen im richtigen Boden. In Wahr­heit ist eine gute Regierung wie eine schnell wachsende Pflanze. Die Führung der Regierung hängt daher von den Männern ab. Die Wahl der richtigen Männer hängt von des Herrschers per­sönlichem Charakter ab. Um seinen persönlichen Charakter zu veredeln, muß sich der Herrscher an das Sittengesetz (tao) hal­ten. Um das Sittengesetz zu veredeln, muß der Herrscher das sittliche Empfinden (jen, oder die Prinzipien des wahren Men­schentums) zur Anwendung bringen.

Das sittliche Empfinden ist ein rein menschliches Attribut. Unseren nahen Verwandten gegenüber natürliche Zuneigung empfinden, ist der höchste Ausdruck des sittlichen Verstandes. Der Sinn für Gerechtigkeit (yi oder Angemessenheit) besteht darin, zu erkennen, was richtig und schicklich ist. Jene zu ehren, die würdiger sind als wir selbst, ist der höchste Ausdruck des Gerechtigkeitssinnes. Das relative Maß natürlicher Zuneigung, die wir für unsere nahen Verwandten empfinden sollen, und das relative Maß der Verehrung, die wir denen beweisen soll-

84

Page 87: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

ten, die würdiger sind als wir selber - bedingt die Formen und Unterscheidungen im Gesellschaftsleben (li oder Grundsätze der Gesellschaftsordnung). Denn solange die sozialen Ungleich­heiten nicht eine echte, sittliche Grundlage haben (oder: solange die Beherrschten nicht ihren Platz dem Herrscher gegenüber als richtig empfinden), ist es unmöglich, ein Volk zu regieren.

Darum ist es für einen Menschen der herrschenden Klasse notwendig, zunächst sein Betragen und seinen Charakter zu bilden. Im Bemühen, sein Betragen und seinen Charakter zu bilden, ist es notwendig, seinen nahen Verwandten gegenüber seine Pflichten zu erfüllen. Will man seinen nahen Verwandten gegenüber seine Pflichten erfüllen, so ist es notwendig, das Wesen und die Gliederung der menschlichen Gesellschaft zu be­greifen. Will man das Wesen und die Gliederung der mensch­lichen Gesellschaft erfassen, so ist es notwendig, die Gesetze Gottes zu verstehen.

Es gibt fünf Verpfliditungen allgemeiner Art; und die hier­für erforderlichen sittlidien Eigenschaften sind ihrer drei. V er­pfliditungen bestehen zwischen Herrsdier und Untergebenem, zwischen Vater und Sohn, zwisdien Mann und Frau, zwisdien älteren und jüngeren Brüdern und in den Beziehungen zwi­schen Freunden. Dies sind die fünf Verpfliditungen allgemeiner Art. Weisheit, Mitleid und Tapferkeit [4] sind die drei allge­mein anerkannten sittlichen Eigensdiaften des Menschen. Es kommt nidit darauf. an, in weldier Weise dieMensdien diese sittlichen Eigenschaften ausüben; das Ergebnis ist ein und das­selbe.

Manche Menschen kommen mit dem Wissen um diese sitt­lichen Eigenschaften zur Welt; andere erlangen sie durdi Er­ziehung; wieder andere als Ergebnis harter Erfahrung. Hat man sie aber einmal erkannt, kommt es auf eines hinaus. Mandie bedienen sidi dieser sittlichen Eigenschaften mühelos und leicht; manche, weil es ihnen vorteilhaft sdieint; mandie müssen sich anstrengen, und es fällt ihnen schwer. Aber wenn es erreicht ist, kommt es auf eines hinaus.«

Konfuzius fuhr fort und sagte: »Liebe zum Lernen ist der Weisheit verwandt; empfindsames Schamgefühl ist der Tapfer­keit verwandt.

Wenn ein Mensch das Wesen und den Gebrauch dieser drei sittlichen Eigenschaften versteht, dann wird es ihm audi nicht schwerfallen, sein Betragen und seinen Charakter zu diszi­plinieren. Wer es versteht, sein Benehmen und seinen Charak­ter zu disziplinieren, wird es verstehen, über Menschen zu herr­schen. Wer es versteht, über Menschen zu herrschen, wird es verstehen, über Nationen und Reiche zu herrschen.

Page 88: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Für jeden, der berufen ist, über Nationen und Reiche zu herrschen, gibt es neun zu befolgende Hauptrichtlinien:

1. Sein Betragen veredeln. 2. Würdige Menschen ehren. 3. Für seine Verwandtschaft Zuneigung empfinden und ihr

gegenüber seine Pflichten erfüllen. 4· Den hohen Staatsbeamten Achtung erzeigen. 5· Sich für die Interessen und das Wohlergehen der ganzen

Beamtenschaft einsetzen. 6. Dem gemeinen Volk ein Vater sein. 7· Die Einführung aller nützlichen Künste fördern. 8. DenFremden aus fernen Ländern liebenswürdig begegnen. 9· Sich um das Wohlergehen der Fürsten des Reiches küm-

mern. Wenn sich der Herrscher um die Veredelung seines Betragens

bemüht, wird das sittliche Gesetz geachtet werden. Wenn der Herrscher würdige Männer ehrt, wird er nicht hintergangen werden (von listigen Beamten). Wenn der Herrscher seiner Ver­wandtschaft zugeneigt ist, wird es keinen Haß unter den Fami­lienmitgliedern geben. Wenn der Herrscher den hohen Staats­beamten Achtung erzeigt, wird er keine Fehler machen. Wenn sich der Herrscher für die Interessen und das Wohlergehen der Beamtenschaft einsetzt, wird unter den Vornehmen des Landes ein starker Geist der Loyalität herrschen. Ist der Herrscher dem gemeinen Volk ein Vater, wird sich die Masse des Volkes für das Wohl des Staates einsetzen. Fördert der Herrscher die Ein­führung aller nützlichen Künste, wird genügend Reichtum und Verdienst im Lande sein. Begegnet der Herrscher allen Frem­den aus fernen Ländern liebenswürdig, werden die Leute aus allen Teilen der Welt herbeiströmen. Kümmert sich der Herr­schet um das Wohlergehen der Fürsten des Reiches, wird er der ganzen Welt Ehrfurcht und Achtung vor seiner Befehlsgewalt einflößen.

Indem der Herrscher auf die Sauberkeit und Reinheit seiner Person und die Schiddichkeit und Würde seiner Kleidung ach­tet, indem er sich in Worten und Taten alles dessen enthält, was gegen den guten Geschmack und Anstand verstößt, pflegt er sein Betragen. Indem der Herrscher alle Schmeichler fernhält l}nd die Gesellschaft der Frauen meidet, den Besitz weltlicher Güter geringschätzt, aber die sittlichen Eigenschaften der Men­schen hochschätzt, fördert er die wertvollen Menschen. Indem der Herrscher den Mitgliedern seiner Familie hohe Ehrenämter verleiht und zu ihrem Unterhalt reichliche Mittel verwendet, indem er ihren Geschmack und ihre Ansichten teilt, sichert er sich die Zuneigung der Mitglieder seiner Familie. Indem der

86

Page 89: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Herrscher die Machtbefugnisse der hohen Staatsbeamten erwei­tert und ihnen erlaubt, ihre Untergebenen nach Belieben zu wählen, fördert der Herrscher die hohen Staatsbeamten. Indem der· Herrscher seine Verpflichtungen gegenüber der Beamten­schaft gerecht und pünktlich einhält und ihre Gehälter groß­zügig bemißt, fördert er seine Beamten. Indem der Herrscher die Arbeitszeit auf das äußerst Notwendige beschränkt und die. Steuerlast so viel als möglich erleichtert, fördert er die Masse des Volkes. Indem der Herrscher tägliche Aufsicht und monat­liche Oberprüfungen anordnet und einen jeden je nach der ge­leisteten Arbeit entlohnt, fördert er die Handwerker. Indem der Herrscher die Fremden bei ihrer Ankunft willkommen heißt und ihnen bei ihrer Abreise seinen Schutz angedeihen läßt, in­dem er das Gute an ihnen lobt und ihre Unwissenheit entschul­digt, erzeigt er sich den Fremden gegenüber freundlich. Indem der Herrscher die Linien unterbrochener Nachfolge wiederher­stellt, unterworfenen Staaten wieder zum Aufblühen verhilft und jegliche Anarchie oder Unordnung im Keim erstickt, indem er die Schwachen vor den Starken schützt, indem er die Zeit ihrer Gesandten-Aufwartung bei Hofe genau bestimmt, indem er sie mit Geschenken überhäuft, wenn sie gehen, und nur kleine Abgaben fordert, wenn sie kommen, bezeigt er sein Interesse am Wohlergehen der Fürsten des Reiches.

Für jeden, der berufen ist, über Nationen und Reiche zu regieren, sind dies die neun zu befolgenden Hauptregeln; und es gibt nur eine Art, sie zu verwirklichen.

In jedem Fall hängt der Erfolg von der Vorbereitung ab; ohne Vorbereitung wird es stets Mißerfolge geben. Wenn vor­her genau bestimmt wird, was gesagt werden muß, kann es in der Durchführung keine Schwierigkeiten geben. Wenn das Ver­halten vorher genau festgelegt wird, kann es keinen Verdruß geben. Wenn die allgemeinen Prinzipien vorher genau bestimmt werden, kann es im Augenblick des Handeins keine Verlegen­heit geben.«

7· Sein wahres Selbst sein

»Wenn die Menschen niederen Standes den höherstehenden nicht vertrauen, ist es unmöglich, ein Volk zu regieren. Es gibt nur eine Art, das Vertrauen anderer zu gewinnen: wenn man das Vertrauen seiner Freunde nicht besitzt, wird man auch sei­nen Vorgesetzten nicht trauen. Es gibt nur eine Art, das Ver­trauen seiner Freunde zu gewinnen: wenn man gegen seine Eltern nicht liebevoll ist, werden einem die Freunde nicht

87

Page 90: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

trauen. Es gibt nur eine Art, seine Eltern zu lieben: wenn man in seinem ionersten Herzen sim selbst gegenüber nicht wahr ist, wird man seine Eltern nicht lieben. Es gibt nur eine Art, sim selbst gegenüber wahr zu sein: wenn man nicht weiß, was gut ist, kann man sich selbst gegenüber nicht wahr sein.

Sim selbst gegenüber wahr sein, ist Gottes Gesetz. Versuchen, sich selbst gegenüber wahr zu sein, ist der Menschen Gesetz. [ 5]

Wer sich selbst gegenüber natürlicherweise wahr ist, kann mühelos das Richtige erfassen, versteht ohne langes überlegen, was er wissen will; sein Leben steht reibungslos und ganz von selbst mit dem Sittengesetz in Einklang. Einen solchen Men­schen könnte man einen Heiligen oder einen Menschen mit göttlicher Natur nennen. Wer lernt, wahrhaft: er selbst zu sein, wird entdecken, was gut ist, und daran festhalten. Will man ler­nen, sein wahres Selbst zu sein, ist es notwendig, sich ein um­fassendes Wissen von den Dingen anzueignen, die in der Welt gesagt und getan worden sind, sie kritisch zu untersuchen; sie behutsam zu erwägen; sie sorgfältig zu sichten und sie ernst­haft: durmzuführen.

Es kommt nicht darauf an, was man lernt; aber wenn man etwas lernt, darf man nicht davon ablassen, bevor man es völ­lig beherrscht. Es kommt nicht darauf an, was man untersucht; aber wenn man etwas untersucht, darf man nicht ruhen, bis man es gründlim verstanden hat. Es kommt nicht darauf an, was man zu erwägen sucht; aber wenn man etwas zu erwägen sucht, darf man nicht ruhen, bis man gefunden hat, was man suchte. Es kommt nicht darauf an, was man zu sichten versucht; aber wenn man etwas zu sichten versucht, darf man nicht ruhen, bis es klar und genau geordnet ist. Es kommt nicht darauf an, was man durchzuführen versucht; aber wenn man etwas durchzu­führen versucht, darf man nicht ruhen, bis man es gründlich und gut getan hat. Was einem anderen beim ersten Wurf ge­lingt, wird dir erst beim hundertsten Wurf gelingen. Was einem anderen beim zehnten Wurf gelingt, wird dir erst beim tau­sendsten gelingep.

Wer sich wirklim solcherart bemüht, wird gewiß klug wer­den, aud1 wenn er dumm war; er wird gewiß stark werden, aum wenn er schwam war.

Wenn man zum Verständnis gelangt, indem man sein wah­res Selbst verwirklicht, so ist das Natur; wenn man sein wah­res Selbst erlangt, indem man das Verständnis betätigt, so ist das Kultur. Wer daher sein wahres Selbst verwirklicht, besitzt Verständnis, und wer Verständnis besitzt, findet dadurch sein wahres Selbst. [ 6]

88

Page 91: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

8. Wer wirklich sein wahres Selbst ist

Nur wer in der Welt sein absolut wahres Selbst ist, kann seine eigene Natur erfüllen; nur wer seine eigene Natur erfüllt, kann die Natur der anderen erfüllen; nur wer die Natur der anderen erfüllt, kann die Natur der Dinge erfüllen; nur wer die Natur der Dinge erfüllt, ist würdig, der Mutter Erde bei der Erhal­tung und Förderung des Lebens zu helfen; und wer würdig ist, der Mutter Erde bei der Erhaltung und Förderung des Lebens zu helfen, ist den Mächten des Himmels und der .Erde ebenbürtig.

Die nächsten im Rang sind jene, die fähig sind, sich mit einem bestimmten Wissensgebiet völlig vertraut zu machen. Durch ihr Studium werden sie auch befähigt, sich mit der Wahrheit ver­traut zu machen. Die Erfüllung des wahren Selbst zwingt zum Ausdruck; Ausdruck wird Beweis; Beweis wird Klarheit oder Leuchtkraft des Wissens; Klarheit und Leuchtkraft des Wissens machen tatkräftig; tatkräftiges Wissen wird Macht, und Macht wird durchdringender Einfluß. Nur jene, die in dieser Welt ihr absolutes wahres Selbst sind, können durchdringenden Einfluß besitzen.

Das Vorauswissen ist ein Merkmal, daß man sein absolut wahres Selbst besitzt. Wenn eine Nation oder eine Familie vor der Blüte stehen, dann bleiben sicherlich die glücklichen Vor­zeichen nicht aus. Wenn eine Nation oder eine Familie dem Untergang entgegengehen, bleiben sicherlich die bösen Vorzei­chen nicht aus. Diese Dinge tun sich kund durch das Mittel der Weissagung und durch die Erschütterung des menschlichen Kör­pers. Wenn Glück oder Unglüd{, Gutes oder Böses bevorstehen, kann es vorausgeahnt werden. Wer sein wahres Selbst erfüllt hat, ist daher wie ein himmlischer Geist.

Wahrheit bedeutet die Erfüllung unseres Selbst; dagegen be­deutet das Sittengesetz, daß wir das Gesetz unseres Wesens be­folgen. Die Wahrheit ist der Anfang und das Ende (die Sub­stanz) unseres stofflichen Seins. Ohne Wahrheit gibt es kein stoffliches Dasein. Aus diesem Grunde hält der sittliche Mensch die Wahrheit hoch. ·

Die Wahrheit ist nicht nur die Erfüllung unseres eigenen Seins; durch sie haben die Dinge außerhalb unseres Selbst eine Existenz. DieErfüllung unseres .Seins ist sittliche Empfindung. Aber es braucht den Intellekt, um die Natur der Dinge außer­halb unseres Selbst zu verwirklichen. Sittlicher Sinn und Intel­lekt sind die Kräfte oder Fähigkeiten unseres Seins. Sie ver­binden die innere oder subjektive mit der äußeren oder objek­tiven Anwendung der Geisteskraft. Somit ist alles, was in Wahrheit getan wird, richtig.

Page 92: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Demnach ist absolute Wahrheit unzerstörbar. Da sie unzer­störbar ist, ist sie ewig. Da sie ewig ist, ist sie selbständig. Da sie selbständig ist, ist sie unendlich. Da sie unendlich ist, ist sie weit und tief. Da sie weit und tief ist, ist sie transzendental und intelligent. Weil sie weit und tief ist, enthält sie das ganze Dasein. Weil sie transzendental und intelligent ist, umfaßt sie das ganze Dasein. Wei:l sie unendlich und ewig ist, erfüllt und vollendet sie das ganze Dasein. In Weite und Tiefe ist sie wie die Erde. In transzendentaler Intelligenz ist sie wie der Him­mel. Unendlich und ewig ist sie das Unendliche selbst. Aus die­sem Grunde offenbart sich die Natur der absoluten Wahrheit, ohne sichtbar zu sein; sie erzielt ihre Wirkungen ohne Bewe­gung; sie erreicht ihre Zwecke ohne Tat.

Das, was dem Ablauf und de_r Auswirkung der Natur zu­grunde liegt, läßt sim in einem Wort zusammenfassen: da es nur seinem eigenen unwandelbaren Gesetz gehorcht, ist die Art, in welcher es die versmiedensteil Dinge hervorbringt, uner­gründlich.

Die Natur ist weit, tief, hoch, intelligent, unendlich und ewig. Der Himmel, wie er uns erscheint, ist nur eine helle, schim­mernde Masse, aber in seiner unermeßlichen Ausdehnung schweben Sonne, Mond, Sterne und Sternbilder; und alle Dinge werden von ihm überwölbt. Die Erde, wie sie uns erscheint, ist nur eine Handvoll Erdreich; aber in ihrer ganzen Weite und Tiefe trägt sie mächtige Berge, ohne ihr Gewicht zu spüren; Flüsse und Meere stürzen sich auf sie, ohne sie zu zerreißen. Der Berg, wie er uns erscheint, ist nur eine Masse von Fels; aber auf seiner ganzen Fläche· wachsen Gräser und Bäume, leben Vögel und Tiere, und Schätze kostbarer Gesteine finden sich in seinem Schacht. Das Wasser, wie es uns ersmeint, ist nur eine Kelle von Flüssigkeit; aber in seinen unergründlichen Tiefen tummeln sich die größten Schalentiere, Drachen, Fische und Schildkröten, und es enthält nützliche Erzeugnisse aller Art im überfluß.

Im Liederbuche heißt es: Die Anordnung Gottes, Wie unergründlich ist sie und dauert ewig.

Mit anderen Worten: Dies ist die Essenz Gottes. Weiterhin heißt es:

Wie vortrefflich ist König Wens sittliche Vollkommenheit!

Mit anderen Worten: Dies ist das Wesentliche in Kaiser Wens edlem Charakter. Auch sittliche Vollkommenheit stirbt nicht.

Page 93: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

9· Lobrede auf Konfuzius

Oh, wie groß ist das göttliche Sittengesetz des Weisen! über­flutend und ohne Grenzen, verleiht es allem Erschaffenen Leben und steigt hoch in alle Himmel empor. Wie großartig ist es! Wie eindrucksvoll sind die dreihundert Grundsätze und die dreitausend Verhaltensregeln! Sie warten auf den Menschen, der sie zu verwirklichen weiß. Darum heißt es: Ohne den höch­sten sittlichen Charakter kann das höchste Sittengesetz nicht verwirklicht werden.

Deshalb vernachlässigt der sittliche Mensch das Suchen und Streben nach Wissen nicht, auch wenn er die Größe und Macht seiner sittlichen Natur ehrt. Während er den Horizont seines Wissens erweitert, sucht er doch das Geheimnis aller kleinen Dinge zu lüften. Während er danach trachtet, die höchste Er­kenntnis zu gewinnen, paßt er doch sein Benehmen dem Mittel­wege an (wörtlich »chungyung«). Ernsthaft und schlicht beach­tet und befolgt er die Gesetze und Gebräuche des Gemein­schaftslebens (Ii). Daher ist er in einer Stellung, die ihm Macht­befugnisse verleiht, nicht stolz; in untergeordneter Stellung ist er nicht unbotmäßig. Wenn in seinem Land eine sittliche Ge­sellschaftsordnung herrscht, wird sein Reden der Nation Wohl­stand bringen. Und wenn in seinem Lande kein sittliches Ge­setz herrscht, wird sein Schweigen ihm Nachsicht sichern [7].

Im Liederbuche heißt es:

Mit Wahrheit und Vernunft Bewahrt er sein Leben vor Leid.

Dies ist die Beschreibung des sittlichen Menschen. Um die Weltherrschaft zu erlangen, sind drei wichtige Dinge

vonnöten, welche sie vollkommen machen würden. [8] Wenn ein Mensch in seiner Stellung auch größte Macht­

befugnisse genießt, so wird er es doch nicht auf sich nehmen können, die althergebrachten religiösen oder künstlerischen In­stitutionen (wörtlich »Zeremoniell und Musik«) zu verändern, wenn er nicht den zur Erfüllung seiner Aufgabe geeigneten sitt­lichen Charakter besitzt. Aber selbst wenn er den zur Erfül­lung seiner Aufgabe geeigneten sittlichen Charakter besitzt, darf er es nicht auf sich nehmen, die althergebrachten religiö­sen und künstlerischen Institutionen zu verändern, solange er in seiner Stellung keine Machtbefugnis genießt.

Konfuzius bemerkte: >>Ich habe versucht, die sittlichen und religiösen Inst~tutionen (li) der Hsia-Dynastie zu verstehen; was aber von jenen Institutionen im heutigen Staate Tschi übriggeblieben ist, genügt nicht als Unterlage. Ich habe die sitt-

91

Page 94: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

liehen und religiösen Institutionen der Schang-Dynastie (yin) studiert; Oberreste davon sind im heutigen Staate Sung noch erhalten geblieben. Ich habe die sittlichen und religiösen Insti­tutionen unserer Tschou-Dynastie studiert; da sie heutzutage noch gebräuchlich sind, befolge ich sie.«

Ein von Machthabern neu eingeführtes System könnte der geschichtlichen Autorität der »geschichtlichen Beweise<< erman­geln, auch wenn es vortrefflich wäre; was der geschichtlichen Autorität ermangelt, wirkt nicht überzeugend; und was nicht überzeugend wirkt, kann vom Volk nicht befolgt werden. Ein von Machthabern neu eingeführtes System könnte keinen Re­spekt einflößen, auch wenn es vortrefflich wäre; was keinen Respekt einflößt, kann nicht überzeugend wirken; und was nicht überzeugend wirkt, kann vom Volk nicht befolgt wer­den. Daher muß jedes System sittlicher Gesetze im eigenen Be­wußtsein des Gesetzgebers wur:zeln, von gemeinsamer Erfah­rung bestätigt werden, durch angemessene Sanktionen ge­schichtlicher Erfahrung geprüft und ohne Fehler befunden wor­den sein, es muß auf die Wirkungen und Entwicklungen der Natur in der physischen Welt angewendet und ohne Wider­spruch befunden worden sein, den Göttern ohne Frage und ohne Furcht unterbreitet werden können und imstande sein, hundert Generationen wartend zu überdauern, um schließlich ohne Be­denken von einem Weisen der Nachwelt bestätigt zu werden. Daß ein solches System den geistigen Mächten des Weltalls ohne Furcht begegnen kann, beweist seine Obereinstimmung mit Gottes Gesetzen. Daß es hundert Generationen lang unbesorgt auf die Bestätigung durch einen Weisen der Nachwelt warten kann, beweist seine Obereinstimmung mit den Gesetzen der Menschen.

Daher kommt es, daß in Wahrheit jede Regung des sittlich großen Menschen zum Beispiel für Generationen wird; jede Tat, die er vollbringt, wird zum Vorbild für Generationen; jedes Wort, das er ausspricht, zur Richtlinie für Generationen. Die ihm Fernestehenden werden zu ihm aufblicken, und die Hocha~tung der ihm Nahestehenden wird sich nicht verrin­gern. Im Liederbuch heißt es:

Dort finden sie kein Fehl an ihm, Hier werden sie seiner nicht müde; So von Tag zu Tag und Nacht zu Nacht Sind sie seines Ruhmes voll.

Nie gab es einen sittlichen Menschen, der dieser Beschreibung nicht entsprochen hätte und dem die Anerkennung seiner Zeit­genossen nicht zuteil geworden wäre.

Page 95: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Konfuzius lehrte die ursprünglich von den alten Kaisern Y ao und Schun überlieferte Wahrheit; er übernahm und vervoll­kommnete das von den Kaisern Wen und Wu eingeführte System sozialer und religiöser Gesetze. Er zeigte, daß sie mit der göttlichen Ordnung, die den Kreislauf der Jahreszeiten im Himmel über uns regiert, ebenso übereinstimmen, wie mit dem sittlichen Plan, der unten auf der Erde in der physischen Natur herrscht.

Diese sittlichen Gesetze sind eins mit den Gesetzen, durch welche Himmel und Erde alle Dinge tragen und enthalten, schützen und schirmen. Diese sittlichen Gesetze sind eins mit den Gesetzen, die den Wechsel der Jahreszeiten, das Erscheinen von Sonne und Mond bei Tag und bei Nacht bestimmen. Es ist dieselbe Einheit von Gesetzen, durch die alle Dinge geschaffen und entwickelt werden, jedes in seinem Bereich, ohne einander zu stören, und durch welche die Vorgänge in der Natur ohne Kampf oder.Unordnung ihren Ablauf nehmen; die geringeren Kräfte strömen wie Wasserläufe in alle Richtungen ausein­ander, während die großen Kräfte der Schöpfung geräuschlos und beständig weiterziehen. Das ist es, diese eine, alles durch­dringende Einheit, welche dem Weltall eine so ergreifende Größe verleiht. ·

Nur der Mensch mit dem vollkommensten göttlich-sittlichen Wesen kann in sich vereinen die Schnelligkeit der Wahrneh­mung, die Klugheit, die Einsicht und das Verständnis - Eigen­schaften, die zur Ausübung der Führung notwendig sind; die Großherzigkeit, Freigebigkeit, Wohlwollen und Sanftmut -Eigenschaften, die zur Ausübung der Geduld notwendig sind; die Originalität, Energie, Charakterstärke und Entschlossen­heit - Eigenschaften, die zur Ausübung der Beharrlichkeit not­wendig sind; die Ehrfurcht, den edlen Ernst, die Ordnung und Zuverlässigkeit - Eigenschaften, die zur Ausübung der Würde notwendig sind; den Anstand, die Methode, den Scharfsinn und das Einfühlungsvermögen - Eigenschaften, die zur Aus­übung des kritischen Urteils notwendig sind.

Allumfassend und weitherzig ist das Wesen eines solchen Menschen. Tief ist es und unerschöpflich wie eine Quelle, die immerfort Leben und Lebenskraft hervorsprudelt. Allumfas­send und weit ist es wie der Himmel; tief und unerschöpflich wie der Abgrund.

Wenn ein solcher Mensch in der Welt erscheint, wird er von allen verehrt. Was immer er sagt, werden alle ihm glauben. Was immer er tut, daran werden alle Gefallen finden. Sein Ruhm und sein Name werden sich über die ganze Kulturwelt (wörtlich: >>China«) verbreiten bis in die wilden Gegenden;

93

Page 96: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

überall dorthin; wohin Schiffe und Wagen gelangen, wohin die Menschen mit ihrem Werk und ihren Unternehmungen drin­gen, wo die Himmel walten und die Erde Nahrung gibt, wo Sonne und Mond scheinen, Frost und Tau fallen. Alles, was lebt und atmet, wird ihn verehren und lieben. Daher können wir sagen: »Er ist Gott ebenbürtig.«

Nur wer in dieser Welt sein absolutes Selbst verwirklicht hat, kann die großen Beziehungen der menschlichen Gesellschaft: ord­nen und ausrichten, die grundlegenden Prinzipien sittlicher Tugend festsetzen und die Gesetze von Wamsturn und Fort­pflanzung im Weltall verstehen.

Woher sdJ.öpfl: nun ein solcher Mensch seine Macht und sein Wissen, wenn nimt aus sidJ. selbst? Wie einfach und in sich ge­schlossen ist seine wahre mensdJ.lidJ.e Natur! Wie unergründlich die Tiefe seines Geistes! Wie unendlich groß. und weit ist die sittlidJ.e Tugend seines Wesens! Wer kann ein solches Wesen verstehen außer jenem, der mit vollkommener Erkenntnis und höchsten göttlidJ.en Charaktereigenschaften begabt ist und in seiner sittlichen Entwicklung die Stufe der Götter erreicht hat?

Nachwort

Im Liederbuche heißt es: Ober ihrem Brokat-Kleid Trug sie ein schlichtes, einfaches Gewand,

soldterart ihre Abneigung vor aufdringlidter Farbenpracht be­zeugend. Ebenso ist die Art des sittlichen MensdJ.en unauffäl­lig, und dodJ. wird sie immer mämtiger und offenkundiger; während die Art der gewöhnlichen Menschen prahlerisdJ. ist, aber mehr und mehr an Eintluß einbüßt, bis sie untergeht und verschwindet;

Das Leben des sittlidJ.en MensdJ.en ist schlidtt und dodt nicht reizlos; es ist einfadt und dodt voller Anmut; es ist mühelos und dodJ. durchdadJ.t. Er weiß, daß man Großes nur erreicht, w~nn man im Kl~inen gute Arbeit leistet. Er wei~, daß große Wirkung von klemen Ursachen hervorgerufen wird. Er weiß um die Offenkundigkeit und Wirklichkeit alles dessen, was mit den Sinnen nidtt wahrgenommen werden kann. Solcherart ist er befähigt, in die Welt des Geistes und der sittlidJ.en Tu2:end einzudringen. "

94

Im Liederbuche heißt es: Wie tief der Fisch auch untertaudtt, Ist er doch immer klar zu sehen.

Page 97: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Daher muß der sittliche Mensch sein Herz prüfen und sehen, daß er keinen Grund zu Selbstvorwürfen habe, daß er keine bösen Gedanken in sich trage. Gerade in den Dingen, die man nicht bemerkt, ist der sittliche Mensch den anderen überlegen.

Im Liederbuche heißt es: Auch in deinem geheimen Zimmer wirst du beurteilt, Sieh, daß du nichts tust, weswegen du erröten müßtest, Wenn auch nur die Decke auf dich herabblickt.

Somit ist der sittliche Mensch ernsthafl:, auch wenn er nichts tut; und er ist wahrhafl:, auch wenn er nichts sagt.

Im Liederbuche heißt es: Während des ganzen feierlichen Ritus wurde kein Wort

gesprochen, Und doch wurde jeder Hader aus ihren Herzen

verbannt.

Somit ist der sittliche Mensch fähig, die andern auch ohne den ·Reiz der Belohnung gütig zu machen und ihnen, ohne zornig zu werden, mehr Furcht einzuflößen, als wenn er die schlimm­sten Strafen verhängt hätte.

Im Liederbuche heißt es: Er trägt den Wert seiner sittlichen Tugend nicht zur

Schau; Und doch folgen alle Fürsten seinen Spuren.

Somit kann allein der sittliche Mensch, dadurch, daß er ein Leben einfacher Wahrheit und Ernsthaftigkeit filhrt, Frieden und Ordnung in die Welt bringen.

Im Liederbuche heißt es:

Ich behalte die guten sittlichen Eigenschaften im Sinn, Die weder großen Lärm machen, noch Aufsehen erregen.

Konfuzius bemerkte: »Von allen Mitteln, die dazu angetan sind, die Menschheit zu erneuern, sind die lärmhaften und auf­sehenerregenden am unwichtigsten.«

An anderer Stelle des Liederbuches heißt es:

Seine Tugend ist leicht wie ein Haar.

Und doch ist auch ein Haar etwas Stoffliches. »Die Taten des Allmächtigen Gottes kann man weder hören noch riechen.« Das ist die höchste Entwicklung unseres sittlichen Wesens.

95

Page 98: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

IV

ETHIK UND POLITIK

Diese Abhandlung, das T ahsueh, ursprünglich Kapitel 42 des Liki, gehört jetzt zu den Vier Büchern; und da es das erste unter ihnen ist, begannen früher auch alle chinesischen Schul­kinder ihre ersten Studien mit diesem Text. Die dieser Ab­handlung und dem »Einklang der Mitte«, der als nächstes folgte, zugrunde liegende Philosophie ging natürlich weit über das Fassungsvermögen sieben- bis achtjähriger Kinder hinaus. Dennoch wurde dieser Text studiert und einfach auswendig gelernt, so daß die Worte dieser Abhandlung den Schülern ihr ganzes Leben lang im Gedächtnis blieben und ihnen in späteren Jahren von Nutzen sein konnten. über die grundlegende Be­deutung dieser Abhandlung schrieb der Konfuzianer der Sung­Zeit, Tscheng Yithschuan: »Das Tahsueh ist ein in der über­lebenden Tradition der konfuzianischen Schule gehaltenes Buch und stellt das Tor dar, durch welches Anfänger den Pfad der Tugend betreten. Paß wir auch heute noch die Ordnung und Reihenfolge erkennen können, in d~r die Alten bei der Erzie­hung vorgegangen sind, ist einzig und allein dem Vorhanden­sein dieses Buches zu verdanken. Die nächstfolgenden Bücher sind dann die Sprüche und das Buch des Mencius. Alle Studen­ten sollten ihre Studien mit dieser Abhandlung beginnen; dann steht zu hoffen, daß sie nicht allzusehr in die Irre gehen werden.<<

Der chinesische Titel dieser Abhandlung ist: T ahsueh, was Legge mit » The great Learning<< übersetzt, aber Ku Hung Ming genauer mit »Die höhere Bildung« wiedergibt. Wenn wir uns an das Alter der Studenten halten, für welche diese »höhere Bildung« bestimmt war, sehen wir, daß sie etwa unserer gym­nasialen Oberstufe entsprach. Das erhellt aus einem anderen Kapitel des Liki, das ich hier als Kapitel VII eingefügt habe und in welchem das Erziehungssystem für Prinzen und Söhne des hohen Adels im einzelnen beschrieben wird. (Kapitel 8 und 12 des Liki, die ich nicht übersetzt habe, enthalten weitere An­gaben über das chinesische Erziehungssystem.) Die konfuzia­nische Auffassung der Erziehung beruht offenbar auf der Vor­aussetzung, daß eine gebildete Oberschicht besteht, welche herr­schen oder den Herrschern in ihren Regierungsaufgaben helfen sollte; daraus ergibt sich dann die stets verfochtene Theorie, daß Diskussionen über Erziehungsfragen zur Vorbereitung der richtigen Regierung eines Landes von wesentlicher Bedeutung

96

Page 99: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

seien. Die vorliegende Abhandlung wurde wohl ausdrücklich für die Prinzenerziehung abgefaßt (siehe insbesondere Ab­schnitt 8), was ihreil Titel T ahsueh (etwa Oberschule, in der die Prinzen erzogen wurden) erklärt. Der Ausdruck Tschuntse (wörtlich: Prinz) dürfte an dieser Oberschule in Gebrauch ge­wesen sein; später erhielt er die allgemeine Bedeutung »Herr«. Inhaltlich befaßt sich diese Abhandlung also mit dem Zusam­menhang zwischen der Kultivierung der Einzelperson und einer allgemeinen Weltordnung, d. h. mit dem Zusammenhang zwischen Ethik und Politik.

Der gebräuchliche Text dieser Abhandlung ist von dem Song­Kommentator Tschu Hsi neu redigiert worden, wobei ein gan­zer Abschnitt in den ersten Teil der Abhandlung verlegt wurde und die ganze Anordnung der Gedanken eine wesentliche Klä­rung erfuhr. :Pie ursprünglich vorhandene Verwirrung soll darauf zurückzuführen sein, daß die beschriebenen, gelochten und mit Lederriemen gebündelten Bambusstreifchen in Unord­nung geraten waren. Ich halte Tschu Hsis Umstellung für aus­gezeichnet und habe mich auch an sie gehalten; freilich hat er selbst die Ursache der ursprünglichen verkehrten Anordnung nicht erkannt. Infolgedessen ergab sich am Ende des von ihm versetzten Abschnittes ein unvermittelter Übergang, indem zwei gleichlautende Zeilen zusammenstoß~n: »Das heißt die Wurzel erkennen. Das heißt die Wurzel erkennen. Das heißt Vollendung der Erkenntnis.« Tschu Hsi faßte nun die zweite gleichlautende und die dritte Zeile als den Abschluß eines be­sonderen »fehlenden Absatzes« auf und ging daran, diesen an­geblich »fehlenden Absatz« selbst zu verfassen, was ihm eine willkommene Gelegenheit bot, hier ein wenig Sung-Philosophie über Meditation und wahre Erkenntnis anzubringen. Dadurch wurde jedoch das Gesamtbild von dem Gegenstand und der Methode des Erkenntnisstrebens völlig verändert, ein Um­stand, der später nicht endenwollende Kontroversen und Spe­kulationen hervorrief. Ich habe den Originaltext verglichen und bin zu dem Ergebnis gelangt, daß der Fehler auf das Vor­kommen zweier gleichlautender Zeilen in der gleichen Abhand­lung zurückzuführen ist, die freilich ursprünglich nicht aufein­anderfolgten; und da die Texte von den alten Gelehrten, wel­che den Massenmord von Thschin Schih Huang überlebt hatten, auswendig hergesagt zu werden pflegten, war eine falsche Fort­führung einer gleichlautenden Zeile durchaus erklärlich - so wie das heute noch in Druckereien vorkommt. Die Entdeckung dieses Fehlers im Texte des Tscheng Hsuan läßt mich vermuten, daß es einen »fehlenden AbsatZ« überhaupt nie gegeben hat, sondern daß es sich lediglich um eine falsche Zeilenanordnung 7/154 97

Page 100: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

handelt, und daß daher der in diesem Absatz behandelte Ge­genstand des Suchens nach Erkenntnis einfach die menschliche Natur und das menschliche Herz waren und nicht das Weltall. Das ergibt sich ganz deutlich aus dem folgenden, von mir neu­gefaßten Text. Ich habe Tschu Hsis Umstellung eines ganzen Absatzes beibehalten, habe aber die ursprünglichen, gleichlau­tenden Verbindungszeilen lediglich an die Stelle gerückt, wohin sie meines Erachtens eigentlich gehören.

1. Grundgedanke

Die Grundsätze höherer Bildung sind die Bewahrung des kla­ren menschlichen Charakters, die Neubelebung des Volkes und das Verweilen (oder Ruhen) in der Vollendung, oder im höch­sten Gut. Nur wenn man das Endziel der Vollendung erkennt, in der man weilen. soll, kann man einen bestimmten Lebens­zweck haben. Nur durch einen bestimmten Lebenszweck kann man die Ruhe des Herzens erreichen. Nur durch Ruhe des Herzens kann man Seelenfrieden erlangen. Nur nach Erlan­gung des Seelenfriedens kann man nachzudenken beginnen. Nur wenn man zu denken gelernt hat, kann man Erkenntnis erlangen. Im Gefüge der Dinge gibt es einen Unterbau und einen Oberbau, und im Ablauf der Ereignisse einen Anfang und ein Ende. Da-rum ist das Wissen um die richtige Abfolge oder die relative Ordnung der Dinge der Beginn der Weisheit.

Die Alten, die den frischen oder klaren Charakter der Men­schen auf der Welt bewahren wollten, gingen zuvörderst daran, das Leben des Staates zu ordnen. Die, welche das Leben des Staates ordnen wollten, gingen zunächst daran, ihr Familien­leben zu regeln. Die, welche ihr Familienleben regeln wollten, gingen zunächst daran, ihr Eigenleben zu pflegen. Die, welche ihr Eigenleben pflegen wollten, gingen zunächst daran, ihre Herzen ins Lot zu setzen. Die, welche ihre Herzen ins Lot set­zen wollten, gingen zunächst daran, ihr Wollen redlich zu machen. Die, welche ihr Wollen redlich machen wollten, gingen zunächst daran, wahre Erkenntnis zu erlangen. Die Erlangung wahrer Erkenntnis hing von der Erforschung der Dinge ab. Wenn die Dinge erforscht sind, wird wahre Erkenntnis erlangt; wenn wahre Erkenntnis erlangt ist, wird das Wollen redlich; wenn das Wollen redlich ist, wird das Herz ins Lot gesetzt (oder: sieht der Geist richtig); wenn das Herz ins Lot gesetzt ist, wird das Eigenleben gepflegt; wenn das Eigenleben gepflegt wird, ist die Familie geregelt; wenn die Familie geregelt ist, ist der Staat geordnet; wenn der Staat geordnet ist, herrscht Friede

98

Page 101: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

auf der Welt. Vom Kaiser bis zum gemeinen Mann müssen alle die Pflege des Eigenlebens als Wurzel oder Grundlage betrach­ten. Es kann nie einen ordnungsgemäßen Schößling oder Ober­bau geben, wenn die Wurzel oder der Unterbau in Unordnung sind. Es gibt keinen Baum, dessen Stamm dünn und schlank und dessen Astwerk dick und schwer wäre. Das heißt: ,.Die Wurzel oder Grundlage der Dinge erkennen.« [1]

2.. Ober die Bedeutung einiger in diesem Abschnitt vorkommender Ausdrücke

Mit »Klärung des menschlichen Charakters« ist folgendes ge­meint: In der Verkündigung an Khang (eine Urkunde im Ge­schichtsbuch) heißt es: »Er war imstande, seinen Charakter klar zu machen.« In Thaitschia (einer anderen Urkunde im gleichen Werk) heißt es: ,.Er bedachte die klaren Aufträge des Himmels.« Im Kanon des Yao (eine andere Urkunde) heißt es: ,.Er war imstande, seinen großen Charakter klar zu machen.« Alles das zeigt, daß die Könige des Altertums damit begannen, ihren eigenen Charakter klar zu machen.

Mit »Neubelebung des Volkes« ist folgendes gemeint: Die Inschrift auf der Badewanne des KaisersThang lautete: ,.wenn du dich frisch machst (oder »dich erneuerst«), dann mach dich täglich frisch und mach dich abermals jeden Tag frisch.« [.2.] Die »Verkündigung an Khang" sagt: »Werdet ein neues Ge­meinwesen.<< Das Liederbuch sagt: >>Obwohl der Staat der Tschou ein altes Land ist, sind die Aufträge, die es vom Him­mel erhalten hat, fortwährend neu.« Darum trachtet der Vor­nehme, zu allen Zeiten sein 1\ußerstes zu leisten [3].

Mit »in Vollendung ruhen oder Verweilen« ist folgendes gemeint: Das Liederbuch sagt: »Der Herrschaftsbereich des Kaisers, der tausend Li mißt, ist der Ort, wo das Volk weilt.« Es heißt ferner im Liederbuch: »Der zwitschernde gelbe Vogel ruht oder sitzt auf einem kleinen Hügel.« Und Konfuzius be­merkte: »Wenn der Vogel ruht, weiß er, wo er ruhen soll. Sollte der Mensch im Wissen, wo er ruhen soll (oder: wo er ver­weilen soll), dem Vogel unterlegen sein?« Das Liederbuch sagt wiederum: "Wie würdevoll und mitreißend war doch König Wen! Wie glänzend war seine Tugend! Er war behutsam in der Wahl des Ortes, an dem er weilte.« [4] Als Herrscher weilte er im Wohlwollen. Als Minister weilte er in Ehrfurcht. Als Sohn weilte er in Kindesliebe; als Vater weilte er in Güte; und in seinem Verhalten gegen seine Landsleute weilte er in Red­lichkeit.

7* 99

Page 102: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Im Liederbuch heißt es: »Seht euch die Windung des Thschi­Flusses an! Wie üppig und grün sind dort die Bambusstämme! So ist unser hochgebildeter, vornehmer Fürst. Er sieht aus wie ein Stück Jade, geschnitten, gefeilt, gemeißelt und geschliffen. Wie ernsthaft und würdevoll im Aussehen, wie vornehm und majestätisch! Nie kann man unseren vollendeten, hochgebilde­ten Fürsten vergessen!« Der Ausdruck »geschnitten und gefeilt« bezieht sich auf die Prägung seines Wissens. Der Ausdruck »ge­meißelt und geschliffen« bezieht sich auf die Bildung seines Charakters. Der Ausdruck »ernsthaft und würdevoll« bezieht sich auf seine Vorsicht und Behutsamkeit, und der Ausdruck »vornehm und majestätisch« auf sein eindrucksvolles Auftreten. Der Ausdruck »nie kann man unseren Fürsten vergessen« be­deutet, daß das Volk seinen großen Charakter und seine Voll­endung nie vergessen konnte.

Das Liederbuch sagt: »Ja, die alten Könige werden nie von ihrem Volk vergessen! Spätere Fürsten achteten, was sie ach­teten, und liebten, was sie liebten, während das gemeine Volk sich an dem erfreute, woran sie sich erfreuten, und von ihren Wohlfahrtseinrichtungen Vorteil zog. Darum konnte das Volk sie durch Generationen nicht vergessen.« [5]

3· Ober die Erlangung wahrer Erkenntnis

Mit »Erlangung wahrer Erkenntnis« ist folgendes gemeint: Konfuzius sprach: »Wenn ich den Vorsitz über einen Rechts­streit führe, stehe ich keinem nach. Wir müßten aber dar­auf hinzielen, daß es überhaupt keine Rechtsstreite mehr gäbe, und daß Menschen, die tatsächlich Unrecht begangen haben, sich viel zu sehr schämen würden, um Worte der Selbst­verteidigung auszusprechen. Solcherart würden die Leute von großer Achtung und Ehrfurcht (vor der Obrigkeit) erfüllt wer­den. Das heißt: Die Wurzel der Dinge erkennen.« [6] Das heißt: Wahre Erkenntnis (oder Weisheit) erlangen.

4· Ober das Redlichmachen des Wollens

Der Ausdruck »Das Wollen redlich machen« will besagen, daß man sich nicht selbst betrügen darf. Diese Redlichkeit sollte so sein, wie die Aufrichtigkeit, mit der wir einen Gestank verab­scheuen oder etwas Schönes lieben. Das heißt: unserem Ge­wissen Genüge tun. Darum wacht ein höherer Mensch über sich, wenn er allein ist. Der Gemeine tut in seinem Privatleben ohne

100

Page 103: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Hemmung Unrecht, aber wenn er des höheren Menschen an­sichtig wird, schämt er sich und trachtet, sein Böses zu verbergen und sein Gutes zur Schau zu stellen. Aber wozu nützt das? Denn die Menschen brauchen sie bloß anzusehen, um in ihre Herzen zu blicken. Das ist der Sinn des Ausspruches: »Was im Herzen des Menschen echt ist, zeigt sich in seiner äußeren Er­scheinung.« Darum muß der höhere Mensch (oder der Fürst) über sich selbst wachen; wenn er allein ist. Tseng Tse sprach: »Was z~hn Augen sehen und was zehn Hände zeigen - ist das nicht erschreckend?« Ebenso wie Reichtum ein Haus verschö·­nert, so verschönert Charakter den Leib. Ein Mensch mit gro­ßem Herzen hat auch große Gliedmaßen. (Wahrscheinlich ein Sprichwort, wie etwa: Dicke Menschen sind gutmütig.) Darum muß ein höherer Mensch sein Wollen redlich machen.

5· Das Herz ins Lotsetzen; Pflege des Eigenlebens

Der Ausspruch »Die Pflege des Eigenlebens ist davon abhängig, daß das Herz ins Lot gesetzt wird« hat folgende Bedeutung: Wenn man im Zorn außer sich gerät, ist das Herz nicht im Lot; wenn man durch Furcht verwirrt wird, ist das Herz nicht im Lot; wenn man durch Liebe verblendet wird, ist das Herz nicht im Lot; wenn man von Gram und Sorge erfüllt ist, ist das Herz nicht im Lot (oder: hat der Geist sein Gleichgewicht verloren). Wenn der Geist nicht da ist, schauen wir, aber sehen nicht, hor­chen, aber hören nicht, essen, aber schmecken nicht. Das ist die Bedeutung des Ausspruches, daß die Pflege des Eigenlebens äa­von abhängt, daß man sein Herz ins Lot setzt.

6. Von der Beziehung zwischen Eigenleben und Familienleben

Der Ausspruch »Die Regelung des Familienlebens hängt von der Pflege des Eigenlebens ab« hat folgende Bedeutung: Die Menschen verlieren gewöhnlich ihre Urteilsfähigkeit gegenüber denen, die sie lieben, gegenüber denen, die sie verachten oder ungern haben, gegenüber denen, die sie fürchten, gegenüber denen, die sie bemitleiden, und gegenüber denen, die sie ver­hätscheln und auf die sie stolz sind. Darum sehen nur wenige das Böse bei denen, die sie lieben, und das Gute bei denen, die sie ungern haben. Daher heißt es: Die Menschen erkennen die Fehler ihrer eigenen Kinder nicht, so wie sie das unmerkliche Wachsen ihrer Reissaat auf ihren Feldern nicht sehen. Darum wird gesagt, daß die, welche ihr Eigenleben nicht pflegen, ihr Familienleben nicht regeln können.

IOI

Page 104: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

7· Ober die Beziehung zwischen dem Leben der Familie und dem Leben des Staates

Mit dem Ausspruch »Die, welche das Leben des Staates ordneri wollen, müssen zuvörderst daran gehen, ihr Familienleben zu ordnen« ist folgendes gemeint: Niemand, der die Mitglieder seiner Familie nicht zu belehren versteht, kann andere außer­halb seiner Familie belehren. Darum verbreitet der höhere Mensch seine Bildung über das gesamte Volk, indem er einfach zu Hause bleibt. Das Lehren kindlichen Gehorsams ist eine Vorbereitung zum Dienst am Staatsoberhaupte; das Lehren der Ehrfurcht vor den älteren Brüdern ist eine Vorbereitung zum Dienst an allen 1\.lteren des Volkes; und das Lehren der Liebe der Eltern zu den Kindern ist eine Vorbereitung zur Herrschaft über das Volk. In der Verkündigung an Khang heißt es: »Handle so, als wachtest du über ein Kind.« Kein Mädchen braucht je vor seiner Heirat zu lernen, wie man ein Kind säugt. Wenn der Instinkt richtig (oder: gesund oder: normal) ist, bist du nicht weit vom höchsten Ideal, auch wenn du es nie ganz er­reichst. Wenn die einzelnen Familien Güte gelernt haben, hat auch das Volk Güte gelernt. Wenn die einzelnen Familien Höf­lichkeit gelernt haben, hat auch das Volk Höflichkeit gelernt. Wenn ein einziger Mensch habgierig oder geizig ist, wird das ganze Land in Unordnung gestürzt. Das ist das Gesetz der Dinge. Darum heißt es: »Ein einziges Wort kann ein Geschäft zemhlagen, und ein einziger Mensch kann ein Land in Ord­nung bringen.« Die Kaiser Yao und Schun gaben der Welt ein Beispiel der Güte, und das ganze Volk folgte ihnen nach. Die Kaiser Tschieh und Tschou gaben der Welt ein Beispiel der Grausamkeit, und das Volk folgte ihnen ebenfalls nach. Die Völker befolgten ihre Befehle nicht, wenn diese Befehle von ihren Taten Lügen gestraft wurden. Darum erforscht der höhere Mensdt sich selbst, bevor er das von anderen verlangt, und stellt zunächst fest, daß er selbst kein Rechtsbrecher ist, bevor er anderen verbietet, das Recht zu brechen. Es gibt niemanden, der andere zu seiner Denkweise zu bekehren vermöchte, wenn er nicht seinem eigenen, persönlichen Verhalten das Gegenseitig­keitsprinzip (oder: die Goldene Regel) zugrunde legte. Darum hängt die Ordnung des Lebens des gesamten Volkes von der Regelung des eigenen Familienlebens ab.

Im Liederbuch heißt es: »Seht den Pfirsichbaum, wie frisch und hübsch er ist! Wie grün und saftig sind seine Blätter! Das Mädchen (eine Prinzessin) geht in das Haus ihres Gatten ein und wird mit den Bewohnern des Heims ihres Gatten in Ein­tracht leben.« Indem man also mit den Bewohnern seines

102

Page 105: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Heims in Eintracht lebt, wird man zum Beispiel für das Volk seines Landes. Wiederum heißt es im Liederbuch: ••Sie (die Herrscher) leben in Eintracht mit ihren älteren und jüngeren Brüdern.« Indem sie mit ihren >älteren und jüngeren Brüdern in Eintracht leben, sind sie geeignet, dem Volk ihres Staates Beispiel zu sein. Das Liederbuch sagt ferner: »Das Auftreten des Fürsten ist durchaus geziemend, und er bringt das Land in Ordnung.« Eben weil er als Vater, Sohn, älterer und jüngerer Bruder ein würdiges Beispiel gab, nahm ihn das Volk zum Vor­bild. Darum heißt es: »Die Ordnung des Lebens der Gemein­schaft hängt von der Regelung des Familienlebens ab.«

8. Ober die Beziehung zwischen Staatsleben und Weltfrieden

Mit dem Ausspruch »Die Wiederherstellung des Friedens auf der Welt hängt von der Ordnung des Staatslebens ab« ist fol­gendes gemeint: Wenn die Amtspersonen alten Leuten Achtung erzeigen, lernen die Leute aus dem Volke, gute Söhne zu sein. Wenn die Amtspersonen ihren Vorgesetzten Verehrung erwei­sen, lernt das gemeine Volk Ehrfurcht und Demut. Wenn die Amtspersonen den Kindern und Hilflosen Güte erzeigen, wird das gemeine Volk nicht gegenteilig handeln. Darum besitzt der höhere Mensch (oder: der Fürst) Grundsätze, nach denen er, wie nach einem Winkelmaß, sein Verhalten zu regeln vermag.

Was einem an seinem Vorgesetzten mißfällt, das erzeige man nicht seinem Untergebenen; was einem an seinem Untergebenen mißfällt, das erzeige man nicht seinem Vorgesetzten; was einem an denen mißfällt, die vor einem stehen, das erzeige man nicht denen, die hinter einem sind; was einem an denen mißfällt, die hinter einem sind, das erzeige man nicht denen, die vor einem stehen; was einem an denen mißfällt, die rechts stehen, das er­zeige man denen nicht, die links stehen; und was einem an denen mißfällt, die links stehen, das erzeige man denen nicht, die rechts stehen. Das ist der Grundsatz des Winkelmaßes (oder: des Maßstabes).

Im Liederbuch heißt es: »Wie ist das Volk mit einem Herr­scher zufrieden, der dem Volke wie ein Vater ist!« Der Herr­scher liebt, was das Volk liebt, und haßt, was das Volk haßt. Das heißt: dem Volke ein Vater sein.

Wiederum heißt es im Liederbuch: >>Oh, wie herrlich sind die Südhergel Wie majestätisch die Felsen! Wie herrlich ist der Große Lehrer Yin! Das Volk sieht zu ihm auf!« So sollten die, welche hohe Kmter bekleiden, niemals unachtsam sein: sobald sie fehl gehen, wird die ganze Welt sie tadeln.

IOJ

Page 106: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Wiederum heißt es im Liederbuch: »Ehe die Herrscher aus der Schang-Dynastie die Anhänglichkeit ihres Volkes verloren hatten, konnten sie vor Gott zum Opfer erscheinen. Nehmt das Haus Schang zur Warnung! Es ist nicht leicht, den Auftrag des Himmels zu bewahren!« Das zeigt auch, daß die, welche das Volk hinter sich haben, die Herrschaft über ein Land bewahren können, während die, welche die Anhänglichkeit ihres Volkes verwirkt haben, dadurch auch die Herrschaft über das Land verwirken.

Darum wird der höhere Mensch (oder: der Fürst) zuvörderst wachsam über seinen Charakter sein. Wenn er Charakter be­sitzt, wird das Volk mit ihm sein; wenn das Volk mit ihm ist, hat er die Hoheit über ein Gebiet; wenn er die Hoheit über ein Gebiet hat, dann hat er Reichtum; und wenn er Reichtum hat, kann er Pläne durchführen lassen. Daher ist Charakter die Grundlage und Reichtum das Ergebnis. Wenn der Herrscher die Grundlage vernachlässigt und nur auf äußere Ergebnisse achtet, wird er das Volk zu gegenseitigem Raube und zur Pro­fitgier führen. Darum wird einem, dessen Rede schlau und listig ist, mit Schläue und List erwidert werden, und wenn der Reichtum auf krummen Wegen ·hereinkommt, wird er auf krummen Wegen wieder hinausfließen.

Die Verkündigung an Khang sagt: »Der Auftrag des Him­mels ist nicht fest und unveränderlich. Gute Herrscher emp­fangen ihn, schlechte verwirken ihn.« In der Geschichte von Thschu heißt es: »Der Staat der Thschu hat keine Schätze; Wohltun ist unser einziger Schatz.« Tsefan (mütterlicher Oheim eines verbannten Fürsten von Tschin) sprach: »Unser verbann­ter Fürst hat keine Schätze; Umgang mit guten Menschen ist sein einziger Schatz.«

Der Eid des Fürsten Mu (an seine Untertanen) lautet: »Ich will nur einen Minister haben, der schlicht und rechtschaffen ist, auf keine anderen Fähigkeiten Anspruch erhebt, aber ein großes, einfältiges Herz besitzt und gegen andere großmütig und duldsam ist. Wenn er sieht, daß ein anderer eine bestimmte Fähigkeit besitzt, freut er sich, als ob er sie selbst besäße; wenn er einen anderen sieht, der schön und weise ist, hat er ihn von Herzen gerne und zeigt so, daß er andere wirklich neben sich duldet. Solch ein Mann ist ein Gewinn für den Staat, denn er wird imstande sein, meine Kinder und Enkel und das schwarz­haarige Volk zu, schützen. Aber wenn ein Minister neidisch ist und jemanden haßt, sobald er sieht, daß dieser eine besondere Fähigkeit besitzt, oder versucht, sich einem schönen, weisen Mann in den Weg zu stellen, wenn er ihn sieht, dann kann so einer wirklich nicht andere neben sich dulden und kann meine

Page 107: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Söhne und Enkel und das schwarzhaarige Volk nicht schützen. Solch ein Mensch ist eine Gefahr für das Land.« Nur ein wahr­haft großer Mann kann einen solchen Minister entlassen und verbannen, indem er ihn zu den Barbaren treibt und nicht duldet, daß er China mit uns gemein habe. Nur ein wahrhaft großer Mensch vermag richtig zu lieben und zu hassen. Würdige Männer sehen und sie nicht für ein Amt empfehlen - oder nicht der erste zu sein, der sie empfiehlt -, heißt unehrerbietig oder nachlässig gegen seinen Herrscher sein. Schlechte Menschen sehen und sie nicht ihres Amtes entsetzen und sie so weit als möglich entfernen zu können, das ist Schwäche. Lieben, was das Volk haßt, und hassen, was das Volk liebt- das heißt gegen die menschliche Natur handeln; über einen solchen Menschen wird das Unglück hereinbrechen. Daher sehen wir ein grund­legendes Prinzip für den Herrscher: durch Redlichkeit und Treue bewahrt er seine Herrschaft, durch Hochmut und Zügel­losigkeit verliert er sie.

Es gibt ein Grundprinzip über die Anhäufung von Reich­tum. Es lautet: Wenn es viele Erzeuger von Reichtum und wenige Verschwender gibt, und wenn die Menschen rasch im Geldverdienen und langsam im Geldausgeben sind, wird stets genügend Reichtum vorhanden sein. Der echte Mensch ent­wickelt seine Persönlichkeit mit Hilfe seines Reichtums und der unwürdige Mensch entwickelt seinen Reichtum auf Kosten sei­ner Persönlichkeit. Niemals gab es einen Herrscher, der die Menschenliebe pflegte und dessen Untertanen die Rechtschaf­fenheit nicht liebten, und immer, wenn das Volk die Recht­schaffenheit liebte, konnten die Staatsangelegenheiten erfolg­reich besorgt werden. Und stets ist in einem solchen Staat der im Staatsschatz angesammelte Reichtum im Besitze des Herr­schers verblieben.

Der Edle Hsien Meng sagte: »Die Gelehrten, welche gerade ein Amt erhalten und angefangen haben, sich einen Wagen und Pferde zu halten, schauen nicht auf Feder- und Borstenvieh. Die höheren Beamten, die bei ihren Opfern Eis verwenden, halten kein Rindvieh und keine Schafe. Und die Adligen, die hundert Wagen halten können, dulden keine raffgierigen Steuereinnehmer unter sich. Es wäre für sie besser, einen Mini­ster zu halten, der ihren eigenen Schatz bestiehlt, als raffgierige Steuereinnehmer. Das ist der Sinn des Ausspruches >Der mate­rielle Wohlstand eines Volkes bemißt sich nicht nach seinem materiellen Wohlstand, sondern nach seiner Rechtschaffenheit<.«

Wer an der Spitze der Regierung steht und zu Reichtum ge­langen will, ist gezwungen, kleinliche Bürokraten anzustellen. Er mag selbst gute Absichten hegen, aber die kleinen Beamten

105

Page 108: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

werden das Land regieren und dem Staat Unheil bringen, so daß alle seine guten Absichten zwecklos werden. Darum h.eißt es: »Der materielle Wohlstand eines Volkes bemißt sich nicht nach seinem materiellen Wohlstand, sondern nach seiner Recht­schaffenheit.« [7]

106

Page 109: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

V

DIE APHORISMEN DES KONFUZIUS Lun Yu

Die »Sprüche« werden meist als die konfuzianische Bibel ange­sehen; sie stellen eine uneinheitliche, ungeordnete und unredi­gierte Sammlung von Aussprüchen dar, welche Konfuzius bei verschiedenen Anlässen getan hat; sie enthalten meist keinerlei Andeutung über die Umstände, in denen diese Bemerkungen ausgesprochen wurden, und sind sicherlich aus ihrem Zusam­menhang gerissen. Das Lesen der »Sprüche« erinnert an das Lesen etwa eines »Zitatenschatzes« und gibt dem Leser viel Stoff zum Nachsinnen; es regt die Phantasie an und wirf!: häu­fig die Frage auf, was die verschiedenen Autoren eigentlich ge­meint haben. Ein Vergleich mit manchen Kapiteln aus dem Liki, Mencius und anderen Quellenwerken zeigt, daß die prä­gnantesten, geistreichsten Aussprüche aus längeren Gesprächen herausgeschnitten und aufbewahrt worden sind, weil sie all­gemein bewundert wurden. Wir lesen z. B. in den »Sprüchen« den Ausspruch des Konfuzius: »Ich habe noch niemals Men­schen gesehen, die von tugendhaften Gelehrten ebenso betört wurden wie von schönen Frauen«, und erfahren dann von Szema Thschien (siehe unser Kapitel II), daß er diesen Ausspruch tat, als er mit einer schönen Königin im Wagen durch die Stra­ßen von W ei fuhr und erlebte, daß das Volk auf die Königin sdtaute und nicht auf ihn. Der Text der Sprüche erwähnt diesen Umstand nicht und faßt ihn sogar in die mehr abstrakte Form: >>Ich habe noch niemanden gesehen, der die Tugend ebenso liebte wie die Sdtönheit.« Die »Sprüche« sind voller kurzer Sätze von vier oder fünf Wörtern, wie z. B. »Ein vornehmer Mensch ist kein Gefäß« (hat nicht bloß eine bestimmte Fähig­keit), oder >>Die Tugendbolde sind die Diebe der Tugend«. Im letzteren Falle besitzen wir glücklicherweise im Buche des Men­cius eine ausführlichere Darstellung dieses Gedankens über die >>Tugendbolde«. Wir können nun gewiß nicht annehmen, daß Konfuzius bloß in drei- oder viersilbigen Sätzen gesprochen hat. Man kann auch unmöglich meinen, daß der volle Sinn der Antworten des Konfuzius auf verschiedene Fragen sich erfassen läßt, wenn man nidtt weiß, was der Frager eigentlich gefragt hat. Yuan Mei hat darauf hingewiesen, daß das Buch wesent­lidt eine Sammlung der Aussprüche des Konfuzius sein sollte und daß darum die Fragen der Jünger so kurz wie möglidt ge-

107

Page 110: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

faßt sind. Daher wird die Frage höchstens mit einem Wort an­gedeutet: einer fragte über »Regierung«, ein anderer über >>echtes Menschentum«, ein dritter über »Li« und Konfuzius erteilte dann auf die von verschiedenen Leuten gestellten gleich­lautenden Fragen die mannigfaltigsten, einander ofl: wider­sprechenden Antworten. Die Kommentatoren ließen sich häufig auch zu Auslegungen verleiten, die sich gar nicht rechtfertigen lassen. So sagte Konfuzius einmal zu Tschung Kung: »Sieh dir dieses schöne Kalb an, mit seinem hellbraunen Fell und den hübschen Hörnerchen! Selbst wenn ich es schonen wollte, meinst du, daß die (Geister der) Berge und Flüsse es (als Opfer an sie) schonen würden?« Das wird nun so ausgelegt, daß Tschung Kung selbst einen solchen schönen, zum Herrschen geeigneten sittlichen Charakter besessen habe - aber Yuan Mei meint, das Ganze sei doch bloß eine beiläufige Bemerkung des Konfuzius gewesen, welche dieser getan habe, als er mit seinem Jünger aus dem Fenster schaute und zufällig ein schönes Kalb vorüber­gehen sah.

Worin besteht also der besondere Reiz der »Sprüche«, ab­gesehen von dem in ihnen enthaltenen Schatz konfuzianischer Weisheit? In der Schilderung des Charakters des Konfuzius und in den verschiedenen Bemerkungen, die er über seine Zeitgenos­sen machte; in einer ungeordneten, bloß andeutenden, mit ein paar Pinselstrichen leicht hingeworfenen Darstellung des Lebens und der Aussprüche des Konfuzius. Der Zauber dieses Buches ist im wesentlichen der gleiche wie der von Boswells Johnson und des ganzen Kreises um J ohnson, dem hier der Kreis der Jünger und Freunde um Konfuzius entspricht. Das Buch kann auf jeder Seite aufgeschlagen und gelesen werden und wird uns überall den Zauber eines weisen, sackgroben und im ganzen liebenswerten Menschen offenbaren. Darin besteht der Reiz der Sprüche für die Chinesen. Denn auch die Dogmatik ist ofl: nicht ohne Reiz, und die dogmatischen Urteile eines Konfuzius und eines Dr. Johnson machen auf uns immer einen Eindruck, weil beide ihre Urteile mit so viel Kraß: und Selbstsicherheit ausge­sprochen haben. Die Sprüche sind also im großen und ganzen eher Illustrationen und Beispiele und geben uns kein abgerun­detes Bild des konfuzianischen Denkgebäudes, außer, wenn der Leser besonders angestrengt über sie nachdenkt.

Die Sprüche geben uns außerdem auch ein Bild des Kreises um Konfuzius. Manchmal wird das durch das bloße Wort an­gedeutet, daß Konfuzius sich »glücklich« fühlte, wenn er von zwei oder drei seiner Lieblingsjünger umringt war. Unter die Aussprüche des Konfuzius verstreut findet sich natürlich auch eine ganze Anzahl Aussprüche seiner bedeutenderen Jünger,

xo8

Page 111: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

wie Tsengtse, Tsehsia, Yutse, Tsetschang usw., denn die unter­schiedlichen Kapitel der Sprüche sind gewiß verschiedenen Ur­sprungs, wobei manche erst von den Jüngern der Jünger auf­gezeichnet worden sein dürften. Da haben wir Yen Huei, einen ruhigen, nachdenklichen Mann, den Kltesten unter den Jüngern, den Konfuzius bewunderte und in überschwenglichen Ausdrük­ken lobte. Anderseits haben wir auch Tselu, den konfuzianischen Petrus, der beständig etwas am Verhalten des Meisters auszu­setzen fand. Er kommt in den Sprüchen recht schlecht weg, weil er zur Zeit ihrer Abfassung bereits tot war und sich damals kein Jünger fand, der für ihn eintrat. Dann gibt es noch den ge­sprächigen, lebhaften Tsekung, den viel jüngeren, aber philo­sophischen Tsengtse (der sp~ter wohl der bedeutendste Exeget des Konfuzius wurde), den Literaten Tsehsia und den prakti­schen Politiker Yan Thschiu, den Konfuzius schließlich aus dem Kreise seiner Jünger ausschloß. Konfuzius' Persönlichkeit war also so umfassend, daß er allen möglichen Menschentypen Leh­rer sein und daß gesagt werden konnte, jeder Jünger sei »ein Glied am Leibe des Meisters« gewesen. Später entwickelte die Tradition des Tsengtse-Tsesze.:Mencius die idealistische philo­sophische Seite des Konfuzianismus, während sich die Tsehsia­Hsuntse-Tradition mehr in der Linie der historischen Forschung und Gelehrsamkeit weiterentwickelte. Khnlich wie der Apostel Johannes die idealistische Seite der Lehre Jesu weiterführte, so entwickelte Tsesze, wie wir z. B. im Kapitel über den »Ein­klang der Mitte« sehen werden, die philosophische Bedeutung der Lehre vom Goldenen Mittelweg, vom Humanismus und vom »wahren Selbst<<, Kurz gesagt lassen sich Tsesze und Mencius etwa mit Johannes, und Hsuntse mit Jakobus ver­gleichen.

Der abgerissene, sprunghafte Stil derSprücheverlangt natür­lich vom Leser ein scharfes Mitdenken. Die Sprüche gehören nicht zu den Büchern, die auch einem trägen Leser Nutzen brin­gen können, der vom Autor erwartet, er solle fortwährend reden, während er selbst sich völlig passiv verhält. Es ist viel­mehr notwendig, daß der Leser selbst mitdenkt und die Wahr­heiten auch selbst einsieht; er muß dabei aus seiner persönlichen Erfahrung schöpfen. Natürlich erwartete das altchinesische Schulsystem nicht, daß die Schulkinder die philosophische Be­deutung einer der reifsten Philosophien der Welt begriffen. Was da verlangt wurde, war vielmehr eine gründliche Kenntnis der Texte, so daß die Zeilen sich für immer dem Gedächtnis ein­prägten als ein Weisheitsborn, aus dem man im späteren Leben immer wieder schöpfen konnte. Aber die Konfuzianer lehrten zugleich auch die richtige Art, die Sprüche zu lesen. Es waren

Page 112: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

das Methoden, die von den Gelehrten der Sung-Zeit empfohlen wurden. Thscheng Yithschuan sagte: »Betrachtet die in den Sprüchen gestellten Fragen der Jünger als euere eigenen Fragen und die Antworten des Konfuzius als Antworten an euch -dann werdet ihr davon echten Nutzen haben.« Tschu Hsi sagte: >>Leset die Sprüche zuerst. Nehmt einfach jeden Tag ein bis zwei Abschnitte vor, ohne Rücksicht darauf, ob die Stelle leicht oder schwer zu verstehen ist, oder ob sie tiefgründig ist oder nicht. Lest den betreffenden Abschnitt einfach vom Anfang an, und wenn ihr beim Lesen den Sinn nicht versteht, denkt eben nach, und wenn ihr auch da nicht auf den Sinn der Stelle kommt, dann lest sie noch einmal. Wendet sie hin und her und versucht, ihr auf den Geschmadt zu kommen. So werdet ihr nach einiger Zeit schließlich doch erfassen, was darin steckt.« In einem Brief an einen Freund schrieb Tschu Hsi: »Achtet beim Lesen darauf, nicht zu viel zu lesen. Lest nur wenig und ihr werdet es leicht von Grund aus meistern. J egliehe echte Einsicht in einen Gegenstand läßt sich nur auf diese Weise gewinnen.« Wir lesen ferner in sei­nen Yulei oder »Aussprüchen«: »Die Sprache einer Textstelle zu verstehen, ist eine Sache; aber die Schönheit ihres Inhaltes beurteilen zu können, ist eine andere Sache. Die große Schwäche der Leser ist meistens die, daß sie den oberflächlichen Sinn ver­stehen, während sie das eigentliche Gute in einem Buch nicht er­fassen.« Ferner: »Die richtige Methode des Lesens ist, dabei wirklich zu denken. Zuerst werdet ihr finden, daß ein solches Verstehen viel Zeit und Kraft erfordert, aber (nachdem ihr selbst viel Einsicht und Verständnis gewonnen habt), werdet ihr nur wenig Zeit brauchen, um ein Buch zu durchfliegen. Zu­erst bedarf es beim Lesen eines Buches einer hundertprozenti­gen Energie; später braucht es nur etwa achtzig oder neunzig Prozent, noch später sechzig bis siebzig und am Ende nur mehr vierzig bis fünfzig Prozent.« Das Lesen und das Nachdenken als zwei notwendige, einander ergänzende Elemente beim Fort­schreiten der Erkenntnis zu betrachten, ist eine Grundregel des konfuzianischen Erziehungssystems, und Konfuzius selbst hatte, wie wir im letzten Abschnitt dieses Kapitels sehen werden, über diese beiden Grundelemente einiges zu sagen.

Es ist erstaunlich, daß sich noch kein chinesischer Gelehrter darangemacht hat, die Sprüche neu herauszugeben oder umzu­redigieren, um dem Leser den Inhalt besser darzustellen; frei­lich haben einige Schriftsteller Abhandlungen über die im Buch behandelten verschiedenen Gedanken verfaßt (zum Beispiel das Lunyu Thungschi- »Studien über die Sprüche« von Thschiao Hsun, I763-182o, und das ausgezeichnete Werk Mengtse Tseyi Schutscheng, »Von der Wortbedeutung bei Mencius«, von- Tai

IIO

Page 113: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Tschen, 1723-1777). Kein nichtabendländischer Gelehrter hat je eine Sammlung aller Aussprüche des Konfuzius über den »höheren Menschen« zusammengestellt. Dieser höchst wichtige Begriff entwirf!: ein Mosaik aller Eigenschaften dieses »höheren Menschen<<. Im vorliegenden Kapitel habe ich etwa ein Vier­tel des Inhalts der Sprüche zusammengetragen und sie nach be­stimmten Gedankeninhalten neu geordnet. Wenn nicht aus­drücklich anders bemerkt, sind alle angeführten Worte von Konfuzius und den Sprüchen entnommen. Wo es notwendig war (z. B. wegen einer klareren Herausstellung der humanisti­schen Haltung), habe ich auch aus den Kapiteln 28, 29, 30, 32 und 3 3 des Liki geschöpft: - im ganzen etwa an ein Dutzend Stellen. Insbesondere die Kapitel 32 und 33 des Liki unterschei­den sich inhaltlich und stilistisch nicht im geringsten von den Sprüchen und sind sehr reich an Aussprüchen des Konfuzius.

1. Beschreibung des Konfuzius durch ihn selbst und andere

Fürst Yeh (von Thschu) befragte Tselu über Konfuzius; Tselu aber antwortete nicht. Konfuzius sagte sodann: »Warum hast du ihm nicht erzählt, daß ich ein Mensch bin, der zu essen ver­gißt, wenn er für etwas begeistert ist, der all seine Sorgen ver­gißt, wenn er glücklich ist, und der nicht merkt, daß das Alter heranrückt?«

Als Tselu vor Nacht am Steinernen Tor anhielt, fragte ihn der Torhüter, woher er komme. Tselu antwortete: »Ich komme von Konfuzius.« »Ach, ist das nicht der Kerl, der etwas tun will, selbst wenn er weiß, daß man es nicht tun kann?<<

Weischeng Mu fragte Konfuzius: »Warum nehmt Ihr Euch so wichtig und eilt immer hin und her? Redet Ihr nicht ein we­nig zu viel?<< >>Ich möchte eigentlich gar nicht reden«, antwor­tete Konfuzius, »aber ich hasse (das gegenwärtige Chaos der Sitten).«

Konfuzius sagte: »Mit fünfzehn Jahren begann ich, mich ernstlich für das Studium zu interessieren; mit dreißig hatte ich meinen Charakter geformt; mit vierzig geriet ich nicht mehr in Versuchung; mit fünfzig kannte ich den Willen des Himmels; mit sechzig störte mich nichts mehr, das ich zu hören bekam [ 1]; mit siebzig konnte ich meinen Gedanken freien Lauf hissen, ohne das Sittengesetz zu verletzen.«

Yen Hui und Tselu saßen bei Konfuzius; dieser sagte: »Er­zählt mir doch, was der Ehrgeiz eures Lebens ist.« Tselu ant­wortete: »Ich möchte mit Pferd ·und Wagen in einem leichten Pelzmantel herumfahren und alles, ohne es zu bereuen, mit

II!

Page 114: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

meinen besten Freunden teilen, bis diese Dinge dahin sind.« Yen Hui sagte: »Ich strebe danach, nie großzutun oder zu prahlen.« Sodann fragte Tselu: »Darf ich wissen, was Euer Ehrgeiz ist, Meister?« Konfuzius antwortete: »Ich möchte, daß die alten Leute in Frieden leben, daß alle Freundetreue Gesin­nung beweisen und alle jungen Leute die älteren lieben.«

Von den berühmten Einsiedlern Poyi, Schutchi, Yutschung, Yiyi, Tschutschang, Liuhsia Hui und Schaolien sagte Konfu­zius: »Poyi und Schutchi verleugneten ihre Grundsätze nicht und gerieten nicht in Schande; Liuhsia Hui und Schaolien hin­gegen verleugneten ihre Grundsätze und gerieten in Schande, obwohl sie in ihren Worten und ihrer Lebensführung gewisse Regeln einhielten. Yutschung und Yiyi entflohen der mensch­lichen Gesellschaft und hielten sich in ihren Reden an keine Konvention und keine Vorschrift; es gelang ihnen, ein sauberes Privatleben zu führen und sich in Zeite~ großer Wirren dem Grundsatz der Zweckmäßigkeit anzupassen. Ich aber bin an­ders als sie, ich entscheide mich so, wie es die Zeitumstände er­fordern, und handle dementsprechend.« [2]

Ein hoher Beamter fragte Tsekung: »Ist Euer Meister ein Weiser? Wie kommt es, daß er so vielseitig ist?« Tsekung ant­wortete: >>Der Himmel hat ihm beschieden, ein Weiser zu wer­den, und vielseitig ist er noch obendrein.« Als Konfuzius dies zu Ohren kam, sagte er:» Vielleicht kennt mich dieser hohe Be­amte ganz gut. Ich war der Sohn eines armen Mannes und kann deshalb vieles tun, das nur dem gemeinen Mann zusteht. Muß ein vornehmer Mann das alles lernen? Nein.« Laut Tsetschang soll Konfuzius einmal gesagt haben: »Ich bin nicht in den Staatsdienst getreten und hatte daher Zeit, die Künste· zu er­lernen.«

Konfuzius sagte: >>Es ist ein Vergnügen, nach einem einfachen v:egetarischen Mahl und einem Schluck Wasser auf dem zurück­gebeugten Arm zu ruhen. Aber der Genuß von Reichtum und Macht, die nicht ehrlich erworben sind, scheint mir nichts als dahinziehendes Gewölk.«

Konfuzius sagte: >>Drei Eigenschaften hervorragender Men­schen habe ich mir noch nicht anzueignen vermocht: der echte Mensch macht sich keine Sorgen; der Weise gerät nicht in Ver~ legenheit; und der Tapfere hat keine Furcht.« Tsekung sagte: >>Aber Meister, das ist ja eine genaue Beschreibung von Euch selbst!« .

Konfuzius sagte: »In dem Studium der Literatur stehe ich wahrscheinlich keinem nach, aber in der Lebensführung eines höheren Menschen glaube ich nicht, mich ausgezeichnet zu haben.«

II2

Page 115: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Konfuzius sagte: »Ich bin nicht so eingebildet, mich für einen weisen, echten Menschen zu halten. Ich gebe jedoch zu, mich fortgesetzt bemüht zu haben, mein Bestes zu tun und andere zu lehren.«

Konfuzius sagte: >>Glaubt ihr, daß ich viel weiß? Keines­wegs! Ein ungebildeter Mann stellte mir eine Frage; ich konnte sie nicht beantworten. Nachdem ich die beiden Seiten des Pro­blems besprochen hatte, war ich amEndemeiner Weisheit.«

Konfuzius sagte: >>In jedem kleinen Dorf von nur zehn Fa­milien gibt es Menschen, die ebenso ehrlich und fleißig sind wie ich- aber niemand, der dem Studium so ergeben ist.«

Konfuzius sagte: >>Ich kann mich etwa mit meinem alten Freund Laopheng vergleichen. Ich versuche nur, die alte Ober­lieferung darzustellen (oder: fortzuführen), aber nicht, etwas' Neues zu schaffen. Ich strebe nur nach der Wahrheit und liebe es, mich in das Studium der Alten zu vertiefen.«

Konfuzius sagte: >>Ganz im stillen die Wahrheit würdigen, immerfort lernen und die anderen lehren - das ist mein Be­streben.«

»Was mich beschäftigt und bewegt, ist folgendes: meinen Charakter ständig zu läutern und meine Studien nicht zu ver­nachlässigen, voranzuschreiten, wenn ich den richtigen Weg er­kenne, und mich zu verbessern, wenn ich meinen Fehler ein­sehe.«

Konfuzius sagte: >>Ich bin nicht als Weiser zur Welt gekom­men; ich liebe bloß das Studium des Alten und arbeite viel, um es zu erforschen.«

Konfuzius sagte: >>Ah Sze, glaubst du, daß ich nur viel ge­lernt habe und mich bemühte, nichts zu vergessen?<< »Ja, ist dies denn nicht Euer Streben gewesen?« >>Nein«, antwortete Konfu­zius, >>ich richte mich nach einem System, einem Leitfaden, der durch alles hindurchführt.<<

Konfuzius sagte: »Es gibt Leute, die unbekümmert weiter­gehen und einfach etwas in ihrer eigenen Phantasie erfinden, wenn sie ein Problem nicht verstehen. Ich bin nicht wie diese Leute. Man kann weise werden, wenn man viel in sich auf­nimmt und dem Guten nachgeht, wenn man vieles sieht und sich daran erinnert;«

Konfuzius sagte: >>Manchmal habe ich einen.ganzen Tag ver­bracht, ohne zu essen, und eine ganze Nacht, ohne zu schlafen, in stetem Nachdenken, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Daraufhin beschloß ich, von neuem zu lernen.«

Konfuzius sagte: »Wenn ich mich in Gesellschaft von drei Menschen befinde, ist immer einer darunter, der mein Lehrer sein könnte (oder: einer, von dem ich etwas lernen kann). Ich 8/154 IIJ

Page 116: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

wähle den Guten und versuche, seinem Beispiel zu folgen; oder ich wähle den Schlechten und vermeide es, so zu sein wie er.«

Konfuzius sagte: »Ich werde mich hüten, jemand zu unter­richten, dem am Lernen nicht gelegen ist; und ich will demjeni­gen nichts erklären, der nicht von selbst versucht, mit sich ins klare zu kommen. Wenn ich einem Menschen ein Viertel er­klärt habe und er nicht hingeht und sich die Folgerungen der anderen drei Viertel selbst erarbeitet, werde ich mich nicht da­mit abgeben, ihn weiter zu unterrichten.«

Konfuzius sagte: »Noch nie ist jemand mit getrocknetem Fleisch (eine Art Schulgeld) zu mir gekommen, den ich nicht unterrichtet hätte.«

Die jungen Leute des Dorfes Hu hatten viel Unheil ange­stiftet; eines Tages kamen einige von ihnen zu Konfuzius, und er empfing sie, was seine Schüler überraschte. Konfuzius aber sagte: »Seid doch nicht so streng. Mich kümmert ja nur, wie sie zu mir kommen, und nicht, was sie tun, wenn sie wieder weg­gehen. Wenn einer mit reinen Absichten kommt, achteich seine reinen Absichten, obwohl ich nicht dafür einstehen kann, was er später anstellen wird.«

Als Konfuzius bei Khuang in Schwierigkeiten geraten war, sagte er: »Ist mir nicht die Oberlieferung des verstorbenen Kö­nigs Wen anvertraut? Wenn es der Wille des Himmels ist, daß diese moralische Oberlieferung verlorengehe, wird die Nach­welt nie wieder zur Kenntnis dieser Tradition gelangen. Aber wenn es der Wille des Himmels ist, daß jene Oberlieferung nicht verlorengehe, was kann mir dann das Volk von Khuang antun?«

Konfuzius sagte: »Der Himmel hat mir eine moralische Be­stimmung (oder: Sendung) anvertraut; was kann mir somit Huan Tuei (ein Krieger, der ihn vertreiben wollte) anha­ben?« [3]

Konfuzius sagte: »Gebt mir noch ein paar Jahre Zeit, um das Buch der Wandlungen als Fünfzigjähriger zu studieren,· dann hoffe ich keine ernsthaften Fehler mehr zu machen (oder: Fehlurteile zu fällen).«

Folgende Begriffe erwähnte Konfuzius oft: Dichtung, Ge­schichte und Zeremoniell. Ober all dies redete er mit Vorliebe.

Selten aber sprach Konfuzius von Gewinn, Schicksal oder echtem Menschentum [ 4].

Konfuzius sprach nicht über Ungeheuer, physische Leistun­gen, gesetzwidriges Benehmen und himmlische Geister.

Konfuzius lehrte vier Dinge: Literatur, richtiges Benehmen, Selbstkritik und Ehrlichkeit im Umgang mit Menschen.

114

Page 117: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Konfuzius fischte mit einer Angelrute, aber nie mit einem Netz. Wenn er schoß, zielte er nie auf einen ruhenden Vogel. [ 5]

Konfuzius verwarf vier Dinge, oder versuchte wenigstens, sie völlig zu vermeiden: Voreingenommenheit, Starrköpfigkeit, Engherzigkeit und Egoismus.

Konfuzius war freundlich und doch voller Würde, streng aber nicht schroff, höflich und völlig ungezwungen.

Yen Hui meinte seufzend: »Man schaut hinauf, und es scheint so hoch; man versucht, es zu durchdringen, und es scheint so hart; man glaubt, es vor sich zu haben, und plötzlich taucht es hinter einem auf. Der Meister versteht es, einen Menschen freundlich zu leiten und zu unterrichten. Er lehrte mich, mei­nen Horizont durch Lesen zu erweitern, und erzog mich zu einem angemessenen Benehmen. Ich fühlte mich getragen,·aber nachdem ich mein Bestes getan und das, was in mir war, zu ent­wickeln versucht hatte, blieb doch noch etwas in unnahbarer Absonderung, das sich nicht fassen ließ. Alles versuchte ich, um es zu erreichen, aber ich kann den Weg nicht finden.«

Schusun Wuschu sagte den Hofbeamten: »Tsekung ist ein besserer Mensch als Konfuzius.« Tsefu Tschingpo erzählte es Tsekung, und dieser meinte: >>Es hat dieselbe Bewandtnis wie mit Mauern: meine Mauer ist kaum schulterhoch, so daß die Menschen über sie hinweg mein schönes Haus sehen können, während die Mauer des Konfuzius zwanzig oder dreißig Fuß hoch ist, so daß man die Schönheit seiner Hallen und die Pracht seiner Einrichtung erst sehen kann, wenn man sich im lnnern dieser Mauern befindet. Aber nur ganz wenig Menschen kön­nen ins Innere seines Besitzes eindringen. Was Schusun meinte, ist somit sehr leicht zu verstehen.«

Abermals versuchte Schusun Wuschu die Größe des Konfu­zius herabzusetzen; Tsekung antwortete: »Es hat keinen Sinn. Man kann Konfuzius nicht verächtlich machen. Andere große Männer sind wie Berge oder Hügel, deren Gipfel sich erreichen läßt - Konfuzius aber ist unerreichbar wie der Mond oder die Sonne. Man kann wohl seine Augen schließen, um die Sonne oder den Mond nicht zu sehen, was aber kümmert dies die Sonne oder den Mond? Ihr versucht nur etwas Unmögliches.«

.1. Konfuzius als Gefühlsmensch und Künstler

Als Yen Hui gestorben war,- weinte Konfuzius bitterlich; seine Schüler sagten: »Ihr seid ganz erscj:J.üttert, Meister.« Konfuzius antwortete: »Erschüttert? Wovon sollte ich je erschüttert sein, wenn nidu von dem Tod dieses Menschen?« 8* 115

Page 118: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Konfuzius aß sich in Gesellschaft von Trauernden nie satt. An einem Tag, an dem er geweint hatte, sang er nicht.

Besonders ernst nahm Konfuzius das zeremonielle Bad vor dem Gottesdienst, den Krieg und die Krankheit.

Jemand befragte Konfuzius nach der Bedeutung des Großen Opfers, das den kaiserlichen Vorfahren dargebracht wurde. Konfuzius antwortete: »Ich kenne die Bedeutung nicht. Wer dies wüßte, könnte ebenso leicht die Welt regieren, wie mit dem Finger auf den Handteller deuten.« ·

Wenn Konfuzius seinen Vorfahren Opfer darbrachte, hatte er die Empfindurig ihrer körperlichen Gegenwart; und wenn er anderen Göttern opferte, empfand er auch dieser Götter kör­perliche Gegenwart. Konfuzius sagte: »Wenn ich beim Opfern nicht persönlich anwesend bin, ist es, wie wenn ich gar nicht geopfert hätte.«

Wangsun Tschia fragte: »Warum sagen die Menschen, es sei besser, sich an den Herdgeist zu wenden als an den Gott der südwestlichen Hausecke?« Konfuzius antwortete: »Unsinn! Wenn man sich gegen den Himmel versündigt hat, gibt es kei­nen Gott, zu dem man beten könnte.« [ 6]

Tsekung ereiferte sich gegen die Sitte, das Winterlamm zu opfern. Konfuzius sagte: »Ah Sze, du liebst das Lamm- ich aber liebe das Ritual.«

Konfuzius sagte: >>Achte die himmlischen und die irdischen Geister, und halte sie dir fern!«

Konfuzius sagte: »Ach, wie bin ich alt geworden! Lange schon habe ich nicht mehr vom Fürsten Tschou geträumt.« [7]

Konfuzius hörte die Musik von Schao in Thschi; drei Monate lang aß er kein Fleisch mehr. Er sagte: »Nie hätte ich gedacht, daß Musik so schön sein könne.«

Wenn Konfuzius sich unter Sängern befand und ein Lied ihm gefiel, bat er stets, es zu wiederholen, um in den Chor einzu­stimmen.

Konfuzius sagte: >>Erwecke dich mit Poesie, festige deinen Charakter durch das li und vervollständige deine Erziehung mit Musik.«

Konfuzius sagte: »Seit ich von Weinach Lu zurückgekehrt bin, ist es mir gelungen, die verschiedenen Musikarten zu klassi­fizieren und dem ya wie dem sung den richtigen Platz einzu­räumen.«

Als Yen Hui sich nach dem besten Regierungssystem erkun­digte, antwortete Konfuzius: »Benütze den Kalender der Hsia­Dynastie (das Hsia-Jahr beginnt mit Januar oder Februar im Sonnenkalender, während das Tschou-Jahr im November be­ginnt), bediene dich der (schweren, schmucklosen aber starken

II6

Page 119: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

hölzernen) Wagen der Schang-Dynastie und der Kaiserkrone der Tschou-Dynastie. In der Musik übernimm die Tänze des Schao von Tschi. Verbiete die Musik des Tscheng und halte dir die kleinen Schmeichler fern. Die Musik von Tscheng ist un­züchtig und die kleinen Schmeichler sind gefährlich.<<

(Tselu spielte das Saiteninstrument Se.) Konfuzius sagte: »Wie kannst du es wagen, solch scheußliche Musik in meinem Haus zu machen?« Als die anderen Schüler sodann voller Ver­achtung auf Tselu herabblickten, sagte Konfuzius: » Tse hat erst die Halle betreten, aber noch nicht die inneren Räume.« [8]

Konfuzius verwendete weder Marineblau noch Scharlachrot für den Besatz oder Kragen seines Kleides. Er hatte weder rote noch purpurne Pyjamas. Im Sommer trug er Unterkleider unter dem dünnen (durchsichtigen) groben oder feinen Leinengewand.

Zu einem Lammpelz trug er Schwarz; zu einem Mantel aus weißem Rehfell Weiß; zu einem Fuchspelz Braun (oder Gelb). Seine Nachthemden waren stets um die Hälfte länger als sein Körper. Zu Hause kleidete er sich in einen langhaarigen Fuchs­pelz. Er pflegte allerlei Gehänge (an seinem Gürtel) zu tragen­außer, wenn er in Trauer war.

Ihm konnte der Reis nie weiß genug und gehacktes Fleisch nie fein genug sein. Wenn eine Speise zu breiig war oder kein Aroma hatte, wenn das Fleisch verfärbt oder der Fisch verdor­ben war, aß er nicht. Wenn die Farbe einer Speise gewechselt hatte, aß er nicht. Wenn sie schlecht roch, aß er nicht. Wenn sie nicht richtig zubereitet war, aß er nicht. Ein Gericht außerhalb der passenden Jahreszeit aß er nicht. War das Fleisch nicht rich­tig geschnitten, aß er es nicht. Wurde eine Speise nicht mit der richtigen Sauce serviert, aß er sie nicht. Wenn auch eine Menge Fleisch auf dem Tisch stand, aß er doch nur die seinem Reis an­gemessene Menge. Er trank Wein, ohne sich eine Grenze zu setzen, aber niemals so viel, daß er betrunken wurde. Wenn der Wein oder das gehackte Fleisch in einem Laden gekaufl: worden waren, rührte er sie nicht an. Stand kein Ingwer auf dem Tisch, aß er nicht. Er aß nie zu viel.

Während eines Gewitters wechselte sein Gesicht stets die Farbe.

3· Im Gesprächston

Tselu, Tseng Tien, Yan Khiu und Kungsi Thschi saßen eines Tages bei Konfuzius, und dieser sagte: »Glaubt nicht, daß ich mir etwas anmaße, weil ich ein pa:ar Jahre älter bin als ihr. Ofl: sagt ihr, daß die Menschen euch nicht kennen. Stellt euch nun vor, ihr würdet bekannt - wie möchtet ihr den Menschen er-

II7

Page 120: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

scheinen?« Tselu antwortete schnell: »Ich möchte über ein Land mit tausend Streitwagen herrschen, das zwischen zwei mächti­gen Nachbarn liegt, in einen Krieg verwickelt ist und Hungers­not leidet. Ich möchte mich dieses Landes annehmen dürfen, und in. drei Jahren wird es stark und geordnet sein.«

Konfuzius lächelte über diese Geschichte und fragte: »Wie steht es mit dir, Ah Khiu?« Yan Khiu antwortete: »Ich möchte über ein sechzig oder siebzig Quadrat-li großes Land regieren dürfen - es kann auch nur fünfzig oder sechzig li im Quadrat messen. In drei Jahren würde das Volk genug zu essen haben; aber die Unterweisung in Sittlichkeit und Musik würde ich einem erfahreneren Mann überlassen.« Sich an Kungsi Thschi wendend, fragte Konfuzius: »Was meinst du, Ah Thschi?« Kungsi Thschi antwortete: »Ich will nicht behaupten, daß ich es könnte, aber ich möchte lernen, an den Zeremonien des Got­tesdienstes und fürstlichen Empfängen teilnehmen zu können, das zeremonielle Gewand zu tragen und bei der W eihehand­lung zu helfen.« »Wie steht es mit dir, Ah Tien?« wandte sich Konfuzius an Tseng Tien. Dieser spielte gerade auf dem Seh; nach einem letzten Akkord legte er das Instrument beiseite und erhob sich. »Du weißt, mein Ehrgeiz strebt nach anderen Din­gen«, sagte er. »Das ist ganz einerlei«, meinte Konfuzius, »wir wollen nur herausfinden, wonach einem jeden das Herz steht.« Da antwortete Tseng Tien: »Ich möchte im späten Frühling, wenn das neue F,rühlingsgewand fertig ist, mit fünf oder sechs Erwachsenen und sechs oder sieben Kindern im Fluß Yi baden, mich nach dem Bad am Säuseln des Windes in den Wuyu-Wäl­dern erfreuen und auf dem Heimweg singen.« Konfuzius seufzte tief und sagte: »Du bist ein Mensch nach meinem Sinn.«

Konfuzius sagte: »Glaubt ihr, daß ich euch etwas verberge? Nein, ich habe euch nichts verheimlicht. Es gibt nichts, das ich nicht mit euch teilen würde. So bin ich eben.«

Konfuzius ging in die Stadt Wu (w:o sein Schüler Tseyu zum Minister ernannt worden war) und hörte das Volk zur Beglei­tung von Saiteninstrumenten singen. Konfuzius lächelte und sagte zu Tseyu: »Du versuchst ja mit dem großen Schlachtmes­ser ein Kücken zu töten.« Tseyu entgegnete: >>Habt Ihr nicht selbst gesagt, daß ein höherer Mensch, der durch die Schule der Bildung gegangen ist, das Volk freundlich behandeln soll? Und daß das Volk sittsam wird, wenn es Bildung gelernt hat?« Konfuzius wandte sich den anderen Schülern zu und meinte: »Was er sagt, ist ganz richtig. Ich habe ihn nur auf die Probe stellen wollen.«

Einige Leute von Tahsiang sagten:» Wahrlich, Konfuzius ist

II8

Page 121: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

groß! Er weiß über alles Bescheid und ist doch auf keinem Ge­biet ein Fachmann.« Als Konfuzius dies vernahm, sagte er: »Worin sollte ich denn Fachmann sein? Etwa im Bogenschießen oder im Wagenlenken?«

Der Justizminister von Thschen fragte Konfuzius, ob Fürst Tschao von Lu die Anstandsformen (li) kenne, und Konfuzius bejahte es. Als Konfuzius sich entfernt hatte, bat der Minister Wuma Thschi hereinzukommen und fragte ihn: »Ist ein höherer Mensch seinem Land gegenüber parteiisch? Ich hörte, daß ein höherer Mensch nicht parteiisch sein dürfe. Fürst Tschao heira­tete eine Prinzessin aus Wu mit dem gleichen Familiennamen und nannte sie Mengtse von Wu. Wenn dieser Mann anständig sein soll, wer ist dann eigentlich unanständig?« Später wieder­holte Wuma Thschi diese Worte seinem Meister; Konfuzius sagte: »Was habe ich doch für Glück! Jedesmal, wenn ich einen Fehler mache, merken es die Leute.«

Tsekung sagte: »Hier ist ein schönes Stück Jade. Es wird in einem Kästchen aufbewahrt und wartet auf einen guten Kauf­preis.« Konfuzius rief aus: »Ja, der Kaufpreis! Der Kaufpreis! Ich bin es doch, der auf einen guten Kaufpreis wartet.«

Jemand erkundigte sich nach Tsethschen (einem guten Minister von Tscheng). Konfuzius sagte: >>Er ist ein freundlicher Mann.« Der Frager erkundigte sich. sodann nach Fürst Tseschi (von Khu). Konfuzius rief aus: »Oh, dieser Kerl! Oh, dieser Kerl!«

Konfuzius befragte Kungming Tschia über Kungschu Wentse: »Ist es wahr, daß dein Herr nicht redet, nicht lächelt und keine Geschenke annimmt?« Kungming Tschia antwortete: »Das ist übertrieben. Mein Herr spricht nur, wenn es notwendig ist, und langweilt niemand mit seinem Gerede. Er lächelt nur, wenn er glücklich ist, und langweilt niemand mit seinem Lächeln. Auch nimmt er nur dann Geschenke an, wenn es recht ist und die Leute ihm nicht böse sein können, daß er ihre Geschenke angenommen hat.« Konfuzius sagte: »Wahrhaftig! Stimmt das wirklich?«

Tsekung liebte es, die Leute zu kritisieren. Konfuzius sagte: >>Ah Sze, du bist wohl verflucht gescheit! Ich habe keine Zeit für solche Dinge.«

Konfuzius sagte: »Wie bewundere ich einen Menschen, der den ganzen Tag mit vollem Bauch und leerem Kopf einher­geht! Wie ist das möglich? Besser wäre es, er spielte Schach.«

»Ich habe Menschen gesehen, die den ganzen Tag zusammen­saßen und nie von etwas Ernstem redeten, denen vor allem daran gelegen war, anderen Leuten Streiche zu spielen. Er­staunlich, wie sie sich d,amit vergnügen können!«

Konfuzius sagte: »Ich werde jetzt still bleiben.« Tsekung aber bemerkte: »Wie sollen wir etwas lernen, das wir die .an-

119

Page 122: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

deren lehren könnten, wenn Ihr still bleibt?« Konfuzius ant­wortete: »Redet denn der Himmel? Die vier Jahreszeiten zie­hen nacheinander vorüber, und es entstehen die verschiedensten Dinge. Redet denn der Himmel?«

Konfuzius sagte: »Manchmal rede ich einen ganzen Tag lang mit Hui, und er sitzt einfach still da wie ein Tor. Dann aber geht er in sein Zimmer, denkt über das, was ich gesagt habe, nach und ist fähig, eigene Gedanken zu prägen. Er ist kein Tor.«

Konfuzius sagte: »An den Fehlern eines Menschen lernt man seinen Charakter kennen.« [9]

Tsekung fragte Konfuzius: »Wer kann Eurer Ansicht nach wirklich ein Gelehrter genannt werden?« Konfuzius antwor­tete: >>Ein Mensch, der in seinem Benehmen Sinn für Ehre hat und der imstande ist, mit Geschicklichkeit und Würde eine diplomatische Mission in einem fremden Land durchzufüh­ren.« >>Und welche Art Mensch käme danach?« >>Einer, der sich in seiner Familie als guter Sohn aufführt und in seinem Dorf als bescheiden und ehrerbietig gilt.« >>Und. welche Art Mensch folgt nach diesem?« >>Einer, der in seinem Benehmen und in sei­nen Äußerungen behutsam ist und stets sein Wort hält. Dies ist zwar ein pedantischer und untergeordneter Mensch, aber er kann doch gleich nach den anderen beiden eingereiht wer­den.« >>Was haltet Ihr von den heutigen Beamten?« >>Üh, diese Reissäcke!« rief Konfuzius aus, »die zählen überhaupt nicht.«

Einst war Konfuzius sehr krank, und Tselu bat die Jünger, die Rolle von Haushofmeistern zu spielen (um an seinem Be­gräbnis den Stil von Beamtenfamilien nachzuahmen). Als Kon­fuzius sich erholt hatte, rief er aus: >>Der Schurke! Hinter mei­nem Rücken hat er das vorbereitet. Ich habe doch keine Haus­hofmeister in meinem Haus, und er wollte so tun, als ob ich welche hätte! Wen kann ich damit täuschen? Kann ich denn Gott täuschen?«

Konfuzius hatte Königin Nantse gesehen, und Tselu mißfiel dies. Da schwor Konfuzius: >>Wenn ich während der Unterre­dung etwas Falsches getan oder gesagt habe, soll mich der Him­mel strafen! Soll mich der Himmel strafen!«

Tsai Yu schlief über Tag. Konfuzius bemerkte: >>Es hat kei­nen Zweck, ein morsches Stück Holz schnitzen zu wollen, oder zu versuchen, eine Lehi:nwand, die mit zuviel Mist versetzt ist, mit Kalk zu verputzen. Warum soll ich mir die Mühe machen, ihn zu schelten?«

Konfuzius sagte: >>Früher, wenn ich jemand reden hörte,

120

Page 123: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

nahm ich an, daß sein Benehmen seinen Worten entspreche; wenn ich jetzt aber jemand reden höre, warte ich mit meinem Urteil, bis ich gesehen habe, wie er handelt. Diese Lektion habe ich von Tsai Yu gelernt.«

(Konfuzius haßte schlechte Witze.) Fürst Ai erkundigte sich einst, nach welchen Gebräuchen man die Erde verehrte. Tsai Yu antwortete: »Die Hsias pflanzten Fichten auf den Altar, die Schangs Zypressen und die Tschous'Kastanien, um die Men­schen zu narren« (ein Wortspiel auf das chinesische Wort li). Als Konfuzius dies hörte, rief er aus: »Üh, vergiß deine Ge­schichte lieber. Rühre nicht an die Vergangenheit, versuche nicht, sie verbessern zu wollen!«

Ju Pei wollte Konfuzius besuchen, aber Konfuzius wich aus, indem er sich krank erklärte. Er nahm'jedoch ein Saiteninstru­ment, das Seh, und sang dazu, während der Mann noch vor dem Hause war, damiterhöre (und erfahre, daß er gar nicht krank sei).

Yang Hu besuchte Konfuzius, aber Konfuzius wollte ihn nicht empfangen, worauf Yang ihn der Unhöflichkeit bezich­tigte. Konfuzius erkundigte sich, wann Yang nicht zu Hause sein würde, um ihm den Besuch zu erwidern; er traf ihn jedoch unterwegs. Yang Hu sagte zu Konfuzius: >>Kommt, ich möchte mit Euch sprechen.« Dann fuhr er fort: >>Kann man, einen Menschen gütig nennen, der die Macht besitzt, ein Land in Ordnung zu bringen, aber zuläßt, daß es vor die Hunde geht?« >>Gewiß nicht«, antwortete Konfuzius. Yang Hu fuhr fort: »Kann man denjenigen weise nennen, der gerne mächtig wäre und jede Gelegenheit dazu vorübergehen läßt?« »Gewiß nicht«, wiederholte Konfuzius. »Aber die Zeit vergeht<<, meinte Yang Hu. Konfuzius erwiderte (sarkastisch): »Nun, dann muß ich ja wohl Beamter werden!« (Yang Hu war ein mächtiger, aber bestechlicher Minister in Lu, und Konfuzius hatte sich gewei­gert, unter ihm zu dienen.)

Der Edle Thscheng Thschen hatte den Fürsten Tschien (in Khi) ermordet. Konfuzius nahm ein rituelles Bad, besuchte sodann den Fürsten von Lu und sagte: >> Thscheng Thschen hat den Für­sten, seinen Herrn, ermordet. Wir müssen eine Strafexpedition hinschicken.« »Sprecht mit den drei Edlen von Lu«, sagte der Fürst. Konfuzius antwortete: »Ihr wißt, daß mir als Beamten die Pflicht obliegt, Euch ausdrücklich von diesem Vorfall in Kenntnis zu setzen.« »Sprecht mit den drei Edlen«, wieder­holte der Fürst. Konfuzius erstattete sodann den drei Edlen Bericht; sie mißbilligten ihn. Konfuzius sagte: »Ihr wißt, daß mir als Beamten die Pflicht obliegt, Euch ausdrücklich von die-sem Vorfall-in J{enntnis zu setzen.« ,

Ili

Page 124: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Yuan Jang (von dem man wußte, daß er beim Tod seiner Mutter gesungen hatte) setzte sich in Konfuzius' Gegenwart hin. Konfuzius sagte: »Als Kind warst du frech; als Erwachse­ner hast du gar nichts geleistet; und jetzt in deinem Alter willst du nicht sterben! Du Lump!<< Und Konfuzius schlug ihn mit einem Rohrstock gegen das Schienbein.

Der Edle Tschi war beunruhigt über die Diebe und Ein­brecher der Gegend und holte sich bei Konfuzius Rat. »Wenn Ihr das Geld nicht so liebtet«, antwortete Konfuzius, »SO könnt Ihr es den Dieben schenken, und sie werden es nicht nehmen.«

Der Edle Tschi war reicher als Fürst Tschou, aber J an Khiu (ein Schüler von Konfuzius und zugleich Schreiber des Khang Tschi) fuhr trotzdem fort, 'das Volk mit Steuern zu belasten, um den Edlen zu bereichern. Konfuzius sagte (zu seinen Schü­lern): »Er ist nicht mein Schüler. Ich gebe euch meine Er-laubnis.« ·

Khang Tschi wollte Thschuanyu angreifen; da kamen Jan Khiu und Tselu zu Konfuzius und sagten: »Khang Tschi will einen Feldzug gegen Thschuanyu unternehmen.« Konfuzius erwiderte: »Ah Khiu, ist dies nicht deine Schuld? Die Stadt Thschuanyu wurde einst von den alten Kaisern als Lehngut bestimmt, um die Verehrung des Tungmeng-Hügels zu sichern. überdies liegt sie innerhalb der Grenzen von Lu, und ihr Ober­haupt wurde direkt vom Gründer der Dynastie ernannt. Wie kannst du daran denken, eine Expedition auszusenden, um sie zu erobern? (Und das Gebiet des Edlen zu vergrößern?)« »Khang Tschi willes-wir nicht«, antwortete Jan Khiu. »Ah Khiu«, fuhr Konfuzius fort, »der alte Geschichtsschreiber Tsou Yen sagte: Tu dein Bestes innerhalb deines Amtsbereiches, und wenn du es nicht mehr verantworten kannst, verlasse dein Amt.- Wenn jemand sich in Gefahr begibt, und du ihm nicht hilfst, oder wenn jemand fällt, und du ihn nicht stützest, was nützt es dir, ein Helfer oder eine Stütze zu sein? Was du gerade gesagt hast, ist falsch. Wenn ein Tiger oder ein Büffel aus einem umzäunten Gehege ausbricht, oder wenn ein Stück heilige Jade zerbrochen in einem Kästchen gefunden wird, wessen Schuld ist es (wenn nicht diejenige des Hüters)?« »Aber Thschuanyu liegt direkt neben Pi (der Stadt KhangTschis)«, sagte Jan Khiu. ,. Wenn wir es jetzt nicht erobern, wird es in Zukunft eine stän­dige Bedrohung unserer Grenzen sein.« Konfuzius entgegnete: »Ah Khiu, ein vornehmer Mensch haßt denjenigen, der etwas für selbstsüchtige Zwecke unternimmt und dann allerlei Vor­wände erfindet. Ich habe gehört, daß ein Mann, der die Ver­antwortung für einen Staat oder eine Familie trägt, sich nicht darüber Sorgen macht, daß zu wenig Menschen da sind, son-

122

Page 125: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

dern daß die Güter nicht gerecht verteilt sind. Er sorgt sich auch nicht um die Armut, sondern um die allgemeine Unzufrieden­heit. Wenn die Güter gleichmäßig verteilt sind, gibt es keine Armut. Wenn das Volk ge·eint ist, kann man es nicht eine kleine Nation nennen; und wenn keine Unzufriedenheit herrscht (oder: die Leute das Gefühl von Sicherheit haben), dann ist das Land auch sicher. Folglich, wenn euch die Leute der Nachbar­länder nicht huldigen, achtet zunächst auf die Entwicklung des bürgerlichen Lebens in eurem eigenen Land, um die Nachbarn zu überzeugen; wenn sie kommen, zeigt es ihnen, so daß sie sich hier ansiedeln wollen und in Frieden leben. Nun habt ihr zwei Ratgeber eures Herrn es nicht fertiggebracht, daß euch das Volk der Nachbarstädte huldigt und zu euch kommt. Ihr seht das Land Lu in Zwietracht, ohne helfen zu können; und nun denkt ihr euch Kriege aus, die ihr in diesem Lande vom Zaune brechen wollt. Ich meine, daß sich der Edle nicht so sehr um die Stadt Thschuanyu, sondern um die Unruhen im eigenen Land sorgen sollte.«

4· Geist und Weisheit

Konfuzius sagte: »Wissen, was man weiß, und wissen, was man nicht weiß, ist das Kennzeichen eines Wissenden.«

Konfuzius sagte: »Wenn einer nicht zu sich selbst sagt: Was tun? Was tun?, weiß ich auch nicht, was tun- nämlich mitihm!«

Konfuzius sagte: »Wer weiß, daß er einen Fehler begangen hat, und ihn nicht verbessert, begeht einen neuen Fehler.<<

Konfuzius sagte: »Diese Melonenschale gleicht nicht mehr einer Melonenschale; und doch sagen die Menschen immer noch: eine Melonenschale! eine Melonenschale!« .

Konfuzius sagte: »Es heißt, daß es schwer sei, ein König zu sein; aber es ist auch nicht leicht, ein Minister zu sein.«

Der Edle Wen Tschi behauptete, immer dreimal zu über­legen, bevor er handle. Als Konfuzius dies zu Ohren kam, be­merkte er:. >>Zweimal überlegen genügt vollkommen.«

Konfuzius sagte: »Ich erwarte nicht, heutzutage einen Heili­gen zu finden; aber wenn ich einen vornehmen, anständigen Menschen finde, will ich schon ganz zufrieden sein.«

Konfuzius sagte: »Ein Mensch mit einer schönen Seele hat immer etwas Schönes zu sagen, aber einer, der schöne Dinge sagt, hat nicht unbedingt eine schöne Seele. Ein wahrer Mensch (oder ein wirklich großer Mensch) wird stets Mut beweisen, aber ein mutiger Mensch wird nicht immer echtes Menschentum an den Tag legen.«

123

Page 126: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Konfuzius sagte: >>Wer ohne Hemmung prahlt, wird große Schwierigkeiten haben, seiner Prahlerei gemäß zu leben.«

Konfuzius sagte: >>Der Mensch, der das Wahre (oder das Lernen) liebt, ist besser als derjenige, der es kennt; und der Mensch, der darin sein Glück findet, ist besser als derjenige, der es liebt.« [ 10] ·

Konfuzius sagte: >>Im Gespräch mit einem Herrscher muß man auf drei Dinge achten: Sprechen, bevor man gefragt wird, ist >vorlaut<; nicht sprechen, wenn man gefragt wird, ist >Man­gel an Offenheit<; und sprechen, ohne auf die Stimmung des Herrschers zu achten, ist >Blindheit<.« . · Konfuzius sagte: »Wenn man einen Menschen trifft, mit dem

zu reden sich lohnt, und man nicht mit ihm redet, hat man den Menschen verloren. Wenn man aber einen Menschen findet, mit dem zu reden sich nicht lohnt, und man redet doch mit ihm, hat man seine Worte verloren. Ein Weiser verliert weder einen Menschen noch seine Worte.« .

Konfuzius sagte: »Ein anständiger Mensch lobt einen andern nicht (oder gibt ihm ein Amt) auf Grund dessen, was dieser ihm sagt; er zweifelt aber auch nicht an seinen Worten (wenn sie wahr sind), nur weil er ihm unsympathisch ist.«

Tsekung fragte Konfuzius: »Was würdet Ihr von einem Menschen sagen, den alle Leute im Dorf lieben?« »Das genügt nicht«, antwortete Konfuzius. >>Und was würdet Ihr von einem Menschen sagen, den alle Leute im Dorf hassen?« »Das genügt auch nicht«, wiederholte Konfuzius. »Es ist besser, wenn die Guten ihn lieben und die Bösen ihn hassen.« (Denn wenn dich die Bösen hassen, bist du gut.)

Konfuzius sagte: >>Der gewöhnliche Mensch gerät oft in Schwierigkeiten wegen seiner Liebe zum Wasser (wörtlich: >er ertrinkt darin<);. der Vornehme gerät oft in Schwierigkeiten wegen seiner Liebe zum Reden; und der Große gerät oft in Schwierigkeiten wegen seiner Liebe zum Volk. Sie alle werden von dem überschwemmt, was ihnen nahe steht oder vertraut ist. Wasser scheint manchem so vertraut, so leicht zu erreichen, und doch ist es gefährlich, ihm zu nahe zu kommen, weil es einen verschlingen kann. Das Reden bringt einen so leicht in Schwierigkeiten, weil man beim Reden viele Worte braucht, die schnell dem Munde entschlüpfen, sich aber schwer zurückholen lassen. Das Volk bringt einen oft in Schwierigkeiten, weil es gemein und verlogen ist; man mag es achten und darf es aber nicht beleidigen oder beschimpfen. Der höhere Mensch muß sehr vorsichtig sein.«

Konfuzius sagte: >>Leute, die ein ausschweifendes Leben füh­ren, sind meist Snobs (oder eingebildet); die Leute, die einfach

124

Page 127: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

leben, sind oft ungeschliffen. Mir ist aber Ungeschliffenheit noch lieber als Snobismus.«

Konfuzius sagte: »Es ist leicht, reich und nicht hochmütig zu sein; aber es ist schwer, arm zu sein und nicht zu murren.«

Konfuzius sagte: »Wenn in einem Land Ordnung herrscht, ist es eine Schmach, ein armer und gewöhnlicher Mensch zu sein. Wenn in einem Land Chaos herrscht, ist es eine Schmach, reich zu sein und ein Amt zu bekleiden.« ·

Konfuzius sagte: »Kann man sich einen Menschen mit einer kleinen Seele als Minister vorstellen? Bevor er seinen Posten bekommt, bangt er darum, ob er ihn bekommt; und wenn er ihn hat, bangt er darum, daß er ihn verliert; aber sobald er anfängt, sich zu bangen, gibt es nichts mehr, das zu tun er nicht bereit wäre.«

Konfuzius sagte: »Sorge dich nicht, daß die Menschen deine Fähigkeiten verkennen; sorge dich lieber, wenn dir keine Fähig­keiten zu Gebote stehen.«

Konfuzius sagte: »Ein vornehmer Mensch tadelt sich selbst, während ein gewöhnlicher Mensch die anderen tadelt.«

Konfuzius sagte: »Wenn ein Mensch mit sich selbst streng, mit den anderen aber nachsichtig ist, wird er nie Krgernis er­regen.«

Konfuzius sagte: »Wer nicht lange vorausdenkt und plant, wird schon vor seiner Türe Schwierigkeiten finden.« . Konfuzius sagte: »Eine geschliffene Rede verwirrt ofl: unsere Begriffe von Gut und Schlecht. Wer sich nicht mit kleinen Ver­lusten oder Nachteilen abfinden kann, wird ofl: einen großen Plan vereiteln.«

Konfuzius sagte: »An einem Vollblutpferd bewundert man nicht die Krafl:, sondern das Temperament.«

Jemand fragte: »Was haltet Ihr davon, Böses mit Gutem zu vergelten?« Konfuzius antwortete: »Womit sollte man dann Gutes vergelten?· Man soll Gutes mit Gutem vergelten, aber Böses mit Gerechtigkeit (oder Strenge).«

Konfuzius sagte: »Wenn man Gutes mit Gutem vergilt, wer­den die Leute ermutigt, Gutes zu tun. Wenn man Böses mit Bösem vergilt, warnt man die Leute davor, Böses zu tun.«

Konfuzius sagte: »Böses mit Gutem vergelten, ist der Beweis eines großzügigen Charakters. Gutes mit Bösem vergelten, ist das Kennzeichen eines Verbrechers.« (Liki, Kapitel JZ.) ·

Konfuzius sagte: »Die Menschen sind sich sehr ähnlich, wenn sie zur Welt kommen; aber allmählich entfernen sie sich immer mehr voneinander.«

Konfuzius sagte: »Nur die besten und die schlechtesten Cha­raktere verändern sich nicht.«

!25

Page 128: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Konfuzius sagte: »Ich habe Reispflanzen gesehen, die keimen, aber nicht blühen; und ich habe Reispflanzen gesehen, die blü­hen, aber keine Körner tragen.«

Konfuzius sagte: »Auch wenn ein Mensch die schönen An­lagen des Fürsten Tschou besäße, wäre er keines Blickes würdig, wenn er sich stolz und selbstsüchtig gebärdet.«

Konfuzius sagte:» Wenn der hochstehende Mensch in seinem Auftreten (oder Benehmen) nicht bedächtig ist, fehlt ihm die Würde. Das Lernen bewahrt die Menschen vor Engstirnigkeit. Treue und Zuverlässigkeit sei dein erstes Prinzip. Nimm dir keine Freunde, die nicht ebenso gut sind wie du selb~t. Wenn du Fehler hast, fürchte dich nicht davor, sie zu verbessern.«

Konfuzius sagte: »Wenn du einen guten Menschen siehst, versuche, seinem Beispiel zu folgen; und wenn du einen schlech­ten Menschen siehst, vergewissere dich, daß du nicht seine Feh-ler hast.« ·

Konfuzius sagte: »Ach, ich bin noch nie einem Menschen be­gegnet, der seine Fehler kennt und sich vor sich selbst be­schuldigt.«

Konfuzius sagte: »Tadle nicht die Fehler der anderen; tadle erst deine eigenen.«

Tsekung fragte:» Was denkt Ihr von einem Menschen, der in der Armut nicht unterwürfig ist (nicht dienstbeflissen) und im Reichtum nicht eingebildet?« Konfuzius antwortete: »Das ist ganz gut. Besser noch wäre es, wenn er in der Armut glücklich und im Reichtum beherrscht wäre.«

Konfuzius sagte: »Man kann den General einer Armee töten, aber man kann den Ehrgeiz in einem gemeinen Menschen nicht abtöten.«

5. Humanismus und echtes Menschentum

Humanismus

Konfuzius sagte: »Der Mensch ist es, der die Wahrheit groß macht, und nicht die Wahrheit, die den Menschen groß macht.«

Konfuzius sagte: »Die Wahrheit entfernt sich nicht von der menschlichen Natur. Wenn das, was als Wahrheit angesehen wird, sich von der menschlichen Natur entfernt, darf es nicht als Wahrheit angesehen werden.<<

Tselu erkundigte sich nach der Verehrung der himmlischen und irdischen Geister. Konfuzius sagte: >>Wir wissen nicht ein­mal, wie wir den Menschen dienen sollen, wie können wir wis­sen, wie man Geistern dient?<< »Was denkt Ihr vom Tod?« war die nächste Frage, und Konfuzius antwortete: »Wir wissen

126

Page 129: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

noch nichts vom Leben, wie sollten wir über den Tod Bescheid wissen?«

In der Nähe brannte ein Pferdestall ab. Auf dem Heimweg vom Hofe fragte Konfuzius, ob jemand verletzt sei. Nach den Pferden erkundigte er sich nicht.

Des Menschen Maß ist der Mensch

Konfuzius sagte: »Demjenigen, der es liebt, ohne äußeren Anlaß den Prinzipien echten Menschentums nachzuleben, und der ohne äußere Bedrohung alles haßt, was den Grundsätzen echten Menschentums entgegengesetzt ist, erscheint die ganze Menschheit wie ein einziger Mensch. Daher beurteilt der höhere Mensch alle Probleme der Lebensführung nach dem Maßstab seiner eigenen Persönlichkeit; und dann bestimmt er die Regeln für das gemeine Volk.« (Liki, Kapitel 32.)

Konfuzius sagte: »Echtes Menschentum verlangt eine große Befähigung, und es ist schwer zu erlangen. Man kann es nicht mit Händen heben und nicht zu Fuß erreichen. Wer ihm etwas näher kommt als die anderen, kann schon ein echter Mensch genannt werden. Es ist jedoch ein schwieriges Unternehmen, es durch reine Willensanstrengung erreichen zu wollen. Wenn man die Menschen nach der Norm absoluter Rechtschaffenheit mißt, ist es schwer, ein wirklicher Mensch zu sein. Wenn man die Menschen aber nach der Norm anderer Menschen mißt, dann werden die Besseren einen Maßstab haben, nach welchem sie sich richten können.« (Liki, Kapitel 32.)

Konfuzius sagte: »Einem Menschen, der sich in seinem Her­zen glücklich und wohl fühlt, wenn er den Grundsätzen echten Menschentums nachlebt, erscheint die ganze Menschheit wie ein einziger Mensch.« (Was auf die Gefühle eine~ Menschen zu­trifft, wird zur Norm für die Gefühle aller erhoben.) (Liki, Kapitel p.)

Tsekung fragte: »Nennt Ihr einen Men~chen, der ein Wohl­täter der Menschheit ist und den Massen helfen kann, einen echten Menschen?« »Gewiß. Solch ein Mensch ist nicht nur ein echter Mensch, sondern ein Weiser«, sagte Konfuzius. »Sogar die Kaiser Yao und Schun erreichten dieses Vorbild nicht. Wenn ein echter Mensch versucht, seinen eigenen Charakter zu bilden, versucht er gleichzeitig, den Charakter der anderen zu verbessern; wenn er Erfolg für sich selbst erstrebt, möchte er auch den anderen Erfolg verschaffen. Wenn man von den Nachbarn (oder: den Begebenheiten des täglichen Lebens) ler­nen kann, dann ist man auf dem besten Wege, echtes Menschen­tum zu erreichen.«

Page 130: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Konfuzius sagte: »Ist die Norm echten Menschentums wirk­lich so schwer zu erreichen? Wenn ich echtes Menschentum suche, finde ich es oft ganz in der Nähe.«

Die goldene Regel

Tschungkung stellte Fragen über das echte Menschentum; Konfuzius antwortete: »Wenn sich ein echter Mensch in der Fremde zeigt, ist ihm zumute, als empfange er vornehme Gäste; und wenn er ein Volk regiert, ist ihm zumute, als verehre er Gott. Was er nicht will, das ihm getan werde, tut er auch nicht den anderen. Auf diese Weise sind die Menschen im Staat wie auch im Heim zufrieden.<<

Tsekung sagte: »Was ich nicht will, das die anderen mir an­tun, will ich auch ihnen nicht antun.« Konfuzius lächelte: »Ah Sze, das kannst du nicht.«

Konfuzius sagte: »Ah Thsan, es gibt ein zentrales Prinzip, das all meine Lehren durchzieht.<< »]a«, bestätigte Tsengtse (Tseng Sehen). Als Konfuzius fortgegangen war, fragten die Schüler, was er gemeint habe, und Tsengtse antwortete: »Er meinte das Prinzip der >Gegenseitigkeit< (oder s~hu).<<

Tsekung fragte: »Gibt es ein einzelnes Wort, das als Anhalts­punkt für die Lebensführung gelten kann?« Konfuzius ant­wortete: »Vielleicht das Wort >Gegenseitigkeit< (schu). Tue den anderen nicht, was du nicht willst, das man dir tut.«

Echtes Menschentum

Konfuzius sagte: »Lange Zeit ist es schwer gewesen, Bei­spiele echten Menschentums zu sehen. Jeder gibt ein wenig sei­nen Schwächen nach. Daher ist es leicht, die Mängel des echten Menschen ausfindig zu machen.« (Liki, Kapitel 32.)

Konfuzius sagte: »Lange Zeit ist es schwer gewesen, Bei­spiele echten Menschentums zu finden. Nur der höhere Mensch kann diesen Zustand erreichen. Daher darf der höhere Mensch die anderen nicht darin tadeln, worin er selbst unzulänglich ist; und er darf auch die anderen nicht durch die Betonung ihrer Fehler beschämen ... « (Liki, Kapitel 32.)

Konfuzius sagte: »Den Angelpunkt zu finden, der unser sitt­liches Wesen mit der allgemeinen Ordnung (oder der zentralen Harmonie) vereint, das ist in Wahrheit das höchste menschliche Ziel. Lange Zeit hindurch ist es den Menschen nur selten ge­glückt.«

Yen Hui erkundigte sich nach dem echten Menschentum, und Konfuzius sagte: »Echtes Menschentum besteht darin, dein

128

Page 131: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

wahres Sein zu verwirklichen und die sittliche Ordnung oder Zucht (li) zu wahren. Wenn ein Mensch einen Tag lang sein wahres Sein verwirklichen und vollkommene sittlid1e Zucht wahren kann, dann wird die Welt ihm folgen. Ein echter Mensch zu sein, hängt nur von einem selb>t ab. Was hat es mit den anderen zu tun?«

Konfuzius sagte: »Demut ist der sittlichen Zucht verwandt (li). Einfachheit des Charakters ist dem echten Menschentum verwandt; und Redlichkeit ist der Aufrichtigkeit des Herzens verwandt. Wenn ein Mensch diese Dinge in seinem Verhalten sorgfältig pflegt, mag er wohl noch Irrtümer begehen, aber er wird von der Norm des echten Menschentums nicht weit ent­fernt sein. Mit Demut oder Ehrfurcht begeht man selten Feh­ler; mit Aufrichtigkeit des Herzens ist man gewöhnlich zuver­lässig; und ein argloser Charakter ist meist großzügig. Man irrt selten, wenn man von diesen Normen ausgeht.« (Liki, Ka­pitel 32.)

Konfuzius sagte: »Das Herz Yen Huis kann drei Monate lang im Zustand des echten Menschentums leben. Die anderen aber sind nicht fähig, diesen Zustand länger als einen Monat oder ein paar Tage einzuhalten.«

Jemand fragte: »Würdet Ihr einen Menschen, dem es ge­lungen ist, Angriffslust, Stolz, Neid und Habgier zu be­meistern, einen echten Menschen nennen?« Konfuzius sagte: >>Ich würde sagen, daß er ein seltener Mensch ist, aber ich weiß nicht, ob er ein echter Mensch genannt werden kann.«

Tsetschang sagte zu Konfuzius: »Minister Tsewen von Thschu wurde dreimal zum Minister ernannt, ohne besondere Freude über seine Ernennung zu zeigen; und dreimal wurde er seines Amtes enthoben, ohne irgendwelche Enttäuschung zu zeigen. Und wenn er sein Amt dem Nachfolger übergab, weihte er ihn in alles ein. Was haltet Ihr von solch einem Menschen?« Kon­fuzius sagte: »Ich würde ihn einen ehrlichen und vertrauens­würdigen Menschen nennen.« »Würdet Ihr sagen, daß es ein echter Mensch ist?« »Das weiß ich nicht«, antwortete Konfu­zius, »wie könnte ich ihn einen echten Menschen nennen?« [I I]

Jemand sagte, daß Tschung-Kung (ein Schüler des Konfu­zius) ein echter Mensch sei und kein eitler Schwätzer. Konfuzius meinte: »Was nützt es, ein eitler Schwätzer zu sein? Je mehr man redet, um sich selbst zu verteidigen, desto mehr wird man von den Menschen gehaßt. Ich weiß nicht, ob er ein echter Mensch ist, aber es scheint mir unnütz, ein eitler Schwätzer zu sein.«

Der Edle Wumeng fragte, ob Tselu ein echter Mensch sei. Konfuzius antwortete: »Ich weiß es nicht.« Als er noch einmal

9/154

Page 132: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

gefragt wurde, sagte er: >>Man kann ihm ein Land mit tausend Streitwagen anvertrauen und ihm ruhig die Finanzen über­lassen; aber ich weiß nicht, ob er ein echter Mensch gewesen ist.« »Wie steht es mit Jan Thschu?« Konfuzius antwortete: »Man kann ihm eine Stadt mit tausend Familien anvertrauen oder ihn als Hofmeister eines Haushaltes mit hundert Wagen ein­setzen (wie denjenigen eines Ministers), aber ich weiß nicht, ob er ein echter Mensch ist.« »Wie steht es mit Kungsi Tschi?« Konfuzius antwortete: »Man kann ihn bei Hof zum Empfang der Gäste anstellen, ihn in offizielle Gewänder und Gürtel kleiden, aber ich weiß nicht, ob er ein echter Mensch ist.«

Weitere Beschreibungen des echten Menschen

Konfuzius sagte: »Wer nicht ein echter Mensch ist, kann die Armut und auch den Reichtum nicht lange aushalten. Ein echter Mensch ist glücklich und fühlt sich wohl, wenn er den Grund­sätzen des echten Menschen nachlebt. Kein Weiser aber glaubt, es sei vorteilhaft, solches zu tun.«

Konfuzius sagte: »Nur ein echter Mensch weiß, wie man liebt und wie man haßt.«

Konfuzius sagte: »Wie kann ein höherer Mensch seinen Ruf wahren, wenn er von der Norm des echten Menschen abweicht? Der höhere Mensch kann nicht von der Norm des echten Men­schen abweichen, nicht einmal für eine einzige Mahlzeit. In seinen unbedeutendsten wie in seinen gefährlichsten Augen­blicken lebt er bereits in der Norm eines echten Menschen.«

Konfuzius sagte:» Was nützt jemand, der kein echter Mensch ist, das Zeremoniell? Was nützt jemand, der kein echter Mensch ist, die Musik?«

Konfuzius sagte: »Der Weise kennt keine Schwierigkeiten; der echte Mensch keine Sorgen; der Tapfere keine Furcht.«

Konfuzius sagte: »Ein echter Mensch ist langsam im Reden.« Jemand fragte: »Kann man einen Menschen, der langsam redet, einen echten Menschen nennen?<< Konfuzius antwortete: »Da es für einen echten Menschen so schwer ist, das zu tun, was er sagt, wird er natürlich sehr langsam reden.«

6. Der höhere und der niedrigere Mensch

Konfuzius sagte: »Der höhere Mensch weiß, was richtig ist; der niedere weiß, was sich lohnt.<<

Konfuzius sagte: »Der höhere Mensch liebt seine Seele, der :niedere Mensch liebt seinen Besitz. Der höhere Mensch erinnert

Page 133: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

sich stets, wie er für seine Fehler bestraft wurde; der niedere Mensch erinnert sich der Geschenke, die er bekommen hat.«

Konfuzius sagte: »Der höhere Mensch ist duldsam gegen die Ansichten der anderen. Aber er schließt sich ihnen nicht ganz an; der niedere Mensch ist ganz der Meinung der anderen, aber er ist nicht duldsam.«

Konfuzius sagte: »Der höhere Mensch ist fest, aber er kämpft nicht; er ist gesellschaftlich gewandt, aber er bildet keine Cli­quen.«

Konfuzius sagte: >>Der höhere Mensch tadelt sich selbst; der niedere Mensch tadelt die anderen.«

Konfuzius sagte: »Es ist leicht, dem höheren Menschen zu dienen, aber schwer, ihn zufriedenzustellen, denn er schätzt nur, was richtig ist, und er bewertet die Menschen nach ihren besonderen Fähigkeiten. Dem niederen Menschen zu dienen ist schwer, aber es ist leicht, ihn zufriedenzustellen, denn man be­friedigt ihn (indem man seine Schwächen ausnützt), ohne un­bedingt recht zu haben; wenn er Menschen für sich arbeiten läßt, verlangt er Vollkommenheit.«

Konfuzius sagte: »Man kann einem höheren Menschen ein wichtiges Amt anvertrauen und ihm große Handlungsfreiheit lassen, aber man kann ihm nicht eine nette kleine Stellung an­bieten; einem niederen Menschen kann man eine nette kleine Stellung anbieten, aber man kann ihm nicht ein wichtiges Amt anvertrauen und ihm große Handlungsfreiheit lassen.«

Konfuzius sagte: »Der höhere Mensch ist nicht von der Art, daß er sich nur für eine einzige, besonders spezialisierte Stel­lung eignete.«

Konfuzius sagte: »Der höhere Mensch ist großzügig gegen alle und kein Parteigänger; der niedere Mensch ist ein Partei­gänger, aber nicht großzügig.«

Konfuzius und seine Anhänger zogen einst tagelang ohne Nahrung durch Tschen. Einige seiner Begleiter erkrankten und mußten das Bett hüten. Tselu trat in bedrückter Stimmung vor Konfuzius und fragte: »Gerät der höhere Mensch auch in Schwierigkeiten?« Konfuzius sagte: »Ja, der höhere Mensch kann auch in Schwierigkeiten geraten; aber wenn ein niederer Mensch in Schwierigkeiten gerät, dann ist ihm alles zuzu­trauen.«

Konfuzius sagte: »Der höhere Mensch strebt nach geistigen Dingen und nicht nach seinem Auskommen. Läßt man ihn ein Feld bebauen, wird er verhungern; aber läßt man ihn bei seinen Studien, wird er Reichtümer darin finden. Der höhere Mensch macht sich keine Sorgen über seine Armut, sondern sorgt sich um geistige Dinge.«

9'' 131

Page 134: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Konfuzius sagte: »Der höhere Mensch ist stets unbefangen und ungezwungen (mit sich selbst und anderen); der niedere Mensch ist stets wegen irgend etwas beunruhigt.«

Konfuzius sagte: »Der höhere Mensch entwickelt sich nach oben; der niedere Mensch entwickelt sich nach unten.«

Konfuzius sagte: »Der höhere Mensch ist würdevoll, aber nicht stolz; der niedere Mensch ist stolz, aber nicht würdevoll.«

Konfuzius sagte: »Der höhere Mensch hält sich an die Norm des Rechts, aber er hält nicht (unbedingt) sein Versprechen.«

Tsema Niu befragte Konfuzius über das Wesen des vor­nehmen Herrn; Konfuzius antwortete: »Ein vornehmer Herr kennt keine Sorgen und keine Angst.« »Ist dann also ein Mensch ohne Sorgen und ohne Angst ein vornehmer Herr?« Konfuzius sagte: »Wenn er in sich selbst schaut und sicher ist, daß er richtig gehandelt hat, braucht er weder Sorgen noch Angst zu haben.«

Konfuzius sagte: »Der höhere Mensch geht ohne vorgefaßten Plan und ohne Tabu durch sein Leben. Er bestimmt nur im ge­gebenen Moment, was richtig ist.«

Konfuzius sagte: »Der höhere Mensch besteht nicht auf gu­tem Essen und bequemem Wohnen. Er erfüllt seine Pflichten sorgfältig und ist vorsichtig in seinem Reden. Wenn er einen großen Mann findet, folgt er ihm als seinem Führer. Solch ein Mensch kann ein Liebhaber des Lernens genannt werden.«

Konfuzius sagte: »Ein Gelehrter, der die Wahrheit anstrebt und sich seines ärmlichen Kleides und seiner ärmlichen Nah­rung schämt, ist nicht der Rede wert.«

Konfuzius sagte: »Ein Gelehrter, der die Bequemlichkeiten des Lebens liebt, ist nicht wert, ein Gelehrter genannt zu wer­den.«

Konfuzius sagte: »Ein Mann, der seinem König dient und dessen Rat dreimal abgelehnt wird, ohne daß er das Land ver­läßt, hängt an seinem Posten wegen des Gehaltes. Auch wenn er sagt, er bliebe nicht wegen des Gehaltes., glaube ich ihm nicht.« (Liki, Kapitel 32.)

Konfuzius sagte: »Ein vornehmer Herr schämt sich, wenn seine Worte besser sind als seine Taten.« · Konfuzius sagte: »Ein vornehmer Herr achtet vor allem auf

drei Dinge: In der Jugend, wenn sein Blut stürmisch ist, achtet er auf sein Verhältnis zum anderen Geschlecht; als Erwachse­ner, mit vollem Blut, achtet er darauf, nicht in Kämpfe v~r­wi<kelt zu werden. Im Alter, wenn sein Blut dünner wird, achtet er auf sein Geld.« (Ein junger Mann liebt die Frauen; ein reifer Mann liebt den Kampf; ein alter Mann liebt das Geld.)

IJ2

Page 135: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

7· Die Mitte als idealer Charakter und Menschentypen, die Konfuzius haßte

Menschen der Mitte

Konfuzius sagte: »Da ich keine Menschen der Mitte (oder der goldenen Mitte) als Schüler finden kann, werde ich mit denen arbeiten müssen, die geistreich, aber sprunghaft (khuang) sind, oder mit denen, die ein wenig schwerfällig, aber gewissenhaft (tschuan) sind. Die geistreichen, aber sprunghaften Menschen sind stets bereit zum Fortschritt (sie sind zu tatkräftig); und die schwerfälligen, aber gewissenhaften Menschen halten sich stets zurück (sie sind nicht tatkräftig genug).«

Konfuzius sagte: »Die Tugendbolde sind die Diebe der Tu­gend.« [12]

Konfuzius sagte (a:ls er durch Tscheng wanderte und be­schlossen hatte, in seine Heimat zurückzukehren, um sich der Herausgabe von Büchern und dem Unterricht zu widmen): >>Laßt uns nach Hause zurückkehren. Die Schüler unseres Lan­des sind geistreich; aber sprunghaft, es ist ihnen jedoch am Fort­schritt gelegen, und sie haben die ursprüngliche Einfachheit ihres Wesens noch nicht verloren.«

Tsekung fragte, ob Schi (Tsetschang) oder Schang (Tsehsia) der bessere Mensch sei. Konfuzius antwortete: »Ah Schi geht etwas zu weit (oder ist über der Norm) urid Ah Schang geht nicht weit genug (oder ist etwas unter der Norm).« »Ist dann. Ah Schi nicht der bessere Mensch?« fragte Tsekung. Konfuzius antwortete: »Zu weit gehen ist genauso schlecht wie nicht weit genug gehen.« [13]

Konfuzius sagte zu Tsehsia: »Du mußt ein hervorragender Gelehrter werden und nicht ein Stubengelehrter.«

Konfuzius sagte: »Wer mehr soliden Wert als Schliff hat, erscheint unbeholfen; und wer mehr Schliff als soliden Wert hat, erscheint überfeinert. Das Zusammenwirken von solidem Wert und Schliff macht den vornehmen Menschen aus.«

Konfuzius sagte: >>Die früheren Generationen waren unbe­holfen, was Zeremoniell und Musik anbelangt; die späteren Generationen sind in Zeremoniell und Musik überfeinert. Wenn ich aber zwischen den beiden zu wählen hätte, würde ich den Leuten der früheren Generationen folgen.« [1.4]

Menschentypen, die Konfuzius ha~te

Konfuzius sagte: »Früher hatten die Menschen dreierlei Fehler, heutzutage haben sie auch diese nicht mehr. Wenn die

!33

Page 136: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Menschen früher impulsiv waren, rebellierten sie gegen die Konvention; aber heute wollen die Impulsiven nur Aufsehen erregen. Wenn die Menschen früher korrekt und selbstzufrieden waren, so achteten sie streng und sorgfältig auf ihr Benehmen, heute aber haben die Selbstzufriedenen nichts Besseres zu tun, als die anderen zu verurteilen und schlechter Laune zu sein. Früher waren die einfachen Leute arglose und ehrliche Seelen, heute aber sind sie ein trügerisches Pack.«

Tsekung fragte: »Gibt es für den höheren Menschen auch Dinge, die er haßt?« »Ja, es gibt Dinge; die der höhere Mensch haßt«, antwortete Konfuzius. »Er haßt diejenigen, die sich darin gefallen, die Leute zu kritisieren und ihre Schwächen aufzudecken. Er haßt diejenigen, die an untergeordneter Stel­lung über die Höhergestellten spotten oder Gerüchte verbreiten. Er haßt diejenigen, die ritterlich und leichtsinnig sind, aber sich nicht durch die Gebote des Anstandes hemmen lassen. Er haßt diejenigen, die selbstsicher aber engstirnig sind.« »Und wen haßt Ihr, Meister?« »Ich hasse diejenigen, die anderen nach­spionieren und sich dabei verteufelt klug vorkommen. Im hasse diejenigen, die sich tapfer vorkommen, wenn sie unbotmäßig sind. Und ich hasse jene Verschmitzten, die vorgeben, ehrliche, anständige Leute zu sein.«

Konfuzius sagte: >>Mit einem impulsiven und eigensinnigen Menschen, der nicht die Tugend einfacher Ehrlichkeit besitzt, der nichts weiß und nicht klug genug ist, in Worten und Be­nehmen Vorsicht walten zu lassen, der keine besondere Fähig­keit hat und zudem nicht die Tugend der Aufrichtigkeit und Vertrauenswürdigkeit besitzt- wahrlich, mitsolmeinem Men­smen ist nichts anzufangen.«

Konfuzius sagte: >>Ich hasse die Dinge, die wirklimen Dingen gleimen, aber keine wirklichen Dinge sind. Ich hasse die Korn­raden, weil sie sich ins Korn mischen. Ich hasse die Schmeimler, weil sie sich unter die guten Menschen mischen. Ich hasse die Zungenfertigen, weil man sie für anständige Leute hält. Ich hasse die Musik von Tscheng, weil sie die klassisme Musik in Unordnung bringt. Ich hasse die purpurne Farbe, weil sie mir das Rot verwirrt. Ich hasse die Tugendbolde, weil man sie mit tugendhaften Menschen verwechselt.« (Mencius.)

Konfuzius sagte: >>Ein Mann, der voller Würde und Strenge auftritt, innerlich aber hohl und schwach ist, erscheint mir wie ein elender Einbrecher, der bei Nacht durm ein Loch ins Haus schlüpft.«

Konfuzius sagte: >>Frauen und ungebildete Menschen sind schwer zu behandeln. Ist man vertraulich mit ihnen, werden sie frech; beachtet man sie nicht, sind sie beleidigt.«

1 34

Page 137: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Konfuzius sagte: »Ich hasse die Schwätzer.« Konfuzius sagte: >>Ein Schönredner, der das Schmeicheln ver­

steht, ist selten ein anständiger Mensch.« Korifuzius sagte: »Der Vornehme beurteilt einen Menschen

nicht nur nach seinen Worten. Daher gibt es in der kultivierten Welt pathetisches Benehmen und in der unkultivierten Welt pathetische Reden.« (Liki, Kapitel p.)

8. Regierung

Das sittliche Ideal der Regierung

Konfuzius sagte: »Leitet man das Volk durch Verordnungen und Aufsicht, oder hält man es durch Strafandrohungen in Zucht, so wird es sich befleißigen, nicht ins Gefängnis zu ge­raten, aber es wird weder Ehr- noch Schamgefühl haben. Leitet man das Volk durch Tugend und Vorbild und hält es durch die Gebote des li in Zucht, so wird es ehrliebend und ehrerbietig sein.«

Konfuzius sagte: >>Wenn das Königreich von Thschi einen Schritt weitergeht, wird es die kulturelle Stufe des Königreichs von Lu erreichen; und wenn das Königreich von Lu einen Schritt weitergeht, wird es die Stufe wahrer Kultur erreichen.«

Konfuzius sagte: »Als Vorsitzender in einem Prozeß stehe ich keinem nach. Man sollte es aber so weit bringen, daß keine Prozesse mehr stattfinden.«

Jemand fragte Konfuzius, warum er nicht in den Staats­dienst eintrete. Konfuzius antwortete: »Berichtet das Buch der Geschichte nicht vom guten Sohn? Wenn der Herrscher ein guter Sohn und ein guter Bruder ist, und dieselben Grundsätze auf die Staatsgeschäfte überträgt, nennt nian das eine gute Regie­rung- warum sollte ich dann in den Staatsdienst eintreten?<<

Yutse sagte: »Ein Mensch, der ein guter Sohn und ein guter Bruder ist, mißachtet selten die Obrigkeit, und niemals wird ein Mensch, der die Obrigkeit achtet, einen Aufruhr anzetteln.«

Regierung durch sittliches Beispiel

Konfuzius sprach: »Ein Herrscher, der ein Land durch Tu­gend regiert, gleicht dem Polarstern, der an seinem Platz ver­harrt, während die anderen Gestirne ihn umkreisen.« [Vgl. Shakespeare, Julius Caesar, III. Akt, V. 6o ff. Anm. d. übers.]

Der Edle Khang Thschi befragte den Konfuzius über Fragen der Regierung, und Konfuzius erwiderte: >>Regieren heißt le-

I35

Page 138: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

diglich, die Dinge ins Lot zu bringen. Wenn Ihr selbst mit gutem Beispiel vorausgeht, wer dürfte dann wagen, TOm rech­ten Pfad abzuweichen?«

Der Edle Khang Thschi befragte den Konfuzius über Regie­rungsangelegenheiten und spram: »Was meint Ihr dazu, wenn ich die smlemten Bürger hinrichten ließe und mim nur mit den guten befaßte?« Konfuzius erwiderte: »Wozu sollte der Herr­scher eines Landes die schlemten Bürger hinrimten lassen? Wenn Ihr das Gute wollt, wird das Volk auch gut werden. Der Cha­rakter des Herrschers gleimt dem Winde, und der Charakter des Volkes dem Grase. Das Gras neigt sich in der Richtung, in der der Wind weht.«

Konfuzius sprach:» Wenn der Herrscher das Rechte tut, wird er auch ohne Befehle das Volk beeinflussen. Wenn der Herr­smer nimt das Remte tut, werden alle seine Befehle nichts nützen.«

Konfuzius spram: »Wenn ein Herrsmer sein Verhalten bes..: sert, ist das Regieren etwas Leicl)tes; wenn er sein Verhalten nimt verbessert, wie kann er da andere bessern?«

Elemente der Regierung

Tsekung fragte, was eine gute Regierung sei. Konfuzius sagte: »Die Mensmen müssen genug zu essen haben; die Armee muß stark genug sein; und das Volk muß zu seinem Herrscher Ver­trauen haben.« Tsekung fragte sodann: »Wenn Ihr auf eine dieser Voraussetzungen verzichten müßtet, welme würde es sein?« Konfuzius antwortete: »Als erstes würde ich auf die Armee verzimten. « »Wenn Ihr auf eine der beiden anderen Voraussetzungen aum noch verzimten müßtet, welche würdet Ihr wählen?« fragte Tsekung von neuem. »Im würde lieber darauf verzimten, daß die Menschen _genug zu essen hätten, denn seit Mensmengedenken hat es Hungersnöte gegeben, aber eine Nation kann nicht bestehen, wenn das Volk seinem Herr­scher nimt vertraut.«

9· ()ber Erziehung, Zeremoniell und Dichtkunst

Konfuzius sagte: »Die.Erziehung beginnt mit der Dimtkunst, wird durm rimtiges Benehmen (Selbstbeherrsmung) gefestigt und durch Musik gekrönt.«

Konfuzius sagte: »Der gebildete Mensm erweitert seinen Horizont durm Bildung und Lernen; er richtet sim nam den

136

Page 139: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Anweisungen des Li (Gebräuche oder sittliche Zucht); so wird er seinen Grundsätzen nicht untreu werden.«

Yutse sagte: »Die wertvollste Auswirkung des Li ist, daß es den Sinn für Eintracht entwickelt. Dies ist das schönste Ver­mächtnis der alten Könige. Es ist ein Leitgrundsatz in allem, in den großen wie in den kleinen Dingen. Wenn man sich in Zeiten der Unruhe darauf beschränkt, soziale Eintracht (oder: Frieden) zu haben, ohne die Gesellschaft: nach dem Muster des Li (den Grundsätzen der sozialen Ordnung) [ 1 5] zu regeln, wird man weiterhin mit Unruhen rechnen müssen.«

Konfuzius sagte: »Wir sprechen immerfort vom Li. Bedeutet Li eigentlich nur eine Sammlung von Jade und· Seide (für Zere­monien)? Wir sprechen immerfort von Musik. Bedeutet Musik denn nichts weiter, als Trommeln rühren und Glocken läuten?«

Tsehsia fragte (in bezug auf eine Stelle im Liederbuch): »Was bedeutet der Satz: >Sie hat ein gewinnendes Lächeln, ihre Augen sind so klar und hell. Ihr Kleid zeigt ein buntes Muster auf einfachem Grund<?« Konfuzius antwortete: »In der Male­rei müssen wir einen einfachen Hintergrund haben.« »Bedeutet dies, daß die zeremoniellen Gebräuche des Li gegen einen Hin­tergrund der Einfachheit des Charakters ausgeführt werden sollen?« fragte Tsehsia weiter. [16]

Konfuzius sagte: »Du hast da einen neuen Gedanken ge­prägt, Ah Schang! Du bist würdig, über das Liederbuch zu dis­kutieren.«

Lin Fang erkundigte sich nach den Grundlagen des Li. Kon­fuzius antwortete: »Du stellst eine gewichtige Frage. Was die Rituale und Zeremonien anbelangt, sei lieber einfach als prunk­voll. Bei Trauerzeremonien ist das echte Gefühl der Trauer wichtiger als bloße Außerlichkeiten.«

Konfuzius sagte:» Wenn du weise genug bist, eine Wahrheit zu entdecken, aber nicht stark genug, ihr treu zu bleiben, so wirst du sie wieder verlieren, auch wenn du sie entdeckt hast. Wenn du weise genug bist, eine Wahrheit zu entdecken, und die Krafl: hast, ihr treu zu bleiben, aber nicht fähig bist, im öffent­lichen Auftreten deine Würde zu bewahren, wirst du der Ob­rigkeit nicht die Achtung des Volkes verschaffen. Wenn du weise genug bist, eine Wahrheit zu entdecken, stark genug, ihr treu zu bleiben, fähig, deine Würde zu bewahren, aber unfähig, dich in deinen Taten und deinem Benehmen von dem Geist des Li (oder: gesellschafl:licher Zucht) durchdringen zu lassen, ist auch das nicht befriedigend.«

Konfuzius sagte: »Ah Schang ist würdig, mit mir über das Liederbuch zu diskutieren. Ich sage ihm etwas, und er prägt neue Gedanken.«

137

Page 140: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Konfuzius sagte: >>Mit einem Satz kann man alle dreihundert Lieder (in Wirklichkeit sind es dreihundertfünf) charakteri­sieren; und zwar: Bewahre das Herz am rechten Fleck.«

Tschen Khang fragte Po-yü (Konfuzius' einzigen Sohn, der auch den Namen Li, das heißt Karpfen, trug): >>Gibt es etwas Besonderes, das Euer Vater Euch lehrte?« Po-yü antwortete: »Nein, aber eines Tages stand mein Vater allein im Hof; als ich vorüberging, fragte er mich, ob ich die Dichtkunst erlernt habe. Ich antwortete: >Noch nicht.< Da sagte er: >Wenn du die Dicht­kunst nicht erlernst, wird deine Sprache nicht gebildet sein.< So ging ich hin und studierte die Dichtkunst. Eines Tages stand er wieder allein im Hof, und als ich vorbeikam, fragte er mich, ob ich die Bräuche erlernt habe. Ich antwortete: >Noch nicht.< Da sagte er: >Wenn du die Bräuche nicht erlernst, hast du keine An­leitung für dein Benehmen.< So ging ich hin und studierte die Bräuche. Ich bin nur angewiesen worden, diese beiden Dinge zu erlernen.«

Tschen Khang ging höchst befriedigt von dannen und sagte: »Ich habe ihm eine Frage gestellt und gleich drei Dinge erfah­ren: was Konfuzius über die Dichtkunst sagte, was er von den Bräuchen hielt, und daß er seinen Sohn genau in der gleichen Weise unterrichtete wie seine Schüler« (er bevorzugte seinen Sohn nicht).

Konfuzius sagte: >>Lesen, ohne zu- denken, verwirrt den Geist; denken, ohne zu lesen, macht ihn flüchtig (oder un-sicher).« .

Konfuzius sagte: »Ist es nicht ein großes Vergnügen, zu ler­nen und wieder zu lernen?«

Konfuzius sagte:» Wer das Gelernte noch einmal durcharbei­tet und neues Verständnis gewinnt, ist würdig, ein Lehrer zu sein.«

Konfuzius sagte: »Jener Typ des Studierenden, der die Fra­gen der Leute nur aus der Erinnerung zu beantworten sucht, ist nicht geeignet, ein Lehrer zu sein.«

Konfuzius sagte: »Früher studierten die Schüler für sich selbst; heute studieren sie für die anderen (weil sie von ihren Lehrern, ihren Eltern usw. dazu verpflichtet werden).«

Konfuzius sagte: >>Ah Yu, hast du schon von den sechs Sprü­chen über die sechs Mängel gehört?« >>Nein«, sagte Tselu. »Dann setz dich, ich will sie dir aufzählen. Wer die Güte liebt, aber nicht das Lernen, hat den Mangel, unwissend zu sein. Wer die Weisheit liebt, aber nicht das Lernen, hat den Mangel, phan­tastische, aber nicht stichhaltige Gedanken zu hegen. Wer die Ehrlichkeit liebt, aber nicht das Lernen, hat den Mangel, die Dinge zu verwirren und zu vereiteln. Wer die Einfachheit liebt,

138

Page 141: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

aber nicht das Lernen, hat den Mangel, nur der Konvention zu folgen. Wer den Mut liebt, aber nicht das Lernen, hat den Man­gel, unbotmäßig und gewalttätig zu sein. Wer die Entschlossen­heit liebt, aber nicht das Lernen, hat den Mangel, eigenwillig und überheblich zu sein.«

Konfuzius sagte: >>An erster Stelle kommen diejenigen, die weise geboren sind; dann jene, die durch Lernen weise werden; nachher jene, die das Lernen mit Fleiß und Eifer betreiben, ob­wohl es ihnen schwer fällt; und schließlich die Trägen, die lang­sam lernen und sich doch keine Mühe geben; sie stehen am nied­rigsten von allen.«

Konfuzius sagte: »Die jungen Leute sollen zu Hause gute Söhne sein, in Gesellschaft höflich und ehrerbietig; in ihrem Betragen sollen sie behutsam und zuverlässig sein, die anderen lieben und sich den gütigen Menschen anschließen. Wenn sie dies alles gelernt haben und noch über genügend Energie ver­fügen, sollen sie Bücher lesen.«

139

Page 142: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

VI

DREI KONFUZIANISCHE ABHANDLUNGEN üBER DIE GESELLSCHAFTSORDNUNG

Die folgenden drei Abhandlungen bilden die Kapitel 26, 27 und 9 des Liki. Diese Aufzeichnungen wurden einer stilistischen Umarbeitung unterzogen, so daß es heute an gewissen Stellen nicht mehr feststellbar ist, ob die Worte von Konfuzius selbst stammen oder von den Verfassern der betreffenden Kapitel. Alle drei Abhandlungen behandeln im wesentlichen die welt­anschauliche Bedeutung des Li. Wie wir bereits in der Einlei­tung teilweise dargelegt haben, kann dieser Begriff des Li, von cdem in den folgenden Abhandlungen immer wieder gesagt wird, daß er die Quintessenz, das sine qua non, die Grundlage oder das unerläßliche Prinzip einer jeden Regierung sei, nicht lediglich die Einhaltung eines bestimmten Zeremoniells bedeu­ten, sondern stellt eine Philosophie der Ordnung und Gestal­tung der menschlichen Gesellschaft dar. Li umfaßt eigentlich eas gesa,mi:e soziale, moralische und religiöse Gefüge der alten Gesellschaft Chinas, wie es durch die Formeln religiösen Kultes und gesellschaftlichen Verkehres zum Ausdrudt gebracht und ~eregelt, durch die Geschichte geoffenbart und durch Konfuzius begrifflich festgelegt wird. Insbesondere war sein Ziel die Wie­derherstellung der alten Feudalordnung mit ihrer klaren Hier­archie der Ränge, aber dieser Grundsatz der Sozialordnung wurde erweitert und verbreitert, bis er sich auf alle wesent­lichen menschlichen Beziehungen in Familie, Gesellschaft und Staat erstreckte. Es mußte daher für das Gesamtvolk vermittels einer klaren, einfamen, aber scharfen Definition der jeweiligen sozialen Stellung und ihrer besonderen Verpflichtungen eine umfassende sittliche Ordnung hergestellt werden, welme die sittliche Grundlage der Staats- und Gesellschaftsordnung bil­dete. Diese Weltanschauung vom Zusammenklang der wesent­lichen menschlichen Beziehungen gilt auch heute noch im mo­dernen China - sie ist die eigentliche Grundlage des minesi­schen Ethos-, während die alte Feudalordnung, die Konfuzius wiederherzustellen bezweckte, endgültig der Vergangenheit angehört.

Freilich wäre zu bemerken, daß das Feudalsystem, wie es Konfuzius auffaßte, einen deutlich religiösen Charakter hatte und sich sehr stark nicht nur mit den tatsämlichen Praktiken und Regeln des öffentlichen Kultes, sondern aum mit deren

Page 143: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

philosophischer Bedeutung befaßte. Ganze Kapitel des Liki be­handeln z. B. die rituellen Gewänder und Weihegefäße und sieben oder acht Kapitel, die in der Großen Tai-Sammlung nicht enthalten sind, befassen sich allein mit den Begräbnis­zeremonien. Aber das eigenartigste dabei ist, daß der Begriff Li einerseits den religiösen Kult umfaßte, anderseits aber un­merklich in das Brauchtum der Dorftänze, Jagden, Trinkgelage, Preisschießen und des allgemeinen gesellschaftlichen Verkehres überging. Von hier aus ist dann leicht zu ersehen, weshalb der Begriff des Li zugleich ein philosophisches System sozialer Ord­nung und sozialer Bindung verkörpert und eine historische Oberlieferung kultischer Zeremonien. Konfuzius selbst machte seinen Jünger Tsetschang darauf aufmerksam, daß Li nicht dar­in bestünde, mit Weihegefäßen herumzuspielen, ebenso wie ja auch Musik nicht im bloßen Glockenläuten und Trommelschla­gen besteht; sondern, daß sowohl Zeremonien wie Musik aus einem bestimmten Seelenzustand hervorgingen und ihn auch hervorbrächten, einem Zustand gottesfürchtiger Frömmigkeit. bei der Ausführung der Riten und einem Zustand des Glückes und der Harmonie beim Musizieren.

Tatsächlich war ja die Beschäftigung des Konfuzius mit den Riten des religiösen Kultes - Kult des Himmels, der Erde, der kaiserlichen Ahnen, der Sonne und des Mondes, der Berge und Flüsse, des Herdgottes, des Gottes der südwestlichen Hausecke, und aller Volksfeste- sowie seine Befassung mit dem religiösen Seelenzustand derartig intensiv, daß ich mich oft versucht fühle, das Wort Li einfach mit »Religion« zu übersetzen, was ich dann schließlich aber doch nicht getan habe. Eine solche Übersetzung wäre an Stellen wie der folgenden durchaus angemessen: »Er­weitere dein Wissen durch Studium und regle dann dein V er­halten durch Religion«, oder »Verwirkliche dein wahres Selbst und kehre zur Religion zurück« (ein von Konfuzius formu­lierter Weg zur Erlangung echten Menschentums). Der religiöse Charakter des Li ist nicht zu bezweifeln und die Chinesen haben tatsächlich den Konfuzianismus die »Li-Religion« genannt, eine Bezeichnung, die auch heute noch gebräuchlich ist. Aber der Ausdruck »Religion« ist doch nicht immer angebracht, weil er an eine Religion nach Art etwa des Christentums denken läßt, welche einen scharfen Trennungsstrich zwischen religiösen und weltlichen Dingen zieht. Eine solche Unterscheidung gab es nun aber im alten China nicht, ebensowenig wie im mosaischen Ge­setz, in welchem ja alle Vorschriften, die sowohl das soziale wie das religiöse Verhalten betrafen, als religiös angesehen wur­den. Die heutigen Menschen leben freilich nicht mehr in einem solchen theokratischen oder halbtheokratischen Zeitalter und

Page 144: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

verstehen nur schwer, was etwa eine rituelle Erwählung, Tötung und Zerlegung von Tieren oder eine rituelle Handwaschung vor dem Genuß ihres Fleisches eigentlich mit »Religion« zu tun hatte. Für uns Heutige gehört das Händewaschen vor dem Es­sen durchaus in das Gebiet der Hygiene. Für Moses war aber auch die Hygiene Religion, denn die Religion war eben allum­fassend. Und genau ebenso war die Haltung des Konfuzianis­mus. Wenn es nicht so schwierig wäre, sich diese Auffassung des Begriffes Religion fortwährend vor Augen zu halten, wäre nichts gegen die Wiedergabe des Wortes Li mit »Religion« des Konfuzianismus, wie Konfuzius sie lehrte, einzuwenden. Psy­chologisch ist die religiöse Seelenhaltung- die hebräische »Furcht des Herrn« und die christliche »Frömmigkeit«- auch das Ziel der konfuzianischen Religion im Leben des einzelnen. Diese Seelenhaltung, die als Tsching bezeichnet und meist mit »Ehr­furcht« übersetzt wird, umfaßt aber sowohl die frommteligiöse Haltung beim Gottesdienst als auch jene Gottesfurcht im All­tagsleben, die sich in der Achtung vor der Sozialordnung und in sittlicher Zud1t äußert. Ich habe darum das Wort Tsching oft mit »Frömmigkeit« wiedergegeben, weil der Ausdruck »Ehr­furcht« häufig ganz unzureichend wäre.

Li, der Zentralbegriff der konfuzianischen Lehre, umfaßt so­mit folgende Bedeutungen: Religion; das allgemeine Prinzip der Sozialordnung, einschließlich der Religion; ein aufgeklär­tes System der Feudalordnung; die Gesamtheit aller sozialen, moralisChen und religiösen Vorschriften, die Konfuzius gelehrt und in ein System gebracht hat. Es bedeutet daher auch historische Gelehrsamkeit, es bedeutet das Studium des religiösen Zeremo­nienwesens, Staatszeremoniell, Volksfeste, den Eheritus, Lei­chenbegängnisse, die Zeremonie des Mützenaufsetzens und Haarordnens für Knaben und Mädchen zur Reifezeit (mit zwanzig 1 ahren für Knaben und mit fünfzehn 1 ahren für Mäd­chen), militärische Zucht, das Erziehungssystem, das Verhalten der Geschlechter und das Familienleben, Essen, Trinken und Leibesübungen (insbesondere Bogenschießen, Wagenlenken und die Jagd), Musik und Tanz. Es bedeutet ein System streng ge­regelter gesellschaftlicher Beziehungen mit feststehenden gegen­seitigen Verpflichtungen, Liebe bei den Eltern, kindliche Ehr­furcht bei den Kindern, Achtung bei jüngeren, Freundlichkeit bei älteren Brüdern, Aufrichtigkeit unter Freunden, Achtung vor der Obrigkeit bei Untertanen und Wohlwollen bei Herr­schern. Es bedeutet die Seelenhaltung des Frommseins. Es be­deutet Sittlichkeit im persönlichen Verhalten. Als umfassender Grundsatz persönlichen Verhaltens bedeutet es »Anständigkeit« in allem, d. h. stets so zu handeln, wie es sich gehört. Als allum-

Page 145: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

fassendes soziales Prinzip bedeutet es >~die rechte Ordnung der Dinge« oder >>alles am rechten Ort«. Es bedeutet Zeremonien­wesen und Beobachtung der Formen. Es bedeutet Verbunden­sein mit der Vergangenheit. Es bedeutet schließlich Höflichkeit und gute Manieren.

Ich habe die ganz bestimmte Empfindung, daß diese Lehre vom Li und die ungeheure historische Gelehrsamkeit des Kon­fuzius die eigentliche Ursache seines großen Ansehens gewesen ist. Er wußte eben sehr viele Dinge, die der durchschnittliche Gelehrte dieser Zeit nicht wußte, und das ist ja meist die Grundlage einer »Verehrung«. Die große Masse verehrt ja im­mer, was sie nicht versteht. Je mehr man über Dinge spricht, welche den meisten unverständlich sind, desto höher steigt die Achtung, die einem entgegengebracht wird. Mit allseinem Witz, aber ohne seine Gelehrsamkeit wäre Konfuzius höchstens ein chinesischer Bernard Shaw oder ein G. K. Chesterton gewor­den, statt eines chinesischen Thomas von Aquin.

Erste Abhandlung:

Ober Erziehung mittels der sechs Klassiker Tschingtschieh, Liki Kapitel 2.6

Konfuzius sprach: [I] »Wenn ich in ein Land komme, kann ich leicht seinen Kulturtypus bestimmen. Wenn nämlich die Leute sanft, gütig und einfältig sind, zeigt das, daß Dichtung gelehrt wird. Wenn die Leute großzügig und mit der Vergangenheit vertraut sind, zeigt das, daß Geschichte gelehrt wird. Wenn die Leute freigebig und wohlgelaunt sind, zeigt das, daß Musik ge­lehrt wird. Wenn die Leute still und überlegt sind und scharfe Beobachtungsgabe beweisen, zeigt das, daß die Philosophie der Wandlungen gelehrt wird. Wenn die Leute bescheiden, ehrer­bietig und genügsam sind, zeigt das die Lehre des Li (Prinzip der sozialen Ordnung). Wenn die Leute eine kultivierte Sprache haben, zeigt das die Pflege der Prosa oder der Frühling- und Herbst-Annalen [z]. Die Gefahr des Unterrichtes in der Dicht­kunst liegt darin, daß die Leute unwissend oder zu einfältig ·bleiben. Die Gefahr des Geschichtsunterrichtes liegt darin, daß die Leute mit falschen Legenden und unwahren Darstellungen der Ereignisse angefüllt werden können. Die Gefahr beim Mu­sikunterricht ist, daß die Leute ausschweifend werden. Die Ge­fahr beim Philosophieunterricht ist, daß die Leute verschlagen werden. Die Gefahr bei der Lehre des Li ist, daß der Formalis­mus stark ausgebildet wird. Und die Gefahr beim Unterricht der Frühling- und Herbst-Annalen ist, daß sich die Leute der

143

Page 146: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

bestehenden Sittenlosigkeit bewußt werden. Wenn einer gütig, sanft, einfältig, aber doch nicht unwissend ist, hat er sich sicher­lich in das Studium der Dichtkunst vertieft. Wenn einer groß­zügig und mit der Vergangenheit vertraut ist, aber doch nicht voller falscher Legenden und unwahrer Berichte ist, hat er sich sicherlich in das Studium der Geschichte vertieft. Wenn einer frei­gebig und wohlgelaunt, aber in seinen Gewohnheiten doch nicht ausschweifend ist, hat er sich sicherlich in das Studium der Mu­sik vertieft. Wenn einer still und überlegt ist und scharfe Beob­achtungsgabe zeigt, aber dennoch nicht verschlagen ist, hat er sich sidlerlich in das Studium der Philosophie vertieft. Wenn einer bescheiden, höflidl und genügsam, aber dennoch nicht von kompliziertem Formelkram erfüllt ist, hat er sidl sicherlich in das Studium des Li vertieft. Und wenn einer eine kultivierte Redeweise voller Begriffe und Analogien pflegt, sich aber den­nodl von der herrschenden Sittenlosigkeit nicht beeinflussen läßt, hat er sich sicherlich in die Frühling- und Herbst-Annalen vertieft [3].

Der Kaiser steht auf gleidler Stufe wie Himmel und Erde, und darum ist seine sittliche Funktion und Bedeutung gleich der von Himmel und Erde, daja der Kaiser und sie dem Laufe der Zehntausend I?inge zu ihrem Heile vorgesetzt sind. Der Kaiser scheint mit Sonne und Mond, er läßt sein Licht über die Vier Meere erstrahlen und nimmt auch die kleinsten Gegenstände nicht aus. Bei Hofe bespricht er die Ideale sittlichen Menschen­tums und die Grundsätze sozialer Ordnung. Zu Hause hört er die Musik Ya (klassisdle Lieder) und sung (geheiligte Hymnen). Wenn er einhersdueitet, klingeln die Jadegehänge, und wenn er im Wagen fährt, erklingen die »Phönixglocken«. Sein häus­liches Leben ist gesittet und sein Betragen würdevoll. Durch ihn erhalten die Beamten ihre Aufgaben und der gesamte Ablauf des Gesellschaftslebens seine gehörige Ordnung. Im Liederbuch heißt es: »Der tugendhafte Herrscher ist tadellos in seinem äußeren Betragen und Auftreten, und weil er in seinem äußeren Betragen und Auftreten tadellos ist, dient er dem Land zum Vor­bild.« Wenn seine Befehle_ gern befolgt werden, erreicht er im Staat, was wir »Eintracht« nennen. Wenn Herrscher und Be­herrsdlte gütig und freundlidl miteinander sind, erreicht er, was wir »Atmosphäre der Freundlichkeit« nennen. Wenn die Leute erhalten können, was sie brauchen, ohne es erst verlangen zu müssen, erreicht er, was wir »Vertrauen« nennen. Und wenn er die Ursachen des Unglücks seines Volkes beseitigt, erreicht er, was wir »menschenwürdiges Dasein« nennen. »Allgemeine Ein­tracht« und eine »Atmosphäre der Freundlichkeit« sind die Mittel, durch welche sowohl die Gewaltherrscher (Pa) als auch

144

Page 147: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

die Tugendherrscher (W ang) ihre Länder regieren. Selbst wenn sie mit den besten Vorsätzen ihr Land regieren, so werden sie ohne diese Mittel ihren Zweck nie erreichen können.

Li, das Prinzip der sozialen Ordnung, ist für ein Land, was Gewichte für die Waage und die Zimmermannsrichtschnur für die gerade Linie, und was Zirkel und Winkelmaß für Kreise und Rechtecke sind. Wenn nämlich die Gewichte genau sind, kann niemand beim Wägen betrogen werden; wenn die Richt­schnur richtig gespannt ist, kann niemand über die Gerade be­trogen werden; wenn Winkelmaß und Zirkel richtig gebraucht werden, kann niemand über Winkel und Kreis betrogen wer­den; und wenn der Herrscher mit dem Prinzip der Sozialord­nung (Li) vertraut ist, kann er nicht durch krumme, listige Machenschaften betrogen werden. Darum wird ein Volk, wel­ches das Li ehrt und befolgt, »ein Volk mit einem bestimmten Grundsatz« genannt und ein Volk, welches das Li nicht ehrt und nicht befolgt, »ein Volk ohne bestimmten Grundsatz«.

Li ist der Grundsatz gegenseitiger Achtung und Höflichkeit. Wenn es beim Kult im Tempel angewendet wird, schafft es Frömmigkeit; wenn es bei Hofe angewendet wird, Ordnung in den Amtsrängen; wenn es zu Hause angewendet wird, Eltern­und Kindesliebe und Eintracht zwischen den Geschwistern; wenn es im Dorfe angewendet wird, Beachtung des Ranges zwischen Älteren und Jüngeren. Das ist der Sinn des Ausspru­ches des Konfuzius: »Zur Aufrechterhaltung der Rangordnung und zur Regierung des Volkes gibt es nichts Besseres als das Li.«

Darum verfolgt das Zeremoniell bei Hof den Zweck, die rechten Beziehungen zwischen Herrscher und Minister festzu­legen. Das Zeremoniell bei den formellen Diplomatenbesuchen verfolgt den Zweck, die gegenseitige Hochachtung zwischen den Herrschern und-den einzelnen Staaten aufrechtzuerhalten. Die Bestattungs- und Opferzeremonien verfolgen den Zweck, die Dankbarkeit der Kinder oder Untertanen zu zeigen. Die Zere­monien beim »dörflichen Weinfest« verfolgen den Zweck, zwi­schen den Älteren und Jüngeren Ordnung und Zucht einzu:.. führen. Die Ehezeremonien endlich verfolgen den Zweck, die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern festzulegen.

Li oder Gesellschaftsordnung verhindert das sittliche und soziale Chaos, wie ein Deich eine Überschwemmung verhin­dert. So, wie Menschen, die vermeinen, einen alten Deich ab­tragen zu können, weil sie ihn für unnütz halten, sicherlich von einer überschwemmungskatastrophe heimgesucht werden, so wird ein Volk, das die alte <;;esellschaftsordnung abschafft, weil es sie für nutzlos hält, sicherlich von einer moralischen Kata­strophe heimgesucht werden. Daraus folgt, daß, wenn der Ehe-

10/154 145

Page 148: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

ritusnicht ernstgenommen oder gar mißachtet wird, die eheli­chen Beziehungen gelockert werden und Sittenlosigkeit einsetzt. Wenn das Zeremoniell des »dörflichen Weinfestes« nicht beach­tet wird, geht der Sinn für Zucht und Ordnung zwischen Alte­ren und Jüngeren verloren und Prügeleien und Raufereien rei­ßen ein. Wenn die Begräbnis- und Opferzeremonien nicht be­achtet werden, wird der Sinn für Dankbarkeit bei Kindern und Untertanen gegen die Eltern und gegen die Toten verloren­gehen, und es wird viele geben, die sich in ihrem Verhalten gegen die Toten wenden und ein zuchtloses Leben führen. Wenn das Zeremoniell der diplomatischen Besuche nicht beachtet wird, werden die Beziehungen zwischen Lehensherren und Lehens­mann bedroht, die Herrscher werden hoffärtig und ausschwei-fend, und Eroberungskriege brechen aus. ·

Darum ist das kulturelle Wirken des Li unmerklich. Es ver­hindert im vorhinein das Aufkommen ungezügelten Verhal­tens und führt die Menschen ganz allmählich, ohne daß sie es selbst merken, vom Laster fort und zur Tugend hin. Darum legten die Könige des Altertums einen so großen Wert auf das Li. Das ist der Sinn einer Stelle aus dem Buch der Wandlungen: »Der Fürst ist behutsam von Anbeginn. Ein anfänglicher Un­terschied von einem hundertstel oder tausendste! Zoll ergibt am Ende eine Abweichung von tausend Meilen.«

Zweite Abhandlung:

Eine Unterredung mit dem Fürsten Ai Aikung Wen, Liki Kapitel 27

Fürst Ai fragte den Konfuzius: >>Was ist eigentlich dieses große Li? Warum sprecht Ihr von diesem Li, als ob es etwas höchst Wichtiges wäre?«

Konfuzius erwiderte: »Euer ergebener Diener ist wahrlich nicht würdig, das Li zu verstehen.«

»Aber Ihr sprecht doch fortwährend davon«, sprach Fürst Ai. Konfuzius: >>Ich habe wirklich die Erfahrung gemacht, daß

unter allen Dingen, nach denen die Leute leben, das Li das wichtigste ist. Ohne das Li wüßten wir nicht, wie wir Geister des Weltalls richtig verehren, wie der Status des Königs und seiner Minister, des Herrschers und der Beherrschten, der Alte­ren und der Jüngeren zu definieren ist; oder wie die sittlichen Beziehungen zwischen den Geschlechtern, zwischen Eltern und Kindern und zwischen Brüdern zu bestimmen sind; oder wie man die verschiedenen Grade der Verwandtschaft: auseinander­hält. Gerade darum legt ja ein Vornehmer einen so großen

146

Page 149: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Wert auf das Li und bemüht sich, das Volk über dessen Grund­sätze zu belehren und die Formen des Gemeinschafl:slebens zu regeln. Wenn diese einmal festgelegt sind, führt er die verschie­denen Abzeichen und Amtstrachten als Symbole der obrigkeit­lichen Gewalt zur dauernden Festlegung der öffentlichen Ein­richtungen ein. Wenn alles das geordnet ist, geht er daran, die Begräbnis- und Trauerzeiten festzusetzen, die Weihegefäße und gebührenden Opfer zu bestimmen und die Ahnentempel verschönern zu lassen. Jedes Jahr werden dann zu den gehöri­gen Zeiten Opfer dargebracht, um auch bei den Stammes- und Sippenverbänden die Gesellschafl:sordnung durchzusetzen. Dann erst zieht er sich in sein Heim zurück, wo er in schlichter Zufriedenheit lebt, einfach gekleidet und anspruchslos woh­nend, ohne geschnitzte Gefährte und verzierte Gefäße, und die gleiche Kost und die gleichen Freuden mit dem Volke teilt. Solcherart lebten die Fürsten des Altertums im Einklang mit dem Li.<<

Fürst Ai: »Und warum tun die heutigen Fürsten nicht ein GleidJ.es?«

Konfuzius: »Die heutigen Fürsten sind in ihrem Streben nach materiellen Gütern habsüchtig geworden. Sie gehen ihrem Ver­gnügen nach, vernachlässigen ihre Pflichten und geben sim ein stolzes Ansehen. Sie nehmen dem Volke, was sie nur können, fallen, gegen den Willen der Völker, in das Gebiet guter Herr­scher ein und.raffen an sim, was sie begehren, ohne Rücksicht auf Recht und Gerechtigkeit. Das ist die Art der heutigen Herr­smer; im Gegensatz zur Art der Herrscher des Altertums, von denen ich gerade sprach. Die heutigen Herrscher richten sim eben nicht nach dem Li.«

Konfuzius befand sich in Gesellschaft: des· Fürsten Ai, und dieser fragte ihn: >>Was ist Eurer Meinung nach das hömste Prinzip menschlimer Gesittung?« Konfuzius wurde sehr ernst und erwiderte: »Es ist ein wahres Glück für das Volk, daß Euer Durmlaumt diese Frage gestellt haben. Im will mich bemühen, sie richtig zu beantworten. Der höchste Grundsatz menschlicher Gesittung ist die Regierung.«

Der Fürst: »Darf ich fragen, worin die Kunst des Regierens besteht?<< '

Konfuzius: >>Die Kunst des Regierens besteht ganz einfach darin, die Dinge ins rimtige Lot zu bringen, oder jedes Ding an seine richtige Stelle zu setzen [4]. Wenn der Herrscher selbst >richtig< ist, folgen ihm die Leute von selbst auf der rich­tigen Bahn. Das Volk folgt einfach dem, was der Herrscher tut, denn wenn es der Herrscher nicht täte, wie sollte da das Volk wissen, wie und wem es folgen soll?«

10'' 147

Page 150: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Der Fürst: »Sagt mir noch mehr über diese Kunst zu herr­schen.«

Konfuzius: »Mann und Frau sollen verschiedene Pflichten haben. Eltern und Kinder sollen liebevoll zueinander sein. Der König und seine Untertanen sollen strenge Zucht halten. Wenn diese drei Dinge >im Rechten< sind, folgt alles andere von selbst.«

Der Fürst: »Könnt Ihr mich, unwürdig wie ich bin, noch über die Art aufklären, wie man diese drei Dinge durchführt?«

Konfuzius: »Die Herrscher des Altertums betrachteten die Liebe zum Volk als den Hauptgrundsatz ihrer Regierung und das Li als den Hauptgrundsatz, nach dem sie das von ihnen geliebte Volk regierten. In der Pflege des Li ist das Gefühl der Ehrfurcht das Wichtigste, und als höchstes Symbol dieser Ehr­furcht steht das königliche Hochzeitszeremoniell obenan. Die­ses Zeremoniell der Hochzeit des Königs ist das höchste Symbol der Ehrfurcht, und weil es das höchste Symbol der Ehrfurcht ist, geht der König selbst, mit der Krone auf dem Haupte, der Prinzessin bis in ihr Haus entgegen, weil er seine Braut als mit sich aufs engste verbunden betrachtet. Er geht persönlich hin, weil dieses Verhältnis als höchstpersönlich angesehen wird. Da­mit pflegt der Herrscher den Sinn für Ehrfurcht und das per­sönliche Verhältnis. Eine Ehrfurchtsbezeigung unterlassen, hieße das persönliche Verhältnis verleugnen. Ohne Liebe kann es kein persönliches Verhältnis geben, und ohne Ehrfurcht kein gezie­mendes Verhältnis. Darum sind Liebe und Ehrfurcht die Grund­lage aller Regierung.«

Fürst Ai: »Dazu hätte ich etwas zu sagen. Heißt es denn nicht eine Königshochzeit ein wenig zu wichtig zu nehmen, wenn man vom König verlangt, daß er seine Krone aufsetzt und die Prinzessin von ihrem Haus abholt?«

Konfuzius wurde sehr ernst und erwiderte: »Warum sagt Ihr das? Die Hochzeit eines Königs bedeutet die Verbindung zweier Herrscherhäuser zum Zwecke der Fortpflanzung des königlichen Stammes und der Erzeugung einer Nachkommen­sdtafl:, die dereinst dem Kulte des Himmels und der Erde, der Ahnengeister und der Landes- und Getreidegötter vorstehen soll.«

Fürst Ai: »Entschuldigt, wenn ich auf dieser Frage bestehe, aber wenn idt das nicht täte, würde ich Eure Meinung darüber nicht hören können. Ich möchte Euch einiges fragen, weiß aber nicht redtt, wie idt mich ausdrücken soll?«

Konfuzius: »Seht, wenn nämlich Himmel und Erde (die das Yin und das Y ang vorstellen) nidtt zusammenkommen, gibt es auf dieser Welt kein Leben. Eine Königshochzeit hat den Zweck,

148

Page 151: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

das Herrscherhaus für tausend Generationen fortzupflanzen. Wie wäre es da überhaupt möglich, ihre Bedeutung zu hoch einzuschätzen?«

Konfuzius sagte noch: »In der Kunst der Regierung steht das Li an erster Stelle. Es ist einerseits das Mittel, das den Herrscher befähigt, zum Opfer vor den Geistern des Himmels und der Erde zu erscheinen, und anderseits das Mittel, durch welches wir die Formen des Verkehrs bei Hof und einen Sinn für Pietas oder Ehrerbietung zwischen Herrscher und Untertanen schaf­fen. Es belebt und erweckt das soziale und politische Leben aus einem Zustand schmählicher Verwirrung. Darum ist Li die Grundlage jeglicher Regierung.«

Konfuzius fuhr fort: »Die großen Könige des Altertums er­wiesen ihren Frauen und Kindern stets die gebührende Ach­tung, so wie es die Etikette verlangte. Wie kann man seiner Gattin gegenüber unehrerbietig sein (oder rücksichtslos), da sie ja der Mittelpunkt des Hauses ist? Und wie kann man seinen Kindern gegenüber unehrerbietig (oder rücksichtslos) sein, da die Kinder die Familie weiterführen? Ein vornehmer Mensch ist stets ehrfürchtig und zeigt in jeder Lage Rücksicht. Vor allem ist er sich selbst gegenüber ehrerbietig oder erweist sich selbst gegenüber eine fromme Rücksicht. Wie könnte er es denn wagen, sich selbst gegenüber unehrerbietig oder rücksichtslos zu sein, da er ja selbst ein Zweig seines Stammbaumes ist? Sich selbst gegenüber rücksichtslos sein, heißt seine Familie schädi­gen, und seine Familie schädigen, heißt die Wu~zel verletzen; und wenn die Wurzel verletzt wird, sterben die Zweige ab. Diese drei Dinge: die Beziehungen zur eigenen Gattin, zu den eigenen Kindern und zum eigenen Selbst, sind ein Symbol der menschlichen Beziehungen im Volke. Wenn einer Achtung vor dem eigenen Selbst hat, lehrt er das Volk, vor sich selbst Ach­tung zu empfinden; wenn er seinen Kindern gegenüber Rück­sicht übt, lehrt er das Volk, den Kindern gegenüber Rücksicht zu üben, und wenn er seiner Gattin gegenüber Rücksimt übt, lehrt er das Volk, den Gattinnen gegenüber Rücksicht zu üben. Wenn ein Herrscher diese drei Dinge übt, wird sein Beispiel vom ganzen Lande befolgt werden - das ist der Grundsatz des Königs Thai (Großvater des Königs Wen). Dann wird im gan­zen Lande Eintracht herrschen.«

Fürst Ai: »Darf ich fragen, was >seinem Selbst gegenüber Achtung bezeigen< eigentlich bedeutet?«

Konfuzius: »Wenn der Herrscher in seiner Rede einen Feh­ler macht, wird das Volk ihn zitieren; und wenn ein Herrscher in seinem Betragen einen Fehler macht, wird das Volk ihn nach­ahmen. Wenn aber ein Herrscher keinen Fehler in seiner Rede

Page 152: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

oder in seinem Betragen macht, wird das Volk ganz ohne Ge­setze und Verordnungen Achtung vor ihm empfinden. Sol­cherart zeigt der Herrscher Achtung vor sich selbst, und in­dem er sich selbst Achtung bezeigt, bringt er seinen Ahnen Ruhm.«

Fürst Ai: »Darf ich fragen, was das bedeutet: >seinen Ahnen Ruhm bringen<?«

Konfuzius: ,. Wenn ein Mann berühmt wird, nennen wir ihn einen >Fürsten< oder >fürstlichen Menschen< [5] und das Volk folgt ihm und ehrt ihn, indem es ihn einen >Fürstensohn< (oder einen Herrensohn) nennt. So wird sein Vater durch ihn zum >Fürsten< und sein Name erwirbt Ruhm.«

Konfuzius fuhr fort: »Die Herrscher des Altertums betrach­teten die Liebe zum Volke als das Wichtigste in ihrer Regie­ning. Ohne das Volk zu lieben, kann der Herrscher sein wah­res Selbst nicht verwirklid1en, und ohne sein Selbst zu verwirk­lichen oder in Besitz zu nehmen, kann er den Frieden in seinem Lande nicht herstellen; ohne Frieden in seinem Lande kann er das Leben nicht genießen, so wie Gottes Gesetz es will; und wenn er das Leben nicht genießen kann, wie Gottes Gesetz es will, kann er kein erfülltes Leben leben.«

Fürst Ai: »Darf ich fragen, was Ihr unter >ein erfülltes Leben< versteht?«

Konfuzius: »Ihr müßt einfach dem Naturgesetz der Dinge folgen.«

Fürst Ai: »Darf ich fragen, weshalb der vornehme Mensch einen solchen Wert auf das Gesetz Gottes legt?« [6]

Konfuzius: »Ein Herr legt einen solchen Wert auf das Ge­setz Gottes, weil es ewig ist. Ihr seht zum Beispiel, wie Sonne und Mond einander ewig in ihrem Laufe folgen - das ist Got­tes Gesetz. Das Leben hört in diesem Weltall niemals auf und dauert immer fort - das ist Gottes Gesetz. Dinge werden ohne Mühe und ohne Hemmnis geschaffen oder hervorgebracht.,.. das ist Gottes Gesetz. Wenn die Dinge geschaffen oder hervorge­bracht werden, wird das All erneuert - das ist Gottes Ge­setz.«

Fürst Ai: »Ich bin töricht und verwirrt. Wollt Ihr das noch klarer und einfacher sagen, damit ich es mir merken kann?«

Der Gesichtsausdruck des Konfuzius veränderte sich. Er er­hob sich von seinem Sitze und sprach: »Ein großer Mensch folgt ganz einfach den Naturgesetzen der Dinge. Ein guter Sohn folgt ganz einfach dem Naturgesetz der Dinge. Darum weiß ein großer Mensch, daß er Gott dient, indem er seinen Eltern dient, und daß er seinen Eltern dient, indem er Gott dient. Dann lebt ein guter Sohn ein erfülltes Leben.«

Page 153: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Fürst Ai: »Ich bin sehr beglückt, diese Worte von Euch ge­hört zu haben, und bitte um Vergebung, wenn ich von nun an nicht ganz nach ihnen leben sollte.«

K.onfuzius: »Es war mir eine Freude.«

Dritte Abhandlung:

Die Vision einer Gesellschaftsordnung Liyun, Liki Kapitel 9

Das ist eines der wichtigsten Kapitel des Liki, das wahrschein­lich von Tseyu, einem Jünger des Konfuzius, aufgezeichnet wurde. Der erste Abschnitt trifft eine wichtige Unterscheidung zwischen einer konfuzianischen Utopia, dem Tathung, in wel­chem keiner der humanistischen Unterschiede des Li mehr not­wendig wäre, und dem zweitbesten Kulturtypus, der Kultur des Li oder einer in der heutigen Welt, dem Hsiaokhang, prak­tisch durchführbaren Gesellschafl:sordnung, mit welcher alle Lehren des Konfuzius über das Li sich recht eigentlich befassen. Daß Konfuzius von einer Welt mehr oder weniger vollkom­mener Menschenwesen träumte, in welcher kein Li mehr nötig wäre, ist eigentlich ergreifend und gibt seinen Lehren über die Prinzipien einer tatsächlich durchführbaren Sozialordnung den Charakter einer praktischen Vernünftigkeit, verbunden mit einem gewissen Sichabfinden mit dem Zweitbesten. Zu wissen, daß es eine Welt sittlicher Vollkommenheit gibt, und dennoch tapfer daran zu gehen, mit den unvollkommenen Menschen, die wir hienieden nun einmal sind, eine Gesellschafl:sordnung auf­zurichten- dazu gehört Weisheit. Diese Vision einer konfuzia­nischen Idealwelt hat bei einzelnen modernen chinesischen Ge­lehrten, die sich irgendwie von westlichen Weltbegllickungs­plänen und ganz allgemein westlichen Idealen beeinflussen ließen, in jüngster Zeit an Bedeutung gewonnen. Dr. Sun Yat Sens Lieblingsmotto,' das er am häufigsten niederschrieb, wenn er von seinen Freunden um ein Autogramm gebeten wurde, bestand aus den vier Schrifl:zeichen »Thien Hsia Ta Thung«, »Die Welt der großen Einigkeit«, welche diesem Abschnitt ent­nommen sind.

Der Sinn des Li oder des Prinzips der Sozialordnung und seine Identität mit der Gesamtheit gesellschafl:licher Gepflogen­heiten wird in diesem Kapitel mit größerer Klarheit und Voll­ständigkeit entwickelt. Es geht daraus hervor, daß Li Volks­bräuche, religiöse Gepflogenheiten, Festlichkeiten, Satzungen, Trachten, Speisen und Wohnwesen mit einbegreifl:, kurz alles das, was man gemeinhin als »Brauchtum« oder »Volkskunde«

Ip

Page 154: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

bezeiclmet. Zu diesem bestehenden -Brauchtum kommt dann noch der Begriff einer aufgeklärten Gesellschaftsordnung hin­zu, und beides zusammen ergibt dann Li in seiner umfassend­sten Bedeutung.

In der nun folgenden Obersetzung habe ich einige Absätze fortgelassen, welche bloß die Einzelheiten jener alten Feudal­ordnung behandeln, welche Konfuzius wiederherzustellen be­müht war. So interessant auch diese Einzelheiten für den Er­forscher der altchinesischen Sprache und für den vergleichenden Religionswissenschaftler sein mögen, fallen sie doch nicht in den Rahlnen dieses Buches, das sich mehr mit der weiteren Bedeu­tung der konfuzianischen Lehren befaßt. Konfuzius selbst be­tonte immer wieder die Bedeutung umfassender Belesenheit und Gelehrsamkeit auf allen Lebensgebieten, vergaß aber nicht, auf die Wichtigkeit einer alle diese Einzelgebiete durchdringen­den Weltanschauung hinzuweisen. Nur wer Denken mit Wissen zu verbinden versteht, ist nach Konfuzius ein wirklich gebilde­ter Mensch. Die mit philosophischen Forschungen beschäftigten Gelehrten der frühen Han-Zeit verloren sich in solche Einzel­heiten, daß sie darüber die Prinzipien einer zentralen philoso­phischen Linie ganz vergaßen, während die Sung-Philosophen, von der buddhistischen Neigung zu Philosophie und Medita­tion beeinflußt, wiederum die philologische Gelehrsamkeit links liegen ließen und sogar die Gewohnheit entwickelten, »ein Buch zu lesen, ohne genau zu wissen, was es besagt«. Ein extremes Beispiel einer Beschäftigung mit bloß philologischen Einzel:. heiten bietet der Fall eines der späteren Kommentatoren, der eine Abhandlung von über dreißigtausend Wörtern über zwei Wörter des Schuking verfaßte. Die drei Bücher über das Li (Tschouli, Yili und Liki) enthalten natürlich reichliches Mate­rial für das Studium altchinesischer Volksbräuche, können aber hier nicht einmal oberflächlich behandelt werden. Ich habe zur Bequemlichkeit des Lesers die einzelnen Abschnitte mit Titel­überschriften versehen.

Die beiden Ordnungen der menschlichen Gesellschaft

Eines Tages ging Konfuzius zur Tsa-Zeremonie (ein Winter­volksfest zum Jahresende, an welchem das Volk allen Lebe­wesen sowie der unbelebten Natur ein allgemeines Opfer dar­brachte und natürlich auch Tänze abhielt). Nach der Zeremonie ging Konfuzius spazieren. Er blieb bei einem Straßenwärter­baus neben dem Stadttor stehen (von wo er die Vorstadt über­sah) und seufzte tief auf. Konfuzius seufzte über die gesell-

Page 155: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

schafl:lidten Verhältnisse im Staate Lu. Yen Yen (Tseyu) war bei ihm und fragte: ,. Warum seufzt Ihr?« Konfuzius erwiderte: »Am, idt dadtte eben an das Goldene Zeitalter und bedauerte, nidtt damals geboren und mit den weisen Herrsdtern der Drei Dynastien verbunden gewesen zu sein. Wie gerne hätte ich zu so einer Zeit gelebt!

Als das Große Tao herrschte (d. h.: im Goldenen Zeitalter); war die Welt ein Gemeinwesen (d. h. sie gehörte keiner beson­deren Herrscherfamilie), die Herrschenden wurden nach ihrer Weisheit und Fähigkeit auserkoren, und es herrschten gegen­seitiges Vertrauen und Frieden. Darum sahen die Leute nicht bloß die eigenen Eltern als Eltern und die eigenen Kinder als Kinder an. Die Alten konnten ihres Alters froh werden, die Jungen konnten ihre Begabung nutzen, die Jünglinge konnten zu den Klteren aufschauen und für Witwen, Waisen, Krüppel und Verwadtsene wurde gut gesorgt. Die Männer hatten ihre Berufe und die Frauen ihre Haushalte. Wenn die Leute einen überfluß an Besitz hatten, brauchten sie ihn nicht für sidt zu behalten, und wenn Leute zu viel Arbeitseifer hatten, brauch­ten sie nicht für ihren eigenen Gewinn zu arbeiten. Darum gab es keinen Betrug und keine Ränke, keine Räuber und Ein­brecher, und infolgedessen war es unnötig, (nachts} d31S Außen­tor zu schließen. Das war das Zeitalter des T athung oder der Großen Gemeinschaft [7].

Heute herrscht jedoch das Große Tao nicht mehr und die Welt ist auf einzelne Familien aufgeteilt (oder: wird zum Be­sitztum einzelner Familien}, und die Leute betrachten nur mehr die eigenen Eltern als Eltern und die- eigenen Kinder als Kin­der. Sie erwerben Güter und arbeiten jeder nur zu seinem eige­nen Vorteile. Ein Erbadel ist entstanden und die einzelnen Staaten bauen feste Städte mit Bollwerken und Stadtgräben zu ihrer Verteidigung. Die Prinzipien des Li (oder: die Formen gesellschafl:lidten Verkehrs) und die Rechtschaffenheit dienen nur mehr als Grundsätze sozialer Zucht. Denn mittels dieser Grundsätze versuchen die Leute, den amtlichen Status von Herrschern und Untertanen aufrechtzuerhalten, und Eltern und Kinder, ältere und jüngere Brüder, Gatten und Gattinnen zu lehren, wie man einträdttig lebt, gesellschafl:lidte Einrich­tungen schafft und zusammen in Dorfgruppen wohnt. Die kör­perlich Starken und geistig Klugen werden berühmt, und ein jeder trachtet, selbst möglichst hoch zu steigen. Daraus ent­stehen Betrug und Ränke und entstehen Kriege. (Die großen Dynastiegründer wie) die Kaiser Yu, Thang, Wen, Wu und Thscheng und der Fürst von Tschou waren die Besten dieses Zeitalters. Ausnahmslos waren diese Herren zutiefst um das Li

Page 156: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

besorgt, durch welches die Gerechtigkeit erhalten, das allge­meine Vertrauen erprobt und Irrtümer oder Mißbräuche aufge­de<kt wurden. Ein Ideal echten Menschentums wurde aufge­stellt und Höflichkeit und gute Manieren gepflegt, als feste Leitsätze, nach denen sich das niedere Volk richten sollte. Ein Herrscher, der diese Grundsätze verletzte, wurde damals als öffentlicher Feind bezeichnet und vertrieben. Das heißt das Zeitalter Hsiao Khang oder >Zeitalter des kleinen Friedens<.<<

Die Entwicklung des Li oder der Gesellschaftsordnung

»Ist denn das Li wirklich so wichtig?« fragte Tseyu wiederum. »Dieses Li«, erwiderte Konfuzius, »ist ·der Grundsatz, durch welchen die Könige des Altertums die Gesetze des Himmels Gestalt werden ließen und die Äußerungen der menschlichen Natur-ordneten. Darum wird der, welcher das Li erreicht hat, leben und der, welcher es verloren hat, sterben. Das Liederbuch sagt:

Wie kann ein Mäuslein ohne Thi (Leib) sein? Wie kann ein Mensch ganz ohne Li sein? Ein Mensch, ganz ohne Li-Gebot, Der wäre besser steif und tot.

Darum ist das Li auf den Himmel gegründet und der Erde an­gepaßt, befaßt sich mit der Verehrung der Geister und erstreckt sich auf Ahnenopfer, Begräbnis-Zeremonien; Bogenschießen, Wagenlenken, >Mützenaufsetzen< [8], Hochzeiten, Audienzen bei Hof und diplomatische Besuche. Darum zeigt der Weise dem Volke den Grundsatz einer vernunftgemäßen Gesell­schaftsordnung, durch welche in der Familie, im Staat und auf der Welt alles ins Rechte gebracht wird.«

»Könnt Ihr mir dieses Li nochmals ganz und vollständig er­klären?« fragte Tseyu abermals.

Konfuzius: »Ich wollte die alten Gebräuche der Hsia-Dyna­stie (2205-1784 v. Chr.) kennenlernen und fuhr deswegen nach. der Stadt Tschi (wo die Nachkommen der Hsia-Herrscher wohnten), fand aber, daß nicht genug alte Gebräuche sich er­halten hatten. Ich entdeckte dort aber eine Abschrift des Buches Hsiaschih. Dann wollte ich die alten Gebräuche der Scbang­Dynastie (oder Yin, I78J-II23 v. Chr.) sehen und ging zu die­sem Zwe<k nach der Stadt Sung (wo die Nachkommen der Schang-Herrscher lebten), fand aber gleichfalls, daß nicht ge­nug alte Bräuche erhalten waren. Dort erhielt ich jedoch eine Abschrift des Khunthschien (einer anderen Fassung des Buches

IH

Page 157: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

der Wandlungen) [9]. Mit Hilfe dieser beiden Bücher, des Hsiaschih und des Khunthschien, versuchte ich die Gebräuche des Altertums zu erforschen.

Am Anfang begann die Gesittung (Li) mit der Bereitung von Speise und Trank. Die Menschen rösteten Hirse und Schweine­fleisch, das sie mit den Händen zerrissen hatten, auf heißen Stein platten. Sie gruben Löcher in die Erde, die sie als Gefäße benützten, und tranken aus der hohlen Hand. Sie kneteten Lehm zu Trommeln und Trommelschlegeln. Und alles das schien ihnen würdig zur Verehrung der Götter. Wenn ein Verwandter starb, stiegen sie auf das Dach und riefen den Geist laut an: >Hohoo! NN., kehre in deinen Leib zurück!< (wenn der Geist dann nicht zurückkehrte, war der Betreffende wirklich tot) und dann nahmen sie rohen Reis und gebratenes Fleisch als Opfer­gaben und wandten ihre Köpfe gegen den Himmel, um >den Geist in der Ferne zu sehen< (Wang), und begruben den Leib in der Erde. Der stoffliche Geist stieg dann (in die Erde) hinab, während der bewußte Geist (in die Lufl:) emporstieg. Darum wurden die Toten mit dem Haupt gegen Norden begraben, während die Häupter der Lebenden nach Süden gewandt wa­ren. Das waren die Bräuche der Vorzeit.

In alten Zeiten hatten die Herrscher noch keine Häuser, son­dern lebten winters in gegrabenen Höhlen oder aufgeschütte­ten Hügeln und sommers in >Nestern< aus trockenen Zweigen (auf Baumwipfeln). Sie kannten den Gebrauch des Feuers nicht, sondern nährten sich von Früchten und vom Fleisch der Vögel und anderer Tiere, deren Blut sie tranken und die sie mit Haut und Haar verzehrten. Sie kannten weder Hanfge­webe noch Seide, sondern waren in Federn und Tierhäute ge­kleidet. Später kamen die Weisen, die sie den Gebrauch des Feuers lehrten, und ihnen beibrachten, wie man Metalle gießt, indem man sie in Bambusformen fließen läßt, und wie man Ton zu Tongeräten formt. Dann bauten sie Terrassen und Häu­ser mit Türen und Fenstern, und begannen zu backen und zu dünsten und zu kochen und auf dem Spieß zu braten, und be­reiteten Wein und Essig. Sie begannen auch Hanf und Seide zu verwenden und sie zu Geweben zu verarbeiten, zum Gebrauch für die Lebenden, zum Opfer für die Toten und zur Verehrung der Geister und Gottes [ro]. Diese alten Bräuche wurden seit den alten Zeiten von Gesmlecht zu Gesdtlecht überliefert. Dar­um wurde der schwarze Wein im inneren Gemam aufbewahrt, der weiße Wein neben der (Süd-) Türe, der rote Wein im Haus­flur und der smwere Wein noch weiter draußen.- Dann wurden die Fleischopfer ausgelegt, der runde Dreifuß und das vier­-eckige Opfergerät ordnungsgemäß aufgestellt, die Musikinstru-

I55

Page 158: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

mente, das Thschin, das Seh, die Flöte, das Thsching (ein an einer Schnur aufgehängter, wie eine Glocke klingender Stein), die Glocken und Trommeln an ihren gebührenden Ort gestellt, und das Opfergebet an die Toten sowie die Antwort der To­ten [I I] sorgfältig vorbereitet und verlesen, damit die himm­lischen Geister und die Ahnengeister zur Opferstelle hernieder­steigen mögen. Alle diese Gebräuche hatten den Zweck, den angestammten Status der Herrscher und Untertanen aufrecht­zuerhalten, die Liebe zwischen Eltern und Kindern zu bewah­ren, Zuneigung zwischen Brüdern zu lehren, die Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen zu regeln und das rimtige Verhältnis zwischen Gatten herzustellen, auf daß alle des himmlischen Segens teilhaftig würden. Sie bereiteten dann die Opferklagen vor. Der smwarze oder dunkle Wein wurde beim Opfer verwendet und das Blut und das Haar der Opfer­tiere als Gabe dargebracht und das rohe Fleisch in ein vierecki­ges Gefäß gelegt. Verbranntes Fleisch wurde gleichfalls geop­fert, eine Matte wurde ausgebreitet und ein Stück grobes Ge­webe verwendet, um die Gefäße zu bedecken. Seidene Opfer­gewänder wurden benützt. Es wurden auch verschiedene Weine, Li und Tschien, sowie gebratenes und geröstetes Fleisch darge­bracht. Der Herrscher und die Königin bramten abwechselnd die Opfer dar, damit die guten Geister herniedersteigen und sie mit der Totenwelt verbunden würden. Nach der Opfer­handlung gaben sie den Gästen ein Festmahl, bei dem sie die geopferten Schweine, Hunde, Rinder und Schafe verteilten, und in verschiedene Gefäße legten. Das Gebet an die Verstorbenen drückte die Dankbarkeit und Treue der Lebenden aus, und die Antwort der Toten brachte die andauernde Zuneigung der Ab­geschiedenen zum Ausdruck. Das war der große Segen und die Funktion des Li.«

Konfuzius: »Ach, ich habe die Gebräuche der Tschou-Dyna­stie (unter der Konfuzius lebte) studiert, aber (die bösen Kai­ser) Yu und Li haben sie gänzlich vernichtet. Wohin kann ich mich wenden, außer in meine Heimat Lu?« (Hier folgt eine kurze Schilderung des zu seiner Zeit vorherrschenden gesell­schaftlichen und religiösen Chaos.)

»Darum ist das Li die große Waffe oder das großeMachtmit­tel eines Herrschers, mit welchem er Mißbräuche oder begin­nende Unordnung aufzudecken, den Geistern Opfer darzubrin­gen, ·das Gesellschafl:sleben aufzurichten, die Übung der Liebe und die Erfüllung der Pflichten unterschiedlich aufzubauen ver­mag. Es ist das Mittel, durm welches ein Land regiert wird und durch welches der Herrscher seine Stellung sichert. Wenn daher die Regierung nicht >im Rechten< ist, ist die Stellung des Herr-

156

Page 159: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

smers bedroht, und wenn die Stellung des Herrschers bedroht ist, werden die mächtigen Beamten hochfahrend und die kleinen Beamten fangen zu stehlen an. Wir erleben dann, wie Verbrecher mit Strenge bestraft werden, wie die all­gemeine Moral des Volkes ersmlafft und sim ein allgemeiner Mangel an Maßstäben bemerkbar mamt. Sobald ein allgemei­ner Mangel an Maßstäben herrscht, ~türzt die Gesellsmaftsord­nung in sim zusammen; und wenn die Gesellschaftsordnung gestürzt ist, kann die Bürgerschaft nicht mehr ihren Berufen nachgehen. Und wenn die Verbrecher streng bestraft werden, und die allgemeine Moral des Volkes erschlafft, dann werden die Leute ihrem Herrscher nicht mehr treu sein und werden sich in andere Länder begeben. Das heißt dann: >ein angekränkelter Staat<.« (Es folgt eine Beschreibung der Aufgaben eines Herr­schers.)

Das auf der Natur des Menschen gegründete Li

Der Grund, weshalb der Weise imstande ist, die Welt als eine Familie und China als einen Menschen anzusehen (was von der menschlichen Natur eines Menschen gilt, gilt von allen ande­ren), liegt darin, daß er keine willkürlichen Regeln aufstellt, sondern versucht, die menschliche Natur zu erfassen [12], die menschlichen Pflichten zu definieren und zu einem klaren Be­greifen dessen zu gelangen, was gut und was schlecht für die Menschheit ist. Nur aus diesem Grunde ist er dazu imstande. Was ist nun die menschliche Natur? Sie besteht aus den Sieben Gemütszuständen: Freude, Trauer, Zorn, Angst, Liebe, Haß und Begierde, die alle nimt erst gelernt zu werden brauchen (da sie Naturinstinkte sind). Und was sind die Pflichten des Menschen? Güte beim Vater, kindliche Liebe und Ehrfurcht beim Sohn, Freundlichkeit beim älteren, Demut und Ehrfurcht beim jüngeren Bruder, Höflichkeit beim Gatten, Folgsamkeit bei der Gattin, Wohlwollen bei iX.lteren und Gehorsam bei Jün­geren, Leutseligkeit beim Herrscher und Treue bei den Mini­stern- diese Zehn sind die Pflichten des Menschen. Was für die Menschheit gut ist, hat allgemeines Vertrauen und allgemeinen Frieden zur Folge, was für die Menschheit schlecht ist, führt zur Gewinnsucht, zu Raub und Mord.

Wie kann da der Weise oder ideale Herrscher des Li entbeh­ren, wenn er die Sieben Gemütsbewegungen und die Zehn Pflichten pflegen, das gegenseitige Vertrauen, den Frieden und die Höflichkeit fördern, und die Gewinnsucht und die Räube­reien hintaohalten will? Speis und Trank und Geschlechtslust sind die gewaltigen Triebe des Menschen, und Tod, Armut und

157

Page 160: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Leiden sind seine großen Befürchtungen oder Abneigungen. Darum sind Begierde und Furcht (oder Habgier und Haß) die großen Beweger des Menschenherzens. Sie sind jedoch tief im Herzen verborgen und treten gewöhnlich nicht zutage, denn das Menschenherz ist unergründlich. Was anders als das Li könnte daher als die eine, allgenügende Grundlage zur Erfor­schung der Menschenherzen dienen?

Darum ist der Mensch das Erzeugnis der Kräfte des Himmels und der Erde, der Vereinigung des Yin und des Y ang, die Ver­körperung der Geister und die Essenz der fünf Grundstoffe (Metall, Holz, Wasser, Feuer und Erde). Darum ist der Mensch das Herz des Weltalls, der Sproß der Fünf Elemente, geboren, um sich an Speise, Farbe und Lärm zu erfreuen.

Li beruht auf dem Himmel (oder der Natur)

Der Kult des Himmels hat den Zweck, die Oberherrschaft des Himmels anzuerkennen. Der Kult des Erdgottes hat den Zweck, die Wirkungskraft der Erde zur Schau zu stellen. Der Kult im Ahnentempel hat den Zweck, die Ahnenschaft des Menschen anzuerkennen. Der Kult der Berge und Flüs~e hat den Zweck, den unterschiedlichen Geistern zu dienen. Die Fünf Opfer [I 3] haben den Zweck, des Ursprungs der menschlichen Tätigkeiten zu gedenken. Darum gibt es an den Tempeln Priester, am Hofe die drei obersten Minister und an der Hochschule die drei Älte­sten. Der Wahrsager steht vor dem König und der beamtete Geschichtsschreiber hinter ihm, während der mit der Weissa­gung betraute Priester, der blinde Musikmeister und seine Ge­hilfen zur Rechten und zur Linken des Königs stehen. Der Kö­nig selbst thront in der Mitte, Gelassenheit im Herzen, der Wahrer (oder: das Symbol) der letztliehen Richtigkeit der Dinge. ·

Darum erfüllen, wenn beim Kulte des Himmels das Li ein­gehalten wird, die unterschiedlichen Götter ihre Obliegenhei­ten. Wenn das Li beim Kult der Erde eingehalten wird, wach­sen und mehren sich die Dinge. Wenn das Li im Ahnentempel eingehalten wird, herrschen kindliche Ehrfurcht und Liebe. Wenn das Li bei den Fünf Opfern eingehalten wird, werden Maßstäbe festgesetzt. Darum dienen der Kult des Himmels, der Erde, der Ahnen, der Berge und Flüsse sowie die Fünf Op­fer zur Aufrechterhaltung der menschlichen Pflichten und bil­den die Verkörperung des Li.

Darum hat dieses Li seinen Ursprung im Thaiyi (das Ur­Eine) [ I 4], welches in Himmel und Erde gespalten, in Yin ünd Yang umgewandelt wurde, das in den Jahreszeiten wirkt und

158

Page 161: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

als Geister Gestalt annimmt. Per Wille der Götter drückt sich als Schicksal aus und wird vom Himmel gelenkt.

So muß das Li auf den Himmel gegründet sein, zeigt seine Wirksamkeit auf der Erde, und findet auf die verschiedenen menschlichen Tätigkeiten Anwendung, je nach den Jahreszei­ten, im Einklang mit den verschiedenen Berufen. Beim Menschen tritt es als das Prinzip des Lebendigseins in Erscheinung und zeigt sich in Handel und Gewerbe, Arbeit, gesellschaftlichem Verkehr, Essen, Trinken, den Zeremonien des »Mützenaufset­zens«, der Heirat, des Begräbnisses und des Totenopfers, dem Wagenlenken, Bogenschießen und den Audienzen bei Hof.

Darum sind die Pflichten des Li die Hauptprinzipien des menschlichen Lebens, und dienen dem Zweck, gegenseitiges Vertrauen und Eintracht zu fördern und die gesellschaftlichen Verbindungen und Freundschaftsbande zu stärken. Sie sind die Hauptprinzipien zur Verehrung der Geister, zur Ernährung der Lebenden und zur Opferung an die Toten [15]. Das Li ist die große Bahn, auf welcher wir den Gesetzen des Himmels folgen und den Äußerungen des Menschenherzens den rechten Weg weisen. Darum weiß nur der Weise, daß das Li unentbehr­lich ist. Daher muß, wer ein Reich zerstören, eine Familie stür­zen oder einen Menschen verderben will, ihnen zuerst den Sinn für das Li nehmen.

Die Pflege des Li

Darum ist das Li für den Menschen, was die Hefe' für den Wein ist. Der höhere Mensch hat davon etwas mehr und der niedere Mensch etwas weniger. Darum empfindet der Weise oder der begnadete Herrscher die richtige Einstellung gegenüber den Pflichten und der Li-Ordnung als ein Mittel, die menschliche Natur zu beherrschen und zu lenken. Darum ist die mensch­liche Natur das Feld, welches von· Weisen oder begnadeten Herrschern bebaut wird. Erbepflügt es mit Li, besät es mit dem Samen der Pflichten, jätet es durch Erziehung und Bildung, ern­tet es mit echtem Menschentum und erfreut sich daran mit Musik. Darum ist Li bloß die Kristallisation dessen, was recht ist. Solange etwas nur dem Maßstab dessen, was recht ist, ge­nügt, können auch neue Bräuche eingeführt werden, selbst wenn sie den Herrschern der Vergangenheit unbekannt waren. Der Maßstab des Rechten [16] äußert sich darin, daß jeder Stand seiner rechten Bahn folgt und echtes Menschentum sei­nen Ausdruck. findet. Die, welche dem Rechten gefolgt sind, die. richtige Bahn eingeschlagen und echtes Menschentum gepflegt haben, werden mächtige Beamte werden. Echtes Menschentum

159

Page 162: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

ist die Grundlage rechten Verhaltens und die verkörperte Ober­einstimmung mit den Maßstäben des Rechten. Die, welche ech­tes Menschentum erlangt haben, werden zu Herrschern der Menschen.

Daraus folgt also, daß das Unterfangen, ein Land ohne Li zu regieren, dem Versuch ähnelt, ein Feld ohne Pflug zu beackern. Das Li beobachten, ohne ihm den Maßstab des Rechten zu­grunde zu legen, ist wie das Pflügen eines Feldes, bei dem man die Saat vergißt. Der Versuch, recht zu handeln, ohne die Er­kenntnis zu pflegen, ist so, wie das Säen der Saat, ohne vorher das Unkraut zu jäten. Erkenntnis zu pflegen, ohne sie auf das Ziel des echten Menschentums auszurichten, ist wie das Jäten eines Feldes, von dem man nicht ernten will. Und das Ziel ech­ten Menschentums zu erreichen ohne sich dann durch Musik daran zu erfreuen, ist wie eine Ernte, die man liegen läßt und nicht zur Nahrung verwendet. Sich durch Musik am echten Menschentum erfreuen und doch nicht zu vollem Einklang mit der Natur gelangen ist wie Nahrung, die nicht anschlägt und nicht die Gesundheit fördert.

Wenn die vier Glieder wohlentwickelt, die Haut klar und das Fleisch kernig ist, dann ist der Mensch gesund. Wenn Eltern und Kinder zueinander liebreich, Brüder zueinander gut sind und Gatten in Eintracht leben, ist die Familie gesund. Wenn die höheren Beamten das Gesetz einhalten und die niederen Beam­ten sauber sind, alle Beamten geregelte, wohlabgegrenzte Auf­gabenhereiche haben und Könige und Minister einander auf der rechten Bahn helfen, dann ist der Staat gesund. Wenn der Kai­ser auf dem Wagen der Tugend fährt, mit Musik als Wagen­lenker, wenn die Herrscher einander mit Höflichkeit begegnen, die Beamten einander mit dem Gesetz lenken, die Gelehrten miteinander um den Preis der Ehrlichkeit wetteifern und das Volk sich in Frieden zusammenfindet, dann ist die Welt gesund. Das heißt der Große Einklang (Taschun).

x6o

Page 163: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

VII

ÜBER ERZIEHUNG

Hsuehtschi, Liki Kapitel 1 8

1. Das Bedürfnis nach Erziehung

Der Wunsch, das Rechte zu tun und das Gute zu suchen, würde einem Mensdten zwar ein gewisses Ansehen verleihen, würde ihn jedodt nicht in den Stand setzen, die Massen zu beeinflus­sen. Der Verkehr mit weisen und fähigen Männern und die Bewillkommnung derer, die aus fernen Ländern kommen, würde einem . zwar ermöglidten, die Massen zu beeinflussen, würde ihn aber nicht in den Stand setzen, das Volk gesittet zu machen. Das einzige Mittel, das der höhere Mensch anwenden kann, um das Volk gesittet zu machen und gute gesellschaft­liche Gepflogenheiten einzuführen, ist die Erziehung. Ein Stück Jade kann nur durch den Meißel zu einem Kunstwerk werden, und ein Mensch kann nur durch Erziehung das Sittengesetz kennenlernen. Darum hielten die Könige des Altertums die Er­ziehung für überaus widttig, wenn sie bestrebt waren, einen geordneten Staat aufzubauen. Das ist der Sinn der Stelle im Ratschlag an' Fu Yueh (von König Kaotsung aus der Hsia­Dynastie, heute ein Kapitel des Schuking), weldte lautet: »Be­schäftige dich in Gedanken stets mit Erziehung.« Genauso, wie man den Gesdtmack einer wenn auch noch so sdtmackhaften Speise nidtt erkennen kann, ohne sie zu genießen, so vermag man auch die Vorzüglichkeit eines großen Wissenssdtatzes ohne Erziehung selbst dann nicht zu erkennen, wenn man ihn be­sitzt.

Darum gelangt man nur durch Erziehung dazu, vom eigenen Wissen unbefriedigt zu sein, und nur dadurch, daß man andere unterridttet, gelangt man zur Erkenntnis, wie ungenügend die eigene Erkenntnis ist. Durch das Ungenügen an der eigenen Er­kenntnis begreift man, daß das übel bei einem selber liegt, und durch das Begreifen der Unzulänglichkeit des eigenen Wissens fühlt man sich gedrängt, sich selbst weiterzubilden. Darum heißt es audt: »Lehren und Lernen fördern einander.« Das ist auch der Sinn der Stelle im Ratschlag an Fu Yueh: »Lehren ist das halbe Lernen.«

11/154 161

Page 164: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

2. Das Erziehungssystem der Alten

Das Erziehungssystem der Alten war das folgende: Es gab in jedem Dorf mit 25 J;1amilien eine Volksschule, in jeder Stadt mit s.oo Familien eine Oberschule, eine Hochschule in jedem Gau mit 2500 Familien und eine Universität in jeder Landes­hauptstadt (für die Erziehung der Prinzen, der Söhne des Adels und der besten Schüler der unteren Schulen). Alljährlich wurden neue Studenten aufgenommen und jedes zweite Jahr wurden Prüfungen abgehalten [1]. Am Ende des ersten Jah­res trachtete man zu erkennen, wie die Schüler ihre Sätze be­tonten, und versuchte ihre natürlichen Begabungen festzustellen. Nach drei Jahren trachtete man ihre Arbeitsgepflogenheiten und ihr Gemeinschaftsleben zu erkunden. Nach fünf Jahren ver­suchte man festzustellen, wie belesen die Schüler waren und wie aufmerksam sie ihren Lehrern gefolgt waren. Nach sieben Jah­ren suchte man festzustellen, wie sich ihr Denken entwickelt hatte und was für Freunde sie gewonnen hatten. Das heißt »die kleine Stufe« (Hsiaothscheng). Nach neun Jahren erwartete man von ihnen die Kenntnis der verschiedenen Lehrgegenstände, eine . allgemeine Lebenserfahrung sowie eine feste Charakter­grundlage, der sie sich nicht mehr entziehen konnten. Das hieß »die große Stufe<< (Tathscheng) [2].

Nur durch ein solches Erziehungssystem ist es möglich, das Volk zu bilden und die Moral des Landes zu reformieren, so daß die Landesbewohner glücklich sind und die Leute aus fer­nen Ländern gerne kommen. Das ist das Prinzip der höheren Bildung, Tahsueh. Das ist der Sinn der Stelle aus der Chronik des Altertums, welche lautet: »Die Ameisen sind immer fleißig.« (Wichtigkeit ständigen Studierens.)

In der Hochschule lernen die Studenten den passenden Ge­brauch der zeremoniellen Gewänder und die Darbringung der Pflanzenopfer bei Opfergaben, um sich Ehrfurcht und Fröm­migkeit zu eigen zu machen. Sie werden angeleitet, die ersten drei Lieder des H siao-Y a [ 3] zu singen und sich mit den Grundelementen des Beamtenlebens vertraut zu machen.

Beim Eintritt in die Hochschule wird eine Trommel gerührt, bevor die Studenten ihre Bücher auspacken, um die Studien­disziplin zu lehren. Der Stock oder Eschenstab wird verwen­det, um ihr äußeres Benehmen zu korrigieren. Es wird kein In­spektor an die Hochschule geschickt, außer bei Gelegenheit des Großen Opfers für die kaiserlichen Ahnen [ 4], damit die Stu­denten sich allein weiterentwickeln können. Der Lehrer beob­achtet sie, hält ihnen aber nicht fortwährend Vorträge, so daß den Studenten genügend Zeit verbleibt, die Dinge selbst zu

162

Page 165: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

durmdenken. Von den jungen Studenten wird erwartet, daß sie zuhören und keine Fragen stellen, damit sie Bescheidenheit lernen. Diese sieben Grundsätze bilden die Hauptlehrmetho­den. Das ist der Sinn der Stelle in der Chronik des Alter­tums, welche lautet: >>An der Homsmule studieren die, welche bereits ein Amt innehaben, die für ihr Arbeitsgebiet einsmlägi­gen Fächer, während die, welche nom kein Amt haben, das studieren, was sie namher betreiben wollen.«

3. Nebenstudien

Im Erziehungssystem der Romschule sind regelmäßige Kurse in den Hörsälen und häuslime Nebenstudien vorgesehen. Ohne Fingerübungen kann man kein Saiteninstrument lernen. Ohne vielseitige Beobachtung der Dinge [ 5] kann man die Dimt­kunst nicht leicht lernen. Ohne Vertrautheit mit den zeremo­niellen Gewändern kann man die Riten nimt beherrschen. Ohne das Erlernen verschiedener Fertigkeiten (wie Bogen­schießen, Wagenlenken usw.) kann man am akademischen Stu­dium keine Freude haben. Darum ist in der Erziehung des höhe­ren Mensmen (oder der gebildeten Oberschicht) genügend Zeit vorhanden, um das Gelernte zu· verdauen, Interessen zu pfle­gen, sowie zum Ruhen und Spielen. Auf diese Weise lernen die Studenten, sim auf der Smule zu Hause zu fühlen, ein persön­liches Verhältnis zu ihren Lehrern zu begründen, sim an Freund­schaften zu erfreuen und ihre Oberzeugungen zu festigen. Dann vermögen sie ihre Lehrer zu verlassen, ohne darum auch das Studium aufzugeben. Das ist der Sinn der Stelle im Ratschlag an Fu Yueh, welche lautet: »Bleibe beständig und ehrfürmtig beim Studium, dann wirst du Erfolg haben.«

Die heutigen Lehrer leiern ihre Vorträge bloß immer wieder herunter, langweilen die Smüler mit beständigen Fragen und wiederholen immer dasselbe. Sie bemühen sich gar nimt, her­auszufinden, worin die natürlimen Neigungen ihrer Sd1üler bestehen, so daß diese genötigt sind, zu tun, als ob sie gern stu­dierten; sie versuchen aum gar nimt, die besten Anlagen der Studenten zu entwickeln. Was sie den Studenten geben, ist be­reits falsch, und was sie von ihnen erwarten, ist ebenso falsch. Infolgedessen verstecken die Smüler die Lieblingslektüre, has­sen ihre Lehrer, sind über die Schwierigkeiten des Studiums verärgert und wissen gar nicht, was sie davon haben. Obwohl

· sie die normale Studienlaufbahn durmmamen, geben sie das Studieren bald auf, sobald sie die Kurse hinter sich haben. Das ist der Grund des Mißerfolges der heutigen Erziehung.

11*

Page 166: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

~· Der ideale Lehrer

Die Prinzipien der Hochsdl.Ulerziehung sind die folgenden: Erstens: Verhütung, d. h. schlechte Gewohnheiten verhüten, ehe sie entstehen. Zweitens: Rechtzeitigkeit, d. h. die Studenten an die Lehrfächer heranführen, wenn sie dafür aufnahmebereit sind. Drittens: Ordnung, d. h. die Gegenstände in der entspre­chenden. Reihenfolge vortragen. Viertens: Gegenseitige Auf­munterung (oder: Reibung), d. h. die Studenten dazu anhal­ten, die Vorzüglichkeit anderer Studenten zu bewundern. Diese vier Dinge sichern den Erfolg der Erziehung.

Dahingegen würde der Versuch, ihnen bereits erworbene schlechte Eigenschaften zu verbieten, ganz wider den Strich gehen und alle Besserungsversuche wären erfolglos. Sie zu un­terrichten, wenn ihre Jugendjahre vorbei sind, würde das Ler­nen schwierig und vergeblich machen. Die verschiedenen Fächer nicht in der gehörigen Reihenfolge lehren, würde zu einem Chaos in ihren Studien führen und keinerlei Erfolge zeitigen. Ein Fach ganz allein, ohne Studienkollegen, erlernen zu wollen, würde demStudenteneinen zu engen Ausblick geben und seinAllgemein­wissen einschränken. Schlechte Gesellschaftwürde die Studenten ermuntern, sich gegen ihre Lehrer aufzulehnen, und übler Zeit­vertreib würde zur Vernachlässigung ihrer Studien führen. An diesen sechs Dingen kann eine Hochschulerziehung scheitern.

Wenn der höhere Mensch um die Gründe des erzieherischen Erfolges und um die Ursachen des Mißerfolges Bescheid weiß, ist er dazu befähigt, selbst Lehrer zu sein.

Darum leitet der höhere Mensch seine Schi.iler an, schleift sie aber nicht hinter sich her; er spornt sie an, aber unterdrückt sie nicht; er zeigt ihnen den Weg, aber nimmt sie nicht mit. Anlei­ten, ohne zu schleppen, macht das Lernen sanft; anspornen, ohne zu unterdrücken, macht das Lernen leicht; den Weg zeigen, ohne die Lernenden an den Bestimmungsort mitzunehmen, veran­laßt sie zum eigenen Denken. Wenn einer also das Lernen.sanft und leicht macht und die Lernenden zum eigenen Denken ver­anlaßt, kann man ihn einen guten Lehrer nennen.

Es gibt vier weitverbreitete Irrtümer über Erziehung, vor denen sich der Lehrer hüten muß. Manche Studenten wollen zu viel oder zu vielerlei lernen, andere zu wenig oder zu wenig Fächer, manche lernen zu leicht und manche lassen sich zu schnell entmutigen. Diese vier Tatsachen zeigen, daß die ein­zelnen Personen geistig verschieden veranlagt sind, und nur durch die Erkenntnis dieser verschiedenen Begabungen kann der Lehrer ihre Fehler verbessern. Ein Lehrer ist ja bloß ein Mensch, der versucht, das Gute in seinen Schülern zur Entfal-

I64

Page 167: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

tung zu bringen und ihren Schw~chen abzuhelfen. Ein gut~r Sänger macht, daß die anderen semer Tonart folgen, und em guter Erzieher macht, daß die anderen seinem Ideal folgen. Seine Worte sind knapp, aber ausdrucksvoll, beiläufig gespro­chen, aber voll verborgener Bedeutung; und er vermag geist­volle Beispiele anzuführen, um sich verständlich zu machen. Dadurch qualifiziert er sich als Mensch, der andere Menschen veranlassen kann, seinen Idealen zu folgen.

Der höhere Mensch weiß, was schwierig und was leicht ist und was im Lehrstoff gut und was bedauerlich ist; und dann ist er auch geschickt im Anführen von Beispielen. Da er geschiclt,t im Anführen von Beispielen ist, ist er zum Unterrichten her­vorragend geeignet. Da er zum Unterrichten geeignet ist, weiß er, wie man ein Klterer ist. Da er weiß, wie man ein Klterer ist, weiß er, wie man ein Herrscher über Menschen ist. Darum ist die Kunst, ein Lehrer zu sein, auch die Kunst, ein Herrscher über Menschen zu sein. Darum kann man in der Auswahl seiner Lehrer nicht vorsichtig genug sein. Das ist der Sinn der Stelle in der Geschichte des Altertums, welche lautet: »Die Drei Kö­nige und die Vier Dynastien (Yu, Hsia, Schang und Tschou) legten größten Wert auf die Auswahl der Lehrer.«

In dieser Erziehungsangelegenheit ist es .das Schwierigste, dem Lehrer Respekt zu verschaffen. Wenn der Lehrer geachtet wird, wird das Volk auch das achten, was er lehrt, und wenn das Volk achtet, was er lehrt, achtet es Gelehrsamkeit uncl Wissen. Darum gibt es nur zwei Personen, die der König nicht als seine Untertanen zu betrachten wagt: seinen Lehrer uni den S chih (das_ Kind, welches bei einer Opferhandlung den Geist des Verstorbenen verkörpert). Nach den Gepflogenheiten der Hochschule braucht der Lehrer, sogar wenn er ein könig­liches Edikt entgegennimmt, nicht mit dem Gesicht nach Nor­den zu stehen; dadurch allein drückt sich die große Achtun~ vor dem Lehrer aus. ·

5. Der Vorgang beim Lernen

Mit einem guten Schüler kann der Lehrer ohne Mühe ein dop­peltes Pensum bewältigen und erwirbt sich außerdem die Ach­tung des Schülers. Mit einem schlechten Schüler kann der Lehrer unter vielen Mühen nur die Hälfte des normalen Pensums be­wältigen, und außerdem erwirbt er sich den Haß des Schülers. Ein guter Fragesteller geht wie einer vor, der Holz hackt: er beginnt beim leichteren Ende und geht die Knoten im Holze zuletzt an; nach einiger Zeit erfassen dann Lehrer und Schüler den Gegenstand mit einem Gefühl der Lust. Ein schlechter

165

Page 168: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Fragesteller tut genau das Gegenteil. Einer, der zu antworten versteht, gleicht eiriem Glockenspiele. Wenn die große Glocke angeschlagen wird, erklingt die große Glocke und, wenn die kleine angeschlagen wird, die kleine. Es ist aber wichtig, ihr Zeit zum Ausklingen zu lassen. Einer, der Fragen nicht zu be­antworten versteht, tut das gerade Gegenteil. Das sind alles Anregungen zur Methode des Lehrens und Lernens.

Der Gelehrtentypus, der dazu neigt, sich beim Beantworten der Fragen auf das Gedächtnis zu verlassen, eignet sich nicht zum Lehrer. Ein guter Lehrer sollte auf die Gespräche seines SdJ.ü­lers achtgeben. Wenn er ·sieht, daß sein Schüler sich redlidJ. be­müht, aber nicht weiterkommt, soll er ihm alles erklären, und wenn der Schüler trotz der Erklärung noch immer nicht ver­steht, kann er die Sache getrost aufgeben.

Der Sohn· des BlechsdJ.mieds lernt von selbst einen Pelz­mantel auszubessern, und der Sohn eines guten Bogners lernt von selbst, wie man einen Tschi (ein flacher Behälter aus ge­flochtenen Bambusfasern zur Aufnahme von Getreide) anfer­tigt, und ein Mann, der ein Pferd zähmen will, bindet es zu-nächst hinter den Wagen an. .

Ein vornehmer Herr mag aus diesen drei Beispielen die rechte Erziehungsmethode lernen. Die Gelehrten des Altertums lernten die Wahrheit aus Analogien.

Die Trommel gehört nicht zu den fünf melodisdJ.en Instru­menten, und dennoch können die fünf melodischen Instrumente ohne die Trommel nicht harmonisch zusammenklingen. Wasser hat keine der fünf Farben, und doch würde ohne das Wasser (beim Malen) den fünf Farben der Glanz fehlen. Das Lernen gehört zu keinem der fünf Sinne, und doch können die fünf Sinne ohne das Lernen nicht richtig ausgebildet werden. Der Lehrer gehört nicht zu den fünf Graden der Sippenverwandt­schaft, und doch würden die fünf Grade der Sippenverwandt­schaft einander ohne den Lehrer nicht lieben.

Der Vornehme sagt: ,.Eine große Persönlichkeit paßt nicht (unbedingt) zu einem bestimmten Amt. Ein großer Charakter befähigt nicht (unbedingt) zu einer bestimmten Dienststellung. Große Redlichkeit veranlaßt einen Menschen nicht (unbedingt), sein Wort zu halten. Ein ausgeprägter Zeitsinn macht einen nicht (unbedingt) pünktlich.« Diese vier Wahrheiten erkennen, heißt die wirklich grundlegenden Lebenswahrheiten erkennen.

Bei der Darbringung von Opfern an die Flußgötter spradJ.en die Könige des Altertums immer die Gebete an die Flußgötter vor den Gebeten an die Meeresgötter. So wurde zwischen Quelle und Mündung unterschieden, und das Wissen um diese Unterscheidung ist das Wissen um das Wesentliche.

166

Page 169: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

VIII

ÜBER MUSIK

Y otschi, Liki Kapitel I 9

I. Ursprung und Funktion der Musik

Musik entsteht aus dem Menschenherzen, wenn das Menschen­herz mit der Außenwelt in Berührung kommt. Durch die Be­rührung mit der Außenwelt wird das Herz bewegt und findet seinen Ausdruck in Tönen. Diese Töne klingen wider oder verbinden sich miteinander und bringen eine reiche Vielfalt hervor; und wenn die vielfältigen Töne in regelmäßiger Reihe auftreten, entsteht der Rhythmus. Die Zusammenstellung von Tönen zu unserer Freude in Verbindung mit dem Kriegstanz mit Schilden und Beilen und dem Weihetanz mit Federn und Bannern aus Yak-Schwänzen nennen wir Musik.

Musik ist die Form, in der Töne hervorgebracht werden, denn sie entsteht aus dem Menschenherzen, wenn das Herz von der Außenwelt berührt wird. Wenn darum die Herzenssaite der Trauer angeschlagen wird, sind die erklingenden Töne dü­ster und traurig; wenn die Saite der Zufriedenheit angeschlagen wird, sind die Töne schlaff und langsam; wenn die Saite der Freude angeschlagen wird, sind die Töne strahlend und über­schwenglich; wenn die Saite des Zornes angeschlagen wird, sind die Töne rauh und stark; wenn die Saite der Frömmig­keit angeschlagen wird, sind die Töne schlicht und rein, und wenn die Saite der Liebe angeschlagen wird, sind die Töne süß und sanft. Diese sechs Gemütsbewegungen kommen nicht von selbst, sondern entstehen aus der Berührung mit der Außenwelt.

Darum waren die Könige des Altertums stets sehr achtsam in allem, was das menschliche Herz betraf. Sie trachteten daher die Ideale und Bestrebungen des Volkes durch das Li zu lenken, den Einklang der Töne durch Musik herzustellen, das Betragen durch Regierungskunst zu regeln und Sittenlosigkeit durch Strafen zu verhüten. Li, Musik, Strafen und Regierung haben das gleiche Ziel, nämlich die Einheitlichkeit in die Herzen des Volkes zu pflanzen und die Grundsätze der politischen Ord­nung zu verwirklichen.

Die Musik steigt aus dem Menschenherzen empor. Wenn die Gefühle erregt werden, drücken sie sich in Tönen aus, und wenn die Töne bestimmte Formen annehmen, ergibt das Musik. Dar-

I67

Page 170: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

um ist die Musik eines friedlichen, blühenden Landes ruhig und freudig und sein Staatsleben geordnet; die Musik eines im Auf­ruhr befindlichen Landes zeigt Unzufriedenheit und Zorn, und sein Staatsleben ist chaotisch; und die Musik eines zerstörten Landes zeigt Trauer und Sehnsucht nach den alten Zeiten und das Volk ist betrübt. Paraus ersehen wir, daß Musik und Re­gierung unmittelbar zusammenhängen.

Die C-Tonart ist das Symbol des Königs; die D-Tonart ist das Symbol des Ministers; die E-Tonart ist das Symbol des Volkes; die G-Tonart ist das Symbol der Landesangelegen­heiten; und die A-Tonart ist das Symbol der Naturwelt [1]. Wenn die Fünf Tonarten geordnet sind, gibt es keine Disso­nanzen. Wenn die C-Tonart ihre Tonalität verliert, verliert die Musik ihre Grundlage, und der König verabsäumt seine Pflichten. Wenn die D-Tonart ihre Tonalität verliert, verliert die Musik ihre Abstufung, und die Minister werden unbot­mäßig. Wenn die E-Tonart ihre Tonalität verliert, wird die Musik traurig, und die Leute fühlen sich unglücklich. Wenn die G-Tonart ihre Tonalität verliert, wird die Musik betrübt, und die Landesangelegenheiten geraten in Verwirrung. Wenn die A-Tonart ihre Tonalität verliert, zeigt die Musik Gefahren an, und das Volk leidet Armut. Wenn alle Fünf Tonarten ihre Tonalität verlieren und einander aus dem Geleise bringen, er­r;ibt das eine allgemeine Dissonanz, und der Staat neigt sich seinem Ende zu. Die Musik der Staaten Tscheng und Wei ist eine Musik von Ländern, die sich in Aufruhr befinden, und kommt einer allgemeinen Dissonanz sehr nahe. Die Musik von »Auf dem Maulbeerfeld« an den Ufern des Flusses Phu (in Wei) ist die Musik eines zerstörten Landes, dessen Regierung wankt und dessen Volk verstreut oder in ständiger Unsicher­heit lebt, seine Herrscher verleumdet und ungehemmt seine eigennützigen Ziele verfolgt.

Töne steigen aus den Herzen auf, und Musik ist den Grund­sätzen des menschlichen Verhaltens verbunden. Darum kennen die Tiere Geräusche, aber keine· Töne, und das gemeine Volk kennt Töne, aber keine Musik. Nur der höhere Mensch vermag Musik zu verstehen. Daher gelangt man durch das Studium der Geräusche zum Verständnis der Töne; durch das Studium der 'töne zum Verständnis der Musik; durch das Studium der Musik zum Verständnis der Regierungsprinzipien, und wird so zum Herrscheramt vorbereitet. Es ist darum unmöglich, zu jemandem, der die Geräusche nicht versteht, über Töne zu spre­chen, und mit jemandem, der die Töne nicht versteht, von Mu­sik zu reden. Wer Musik versteht, kommt dem Verständnis des Li sehr nahe, und wer sowohl das Li als die Musik gemeistert

x68

Page 171: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

hat, wird tugendhaft genannt, denn Tugend ist Meisterschaft (oder: Erfüllung) [2.].

Wenn wir also sagen, daß die Musik in einem Lande gepflegt wird, meinen wir damit nicht etwa, daß die Musik dort beson­ders verästelt oder kompliziert ist; und auch die Festzeremo­nien sind dort nicht etwa überfeinert. Wenn wir im T schou­Ahnentempel die Musik des Seh [3] mit seinen roten Saiten und seinem durchlöcherten Resonanzbrett hören, wobei nur einer die Melodie singt und drei Männer den Chor bilden, spüren wir eine gewisse Verhaltenheit im Ton; und wenn wir die Zere­monien bei einem Königsmahl betrachten, mit sch.warzem Wein, rohem Fisch und ungewürzter Suppe, spüren wir ebenfalls eine gewisse Verhaltenheit im Gebrauch. der Würzen. Denn die alten Könige führten Zeremonien und Musik nicht etwa bloß zur Befriedigung unserer sinnlichen Begierden ein (»des Mundes, des Magens, des Ohres und des Auges«), sondern vielmehr um das Volk den rechten Gesch.mack und die Rückkehr zum Schick­lichen zu lehren.

Die Natur des Mensd1en ist an sich ruhig; wenn sie jedoch von der Außenwelt beeinflußt wird, entstehen Begierden. Wenn der denkende Geist sich der Einwirkung der stofflich.en Welt bewußt wird, beginnen wir, Vorlieben und Abneigungen zu zeigen. Wenn diese Vorlieben und Abneigungen nicht gebüh­rend beherrscht. werden und unser bewußter Geist durch. die stoffliche Welt abgelenkt wird, verlieren wir unser wahres Selbst, und der Grundsatz der Vernunft in der Natur wird zer­stört. Wenn der Mensch ständig dem Ansturm der stofflichen Welt ausgesetzt wird und er seine Vorlieben und Abneigungen nicht beherrscht, wird er von der materiellen Wirklichkeit über­wältigt und dadurch entmenschlicht oder materialistisch. Wenn der Mensch entmenschlicht oder materialistisch wird, ist das Prinzip der Vernunft in der Natur zerstört und der Mensch wird von seinen Begierden verschlungen. Daraus entstehen Aufruhr, Ungehorsam, Verschlagenheit, Betrug und allgemeine Sittenlosigkeit. Wir sehen dann, wie die Starken die Schwachen mißhandeln, die Mehrheit die Minderheit unterdrückt, die Schlauen die Einfältigen betrügen, die körperlich Starken Ge­walttaten begehen, die Siechen und Krüppel vernachlässigt werden und die Greise, Hilflosen und Kinder nicht versorgt werden. Das ist der Weg zum Chaos.

Das Volk wird daher durch das von den Königen des Alter­tums eingesetzte Zeremoniell und die von ihnen eingeführte Musik gelenkt. I)as Weinen und Klagen und die hanfenen, un­gesäumten Trauerkleider haben den Zweck, die Trauer bei Leichenbegängnissen zu regeln. Die Glocke, die Trommel, der

169

Page 172: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Schild und das Beil (bei Tanz und Musik) haben den Zweck, Frieden und Glück zu feiern. Die Hochzeitszeremonien, das »Mützenaufsetzen« der reifenden Jünglinge und das »Haar­aufbinden« der reifenden Jungfrauen haben den Zweck, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern festzulegen. Das Preisschießen und die Dorffeste haben den Zweck, die Gemein­schaftsbeziehungen zu regeln. Die Riten lenken die Gefühle des Volkes in geordnete Bahnen; die Musik stellt im Lande Ein­klang her; die Regierung ordnet das Verhalten, und die Strafen verhüten Verbrechen. Wenn also die Riten, die Musik, die Stra­fen und die Regierung alle in Ordnung sind, sind die Grund­sätze der Gesellschaftsordnung erfüllt.

2. Ein Vergleich zwischen Zeremoniell und Musik, die beide auf der kosmischen Ordnung beruhen

Die.Musik eint, während das Zeremoniell scheidet. Durch Eini­gung werden die Leute freundlich zueinander und durch Schei­dung lernen sie einander achten. Wenn die Musik vorherrscht, wird die Sozialordnung zu formlos, und wenn das Zeremoniell vorherrscht, wird das Gemeinschaftsleben zu kalt. Die inneren Gefühle und das äußere Verhalten der Menschen miteinander in Einklang zu bringen, ist das Werk des Zeremoniells und der Musik. Die Festsetzung des Zeremoniells verleiht einen rechten Sinn für Zucht und Ordnung, während die allgemeine Verbrei­tung von Gesang und Musik eine allgemeine Atmosphäre des Friedens hervorbringt. Wenn guter Geschmack von schlechtem Geschmack unterschieden wird, haben wir damit ein Mittel zur Verfügung, um die guten Menschen von den schlechten zu untersdJ.eiden, und wenn Gewalttätigkeiten durch das Straf­gesetz verhütet werden und die guten Menschen in die Ämter berufen werden, dann wird die Regierung dauerhaft und ge­ordnet. Wenn eine auf Liebe gegr~ndete Lehre gegenseitige Zu­neigung und eine auf Pflicht gegründete Lehre Rechtschaffen­heit verbreitet, dann lernt das Volk, in einer sittlichen Ordnung zu leben. Musik kommt aus dem Inneren, während Zeremoniell von außen kommt. Weil Musik aus dem Inneren kommt, ist Ruhe und Stille ihr Kennzeichen. Und weil Zeremoniell von außen kommt, ist Formalismus sein Kennzeichen. Wahrhaft große Musik ist stets einfach in der Bewegung, und wahrhaft großes Zeremoniell ist immer einfach in der Form. Wo gute Musik vorherrscht, gibt es kein Gefühl der Unzufriedenheit, und wo richtige Zeremonien vorherrschen, gibt es keinen Streit und keinen Kampf. Wenn es heißt, daß der König mit einer

Page 173: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

bloßen grüßenden Verbeugung die Welt regieren kann, ist da­mit der Einfluß des Zeremoniells und der Musik gemeint. Wenn die gewalttätigen Elemente eines Volkes in Schach gehalten werden, die Herrscher zur Huldigung eintreffen, die Kriegs­waffen eingeschlossen sind, die fünf Strafgesetze nicht ange­wendet werden, das Volk keine Sorgen hat und der Kaiser keinen Zorn empfindet, dann hat wahrlich die Musik die Ober­hand gewonnen. Wenn Eltern und Kinder zueinander liebevoll sind, die Jüngeren die Klteren ehren und diese Ehrerbietigkeit sich über das ganze Land verbreitet, und wenn der Kaiser selbst ein solches beispielhaftes Leben vorlebt, dann können wir wahrlich sagen, daß das Li die Oberhand gewonnen hat.

Wirklich große Musik hat das Prinzip der Harmonie mit dem Weltall gemeinsam, und wirklich großes Zeremoniell hat das Prinzip der Smeidung mit dem Weltall gemeinsam. Durch das Prinzip der Harmonie wird die Ordnung in der stofflichen Welt wiederhergestellt, und durch das Prinzip der Scheidung sind wir imstande, dem Himmel und der Erde Opfer darzu­bringen. Wir haben somit Zeremoniell und Musik in der stoff­lichen Welt und die verschiedenen Gottheiten in der geistigen Welt, und daher wird die Welt schließlich in Liebe und Fröm­migkeit leben. Das Zeremoniell lehrt die Frömmigkeit unter verschiedenen Umständen, und die Musik lehrt die Liebe in wechselnden Formen. Wenn durch Zeremoniell und Musik ein solcher moralischer Zustand einmal hergestellt ist, erleben wir eine Kontinuität der Kultur durch das Auftreten verschiedener weiser Herrscher. Die politischen Ereignisse sind unter den (Herrschern der verschiedenen) Generationen verschieden, und die Zeremonien und die Musik, welche die Ereignisse feiern, erhalten Namen, die den Eigenschaften und Leistungen der betreffenden Herrscher angemessen sind [4]. Musik drückt die Harmonie des Weltalls aus, und Zeremoniell drückt die Ord­nung des Weltalls aus. Durch Harmonie werden alle Dinge beeinflußt, und durch Ordnung haben alle Dinge ihren rechten Ort. Musik steigt vom Himmel herab, während die Zeremo­nien die Erde zum Muster nehmen. Ober diese irdischen Muster hinauszugehen würde zu Gewalt und Unordnung führen. Um also das rechte Zeremoniell und die rechte Musik zu erhalten, muß man die Grundsätze des Himmels und der Erde verstehen.

Darum bringt der Weise Musik hervor, die dem Himmel entspricht, und Zeremonien, die der Erde entsprechen. Wenn Zeremoniell und Musik ihren rechten Platz gefunden haben, wirken Himmel und Erde in vollendeter Ordnung. Der Him­mel ist hoch und die Erde ist niedrig, und wir sehen darin das rechte Verhältnis zwischen dem König und seinen Ministern.

Page 174: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Wenn Hoch und Nieder in verschiedenen Abstufungen geord­net sind, haben wir den Grundsatz der gesellschaftlichen Stände.· Wenn das Gesetz Wirkung und Gegenwirkung beherrscht, ist das Ergebnis die Unterscheidung zwischen Groß und Klein. Und wenn die zehntausend Dinge ihrer natürlichen Ordnung gemäß geordnet und eingestuft sind, erkennen wir darin das Prinzip der Vielfalt bei den Lebewesen. So entstehen die sym­bolischen Sternbilder am Himmel und die verschiedenen For­men der Berge, Flüsse und anderen Dinge auf der Erde. Das zeigt, daß das Li sich auf der Erde als Grundsatz der Scheidung erweist.

Wenn die Gase von der Erdoberfläche aufsteigen und die Gase aus den oberen Schichten der Atmosphäre sich senken, wenn Yin und Yang sich begegnen und Reibung erzeugen, wenn Himmel und Erde aufeinander einwirken, und wenn die Dinge, von Donner und Blitz belebt, durch Wind und Regen erweckt, durch den Wechsel der Jahreszeiten angespornt und von Sonne und Mond erwärmt, wachsen und gedeihen, dann zeigt das, daß die Musik sich im Weltall als Grundsatz der Harmonie erweist.

Die Musik drückt die Urkräfte der Natur aus, während das Li die Erzeugnisse der Schöpfung widerspiegelt. Der Himmel stellt das Prinzip ewiger Bewegung dar, während die Erde das Prinzip des Stillhaltens darstellt, und diese beiden Prinzipien, Bewegung und Ruhe, durchdringen alles Leben zwischen Him­mel und Erde. Darum spricht der Weise über Zeremonien und Musik.

J· Musik enthüllt den Charakter des Menschen

Wenn man den Tanz eines Volkes sieht, erkennt man seinen Charakter. Der Mensch ist mit Blut und Atem und Bewußtsein begabt, aber sein Gefühl der Trauer, der Glückseligkeit, der Freude und des Zornes ist von äußeren Umständen abhängig. Seine Begierden sind Reaktionen auf die Einwirkung der stoff­lichen Welt. Wenn daher eine düstere, gedrückte Art Musik vor­herrscht, erkennen wir, daß das Volk betrübt und traurig ist. Wenn eine sehnsuchtsvolle, leichte Musik mit vielen langge­zogenen Melodien vorherrscht, wissen wir, daß das Volk fried­voll und glücklich ist. Wenn eine starke, kräftige Musik vor­herrscht, die mit einer vollen Entfaltung des Tones beginnt und endet, wissen wir, daß das Volk beherzt und kraftvoll ist. Wenn eine reine, fromme, majestätische Musik vorherrscht, wissen wir, daß das Volk gottesfürchtig ist. Wenn eine sanfte,

Page 175: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

helle, ruhige, schreitende Musik vorherrscht, wissen wir, daß das Volk gütig und liebevoll ist. Wenn lüsterne, erregende und verwirrende Musik vorherrscht, wissen wir, daß das Volk sit­tenlos ist ...

Wenn das Erdreich karg ist, gedeihen die Pflanzen nicht, und wenn der Fischfang nicht nach den Jahreszeiten geregelt ist, reifen Fische und Schildkröten nicht heran; wenn das Klima sich verschlechtert, vergeht die Tier- und Pflanzenwelt, und wenn die Welt chaotisch wird, wird das Zeremoniell und die Musik zügellos. Wir finden dann eine Musik, die traurig ohne Selbstbeherrschung und fröhlich ohne Gelassenheit ist ...

Darum versucht der höhere Mensch die Harmonie im Men­schenherzen durch Wiederentdeckung des w3;hren menschlichen Wesens herzustellen und trachtet die Musik als Mittel zur Ver­vollkommnung der menschlichen Kultur zu fördern. Wenn eine solche Musik vorherrscht und das Volk zu den rechten Idealen und Bestrebungen hingelenkt wird, können wir den Aufstieg eines großen Staatswesens erJM>en.

Charakter ist das Rückgrat unserer Menschennatur, und Musik ist die Blüte dieses Charakters. Die Instrumente aus Metall, Stein, Saiten und Bambus sind die Instrumente der Musik. Die Gedichte geben unseren Herzen Ausdruck, Lieder unserer Stimme und Tanz unseren Bewegungen. Diese drei Kunstgattungen steigen aus der Menschenseele auf und erhalten dann mittels der Musikinstrumente weitere Ausdrud{smöglich­keiten. Darum kommt die Klarheit der Form aus der Tiefe des Gefühls und die Geistigkeit der Atmosphäre aus der Intensität der Stimmung. Diese Harmonie des Geistes entspringt aus der Seele und findet in der Musik ihren Ausdruck oder ihre Blüte. Darum ist Musik das einzige Gebiet, auf welchem der Versuch vergeblich wäre, andere zu täuschen oder ihnen etwas vorzu-machen... ·

4· Ober klassische und moderne Musik

Der Edle Wen von Wei fragte den Tsehsia, einen Jünger des Konfuzius: ,. Wie kommt es, daß ich schläfrig werde, so ofl ich in meinem Amtskleid klassische Musik anhöre, aber niemals müde werde, wenn ich der Musik (der Staaten) Tscheng und Wei lausche? Wieso ist die klassische Musik so und die moderne Musik anders?«

>>In der alten Musik«, erwiderte Tsehsia, »bewegen sich die Tänzer in einer Atmosphäre des Friedens und der Ordnung und mit einer gewissen Freiheit der Bewegung in geschlossener Gruppe vorwärts und rückwärts. Das Hsuan (ein Saiteninstru-

I7J

Page 176: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

ment) und das Scheng (eine Art Mundharmonika mit Bambus­pfeifchen, die dem Prinzip des Dudelsackes ähnelt) werden bereitgehalten, bis die Trommel das Zeichen zum Einsatz gibt. Die Musik beginnt mit Schautänzen und endet mit Kriegstän­zen, und von Anfang bis zu Ende gehen die Bewegungen inein­ander über [5], während der Takt der klassischen Musik die Tänzer, welche zu schnell werden möchten, zurückhält oder zügelt. Der höhere Mensch wird durch Anhören einer solchen Musik einen rechten Drang verspüren, über die Musik und die Gepflogenheiten der Alten, die Pflege des individuellen Lebens und die Ordnung des Gemeinschafl:slebens zu sprechen. Das sind die hauptsächlichsten Gefühlsinhalte der alten Musik. Bei der neuen Musik aber biegen die Leute ihre Leiber, während sie sich vor- und rückwärts bewegen, es gibt eine Flut unan­ständiger Töne ohne Form und Beherrschung, und die affen­artig gekleideten Gaukler und Zwerge mischen (oder: mischen sich in) die Gesellschafl: der Männer und Frauen, als wüßten sie nicht, wer ihre Eltern oder Kinder waren. Am Ende einer solchen Vorstellung ist es ganz unmöglich, über Musik oder über die Gepflogenheiten der Alten zu sprechen. Das ist der hauptsächliche Gefühlsinhalt der neuen Musik. Ihr habt mich zwar über Musik befragt, was Euch aber wirklich interessiert, sind bloß Töne. Musik und Töne sind natürlim verwandt, aber es sind zwei verschiedene Dinge.«

»Was meint Ihr damit?« fragte der Edle Wen. »In den alten Zeiten«, sagte Tsehsia, »waren dieN aturgewal­

ten miteinander in Einklangund das Wetter stimmtemit den Vier Jahreszeiten überein; die Menschen waren gut und die Ernten reidJ.lich; es gab keine Seuchen und es erschienen keine unheil­verkündenden Mißgestalten. Das war die Zeit, in der alles im Rechten war. Daher traten die Weisen (oder: Priester) auf und regelten die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und· zwischen Königen und ihren Ministern durch die Errichtung einer gesellschafl:lichen Disziplin. Mit der Herstellung der ge­sellschafl:lichen Disziplin wurde die Welt in Ordnung gebracht, und namdem die Welt in Ordnung gebracht worden war, be­stimmten die Weisen die rechten Maße für die sechs Stimm­pfeifen und die fünf Tonarten [6]. Dann begannen die Leute zur Begleitung der Hsuan-Saiteninstrumente Lieder und Ge­sänge anzustimmen, welche >Sakralmusik< genannt wurden, und diese Sakralmusik war eben die Musik ... Aber das, wofür sich Euer Hornwohlgeboren jetzt interessieren, ist bloß eine Zusammenstellung lüsterner Töne.«

»Darf ich fragen,. woher diese lüsternen Töne stammen?« fragte der Edle.

174

Page 177: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

»Die Musik von Tscheng«, erwiderte Tsehsia, >>ist lüstern und wirkt verderbend, die Musik von Sung ist schlaff und wirkt verweichlichend; die Musik von Wei ist eintönig und langweilig und die Musik von Thsd1i ist schroff und macht hof­färtig. Diese vier Musikarten sind sinnlich und untergraben den Charakter; darum können sie bei Kulthandlungen keine Ver­wendung finden. Das Liederbuch sagt: >Die harmonischen Töne sind Schu und Yung und mein Ahne lauschte ihnen.< Schube­deutet >fromm<, und Yung bedeutet >friedvolk Wo Frömmig­keit und Friedfertigkeit herrschen, kann man mit einem Lande machen, was man will.

Der König braucht nichts weiter zu tun, als vorsichtig in sei­nen Vorlieben und Abneigungen zu sein. Was der König liebt, wird das Volk tun, und was der König tut, dem wird das Volk folgen. Das ist der Sinn der Stelle im Liederbuch: >Es ist sehr leicht, das Volk zu lenken.<

Im.Einklang mit dieser Auffassung haben daher die Weisen (oder die Priester) die Musikinstrumente angefertigt, das Y ao (eine kleine Trommel mit zwei an beiden Seiten befestigten Knöpfen und einem Handgriff - wenn der Handgriff zwischen den Handflächen gerollt wird, schlagen die Knöpfe auf die Trommel), die Trommel, das Khung und das Thschia (Abarten der viereckigen Holztrommel mit einem Loch in der Mitte), das Hsuan und das Thschih (Abarten der Mundharmonika, wo­bei das Hsuan ein breiter, ovaler Tontopf mit ·sechs Löchern und das Thschih ein Bambusgerät mit verschiedenen Pfeifen ist). Diese sechs Instrumente bringen Töne hervor, die in der Sakralmusik Verwendung finden. überdies werden sie von den Glocken begleitet, dem Thsching (einem in einem Standrahmen aufgehängten Steinplättchen), dem Yu (einer Art Dudelsack mit 36 Pfeifchen) und dem Seh (einem langen, liegenden Sai­teninstrument mit fünfzig Saiten) sowie mit dem Schild-und­Streitaxt-Tanz (Kriegstanz) und mit Bannern aus Yakschwän­zen und Fasanenfedern (>Ziviltanz<). Diese Gattung Musik wurde beim Kult der Alten Könige und bei den Trinkfesten aufgeführt. Bei dieser Art Musik wurde der Sinn für die gesell­schaftlidlen Abstufungen zwischen den Ständen gefestigt und die Zucht im Verkehr zwischen Alten und Jungen, Höheren und Niederen den kommenden Generationen beigebracht.

Der Ton der Glocken ist klar und hallend; seine Klarheit und sein Schall machen ihn insbesondere für Signale geeignet; solche Signale erwecken einen majestätischen Eindruck, und dieser ma­jestätische Eindruck erweckt den Gedanken an militärischeMacht. Wenn daher der Herrscher den Glockenton vernimmt, denkt er an seine Militärbefehlshaber, Der Ton des Klangsteins ist scharf

175

Page 178: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

und durchdringend; sein scharfer, durchdringender Klang för­dert die Entschlußfreudigkeit, und die Entschlußfreudigkeit macht es den Generälen leicht, im Kampfe zu fallen. Wenn da­her der Herrscher den Klangstein hört, denkt er an seine Offi­ziere, die an den Grenzen kämpfend gefallen sind. Der Ton der Saiten ist klagend; seine Klage reinigt die Seele, und der gereinigte Seelenzustand fördert den Sinn für Rechtschaffen­heit. Wenn daher der Herrscher den Ton der Saiteninstrumente, Thschin und Seh, hört (zwei liegende Saiteninstrumente mit flacB.em Resonanzboden), denkt er an seine wackeren Minister. Der Ton des Bambus (der den europäischen Holzbläsern ent­spricht) hat einen schwebenden Charakter; dieses Schweben verbreitet sich überall hin und bringt die Volksmassen zuein­ander. Wenn daher der Herrscher den Ton des Bambus hört, denkt er an seine Minister des Inneren. Der Ton der großen und kleinen Trommel ist lärmend; ihr lauter Ton ermuntert und erregt, und die Erregung bereitet die Massen zu Taten vor. Wenn der Herrscher daher den Ton der großen und kleinen Trommel hört, denkt er an seine großen Heerführer. Daraus ist ersichtlich, daß der Herrscher, wenn er Musik hört, nicht nur die Töne vernimmt, sondern auch die den einzelnen Tongat­tungen eigentümliche Bedeutung heraushört.« [7]

5. Konfuziu-s über die verschiedenen Sätze der Tanzmusik des Kaisers W u und ihre Auslegung

Pinmou Tschia sprach eines Tages mit Konfuzius, und sie ka­men auf die Musik zu sprechen, wobei Konfuzius fragte:» War­um stehen am Beginn des Wu-Tanzes die Tänzer zunächst län­gere Zeit still und halten sich bereit, während die Trommel geschlagen wird?«

»Weil das den Umstand versinnbildlicht, daß der Kaiser Wu lange gewartet hat und den Angriff auf den Schang-Kaiser (den er dann stürzte) nicht früher begann, als bis er sich der Hilfe der anderen Herrscher versichert hatte«, antwortete Pinmou Tschia.

»Und was bedeutet wiederum das Singen und Seufzen der Tänzer und das allmähliche Lebhafterwerden ihrer Bewe­gungen?«

»Daß der Kaiser Wu noch immer zuwartete, um sich .der Unterstützung der übrigen Herrscher zu vergewissern.«

»Was bedeutet aber der Tanz, an dessen Anfang auf den Boden gestampft wird?«

»Daß die Zeit zum Handeln gekommen war.«

176

Page 179: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

»Weshalb hocken sich die Tänzer dann auf den Boden nieder, wobei ihr rechtes Knie den Boden berührt und ihr linkes Knie erhoben wird?«

»Beim Wu-Tanz sollten sie nicht auf dem Boden hocken.« >>Warum hören wir aber dazwischen· die charakteristische

Melodie der Schangs (des Feindes)?« »Diese Melodie gehört eigentlich nicht in die Wu-Musik.« »Was ist das also für eine Melodie, wenn sie nicht zur Wo­

Musik gehört?« »Die Musikmeister haben wohl ihre ursprüngliche Bedeu­

tung vergessen. Wenn das nicht eine spätere Einschiebung wäre (d. h. wenn es die Melodie des Kaisers Wu wäre), dann muß Kaiser Wu ein grausamer Herrscher gewesen sein.«

»Ich habe diese Auslegung von Thschang Hung (einem Be­amten der Tschou-Hauptstadt) gehört«, sagte Konfuzius. »Sie stimmt im wesentlichen mit der Euren überein.« [8]

Pinmou Tschia erhob sich von seinem Sitz und sprach: »Wir verstehen alle den Sinn dieses langen Wartens. Aber, so darf im fragen, warum das lange Säumen und Warten der Tänzer am Anfang, und warum währt es so lange?«

»Setzt Eum und im will es Eum sagen«, spram Konfuzius. >>Die Musik ist eine symbolische Wiedergabe der geschichtlimen Ereignisse. Daß die Tänzer in langen Reihen dastehen mit ihren Schilden wie eine feste Wand (wörtlich: >wie ein Berg<), versinnbildlicht die Ereignisse um Kaiser Wu. Daß die Tänzer zu Beginn auf den Boden stampfen, versinnbildlicht die Ge­mütswallungen oder ehrgeizigen Wünsche des Urgroßvaters des Kaisers Wu, des Königs Thai. Die Tänzer hocken sich dann auf den Boden nieder, um die Friedensherrschaft der Fürsten Tschou und Schao zu versinnbildlichen (Brüder des Kaisers Wu, die später seinem Sohne halfen, das Land zu befrieden und nach dem Sturze der vorhergehenden Dynastie das Regierungs­system der Tschou-Dynastie zu begründen). Ferner schreiten die Tänzer im ersten Satz vom Süden nach Norden vor (indem sie in die zweite Stellung vorrücken und damit den Ausmarsch des Heeres .versinnbildlichen- nach den Kommentatoren). Im zweiten Satz werden die Schangs besiegt (Vorrücken in die dritte Stellung- nach den Kommentatoren). Im dritten Satz drehen sich die Tänzer wieder gegen Süden (und nehmen die vierte Stellung ein). Im vierten Satz wird die Errichtung seiner Herrschaft über die Südstaaten versinnbildlicht (wieder in der zweiten Stellung). Im fünften Satz teilen sich die Tänzer, was die Herrschaft des Fürsten Tschou zur Linken und des Fürsten Smao zur Rechten bedeutet (wobei sie wiederum die dritte Stellung einnehmen). Im sechsten Satz kehren die Tänzer zu

12/154 1 77

Page 180: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

ihren Ausgangsstellungen zurück, um die Huldigung des g-e­samten Landes an den Kaiser zu symbolisieren [9]. Das Vor­schreiten der Tänzer in geschlossener Formation, mit den Spie­lern der HolZresonanzkästen an der Seite, und die Auflösung der geschlossenen Schar in vier den Speertanz tanzende Grup­pen nach den vier Himmelsgegenden (oder: die den Speertanz viermal wiederholenden, nach einer anderen Auslegung) zei­gen die Ausbreitung. der militärischen Macht des Kaisers Wu über ganz China. Das Vorgehen in zwei parallelen Heeres­säulen mit den Spielern der hölzernen Resonanzkästen an der Seite zeigt ihren leichten Sieg an. Ihr langes Warten in ge­schlossenen Reihen versinnbildlicht ihr Warten auf das Ein­treffen der Streitkräfte der verbündeten Herrscher.

Ferner- habt Ihr nicht erzählen hören, was der Kaiser in der Hauptstadt der besiegten Dynastie tat? Als Kaiser Wu die Schangs besiegt hatte und in deren Hauptstadt einzog, machte er die Nachkommen des Huangti (des Gelben Kaisers) zu Herrschern über Tschi, die Nachkommen des Kaisers Yao zu Herrschern über Tschu und die Nachkommen des Kaisers Schun zu Herrschern über Thschen. Das geschah noch vor dem Ab­schluß des Feldzugs, und als der Feldzug zu Ende war, machte er die Nachkommen des Kaisers Yu zu Herrschern über Tschi (ein anderes Tschi als das bereits erwähnte), degradierte die Nachkommen der Schang-Kaiser und siedelte sie in Sung an. Er verlieh auch dem Grabmal des Prinzen Pikan [ro] eine posthume Rangerhöhung, befreite Tschitse aus dem Gefängnis, gestattete ihm, weiter nach den Bräuchen der Schang zu leben, und stellte seinen Rang wieder her. Das Volk wurde vom Wehrdienst befreit und die Ritter erhielten doppelte Bezüge. Nachdem er den Gelben Fluß in westlicher Richtung über­schritten hatte, ließ er die Schlachtrosse frei am Südhang der Hua-Berge weiden und ritt sie nicht mehr. Er setzte die Büffel in der Ebene des Pfirsichhaines in Freiheit und benutzte sie nicht mehr als Haustiere; und er ließ Kampfwagen und Har­nische, mit Blut beschmiert, in der kaiserlichen Sd1atzkammer aufbewahren und benutzte sie nicht mehr. Speere und Schilde wurden umgekehrt (mit den Handgriffen nach vorne) getragen und in Tigerfelle gehüllt und die Generäle zu Stadthauptleuten gemacht. Das wurde die Abrüstung genannt (wörtlich: >Abrieg­lung des Köchers<). Und dann wurde es der ganzen Welt be­kannt gemacht, daß Kaiser Wu seine Kriegswaffen nicht mehr­verwenden werde. Das Heer wurde entlassen und sollte das Bogenschießen in den Vorstädten als Sport betreiben. In der östlichen Vorstadt wurde die Zeremonie des Preisschießens mit Pfeil und Bogen mit dem Liede LisdJou begleitet und in der

q8

Page 181: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

westlichen Vorstadt mit dem Liede Tsouyu [u]. Der Brauch, die Scheibe zu durchschießen, wurde aufgegeben. Zeremonielle Gewänder und Audienztäfelchen (welche die Minister in Ge­genwart des Kaisers in den Händen hielten) wurden verwendet und die Ritter brauchten ihre Schwerter nicht mehr zu tragen. Opfer wurden im Großen Tempel (dem Minthang oder der >Halle der Glänzenden Tugend<) dargebracht, damit das Volk die Kindespflicht verstehen möge. Die Zeremonien der Hof­audienz wurden eingeführt, damit die Fürsten wüßten, wie sie ihre Huldigung darzubringen haben. Die Zeremonie, in der der Kaiser selbst ein Feld pflügt, wurde eingeführt, damit das Volk Ehrfurcht vor der Natur lerne. Diese fünf Institutionen waren die fünf großen kulturellen Neuerungen der Welt.

An der KaiserlidJen Hochschule wurden die Drei Senatoren und die fünf Oberen beibehalten. Der Kaiser entblößte seinen linken Arm [12], um das Opfertier aufzuschneiden, und über­gab es dann diesen drei Senatoren; er hielt den Topf mit Brühe in der Hand und reichte ihn ihnen; er hielt die Weinschale und hieß sie trinken (wörtlich: >gurgeln<). Und er trug eine Krone und hielt einen Schild in der Hand. Das geschah alles, damit die Fürsten die Tugend der Ehrfurcht und Demut lernen mö­gen. Auf diese Weise verbreitete sich die Kultur der Tschou über ganz China, und Zeremoniell und Musik herrschten im ganzen Lande. Verstehen wir nun nimt, weshalb zu Beginn des Wu-Tanzes die Tänzer so lange wartend verharrten (darauf nämlich, daß die anderen Herrsmer dem Kaiser Wu folg­ten)? ... «

12* I79

Page 182: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

IX

MENCIUS

Das Buch Mencius, Buch 6, I. Teil

Zum Studium des konfuzianischen Denkens ist es wichtig, auch etwas über dessen Hauptentwicklung bei Mencius zu wissen, weil die philosophischen Werte bei Mencius klarer herausgear­beitet werden und weil dieser noch heute einen großen Einfluß hat. Mencius stellt die »orthodoxe« Entwicklung der konfuzia­nischen Schule dar. Das Buch des Mencius in sieben je in zwei Teile zerfallenden Büchern ist etwa um ein Drittel umfang­reicher. und stilistisch unvergleichlich besser geschrieben als die »Sprüche«. Mencius war ein bedeutender Redner und Schriftstel­ler, geschickt in der Debatte, und seine Schriften enthalten häufig lange, anhaltende Auseinandersetzungen mit so vielen glänzen­den Stellen, daß es schwer hält, in einem eigentlich demKonfuzius gewidmeten Bande eine entsprechende Auswahl vorzunehmen.

Dennoch stellen die Gedanken des Mencius eine so wichtige Entwicklung einer bestimmten Seite der konfuzianischen Lehre .Iar, daß es unmöglich ist, einen richtigen Begriff vom konfu­zianischen Denken zu erhalten, ohne auch etwas von Mencius zu lesen. Hantse sagte: »Die Lehren des Konfuzius waren weit­gespannt und erstreckten sich über ein weites Feld; es war für einen einzelnen Jünger unmöglich, die ganze Lehre zu meistern. Darum befaßten sich die frühen Schüler des Konfuzius ein jeglicher mit dem Gebiet seiner Lehren, das seiner geistigen V er­anlagung am ehesten entsprach. Diese Jünger zerstreuten sich später, ließen sich in verschiedenen Ländern nieder und gingen daran, ihre Schüler das zu lehren, was sie selbst gemeistert hatten; und je weiter sie sich von der Quelle entfernten, desto weiter gingen ihre Ansichten oder Denkrichtungen auseinander. Mencius vor allem studierte unter Tsesze, dessen Kenntnis der Lehren des Konfuzius von Tsengtse stammte. Nach dem Tode des Konfuzius war Mencius der einzige, der die orthodoxe Tra­dition weiterzuführen imstande war. Wenn man daher in die Lehren des Meisters eindringen will, muß man mit Mencius beginnen.« Hantse sagte auch: »Mencius war der Reinste der Reinen bei der Auslegung des Konfuzius; Hsuntse und Yangtse waren im großen und ganzen rein, aber es gab bei ihnen doch einige Verfälschungen.«

Aus einem der Bücher des Mencius habe ich ein bedeutendes Stück - meines Erachtens das wichtigste und charakteristischste

180

Page 183: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

- zur Übertragung ausgewählt. Die wichtigsten Gedanken des Mencius sind: die angeborene Güte der menschlichen Natur und die daraus folgende Notwendigkeit, diese ursprüngliche Güte wiederzugewinnen; die Erkenntnis, daß Bildung und Erzie­hung lediglich die Aufgabe haben, zu verhüten, daß unser ur­sprünglich gutes Wesen durch die Umstände »umwölkt« werde; die Theorie, daß wir etwas pflegen sollen, das mit dem Berg­sonschen elan vital gleichbedeutend ist (das Haojan tschih thschi), und endlich die Erklärung, daß alle Menschen in ihrer ihnen innewohnenden Gutheit gleich sind, und daß, da die Kaiser Yao und Schun auch Menschen waren, ,. jeder Mensch ein Yao oder Schun werden könne<<. Mencius entwickelte fer­ner die Unterscheidung zwischen dem Herrscher durch Tugend (wang) und dem Herrscher durch List oder Gewalt (Pa), kurz, die Unterscheidung zwischen einem »Monarchen« und einem »Diktator«. Er entwickelte ferner den konfuzianischen Ge­danken einer Regierung durch Beispiel zu einem klar definier­ten System und gebrauchte als erster die Wendung »wohl­wollende Regierung«, die Konfuzius niemals gebrauchte. (Jen bedeutet bei Mencius: Wohlwollen.) Er war wahrscheinlich auch der erste Geschichtskenner seiner Zeit und hatte ganz be­stimmte Ideen über Besteuerung, Landwirtschaftspolitik und Feudalismus. Wir erhalten kein ganz klares Bild von seiner aus der konfuzianischen Theorie einer Regierung durch moralisches Beispiel entwickelten Lehre einer »wohlwollenden Regierung«, wir finden. aber in dieser Abhandlung alle seine Gedanken über die Gutheit der menschlichen Natur, und er erläutert die Me­thode, wie wir zu unserem ungeheuer wichtigen »höheren Selbst« finden können. Diese Abhandlung habe ich in ihrer Gesamtheit übertragen, ohne irgend etwas auszulassen.

I. Die Gutheit der menschlichen Natur

Konfuzius sagte: »Die menschlicheNaturgleicht einem Weiden­baum und das rechtschaffene Verhalten oder der Charakter gleicht einem (aus Weidenruten geflochtenen) Korbe. Wenn man die menschliche Natur nach Wohlwollen und Rechtschaf­fenheit gestaltet, so ist es ähnlich, wie wenn man Weidenruten zu Körben verarbeitet.« Mencius sprach: »Wenn man also einen Weidenkorb flicht, trachtet man da nicht, sich die Natur der Weidenruten zunutze zu machen (indem man sie biegt); oder will man etwa der Natur der Weidenruten Gewalt an­tun? Wenn man der Natur der Weidenruten Gewalt antun wollte, um aus ihnen Weidenkörbe zu flechten, dann müßte

I8I

Page 184: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

man auch der menschlichen Natur Gewalt antun, um sie wohl­wollend und rechtschaffen zu machen. Eure Lehren werden die ganze Welt irreführen und die Lehre von Wohlwollen und Rechtschaffenheit verderben.«

Kaotse sagte: »Die menschliche Natur ist wie Wasser in einem Rohr; man leitet es ostwärts und es fließt nach Osten; man lei­tet es nach Westen und es fließt westwärts. Es gibt in der mensch­lichen Natur keine Unterscheidung zwischen Gut und Böse, so wie das Wasser nicht zwischen Ost und West unterscheidet.«

»Es ist ganz richtig«, sprach Mencius, »daß das Wasser kei­nerlei Vorliebe für den Osten oder für den Westen zeigt - macht es nicht aber doch einen Unterschied zwischen >aufwärts< und >abwärts<, oder zwischen einer >höheren< und einer >tieferen< Lage? Die menschliche Natur strebt nach dem Guten, wie das Wasser nach der Tiefe. Es gibt keinen Menschen, der das Gute nicht wollte, so wie es kein Wasser gibt, das nicht abwärts fließt. Nun kann man freilich auf das Wasser schlagen, so daß es einem aufwärts über die Stirne spritzt, oder man kann es über die ·Berge pumpen. Aber entspricht das denn der Natur des Was­sers und ist es nicht vielmehr bloß eine Folge der Umstände? Auf die gleime Weise.kann man die Natur des Menschen zum Bösen lenken.«

Kaotse sagte: ,. Was in uns geboren ist, wird unsere Natur genannt.« Und Mencius erwiderte: »Wenn Ihr sagt, die Natur sei das, was in uns geboren ist, wollt Ihr damit sagen, sie gliche einer weißen Substanz, die einfach als >weiß< bezeichnet wird?« »Ja«, erwiderte Kaotse. »Dann betrachtet Ihr die Weiße einer weißen Feder als dasselbe wie die Weiße weißen Schnees, oder etwa die Weiße weißen Schnees als dasselbe wie die Weiße eines Stücks weißer Jade?« »Ja«, sagte Kaotse. »Dann betrachtet Ihr wohl die Natur der Hunde als das gleiche wie die Natur der Kühe und die Natur der Kühe als das gleiche wie die Natur der Menschen?« [I]

Kaotse sagte: »Der Nahrungs- und der Geschlechtstrieb sind uns angeboren. Die Güte kommt von innen und nicht von außen, während die Rechtlichkeit von außen kommt und nicht von innen.« Mencius erwiderte: »Was meint Ihr damit, daß Gute von innen komme, während Rechtlichkeit (oder recht­schaffenes Verhalten) etwas Äußerliches sei?« Kaotse erwiderte: >>Wenn ich einen hochgewachsenen Menschen sehe und ihn hoch­gewachsen nenne, bin nicht ich hochgewachsen {oder: ist dieser hohe Wuchs nicht in mir), ebenso wie ich, wenn etwas weiß ist und ich es weiß nenne, bloß sein äußerliches Weißsein beob­achte. Darum sage ich, daß rechtschaffenes Verhalten etwas Äußerliches ist.« »Nun unterscheidet sich aber«, sagte Mencius,

Page 185: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

»die Weiße eines Schimmels in keiner Weise von der Weiße eines weißen Menschen. Meint Ihr aber auch, daß sich die Größe eines großen Pferdes in keiner Weise von der Körpergröße. eines hochgewachsenen Menschen unterscheidet? Hat nun der hochgewachsene Mensch oder das große Pferd recht (dasselbe Wort wie rechtschaffen oder rechtlich) oder aber derjenige, der es oder ihn als groß oder hochgewachsen bezeichnet oP.er be­trachtet (die richtige Auffassung von >Größe< ist ein subjektives Element, das dem Betrachter angehört)?« »Aber«, sagteKaotse, »ich liebe zwar meinen eigenen Bruder, liebe aber beispielshal­ber den Bruder eines Mannes aus Thschin nicht. Das zeigt, daß die Liebe von mir kommt und daher als etwas Innerliches zu betrachten ist. Anderseits achte ich die Alten von Thschu genau ebenso wie unsere eigenen Alten. Das zeigt, daß es die Tatsache ihres hohen Alters ist, die mir Ehrfurcht einflößt, und daß diese Ehrfurcht (eine Tugend des rechten Verhaltens) darum etwas Äußerliches ist.«· Mencius erwiderte: »Aber wir lieben doch· auch den Schweinebraten des Volkes von Thschin ebenso wie wir unseren eigenen Schweinebraten lieben. Das gilt sogar von materiellen Dingen. Würdet Ihr also behaupten wollen, daß diese Vorliebe für Schweinebraten gleichsam etwas Äußerliches sei?« ·

Der Edle Tschi Meng fragte den Kuangtse: »Was meint denn Mencius, wenn er sagt, das rechte Verhalten sei innerlich oder komme von innen?« Dieser erwiderte: »Rechtes Verhalten ist bloß die Bekundung innerer Ehrfurcht. Darum wird es als etwas Innerliches betrachtet.« »Wenn Ihr einen Dorfgenossen habt, der ein Jahr älter ist als Euer älterer Bruder, wem werdet Ihr da mit Ehrfurcht dienen?« fragte Tschi Meng. »Natürlich werde ich zunächst meinem älteren Bruder mit Ehrfurcht die­nen.« »Aber wenn Ihr bei einem Feste Wein anbietet, wem wer­det Ihr zuerst anbieten?« »Natürlich werde ich dem Dorfgenos­sen zuerst den Wein anbieten«, war die Antwort. »Dann dient Ihr aber dem einen mit Ehrfurcht, während Ihr einem anderen Ehre erweist - was zeigt, daß das Betragen etwas Äußerliches (von äußeren Umständen Abhängiges) und nicht etwas Inner­liches ist.« Daraufhin vermochte Kungtutse nicht zu antworten, und er erzählte dem Mencius davon. Mencius sprach: »Wenn Ihr ihn fragt, ob er seinem Oheim oder seinem jüngeren Bruder mit Ehrfurcht dienen würde, dann antwortet er, daß er seinem Oheim mit Ehrfurcht dienen wird. Darauf fragt ihn, wem von den beiden er die größere Ehrfurcht erzeigen würde, falls sein jüngerer Bruder bei einem Totenopfer der Vertreter des Ver­storbenen wäre. Er wird dann antworten, daß er. in diesem Falle seinem jüngeren Bruder die größere Ehrfurcht erzeigen würde.

I 83

Page 186: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Wenn Ihr ihm dann sagt: >Wo bleibt aber die Ehrfurcht vor Euerm Oheim?<, wird er natürlich erwidern, daß in diesem .Falle sein jüngerer Bruder dodt den Ahnengeist darstellt, u!ld dann könnt Ihr ihm sagen: Eben, in unserem Alltagsleben die­nen wir unseren älteren Brüdern mit Ehrfurcht, aber zu beson­deren Gelegenheiten ehren wir den Dorfgenossen.« Als der Edle das hörte, sagte er: »Also ehrt Ihr in einem Falle den Oheim mehr und im anderen Fall den jüngeren Bruder? Das ist ein schlüssiger Beweis, daß die Ehrfurcht von äußeren Umstän­den abhängig ist.« Kungtutse erwiderte: »An einem Wintertag eßt Ihr heiße Suppe und an einem Sommertag trinkt Ihr kaltes Wasser. Würdet Ihr also auch sagen, daß (unser Begehren nach) Speise und Trank ebenfalls etwas ~ußerliches ist (weil es den Umständen gemäß verschieden ist)?«

Kungtutse sprach: »Kaotse sagt, die ursprüngliche mensch­liche Natur sei weder gut noch böse. Manche sagen, die mensch­liche Natur könne entweder gut oder böse sein; darum liebte das Volk die Tugend, solange die Kaiser Wen und Wu an der Madtt waren, liebte aber Gewalt, sobald die Kaiser Yu und Li zur Macht gelangten. Andere wieder behaupten, manche Men­schen seien gut und manche böse und darum habe es sogar unter der Herrschaft des Kaisers Y ao einen bösen Menschen, Hsiang, gegeben; ein böser Vater, Kusou, habe einen guten Sohn, den Schun, hervorgebracht und es habe die guten Prinzen Thschi und Pikan gegeben, obwohl ihr Oheim und König, Tschou, ein so böser Mann war. Wenn Ihr also behauptet, die menschliche Natur sei (immer) gut, dann haben doch alle diese Leute un­recht?«» Wenn Ihr sie ihrer ursprünglichen Natur folgen laßt«, erwiderte Mencius, »dann sind sie alle gut. Deshalb sage ich, daß der Mensch von Natur gut ist. Wenn Menschen böse wer­den, ist nidtt ihre Veranlagung schuld. Barmherzigkeit findet sich bei allen Menschen; Sdtamgefühl findet sich bei allen Men­schen; Ehrfurcht findet sich bei allen Menschen; der Sinn für Recht und Unrecht findet sich bei allen Menschen. Die Barm­herzigkeit nennen wir dann Güte oder Menschenliebe; das Sdtamgefühl nennen wir dann Rechtschaffenheit; die Ehrfurcht nennen wir dann Anstand; den Sinn für Gut und Böse nennen wir dann Weisheit oder sittliches Bewußtsein. Nächstenliebe, Anstand, Rechtschaffenheit und sittliches Bewußtsein werden uns somit nicht erst eingetridttert; wir besitzen sie schon von allem Anfang an, nur vergessen wir sie oft (oder: vernadtlässi­gen sie, oder: beachten sie nicht). Darum heißt es: sucht es und ihrwerdet es finden, vernachlässigt es und ihrwerdet es verlieren. Dieses sittliche Bewußtsein ist in verschiedenen Personen ver­smieden stark entwickelt, manche besitzen davon fünfmal,

184

Page 187: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

m·anche zehnmal, manche unendliche Male mehr als andere, weil die Menschen das, was in ihnen steckt, nicht voll entwik­kelt haben. Das Liederbuch sagt: >Der Himmel hat mit den Menschen Gesetze geschaffen, die das menschliche Leben beherr­schen. Wenn die Menschen sich an die zentralen (oder: gemein­samen} Prinzipien halten, werden sie einen schönen Charakter lieben.< Konfuzius bemerkte zu diesem Gedicht: >Der Verfasser dieses Gedichtes verstand das Sittengesetz und erkannte daher, daß es Gesetze gibt, die das menschliche Leben beherrschen. Weil sich die Menschen an die zentralen Prinzipien halten, sind sie dazu gelangt, einen schönen Charakter zu lieben.«<

Mencius sprach: »In Jahren wirtschafUicher Blüte sind die meisten jungen Leute manierlich, aber in schlechte!). Jahren wer­den die meisten jungen Leute gewalttätig. Das ist nicht auf eine Verschiedenheit ihrer natürlichen Anlagen zurückzuführen, sondern es hat sich etwas ereignet, .was ihre Herzen verführt hat. Nehmt zum Beispiel den Weizenbau. Man sät das Saatgut und ackert das Feld. Die Setzlinge werden alle zugleich gesetzt und wachsen auf dem gleichen Stück Land, und bald sprießen sie schön aus der Erde empor. Wenn dann die Erntezeit heran­naht, sind sie alle reif; und wenn die einzelnen Weizenhalme recht verschieden sind, so liegt das an den Bodenverschieden­heiten, der Verteilung der Regen- oder Taufeuchtigkeit und Verschiedenheiten in der menschlichen Pflege. Darum ist alles, was der gleichen Art angehört, im Wesen gleichartig. Wie könnt Ihr meinen, daß das nicht auch von den Menschen gilt? Die Weisen gehören zur gleichen Gattung wie wir. Wie Lungtse sagte: >Ein Mann, der ein Paar Schuhe verfertigt, ohne die Maße der Füße zu kennen, wird zumindest am Ende keinen Weidenkorb verfertigen.< Schuhe sind wie Schuhe, weil Men­schenfüße wie Menschenfüße sind. Unsere Gaumen haben einen gemeinsamen Geschmackssinn. Yiya (ein berühmter Feinschmek­ker) ist nur ein Mensch, der den uns allen gemeinsamen Ge­schmackssinn entdeckt hat. Wenn zum Beispiel der Geschmacks­sinn eines Menschen von dem eines anderen Menschen verschie­den wäre, so wie der Geschmackssinn von Pferden und von Hunden, die anderen Tiergattungen angehören, vom mensch­lichen verschieden ist, wie könnte sich dann die ganze Welt nach dem Geschmackssinn des Yiya richten? Wenn also in Fra­gen des Wohlgeschmacks die ganze Welt den Yiya als letzte In­stanz anerkennt, müssen wir zugeben, daß unser Geschmacks­sinn der gleiche ist. Dasselbe gilt von Tönen. Meister Khuang wird von der ganzen Welt als die oberste Autorität für den Ton­klang anerkannt, und wir müssen daher zugeben, daß unsere Ohren gleichartig sind. Dasselbe gilt auch von unseren Augen.

z85

Page 188: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Tsetu wird von der ganzen Welt als schöner Mann anerkannt, und wer seine Schönheit nicht sieht, von dem kann man sagen, er habe keine Augen. Darum sage ich, daß unsere Gaumen einen gemeinsamen Geschmackssinn haben, unsere Ohren einen ge­meinsamen Gehörsinn und unsere Augen einen gemeinsamen Schönheitssinn. Warum wollen wir also nicht zugeben, daß auch unsere Seelen etwas Gemeinsames haben? Was ist nun das, was unsere Seelen gemei9sam haben? Es ist die Vernunft und der Sinn für das Rechte. Der Weise ist der, welcher als erster das entdeckt hat, was die Menschenseelen gemeinsam haben. Darum erfreuen Vernunft und der Sinn für das Rechte unseren Geist genauso wie Rind-, Hammel- und Schweinefleisch unseren Gau­men erfreuen.«

2. Wie unsere ursprüngliche Natur zerstört wird

Mencius sprach: »Es gab einmal eine Zeit, da waren die Wäl­der am Niu-Berge schön. Kann man den Berg aber heute noch als schön bezeichnen, seit in seiner Nähe eine große Stadt liegt und die Holzfäller die Bäume geschlagen haben? Tage und Nächte gewährten ihm Ruhe, Regen und Tau nährten ihn, neues Leben entsprang fortwährend dem Boden - aber dann kamen Rinder und Schafe und begannen auf ihm zu weiden. Darum sieht der Niu-Berg so kahl aus, und wenn die Leute diese Kahlheit sehen, meinen sie, es habe auf dem Berge nie ein Wald gestanden. Ist das aber die wahre Natur des Berges? Und ist nicht auch in jedem Menschen ein Herz voll Liebe und Rechtschaffenheit? Aber wie kann diese menschlicheNaturschön bleiben, wenn sie täglich geschlagen wird, so wie der Holzfäller mit seiner Axt die Bäume schlägt? Freilich üben die Tage und Nächte ihre heilende Wirkung aus und die gute Luft der Mor­gendämmerung nährt ihn u.nd könnte ihn gesund und wohl er­halten- aber diese Morgenluft ist dünn und wird bald von dem zerstoben, was er tagsüber treibt. Wenn der menschliche Geist fortwährend geschlagen wird, genügt die während der Nacht gewonnene Rast und Erholung nicht mehr, um ihn aufrechtzu­erhalten, und der Mensch sinkt auf eine Stufe hinab, die nicht mehr hoch über der des Tieres ist. Die Leute sehen dann, daß er handelt wie ein Tier, und meinen, er habe nie einen rechten Charakter gehabt. Aber ist das denn die wahre Menschennatur? Mit entsprechender Ernährung und Pflege wächst darum alles und ohne entsprechende Nahrung und Pflege verfällt alles und geht zugrunde. Konfuzius ·sprach: >Halte es sorgsam fest und du wirst es besitzen, lasse es los und du wirst es verlieren. Es

186

Page 189: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

erscheint und verschwindet bisweilen, wir wissen nicht, wohin.< Er sagte das über die Menschenseele.« [z]

Mencius sprach: »Glaube ja nicht, daß dem König (Hsuan von Thschi) die Weisheit oder das sittliche Bewußtsein (als Mensch) abgehen. Sogar die Dinge, die am leichtesten wachsen, könnten nicht richtig wachsen, wenn auf jeden Sonnentag im­mer zehn bewölkte (oder kalte) Tage kämen. Er sieht mich sel­ten, und wenn ich weggehe, kommen die Leute zu ihm, die den >bewölkten Tagen< entsprechen. Selbst wenn meine Worte bei ihm Wurzel faßten (wörtlich: keimten): was kann er da tun? Sogar eine gewöhnliche Fertigkeit wie das Schachspielläßt sich nicht erlernen, wenn man sich nicht darauf konzentriert. Laß den Schachmeister Thschiu, den besten Schachmeister im Lande, zwei Menschen das Schachspiel lehren. Der eine wird sich dar­auf konzentrieren und aufmerksam auf Meister Thschius Er­klärungen und Ratschläge hören, der andere wird die gleichen Erklärungen hören, aber dabei an eine vorüberstreichende Wildgans denken, und wie er den Bogen nehmen und auf sie schießen möchte. Obwohl nun dieser Zweite beim gleichen Mei­ster lernt, wird er nie dem Ersten gewachsen sein. Aber wenn man sagen wollte, dem Zweiten fehle es an Begabung und Ver­stand, wäre das natürlich falsch.«

3· Das höhere Leben und das größere Selbst

Mencius sprach: »Ich liebe Fisch, aber ich liebe auch Bärentat­zen; und wenn ich nicht beides haben kann, verzichte ich eben auf den Fisch und esse Bärentatzen. Ich liebe das Leben, aber ich liebe auch Rechtlichkeit; und wenn ich nicht beides haben kann, werde ich eben das Leben opfern, um die Rechtlichkeit zu behalten. Ich liebe das Leben, aber es gibt etwas, das ich mehr liebe als das Leben; und darum will ich das Leben nicht um jeden Preis haben. Ich hasse auch den Tod, aber es gibt etwas, das ich noch mehr hasse als den Tod, und darum will ich die Gefahr nicht um jeden Preis vermeiden. Wenn der Mensch nichts mehr liebte als das Leben, würde er da nicht immer alles tun, um es zu retten? Und wenn der Mensch nichts mehr haßte als den Tod, warum meidet er da nicht alle Gefahren, die- sich vermeiden lassen? Und so gibt es Zeiten, in denen ein Mensch sein Leben hingeben würde, und Zeiten, in denen ein Mensch der Gefahr nicht aus dem Wege gehen würde. Aber nicht bloß die Guten meinen, daß es Zeiten gebe, in denen sie ihr Leben hingeben sollten, und Zeiten, in denen sie dem Tode nicht aus dem Wege gehen dürfen. Alle Menschen haben dieses Gefühl;

187

Page 190: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

nur die Guten haben es sich zu erhalten vermocht [3]. Eines Menschen Leben oder Tod kann etwa von einem Bambuskörb­chen voll Reis und einem Napf Suppe abhängen, aber wenn man einem vorübergehenden Verhungernden sagen würde: >He, Sie da!< und es ihm in verletzenderWeise darbieten würde, würde er es zurückweisen, und wenn man es einem Bettler mit einem Fußtritt geben wollte, würde er sich weigern, es anzu­nehmen.

Was ist mir ein Gehalt von zehntausend Malter Reis, wenn es gegen meine Grundsätze geht! Soll ich so eine Stellung an­nehmen, weil sie mir ein schönes Haus und den Dienst einer Gattin und mehrerer Kebsweiber bietet, oder weil ich dann im­stande wäre, meinen Freunden zu helfen, die mich noch kann­ten, als ich arm war? Wenn ich mich vordem weigerte, diesen Postenangesichts des Todes (oder: Hungertodes) anzunehmen, und ihn jetzt annehme, um eine prächtige Amtswohnuag zu haben; wenn ich mich vordem weigerte, diesen Postenangesichts des Todes anzunehmen, und ihn jetzt annehme, um die Dienste einer Gattin und mehrerer Kebsweiber zu genießen; wenn ich vordem diesen Posten angesichts des Todes ablehnte und ihn jetzt annehme, um meinen Freunden helfen zu können, die mich kannten, als ich arm war- wäre das nicht völlig unsinnig? Das heißt dann: >sein ursprüngliches Herz verlieren<.«

Mencius sprach: »Barmherzigkeit wohnt im Herzen des Menschen und Rechtlichkeit ist der Weg des Menschen. Habe Mitleid mit dem Menschen, der seinen Weg verloren hat und ihm nicht folgt, ·und sein Herz verloren hat und es nicht wieder­zufinden versteht. Wenn Menschen ihre Hunde oder ihre Hüh­ner verloren haben, gehen sie hinaus und suchen sie, aber Men­schen, die ihre Herzen (oder: ihre ursprüngliche Natur) verlo­ren haben, gehen sie nicht suchen. Die Selbstbildung ist nichts weiter als das Bestreben, sein verlorenes Herz wiederzufinden.«

Mencius sprach: »Angenommen, einer hätte einen krummen Ringfinger, den er nicht ausstrecken kann. Es tut nicht weh und verursacht ihm keinerlei Beschwerden. Und doch, wenn es jemanden gäbe, der ihm den Finger geradebiegen könnte, würde er bis nach Thschin oder Thschu gehen, weil er sich schämt, daß sein Finger nicht so ist wie der anderer ~eute (oder: nicht nor­mal ist). Nun ist ein Mensch weise genug, um sich wegen eines anomalen Fingers zu schämen, aber nicht weise genug, sich sei­nes Herzens zu schämen, wenn es nicht normal ist. Wir sagen, daß so ein Mensch keinen Sinn für die relative Bedeutung der Dinge hat.«

Mencius sprach: »Es gibt keinen Körperteil, den der Mensch nicht liebte. Und weil es keinen Teil gibt, den der Mensch nicht

x88

Page 191: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

liebt, gibt es auch keinen, den er nicht ernährt. Weil es nicht einen Zollbreit seiner Haut gibt, den er nicht liebte, gibt es auch keinen Zollbreit, für den er nicht sorgte. Die Entscheidung, ob etwas gut oder schlecht ist, hängt nur davon ab, wieviel Wert er darauf legt. Nun gibt es aber in uns ein Höheres und ein Niederes, ein kleineres und ein größeres Selbst. Man sollte das Niedere nicht auf Kosten des Höheren entwickeln, oder das kleinere Selbst auf Kosten des größeren. Wer auf das kleinere SelbstWert legt, wird ein kleiner Mann, und wer auf das größere Wert legt, wird ein großer Mann. Ein Gärtner, der die Disteln und Dornen auf Kosten seiner Fruchtbäume pflegt, gilt als ein schlechter Gärtner. Ein Mensch, der auf seinen Finger achtet, aber sein Schulterblatt verletzen läßt, ist mißgestaltet. DieMen­schen sehen auf Speise und Trank herab, weil die Speise nur unser kleineres Selbst ernährt und nichts für unser größeres Selbst tut. Wenn aber ein Mensch sich um seine Speise kümmert, ohne sein größeres Selbst zu vergessen, kann man wohl sagen, daß die von ihm eingenommene Speise nicht bloß ein kleines Stück seines Leibes (einen Zollbreit Haut) ernährt.«

Kungtutse fragte Mencius: »Wir alle sind Menschen. Wie kommt es aber, daß manche große Menschen sind und manche kleine?« Mencius erwiderte: »Die, welche sich um ihr größeres Selbst kümmern, werden große Menschen, und die, welche sich um ihr kleineres Selbst kümmern, werden kleine Menschen.« »Aber wir sind doch alle Menschen; warum kümmern sich manche Menschen um ihr größeres und andere um ihr kleineres Selbst?« Mencius erwidert: »Wenn unser Gesichts- und Gehör­sinn von äußeren Dingen abgelenkt werden, ohne daß sich das Denken daran beteiligt, dann wirken materielle Dinge auf unsere materiellen Sinne und führen sie in die Irre. Das ist die Erklärung dafür. Das Denken ist die Funktion des Geistes; wenn man denkt, erhält man seinen Geist, und wenn man nicht denkt, verliert man ihn. Der Himmel hat ihn uns gegeben (um zu denken und zu wissen, was recht und was unrecht ist). Wer sein höheres Selbst pflegt, wird erleben, daß sein niederes nach­folgt. So wird man ein großer Mann.«

Mencius sprach: »Es gibt einen Adel, der Himmelswerk, und einen, der Menschenwerk ist. Menschen, welche gütig, recht­schaffen und getreu sind und die Tugend ohne Fehl lieben, ge­hören zum Himmelsadel (oder: zum Adel Gottes) und die Khung, Thsching und Taifu (verschiedeneBeamtenränge) gehö­ren zum MenschenadeL Die Alten pflegten den Gottesadel und ·erwarben sich ohne besondere Anstrengung den Rang des Men­schenadels. Die Heutigen jedoch pflegen den Gottesadel bloß deshalb, weil sie von Menschen geschaffene Ehren (oder den

189

Page 192: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Menschenadel) erlangen wollen, und nachdem sie diese von Menschen geschaffenen Ehren erhalten haben, geben sie die Dinge auf, die den Gottesadel ausmachen. So werden sie arg in die Irre geführt und gehen schließlich zugrunde.«

Mencius sprach: »Alle Menschen hegen den Wunsch, sich Ehre zu gewinnen, aber alle Menschen besitzen in sich etwas viel Wertvolleres, von dem sie nichts wissen. Was die Leute ge­meinhin als erhabenen Rang oder Ehren betrachten, sind gar keine wirklichen Ehren, denn wen Tschao Meng (eine mächtige Herrscherfamilie in Tschin) geehrt hat, den kann Tschao Meng auch wieder entehren. Das Liederbuch sagt: >Ich bin vom Wein berauscht und der Tugend voll.< Dieser bildliehe Ausdruck be­deutet, daß ein Mensch, der >voll< der Güte und Rechtschaffen­heit ist, des Wohlgeschmacks köstlicher Speisen nicht mehr be­darf. Und wenn ein Mensch den Mantel des Ruhmes trägt, braucht er keine gestickten Gewänder.«

Mencius sprach: »Die fünf Getreidearten werden als gute Pflanzen angesehen, aber wenn die Körner nicht reif sind, sind sie ärger al~ Unkraut. Dasselbe gilt von der Güte: sie muß gleichfalls ausreifen.«

Mencius sprach: »Als Yi (ein berühmter Bogenschütze) die Leute das Bogenschießen lehrte, sagte er ihnen, sie sollten die Sehne am Bogen aufs äußerste spannen. Wer sich bilden will, muß sich auch bis an die Grenzen des Möglichen entwickeln. Ein großer Zimmermann lehrt seine Gesellen, mit Winkelmaß und Zirkel umzugehen. Ein Mensch, der sich selbst weiterzubil­den wünscht, braucht gleichfalls für sein Verhalten Winkelmaß und Zirkel.«

Page 193: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

ANMERKUNGEN

II. DAS LEBEN DES KONFUZIUS

x] Der Name der Mutter des Konfuzius war Yen Tschentsai. »Außer­eheliche Verbindung« heißt im chinesischen Original »wilde Ver­bindung« oder ,. Wildnis-Verbindung« und bedeutet wohl »Ver­bindung in der Wildnis«. Manche Übersetzer wollen das damit erklären, daß das Wort »wild« bloß bedeute, die EhesdJ.ließung sei nicht gemäß dem üblichen Herkommen erfolgt, da sein Vater das Mädchen geheiratet habe, als er schon über vierundsechzig, be­reits einmal verheiratet, Vater von acht Töchtern. aber keinem Sohn war. Diese Erklärung kommt mir recht weithergeholt vor.

2] Das widerspricht offenbar seinem Ausspruch im vorigen Absatz, als er nach Tschungmou gehen wollte. Der Mensch ist eben voller Widersprüche; freilich wollen die Beurteiler des Konfuzius keine Widersprüche in seinem Leben zugeben. Konfuzius' Bemerkung über sein Unvermögen »nichts zu essen«, »Wie ein vertrockneter Kürbis«, ist natürlich humoristisch aufzufassen. Es wäre müßig, die verschiedenen Auffassungen des Konfuzius in den beiden Begeben~ heiten in Einklang bringen zu wollen.

3] Der älteste Sohn war infolge der Ränke der berüchtigten Königin Nancia, die ihrem Schützling die Nachfolge auf den verstorbenen Fürsten verschafft hatte, um sein NadJ.folgerecht gebracht worden.

4] Diese Stadt Thschi lag nicht im Staate Thschi- die beiden Namen werden mit verschiedenen Schriftzeichen geschrieben.

5] Der Vogel Phönix ist ein dem Paradiesvogel ähnlicher, mythischer Vogel, ein Symbol vollkommener Tugend.

6] Die Stelle wirft ein klares Licht auf die philosophische Bedeutung, die Konfuzius »dem Zeremoniell und der Musik« beimaß, und zeigt die Mangelhaftigkeit der Übersetzung des chinesischen Aus-­drucks Li und Yo mit »Zeremoniell und Musik«. Der logische Zu­sammenhang zwischen Zeremoniell und Musik, wie wir diese Wör­ter gewöhnlich übersetzen, und der Rechtsprechung kann nicht her­gestellt werden, außer durch Erweiterung ihrer Bedeutung durch Prinzipien der Sozialordnung (»Formen des Kultes und gesell7

schaftliehen Verkehrs«), wie noch im Kapitel VI erläutert werden wird. Der philosophische Sinn ist hier, wenn die sittliche und ge­sellschaftliche Ordnung nicht geregelt und die richtige Seelenhal­tung des Volkes nicht wiederhergestellt wird, so sei es ein leerer Wahn, zu vermeinen, Friede und Ordnung ließen sich durch Be­strafung der Rechtsbrecher wahren.

7] Hier ist die Zeitangabe ein wenig ungenau, aber die Urkunden weisen auf das Jahr 484 v. Chr.

Page 194: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

8] In Wirklichkeit waren es I3 Jahre seit seinem Weggang von Lu im Jahre 496 v. Chr. Die von Szema Thschien beigefügte chrono­logische Tabelle gibt 498 v. Chr. als Jahr des Wegganges an, was seinem eigenen Text widerspricht.

9] Ein Beispiel der wichtigen konfuzianischen Lehre von der Nach­ahmung, in Gestalt der Lehre von der Regierung durch Beispiel (siehe Kapitel V, 8. Abschnitt). ·

Io].Konfuzius hat daher ein konkretes Idealsystem einer Sozialord­nung, kultischer Zeremonien und einer Musik ausgearbeitet, die im großen und ganzen das der Tschou-Dynastie (n22-2u v. Chr.) war, welches zwischen dem schlichteren System der Hsia (2205 bis I784 v. Chr.) und dem verfeinerten der Schang (oder Yin, I783 bis I I23 v. Chr.) die ungefähre Mitte hielt. Dieses System war im Buche Tschouli festgehalten, welches (nach der Altschrift-Schule) angeblich zur Zeit der Gründung der Tschou-Dynastie vom Für­sten von Tschou verfaßt worden war. Die »Neuschrift-Schule« be­trachtet hingegen den vorliegenden Text des Tschouli als eine Fäl­schung und behauptet dazu noch, daß Konfuzius selbst der größte Fälscher gewesen sei, da er seinen eigenen Auffassungen histori­schen Rückhalt zu geben versucht habe, indem er sie dem sagenhaf­ten Fürsten Tschou zuschrieb. Die Grundlage dieser »Neuschrift­Schule« ist der »Königsbefehl«, Kapitel IO des Liki, in welchem ein vollständiges Regierungssystem entworfen wird.

I I] Das von Konfuzius herausgegebene Liederbuch weist heute eine Einteilung in vier musikalische Kategorien auf: I. das sung, 2. das große Y a, 3. das kleine Y a, 4· das }eng oder die Volksmusik jener Zeit, nach Ländern geordnet. Abgesehen von den Noten läßt sich im Text keinerlei Unterschied zwischen diesen vier Kategorien feststellen.

12] Konfuzius nahm eine geradezu erstaunliche Menge von Liebes­liedern .in seine Sammlung auf - über geheime Zusammenkünfte von Liebespaaren und über Entführungen, Lieder, die an sich hoch­poetisch sind, doch die konfuzianischen Kritiker stets ein wenig befremdet haben.

I3] Diese Aussage stimmt nicht ganz, da ja Konfuzius fortwährend über echtes Menschentum sprach; bloß wenn er lebende Beispiele dieses echten Menschentums anführen sollte, hielt er sich stets zu­rück, wie ich schon in der Einführung erwähnt habe. Denn offen­bar können Bezeichnungen wie »vornehmer Mensch«, »echter Mensch« und »ganzer Mann« zu durchaus gebräuchlichen Begriffen oder Ausdrücken werden, ohne daß sie jemand genau zu definieren vermöchte. Wer kann überhaupt »echtes Menschentum« definieren? Sokrates sprach von »Selbsterkenntnis«, aber weder Philosophen noch gewöhnliche Menschen werden sich je darüber einig werden, was unser wahres Selbst eigendich ist.

Page 195: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

14] Das hier verwendete Material sowie viele andere Zitate der »Lebensbeschreibung« sind offenbar den ~Sprüchen« entnommen. Die meisten Zitate sind leicht wiederzuerkennen, auch wenn sie mit den entsprechenden Stellen der »Sprüche« nicht immer wörtlich übereinstimmen.

15] Konfuzius hatte einen tief religiösen Sinn und empfand eine scheue Ehrfurcht vor den Göttern, von denen er unumwunden er­klärte, er könne sie nicht erkennen. Er war jedenfalls uin die Ab­haltung religiöser Zeremonien ernstlich b.esorgt und pflegte auch zu beten, zwar 'nicht mit Worten, aber offenbar still. Denn als er einmal schwer krank war und einer seiner Jünger ihn bat, in den Tempel zu gehen und dort zu beten, antwortete er ihm, e.r habe smon lange gebetet. Er glaubte aber nicht an die Erhörung von Gebeten im üblichen Sinn, denn er sagte: »Wer Sünden gegen den Himmel begangen hat, hat keinen Gott, zu dem er beten könnte.« Dieser Ausspruch bedeutet offenbar, daß er an das unter anderen Umständen verrichtete Gebet glaubte und daß für ihn die Wirk­samkeit einer solchen geistigen Vereinigung darin lag, das Herz oder das Verhalten des Menschen in Einklang mit den Gesetzen Gottes zu bringen.

x6] Die von Konfuzius selbst verfaßten :oFrühlings- und Herbst­Annalen« endeten mit diesem Jahr und es heißt meistens, dieses Buch schließe mit der Erscheinung eines Einhornes, das das Auf­treten eines Weisen symbolisiert.

17] Nach der Oberlieferung kündigt das Auftreten solcher Geschöpfe das Erscheinen eines Herrscher-Philosophen an.

18] Ein Mau mißt etwa ein Ar. 19] Szema Thschien war der alntlich bestallte Geschichtsschreiber des

Han-Hofes und stammte aus einer Familie, in der dieses Amt erb­liCh war. ,. Tai-schin-kung« oder »Großer Gesd:!ichtsschreiber« war sein Amtstitel. Am Ende jeder Biographie seines Schiki gibt er ge­wöhnlich eine knappe Zusammenfassung oder Kritik des Charak­ters der behandelten Persönlimkeit.

III. EINKLANG DER MITTE

x] Tschung bedeutet »Mitte« und yung bedeutet »beständige. Der ganze Gedanke drückt den Begriff einer Norm aus. Es ist möglich, daß die Absd:!nitte z, 3, 4, 5, 6 ursprünglich ein Werk für sich bil­deten und erst später mit den anderen Abschnitten (x, 7• 8, xo) ver­eint wurden. Der Stil ist in beiden Teilen ganz .verschieden. Dies erklärt den plötzlichen Obergang von Tschungho (zentraler Ein­klang) des ersten Absd:!nittes in Tschungyung (Goldener Mittel­weg) des zweiten Absd:!nittes.

13/154 193

Page 196: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

1] Dieser Abschnitt befindet sich im ursprünglichen konfuzianischen Text. Seinem Inhalt nach scheint er aber eher ein Kommentar zu sein.

3] Dieser Abschnitt ist wahrscheinlich aus den anderen ,.alten Ur­kunden« hierher übernommen worden. Konfuzius hatte mehrere Unterredungen mit Fürst Ai, die zum Teil in die »Große Taic­Sammlung aufgenommen sind.

-4] Ku übersetzt sie mit: Intelligenz, sittlicher Charakter und Tap­ferkeit.

sl Dieser Abschnitt, vom Beginn des Kapitels an, steht im »Book of Mencius«, Book IV, Part I. Die ganze Unterredung ist auch in den »Confucius' Family Records« (Khungtse Tschiayu) ohne den nachfolgenden Abschnitt wiedergegeben.

6] Dieser Abschnitt bildet im chinesischen Text ein »Kapitel« für sich. Die Übersetzung dieses Abschnittes und der beiden folgenden geht nicht auf die Version Kus, sondern auf Lin Yutang zurück.

7] Hier sehen wir den Zusammenhang zwischen der Verwirklichung des wahren Selbst und der Harmonie mit der Außenwelt; zwischen »Unparteilichkeit« und »Harmonie«.

8] Die beiden folgenden Abschnitte sind aus »Kapitel 18« hierher übernommen. Die »drei wichtigen Dinge« (Stellung, Charakter und Berufung auf die Geschichte) werden sonst unverständlich.

IV. ETHIK UND POLITIK

1] Der Originaltext (des Tscheng Hsuan), vor der Neufassung durch Tschu Hsi, endet mit den zwei Zeilen: »Das heißt: die Wurzel der Dinge erkennen, das heißt: wahre Erkenntnis erlangen.« Die zweite Zeile führt dann zu unseren Abschnitten 4 und s, wodurch der logische Gedankenablauf schroff unterbrochen wird. Ich für meinen Teil meine nun, daß diese zwei Zeilen in Wirklichkeit zum Abschnitt 3 gehören, in dem Konfuzius sagt, er stehe als Richter niemandem nach, aber er möchte es lieber so einrichten, daß Men­schen, die Verbrechen begingen, sich schämen würden, sich zu ver­teidigen, und die Leute vor dem großen weisen Richter Bangen empfinden würden - ein Beispiel der Erlangung wahrer Erkenntnis und wahrer Weisheit. Ich meine, daß diese Stelle im ursprüngli­chen Text (vor Tscheng) mit der Zeile endete: »Das heißt: die Wur­zel oder Grundlage der Dinge erkennen.« Tschu Hsi hingegen nahm die beiden am Ende des von ihm neu zu fassenden Textes be­findlichen Zeilen heraus und versetzte sie an eine viel spätere Stelle, weil er sie für die Endzeilen eines fehlenden Absatzes hielt.

1] In Wirklichkeit war das schon zu Konfuzius' Zeiten eine falsche Lesung der Bronze-Inschrift. Der darin ausgedrückte Gedanke ist

Page 197: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

schön, aber philologisch ist das ganz abwegig. In Wirklichkeit lautete nämlich die Inschrift: »Mein älterer Bruder hieß Hsin; mein Großvater hieß Hsin und mein Vater hieß Hsin«, wobei Hsin einer der gebräuchlichsten Namen der Schang-Dynastie und eins der Schriftzeichen des Zwölfer-Zyklus war.

3) Dieser letzte Satz ist in diesem Zusammenhang sinnlos und ge­hört logisch wohl zum Abschnitt über die Erlangung wahrer Er­kenntnis.

4) Das ist wahrscheinlich wiederum eine fMsche Auslegung des Ori­ginaltextes durch Konfuzius.

5] Hier folge ich im großen und ganzen der Übersetzung von Legge. Dieser Absatz wurde von Tschu Hsi aus einer anderen Stelle hier­herversetzt.

6] Im Texte Tschengs steht diese letzte Zeile am Ende des Abschnit­tes 1, von wo ich sie hierher versetzt habe. Das ist die einzige von mir vorgenommene Textänderung, außer, daß im Tschu Hsis Bei­spiel gefolgt bin und den Abschnitt 2 an seine jetzige Stelle ge­rückt habe. Meiner Meinung nach ist das Vorhandensein der letz­ten Zeile am Ende des AbschnittS 1 im Text des Tscheng Ursache der Versetzung oder Verrückung des Absmnitts 4 und zweier an­derer Zitate unmittelbar an die Stelle im Anschluß an Abschnitt I.

7] Dieser Gedanke wurde später von Mencius weiterentwickelt.

V. DIE APHORISMEN DES KONFUZIUS

I] Dies ist ein Beispiel der großen Verantwortung eines Obersetzers alter Texte, die zu versmiedenen Vermutungen Raum lassen. Der Urtext besteht nur aus den zwei Worten: .. Ohren- Akkord.«

2] Wörtlich: »kein Dürfen, kein Nicht-Dürfen«. Später erklärte Mencius dies damit, daß Konfuzius ein sehr geschmeidiger Cha­rakter gewesen sei, der sich den Erfordernissen des Augenblicks an­zupassen wußte. So konnte er, wenn nötig, Beamter sein oder es aum ablehnen, Beamter zu sein. Im Gegensatz ZU den oben er­wähnten Einsiedlern bestand in seinem Wesen ein positiver Drang neben einer philosophischen Resignation.

3] Für weitere Einzelheiten unter II, 4· 4] Es gibt kaum ein anderes Thema, das Konfuzius und seine Schü­

ler eingehender behandelt hätten als gerade das »echte Menschen­turne. Siehe Kapitel VI, >Erste Abhandlung<. Dies ist demnach ein offensichtlicher Irrtum; es sei denn, es bedeutet, daß Konfuzius nicht damit einverstanden war, Leute, die von seinen Schülern be­wundert wurden, •echte Menschen« zu nennen.

5) Da beides unfair ist. 6] Im modernen China erwartet man von diesen Göttern, daß sie

im Himmel für die Menschen eintreten.

1J• 195

Page 198: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

7] Fürst Tschou war das Symbol eines Sitten-Gesetzgebers und der Begründer des Regierungssystems der Tschou-Dynastie, die Konfu­zius wiederherzustellen trachtete.

8] Die orthodoxe Auslegung ist, daß Tselu im Erlernen der Lehren von Konfuzius schon Fortschritte gemacht habe, aber sie noch nicht ganz beherrsche. Ich möchte eher annehmen, daß Konfuzius sagen wollte, Tselu habe nur in· der Halle, aber nicht in einem inneren Raum gespielt, was schließlich nicht so unverzeihlich war.

9] Liki, Kapitel 32 gibt" eine ausführliche Darstellung: Konfuzius sagte: »Es gibt drei Arten wahren Menschentums: Die einen be­nehmen sich wie echte Menschen, aber sie tun es aus anderen Moti-· ven; somit sind diejenigen, die sich als echte Menschen geben, nicht immer echt. Andere haben die gleichen Fehler wie die echten Men­schen; diese sind bes,timmt echte Menschen. Die echten Menschen sind glücklich und natürlich in ihrem echten Menschsein. Die Wei­sen wählen das Benehmen echter Menschen, weil es sich lohnt; aber diejenigen, die sich vor. dem Gefängnis fürchten, wählen das Be­nehmen echten Menschseins ganz gegen ihren Willen , .. « Dies ist wiederum ein Beispiel, wie gewisse hervorragende Aussprüche von Konfuzius ohne Zusammenhang in die ,.Sprüche« aufgenommen worden sind. Der zitierte Ausspruch, der an Sainte-Beuve erinnert, scheint den Weg zu einem genaueren Verständnis von Konfuzius' Charakter durch die Beobachtung seiner Schwächen anzudeuten.

ro] Aus dem Text geht nicht hervor, ob sich diese Bemerkung auf das Wahre oder das Lernen bezieht; es steht nur· das Wörtchen »es«.

r 1] Dieses Beispiel zeigt, wie unzutreffend es ist, das chinesische Wort jen als »Freundlichkeit«, » Wohlwollene oder »ein freundlicher MensCh« oder »ein wohlwollender Mensch« zu übersetzen.

11.] In Konfuzius' Lehren gibt es vier klar umrissene und von Men­cius ausgiebig besprochene Menschenklassen.

Nach Mencius waren diejenigen, die der Mitte folgten, ideale Menschen. An zweiter Stelle, da diese. idealen Menschen schwer zu finden waren, zog Konfuzius es vor, mit den Glänzenden, aber Unbeständigen zu arbeiten; diese Kategorie beschrieb Mencius als •idealistisch und mitteilsam, von den Alten begeistert und im We­sen frei und ungezwungen, ohne zu versuchen, ihre Fehler zu ver­stecken«. Als Beispiele dieser Kategorie führte Mencius ein paar Leute an, die den konfuzianischen Sittenkodex vergewaltigten. (Laut Tschuangtse pflegten sie beim Begräbnis ihrer Freunde zu singen.) Mencius fährt sodann fort und sagt: •Da Konfuzius nicht immer glänzende aber unbeständige Menschen finden konnte, be­gnügte er sich, init jenen zu arbeiten, denen vor allem daran gele­gen war, korrekt zu sein, den Tschuan, welche als Klasse nach den Khuang kamen.« In der Beschreibung der vierten und letzten Klasse, der Diebe der Tugend, soll Konfuzius laut Mencius gesagt haben:

196

Page 199: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

»Die Sorte Menschen, die es ruhig unterlassen können, in mein Haus zu kommen und mich zu besuchen, sind die hsiangyan (oder Tugendbolde). Die hsiangyan sind die Diebe der Tugend.« In Be­antwortung einer Frage über diese Menschenklasse beschreibt Men­cius sie wie folgt: »Sie sagen: >Warum soll man idealistisch sein?< Wenn sich die Worte der Idealisten nicht mit ihrem Benehmen decken und ihr Benehmen nicht mit ihren Worten, sagen sie: >Die Alten! die Alten! Warum sind sie so anmaßend, so kühl und gleich­gültig? Wenn einer in der heutigen Welt lebt, sich an die Norm der heutigen Welt hält und es ihm gelingt, genügt es vollkommen.< Es ist die Menschenklasse, die ganz zufrieden ist, sich die Anerken­nung der Gesellschaft zu sichern. So sind die hsiangyan.« Hsiang­yan bedeutet wörtlich; was ·man im allgemeinen »gute Leute«

· nennt oder »Tugendbolde«. Mencius wurde sodann gefragt, war­um Konfuzius· diese Leute »Diebe der Tugend« genannt habe, wenn man sie sonst als ,.gute Leute« (oder nette Leute, oder ange­sehene Leute) bezeichnete. Mencius antwortete: »Man möchte sie kritisieren, und sie scheinen so fehlerlos; man möchte sie schmähen, und sie scheinen so korrekt. Sie stimmen mit den Konventionen des Tages überein und identifizieren sicll sodann mit der Zeitströmung. In ihrem Leben scheinen sie so ehrlich und glaubwürdig, und in ihrem Benehmen scheinen sie so moralisch. Jeder mag sie gerne, und so sind sie ganz zufrieden mit sich selbst. Aber es ist unmög­lich, sie auf den Weg der Kaiser Yao und Schun zu führen. Darum sagte Konfuzius: >Die Tugendbolde (oder hsiangyan oder die so­genannten ,angesehenen' Leute) sind die Diebe der Tugend!< c

Gleich nach dieser Beschreibung zitiert Mencius, was Konfuzius über die Dinge gesagt hat, die den wirklichen Dingen gleichen, aber keine wirklichen Dinge sind, und die Art von Menschen', die er haßte. Siehe Ende des Kapitels.

13] An Hand von Beweisen scheint Tsetschang der Glänzendere und an philosophischen Prinzipien Interessiertere gewesen zu sein; während Tsehsia, der später ein großer Lehrer wurde und sich nach· dem Tode von Konfuzius auf das Liederbuch spezialisierte, der Typ eines pedantischen, gewissenhaften Professors war.

1-4] Eine Wahl zwischen ungeschliffener Einfachheit und dekadenter überfejnerung oder Formalismus - ein sehr wichtiger Punkt, in Anbetracht der allgemeinen Beschuldigung, der Konfuzianismus sei formalistisch. Diese allgemeine Kritik war gewiß berechtigt, wenn sie gegen die Anhänger der konfuzianischen Lehre in den nachfolgenden Jahrhunderten gerichtet war.

15] Siehe Kapitel VI. 16] Dies ist die orthodoxe und wahrscheinlich korrekte Auslegung.

Im Urtext besteht dieser Satz nur aus drei Worten: »Li- dahin-ter - ist es so?« ·

197

Page 200: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

VI. DREI KONFUZIANISCHE AllHANDLUNGEN

r] Im Original ohne Anführungszeichen. Es ist daher nicht festzu­·stellen, wo die eigentlichen Worte des Konfuzius enden.

z] Die angeführten Schriften sind die damaligen sechs Klassiker. 3] Die Frühling- und Herbst-Annalen, wie sie uns heute vorliegen, sind eine von Konfuzius selbst verfaßte Chronik der Ereignisse in den Jahrhunderten vor ihm. Aber der Name Frühling und Herbst oder Thschun Thschiu war zu des Konfuzius Zeiten zu Bezeich­nung von Chroniken verschiedener Länder allgemein gebräuchlich. Es gab damals mehrere solcher Thschun Thschiu. Die zur Zeit des Konfuzius und in den Jahrhunderten vor ihm herrschende Sitten­losigkeit ist geradezu unvorstellbar. Könige wurden von ihren Verwandten ermordet, Prinzen heirateten die Konkubinen ihrer Väter, und es gab vielfältige blutschänderische Beziehungen; alle mächtigeren Adligen, Grafen und Fürsten nannten sich ,.Könige« und im Kulte herrschte eine große Verwirrung. Ein treffliches Bild dieser sozialen und sittlichen Verwirrung gibt das Fangtschi (Ka­pitel 30 des Liki), aus dem wir einen Begriff von der sozialen Um­welt erhalten, welche es verständlich machte, warum Konfuzius das Li oder die Wiederherstellung der Feudalordnung als Allheil­mittel gegen die sozialen übel seiner Zeit hinstellte.

4) Die chinesischen Wörter für •Regierung« und .richtig seine oder •richtig machen«, »ins Lot bringen« haben genau die gleiche Aus­sprache. Das Schriftzeichen für •Regierung« besteht aus den Kom­ponenten •recht« und einer Kausativpartikel, wobei das Ganze •ins Rechte bringen, normalisieren« bedeutet. Der Begriff •Tschengc oder •Richtigkeit« läßt sich eigentlich nicht wirklich übersetzen. Er kommt etwa in Ausdrücken vor wie •wenn die Führung richtig ist« oder •die rechte Gattung Mensch« oder »das richtige Verhal­tene, So kommt er dem deutschen Wort .recht, richtig« am näch­sten. Er hängt auch mit Begriffen wie »rechtschaffen«, »rechtgläu­bige zusammen, mit »schehc oder •falsche als Gegensatz. Ein •tscheng«-Mensch ist einer, •der stets das Rechte tun wille, wäh­rend ein •schehc-Mensch immer an unlautere Mittel zur Erlangung unsauberer Ziele denkt.

5] Der Ausdruck Tschuntse läßt sich smwer wiedergeben und wurde von den Obersetzern mit der .Edle«, der •höhere Menschc, der •höherstehende Mensch«, der ,.fürstliche Mensch«, der" Vornehme« und der •Herrscher« übersetzt. Er hatte wohl eine doppelte Be­deutung, nämlich einerseits des idealen •Edlen«, ,. Vornehmen« oder •höheren Menschen«, das ist also ein Mensch, der gelehrt und charakterlich gebildet ist, zum Unterschied vom •gemeinen« oder »niederen« Menschen. Die zweite Bedeutung ist die des »Herr­schers«. In den Abhandlungen des Konfuzius kommen die beiden

198

Page 201: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Bedeutungen fortwährend nebeneinander vor und gehen unmerk­lich ineinander über, ·so daß dieses Wort praktisch das konfuzia­nische Ideal des weisen, guten und gebildeten Herrschers darstellt, ähnlich wie Platos »königlicher Philosoph«. Im allgemeinen gab es ja tatsächlich so eine gebildete Oberschicht, zum Unterschied vom ungebildeten, schreibunkundigen Volk, und Konfuzius gab dieser Unterscheidung zwischen den höheren und niederen Menschen eine moralische Bedeutung. Das Gegenteil von Tschuntse ist hsiao jen, wörtlich der »kleine Mensch«, ein Ausdruck, der infolgedessen gleichfalls zwei Bedeutungen· hatte, die des moralisch Tief stehen­den und die des »commoners« im englischen Sinne.

6] Hier werden zwei Auffassungen deutlich unterschieden. Erstens die Gesetze des Menschen, Jen: Tao, ein Begriff, der zu Beginn die­ser Untersuchung mit »menschliche Gesittung« übersetzt wurde, über den Fürst Ai fragte und den Konfuzius als "Regierung« aus­legte. Bis hierher betrifft das ganze Gespräch die Regierung oder die Gesetze des Menschen. Nun fragt der Fürst aber über die Ge­setze Gottes, weil Konfuzius über das Leben in Einklang mit dem Gesetze Gottes gesprochen hat.

7] Ta heißt "große und Thung heißt "gemeinsame. 8] Die Zeremonie, durch welche einem Knaben, der in das Jüng­lingsalter eintritt, eine Mütze aufgesetzt wird.

9] Khun versinnbildlicht die Erde oder das weibliche, Thschien den Himmel oder das männliche Prinzip. Es ist bemerkenswert, daß in der Schang-Fassung das weibliche vor dem männlichen Prinzip kommt.

xo] Es gab einen religiösen Kult des Höchsten Herrn, Schangti, der hier und ganz allgemein von den chinesischen Christen gebrauchte Ausdruck für Gott; daneben gab es auch einen anderen religiösen Kult, der als Höchsten Herrn den Himmel, Thien, verehrte. Die dem Schangti und die dem Thien dargebrachten Opfer und Ver­ehrungsformen waren verschieden, und die beiden Religionen wurden von verschiedenen Stämmen ausgeübt. Zur Zeit des Kon­fuzius herrschte darin schon eine ziemliche Verwirrung, da die bei­den Religionen sich miteinander vermischt hatten und Konfuzius selbst an mehreren Stellen sagte, er sei außerstande, die Gebräuche der Himmelsverehrung in ihrer ursprünglichen Forin zu rekon­struieren, und daß es, wenn er dazu imstande wäre, gar nicht schwer sein dürfte, das Land zu regieren. Demnach dürfte er irgendwie daran gedacht haben, die Theokratie des Altertums neu zu errichten.

n] Die Antwort der Toten wurde von einem als schih bezeichneten kleinen Kind verlesen, das die Abgeschiedenen darstellte. Dieses schih ist auch heute noch eine wichtige Person bei allen Toten­opfern.

I99

Page 202: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

Ii) Die chinesisdten Ausdrücke für »Natur«, »Gefühle«, »Herze, »Geist«, »Wille« sind im Vergleidt zu den C!ntsprechenden europäi­schen Begriffen ein wenig anders abgtgren.zt. Hsin bedeutet Herz und Geist; Hsing: ursprüngliche Natur, Geist; Thsching: Gemüt; Tschih: Wollen, Hoffnung, Streben; Yi: Gedanken, Absichten; Yu: Begierden; Jen: Sittlichkeit, echtes Menschentum; Tschih: Weisheit, Verstand.

13] Es gibt fünf verschiedene Auslegungen dieser fünf Opfer, von denen die eine sie als Kultus der fünf Elemente, und andere als Kultus der Türe, der Straße, der' einflügeligen Türe, der Küche, des Hausflurs usw. auffassen. · .

1-4] Nach dem Buch der Wandlu~gen gehen alle Erscheinungen die­ser Welt auf das Wirken oder Aufeinanderwirken der beiden Prinzipien Yin und Yang zurück, die sich wiederum beide auf das Ur-Eine zurückführen lassen.

I 5] Li bezeichnet hier ein ganz deutlich religiöses Prinzip, und dies erkHirt auch den ganz unverhältnismäßigen Nachdruck, der im konfuzianischen System auf Begräbniszeremonien gelegt wird. Die, bis ins einzelne gehenden Beschreibungen der Bestattungszeremo­nien im Liki sind geradezu überwältigend.

16) Der chinesisch«! Ausdruck ist Yi, der hier ·anscheinend die wohl­abgegrenzten zehn Pflichten menschlicher Beziehungen meint. Es ist das daher die konkrete Betätigung des allgemeinen Li-Prin­zips .. Li und Yi bilden ofl: zusammen einen schwer zu übersetzen­den Ausdruck, der hier als »die Pflichten des Lit< wiedergegeben wurde. Die offizielle chinesische Auslegung des Yi ist, daß es das bedeutet, was »recht oder geziemend ist«. Der nun folgende Be­griff Jen wird als »echtes Menschentum« interpretiert, das heißt er verkörpert das konfuzianische Ideal des echten oder vollende­ten Menschen.

VII. OBER ERZIEHUNG

x] »Jedes zweite Jahre ist die übliche Auslegung. Der Ausdruck tschung nien kann jedoch auch »in der Mitte des Jahres« heißen, ebenso wie »im dazwischenliegenden Jahr« (oder: jedes zweite Jahr). Nach dem Tschouli fanden jedoch die großen Prüfungen alle drei Jahre statt. ·

z] Nach dem Neitseh (Kapitel u, Liki) war' das Schuleintrittsalter zehn Jahre. Der Unterricht in Musik, Dichtkunst, Tanz und Bogenschießen begann mit dreizehn Jahren. Das- weist auf eine neunjährige Studiendauer zwisdten dem zehnten und dem neun­zehnten Jahre, wobei die letzten zwei Jahre zwischen der »klei­nen« und der »großen Stufe« als »Mittelschule« angesehen wur­den. Mit zwanzig begann dan_n das akademische Studium. Männer

zoo

Page 203: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

sollten mit dreißig und Mädchen mit zwanzig Jahren heiraten, spätestens, »wenn besondere Gründe vorlagen«, mit dreiund-zwanzig. .

3] Der dritte Abschnitt des Liederbuches, die klassischen Gesänge der Tschou-Dynastie also. Diese drei ersten Lieder wurden angeb­lich bei den Gastmählern gesungen, die der Kaiser für seine Mini­ster veranstaltete.

4] Die Auslegungen dieser Stelle über das Große Opfer gehen aus­einander. Manche fassen es als ein alljährlich im Sommer darge­brachtes Opfer auf, andere als eine Opferfeier, die nur alle fünf Jahre einmal veranstaltet wurde.

s] Das Liederbuch ist voll von Namen von Insekten, Fischen, Vö­geln, Säugetieren, Bäumen und Blumen. Es gibt Kommentare zum Liederbuch, die eigentlich nichts anderes sind als botanische und zoologische Kompendien.

VIII. OBER MUSIK

x] Im gesamten System konfuzianischen Denkens spielt die Symbo­lik eine bedeutende Rolle. Konfuzius denkt offenbar stets an die Notwendigkeit äußerer Symbole für das Volk, nämlich an Ausdrucksformen, die das niedere Volk begreifen kann. So wie. die Krone das Symbol der Befehlsgewalt des Königs ist, war die Sonne das Symbol des Königs und der Mond Symbol der Königin, und die verschiedenen Weihegefäße und Rangabzeichen sollten Sym­bole der weltlichen und geistlichen Obrigkeit sein. Abendländische Musiker kennen die verschiedenen Gefühlswerte der verschiedenen Tonleitern, wie der •lydischen« und »äolischen«. Aber abgesehen d:rvon muß man, um diese musikalische Symbolik zu verstehen, mit der Kosmogonie des alten China vertraut sein, welche meinte, alles Leben sei das Ergebnis der Wechselwirkung der Fünf Ele­mente und letztlich der beiden Grundprinzipien Yin und Y ang. Diese· beiden Prinzipien beherrschen sowohl die Natur wie die menschliche Gesellschaft, und das Ideal der Konfuzianer war, die Führung der menschlichen Angelegenheiten mit qen kosmischen Gewalten in Einklang zu. bringen. Somit entsprechen den fünf Elementen Metall, Holz, Wasser, Feuer und Erde die »fünf Far­ben«, ,.fünf Geschmäcker«, »fünf Tönec der pentatonischen Skala, die »fünf Beziehungen« des Familiensystems und die ,.fünf Hirn~ melsrichtungenc (Osten, Westen, Süden, Norden, Mitte). Jedes Herrscherhaus hatte eine symbolische »Richtung«, die durch eine Farbe ausgedrückt wurde. Eine genaue Behandlung des altchine­sischen Musiksystems findet sich im höchst interessanten und sach­kundigen Werke »Foundations of Chinese Musical Art« von J. H. Lewis (V elck, Peiping).

20[

Page 204: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

2] Ein Wortspiel, wie es die Gelehrten des Altertums liebten. Das Schriftzeichen für •Meisterschaft« und das für »Tugendc wurden beide T eh ausgesprochen.

3] Ein Saiteninstrument, das länger ist als das Tbschin mit fünfzig (oder später fünfundzwanzig) Saiten und das gewöhnlich das Thschin begleitete und die tieferen Töne lieferte. Beide Saiten­instrumente zeichnen sich durch besonders ruhige, langsame Ton­folgen aus.

4] Bezüglich einer Musik, die einen bestimmten Herrscher feiert, siehe Abschnitt 5·

5] Hier ist der Text nicht ganz eindeutig. Einige Ausleger über­setzen .. die Trommele statt. »Schautänze«, und ,.zymbelnc statt »Kriegstänze<~, sowie ,.schlägt mit der Trommel den Takt« statt »Von Anfang bis zu Ende gehen die Bewegungen ineinander überc.

6] Es gab zwölf Normalpfeifen, in Dur und in Moll, die die volle diatonische Skala ergaben.

7] In diesem Abschnitt werden nur fünf der acht Arten der chine­sischen Musikinstrumente behandelt. Die drei anderen Arten sind: der Schlauch, die irdenen und die hölzernen Instrumente. Blech­musik fehlt gänzlich. Die Trommel vertritt die »Ledere-Instru­mente. Die Kommentatoren betonen, daß die einfachen Töne der Trommel, der viereckigen Holzkiste und der irdenen Pfeifen we­gen ihrer Schlichtheit zu sakraler Musik verwendet werden.

8] Daraus geht deutlich hervor, daß die Einschaltung der Melodie des Feindes, die von einem Geist der Zügellosigkeit und von furchtbarer Grausamkeit zeugt, ursprünglich in diese erzählenden Tongemälde nur zur Vervollständigung des Bildes aufgenommen wurde. Ober diesen Pinmou Tschia ist weiter nichts bekannt. Er und Konfuzius waren offenbar beide Musikbeflissene, welche die Sache in aller Freundschaft besprachen, und von hier an gibt Kon­fuzius seine eigene Auslegung, die an zwei Stellen der des Pinmou widerspricht.

9] Nach dem Schuking besteht die (dem Kaiser Schun zugeschriebene) Flötenmusik von Hsiao aus fünf Sätzen. Von dieser Hsiao-Musik sagte Konfuzius, sie sei vollkommen gut und vollkommen schön; von der Wu-Musik sagte er dagegen, sie sei zwar vollkommen schön, aber nicht vollkommen gut. Bei seinem Versuch, in die Hsiao-Musik einzudringen, enthielt er sich drei Monate lang aua Vergelnichkeit gänzlich des F~eischgenusses.

10] Pikan war ein guter Prinz, welcher zum Tode verurteilt wurde, weil er sich gegen die Grausamkeit seines Oheims, des Kaisers Tschou von Schang, gestellt hatte. Nach der Legende geht die Ab­stammung der Lin-Sippe - der ich selbst angehöre - auf diesen Prinzen zurück.

u] Das Gedicht Tsouyu kommt im Liederbuch vo.r.

202

Page 205: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

u] Ein Brauch, der (wie ich meine) ursprünglich aus praktischen Gründen beim Bogenschießen beobachtet wurde, wobei der linke Ärmel aufgerollt wurde; später wurde daraus ein Opferbraud:J.

IX. MENCIUS

1] Mencius betradttete stets die sittlidte Untersdteidung oder das Bewußtsein von Gut und Böse als etwas spezifisch Mensdtliches und sagte oft, ein Mensch, der diese Unterscheidungsfähigkeit nicht habe, »Unterscheide sich nidtt wesentlich von den Tieren«.

2] Anderswo definiert Mencius den »großen Manne als »einen, der das Herz eines Kindes nicht verloren hat«.

3] Im dtinesisdten Urtext gebraucht Mencius das Wort »Herz«, das idt hier wegen der begrenzten Bedeutung des Wortes »Herze im Deutschen mit »Gefühle übersetzt habe (a. a. 0. mit »Seele«). Der Mittelpunkt der gesamten Philosophie des Mencius ist der Begriff ,.Bewahren des Herzens« und »Nicht-Verlieren des Herzens«. An anderen Stellen mußte ich das gleiche Wort mit »Gefühle oder »Verstande wiedergeben. Natürlich kommt das deutsche Wort ,.Herze dem Begriff, den Mencius mit Hsin wiedergibt, am näch­sten, weil es zunädtst ein Begriff des Fühlens ist und nicht des Denkens. Aber das gleiche Wort wird im Chinesischen auch ge­braucht, um den »Geist« auszudrücken, denn es muß hier beson­ders betont werden, daß das Chinesische eine deutliche Unter­sd:Jeidung zwisdten Kopf und Herz nicht kennt. Das gilt nicht nur in grammatikalischer, sondern auch· in historisdter Beziehung. Mencius gebraucht da drei wichtige Wörter: »Herz« (einschließlich des Geistes oder Verstandes), ,.Gemüte (nämlich das Herz in. Tätig­keit) und »Begabung« (oder angeborene Fähigkeit), die in den ein­zelnen Mensdten verschieden stark entwickelt sind.

2.03

Page 206: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

NACHBEMERKUNG DES OBERSETZERS

Die dem Obersetzer gestellte Aufgabe war ungewöhnlich. Es galt, die von einem modernen chinesischen Kulturphilosophen in engli· scher Sprache niedergeschriebene Übertragung, Bearbeitung und Kom­mentierung eines altchinesischen Klassikers einzudeutschen. Der deutsche Text mußte sich demnach an die Fassung von Lin Yutang bzw. Ku Hungmiilg anlehnen, durfte dabei jedoch den chine~ischen Urtext nie ganz aus den Augen verlieren, um eine zulängliche und authentische deutsche Fassung der konfuzianischen Schriften zu er­reichen.

So ·wird dem deutschen Leser hiermit das klassische Werk des Kon­fuzius, gesehen mit den Augen eines modernen, amerikanisch vorge­bildeten Chinesen, vorgelegt. Diese Tatsache verleiht dem Buch einen besonderen Reiz; erklärt jedoch auch manche Subjektivismen . - so z. B. die mangelnde Berücksichtigung der europäischen Geistesent­wicklung, eine gewisse ~chiefe Betrachtung des Christentums usw. Alle diese Eigentümlichkeiten wurden jedoch gewissenhaft beibehalten, um den Text Lin Yutangs unverändert wiederzugeben.

Zur Transkription der chinesischen Eigennamen und Wörter sei ver­merkt, daß hier (wie im Band Laotse, Fischer Bücherei Nr. 89) die Umschrift entsprechend der deutschen Aussprache angewendet wurde. Vokale sind wie im Deutschen zu sprechen, die Konsonantenverbin­dungen Th, Ph und Kh wie scharf gesprochenes T, P, K - während T, P und K etwa wie deutsches D, Bund G zu sprechen sind; hinge­gen J und Y wie im Englischen, also J wie Dsch und Y wie deutsches J.

Das 5· Kapitel, »Die Aphorismen des Konfuziusc, wurde einer im Rascher Verlag vorbereiteten Übersetzung von Romana Segantini entnommen, um· eine zweite Fassung der deutschen Übersetzung zu nrmeiden. G. C.

204

Page 207: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

BÜCHER DES WISSENS

Band 89

LAOTSE Herausgegeben von Lin Yutang

•Die schwierige Aufgabe einer Ausgabe des Tao Te King wurde glanzvoll bewältigt. Einmal hat sich nicht irgendeinet, sondern Lin Yutang dem Auftrag unterzogen, die fünftausend Worte Laotses neu herauszugeben, und zudem kam er auf den glück­lichen Geda~ken, zu den einzelnen Sprüchen des BudJes vom Tao als zulängliche chinesische Kommentare die zugehörigen Gleichnisse Tschuangtses zu stellen. Wir sind also ein erstes Mal in der Lage, mühelos Laotse mit den Augen seines großen chi­nesischen Schülers und Interpreten zu lesen.« .Die. Tat", Ziirim

Band 144

IM ZEICHEN BUDDHAS Buddhistische Texte

Herausgegeben von Edward Conze

Edward Conze, Dozent an den Universitäten Oxford und Lon­don, Verfasser eines grundlegenden Werkes über Buddha und den Buddhismus, hat zusammen mit einigen wissensdJaftlichen Mitarbeitern bisher nur schwer zugängliche Zeugnisse des Bud­dhismus aus allen Jahrhunderten zusammengetragen und aus dem Sanskrit, Chinesischen, Tibetanischen, Japanischen und aus dem Pali ins Englische übertragen - Zeugnisse von einzigartiger Schönheit, Weltweisheit und Glaubenskraft Dieses Dokument von großem wissenschaftlichen und geistesgeschichtlichen Wert erschien erstmalig in deutscher Sprache in der Fischer Bücherei und gibt tiefen Einblick in das Wesen einer der großen Welt­religionen.

Jeder Band DM 2,20

FISCHER BÜCHEREI

Page 208: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

&I FISCHER BüCHEREI

1. Thomton Wilder Die Brtlcke von San Luls Rey 2. Thomas Mann Königliche Hoheit 4. Stefan Zweig Joseph Fonehe 5. Pearl S. Buck Die Frauen des Hauses Wu 7. Eve Curie Madame Curie 8. Hans Leip Jan Himp und die kleine Brise 9. Pranz Werfel Der veruntreute Himmel

11. Colette Mitsou 13. James M. Cain Serenade in Mexiko 15. Andre Maurois Benjamin Disraeli 19. Pranz Kafka Das Urteil

• 21. Lincoln Barnett Einstein und das Universum 22. Herman Melville BUly Budd I Benlto Cereno 23. Henry Williamson Salar der Lachs

• 24. Platon Sokrates Im Gespräch 28. E. von Keyserling Beate und Mareile 29. Elizabeth Russell Alle Hunde meines Lebens 30. Ernst Hardt Don Hjalmar 31. V. Sackville-West Erloschenes Feuer 32. Ricarda Huch Aus der Triumphgasse 33. Francis Jammes Drei Mädchen 34. Conte Corti Die Tragödie eines Kaisers 35. Bruce Marshall Das Wunder des Malachlas 38. Mary Webb Die Liebe der Prudence Sam 39. Kar! F. Boree Dor und der September 42. Joseph Conrad Almayers Wahn 44. Reinhold Schneider Philipp II. 45. Stefan Zweig Phantastische Nacht .(6. Stefan Andres Die Liebesschaukel

• 47. Sigm. Freud Abriß der Psydloanalyse • 48. J. E. Berendt Das Jazzbuch • 49. Steger/Howe Opernführer

50. Rudolph Wahl Karl der Große 51. Werner Helwig Raubfischer ln Hellas 52. Tennessee Williams Endstation Sehnsucht

• 53. Herbert Kühn Das Erwachen der Mensdlbeit 54. Thomas Mann Der Tod in Venedig 55. William Saroyan Ich heiße Aram 56. Goldschmit-Jentner Die Begegnung mit dem Genins 57. Hermann Brodl Esch oder die Anardlle 58. Andre Gide Die Schule der Frauen 60. Henry Benratb Ball auf Schloß Kobo!now

• 61. Julian Huxley Entfaltung des Lebens 62. Thornton Wilder Dem Himmel bin idl auserkoren 63. Theodor Heuss Smaltenbeschwörung 64. John Galsworthy Die dunkle Blume 65. Luise Rinser Die Wahrheit über Konnersrentla

• 66. 0. F. Regner Das Ballettbuch • 68. Sigm. Freud Psychopathologie d. Alltagslebens

69. Colette La Vagabonde

Zu beziehen durch jede Buchhandlung

FISCHER BüCHEREI· FRANKPURTIM · HAMBURG

Page 209: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

FISCHER BüCHEREI~ • 70. Pascal

71. Pearl S. Buck 72. Richard Gerlach

• 73. Johannes Hartmann 14. Jochen Klepper 15. Johan Bojer

• 16. Luther 71. Anne Frank 78. Eric Ambler

• 79. Pranz Altheim 81. Marianne Langewiesehe

• 82. Herbert Kühn 83. Albert Sdlweitzer 84. J ames Hilton 85. Thomas Mann

• 86. Hege! 81. A. Lernet-Holenia 88. lnge Sdloll

• 89. Laotse 90. Manfred Hausmann

• 91. Kar! Jaspers 92. G. K. Chesterton 93. Friedridl Schnack

• 94. Manfred Gräter 95. Evelyn Waugh 96. Edzard Schaper

• 97. Platon 99. G. v. Bodelschwingh

x 100. Dante 101. Rainer Maria Rilke 102. Eckart von Naso

• 103. Augustinus 104. Martin Buher 105. Jean Giono

• 106. Paul Nett! x 107. Pranz Werfe!

108. Felix Saiten • 109. Kierkegaard

110. Tennessee Williams

111. Werner Bergengruen • 112. Kar! Marx

113. Curt Hoboff

Auswahl: Reinhold SdlDelder Stolzes Herz ldl liebe die Tiere Das Geschidltsbuch Der Kahn der fröhlichen Leute Die Loiotflscher Einleitung: Helmut Gollwitzer Das Tagebuch Schirmers Erbschaft Gesicht vom Abend und Morgea Königin der Meere Der Aufstieg der Menschheit Genie der MensdlHchkeit Lebwohl, Mr. Chips Herr und Hund Auswahl: Friedridl Heer Die Standarte Die weiße Rose Herausgeber: Lln Yutang Abel mit der Mundharmonika Vom Ursprung u. Ziel d. Geschidlte Das Geheimnis des Pater Brown Der glückselige Gärtner Konzertführer Neue Musik Tod in Hollywood Das Leben Jesu Mit den Augen des Geistes Friedridl v. Bodelschwingh Die qöttlidle Komödie Rodln Seydlitz Herausgeber: H. U. v. BaUbasar Die Geschichte des Rabbi Nachman Das Lied der Welt Mozart Die Gesdlwister von Neapel Bambi Ausw. u. Elnleltg.: Henn. Diem Die Katze auf dem heißen Blech-

dach I Die tätowierte Rose Der Tod von Reval Ausw. u. Einleitg.: Pranz Borkenau Flügel der Zeit · Deutsche Gedichte 1900--1950

114. Mazo de Ia Roche Die Brüder und ihre Frauen • 115. Friedrich Nietzsche Zeitgemäßes und Unzeitgemäßes x 116. Georg Bernanos Tagebuch eines Landpfarrers

111. C. Mackenzie Das Whisky-Schiff • 118. S. Melchinger Theater der Gegenwart

119. Paul Claudel Verkündigung

Zu beziehen durch jede Buchhandlung

'FISCHER BÜCHEREI· FRANKPURTIM · HAMBURG

Page 210: Konfuzius, Hg. Lin Yutang (Fischer, 1957, 210pp)

FISCHER BÜCHEREI

120. F. E. Sillanpää • 121. Novalis

122. C. J. Burckhardt 123. VV.S.~augham

• 124. ~eister Eckhart x 125. Charles Lindbergb

126. Alan Paton • 127. VValter Gropius

128. Ina Seidel 129. VVolfg. Sdladewaldt

• 130. Thomas von Aquin 131. Rudolf G. Binding 132. Franz Kafka

• 133. ~acdliavelli • 134. Schopenhauer

P x 135. Heinrich von Kleist x · 136. Goethe

137. Andre Gide • 138. A. de Tocqueville

139. Erhart Kästner 140. Carl Zuck.mayer

P 141. Francesco Petrarca 142. A. Herdan-Zuck.mayer 143. Thyde ~onnier

• 144. Im Zeidlen Buddhas x i45. Georg BüCbmann

146. Daphne du ~aurier • 147. Sigm. Freud p 148. Shakespeare

149. Charles ~organ 150. Gertrud von le Fort 152. Christian ~orgenstern

• 165. Plutardl 153. VVilliam Saroyan

• 154. Konfuzius P x 155. Edgar Hederer

Sterben und Auferstehen Ausw. u. Einleitg.: WaltherReJua Bilder aus der Vergangenheit Silbermond und Kupfermünze Ausw. u. Einl.: Friedridl Heer Mein Flug über den Ozean Denn sie sollen getröstet werdea Ardlitektur. Wege zu einer

optischen Kultur Unser Freund Peregrin Griedlisdle Sternsagen Ausw. u. Einleitg.: .Josef Pleptlll" Erlebtes Leben Amerika Ausw. u. Einl.: Carlo Sdlmid Ausw. u. Einl.: Reinh. Sdlneld .. Die Erzählungen Goethe erzählt sein Leben Isabelle Die Demokratie ln Amerika Zeltbudl von Tumilad Der Seelenbräu Dichtungen, Briefe, Sdlriften Die Farm in den grünen Bergen Nans der Hirt Ausw. u. Einl.: Edward Conze Geßügelte Worte Kü6 mich nodl eillmal, Fremder Totem und Tabu Komödien DerRidlter Der Papst aus dem Ghetto Gedidlte Auswahl: Konrat Ziegler Mensdllidle Komödie Herausgegeben von Lin Yutang Das deutsche Gedidlt Vom Mittelalter bis zum 20 • .Jahrh.

Demnächst erscheinen 156. C. F. Ramuz

x '157. Edzard Sdlaper Das große Grauen in den Bergea Der Gouverneur

• 158. VVilhelm von Humboldt Ausw. u. Ein!.: HeinriCh Welnstodl: 159. William Faulkner 160. Peter Bamm

• 161. Werner Hofmann P 162. Sophokles ·

Die Unbesiegten Die unsidltbare Flagge Zeidlen und Gestalt Tragödien

Normalbände DM 1.90

• Bücher des Wissens und P Pantheon Klassiker DM 2.20

x und P x Großbände DM 3.30

FISCHER BüCHEREI · FRANKPURTIM · HAMBURG