Ökonomie im Kalten Krieg - download.e-bookshelf.dedownload.e-bookshelf.de/download/0000/6841/69/L-G-0000684169... · Gleichwohl, so der Einwand, bescherte der Kalte Krieg eine Vielzahl

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    konomie im Kalten Krieg

    Edition.Institut fr Sozialforschung

    HamburgerEdition.Institut fr Sozialforschung

    Hamburger

    Die Zahlen bersteigen unser Vorstellungsverm-gen. Dutzende von Billionen Dollar gaben Ost und West fr ihren Kalten Krieg aus um heie Kriege abschrecken oder gewinnen zu knnen, um im Wettlauf der Gesellschaftssysteme die Oberhand zu behalten oder um Einfluss auf die Schlssel-regionen der Dritten Welt zu gewinnen. Im vorliegenden Band ziehen 25 konomen und Wirtschaftshistoriker eine lang vermisste Bilanz. Sie wgen Soll und Haben aufseiten der Hauptkon-trahenten gegeneinander ab und legen dar, warum der Wirtschaftskrieg zwischen den Blcken von Anfang an mit stumpfen Waffen und unwilligen Mitstreitern gefhrt wurde und warum die Hndler einen lngeren Atem hatten als die Kalten Krieger. Dass die Dritte Welt den hchsten, oft ruinsen Preis fr den Kalten Krieg zahlte und in welchen Fllen lokale Eliten die Hauptverantwor-tung an diesem wirtschaftlichen Desaster trugen, wird anhand dieses systematischen berblicks ebenfalls deutlich.Nicht zuletzt geht es auch um die noch immer unabgegoltenen Hypotheken des Kalten Krieges vornehmlich um die Verwstungen der Umwelt, die bedenkenlos bei der Produktion von Waffen oder der Modernisierung der Wirtschaft in Kauf genommen wurden. Von 20 000 hochgradig ver-seuchten Orten in den USA ist die Rede; in den

    Nachfolgestaaten der UdSSR liegt die Zahl ver-mutlich noch wesentlich hher. Allein fr die Be-seitigung des Grbsten werden in den kommen-den Jahrzehnten Milliarden aufgewendet werden mssen.

    Bernd Greiner, Prof. Dr., Historiker, Politikwissen-schaftler und Amerikanist, Leiter des Arbeitsbe-reichs Theorie und Geschichte der Gewalt am Hamburger Institut fr Sozialforschung, Professor an der Universitt Hamburg. Christian Th. Mller, Dr. phil., Historiker, arbeitet zur deutschen Militrgeschichte des 19. und 20. Jahr-hunderts, zu Militr und Gesellschaft in der DDR sowie zu den auslndischen Truppen im geteilten Deutschland. Claudia Weber, Dr. phil., Historikerin, wissenschaft-liche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Theorie und Geschichte der Gewalt am Hamburger Institut fr Sozialforschung, wo sie die Massenerschieungen in Katyn in der politischen Kommunikation des Kalten Krieges untersucht.

    Nicht zuletzt war der Kalte Krieg auch ein Wirtschaftskrieg. Billionen von Dollar gaben Ost und West aus, um in der Rstung die Oberhand zu behalten, um die berlegenheit ihres Gesellschaftssystems zu beweisen oder um Einfluss auf die Schlsselregionen der Dritten Welt zu gewinnen. Zweifellos wurden Ressourcen in der Grenordnung eines Weltkrieges vernichtet; zum Teil aber kamen diese Ausgaben der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung zugute.Wie Soll und Haben in Ost, West und in den Entwicklungslndern verteilt waren, diskutieren 25 Autoren in dem vorliegenden Band. Eine lang vermisste Bilanz, in der es auch um die noch immer unabgegoltenen Hypotheken des Kalten Krieges geht vornehmlich um die Verwstungen der Umwelt, die bedenkenlos bei der Produktion von Waffen oder der Modernisierung der Wirtschaft in Kauf genommen wurden. Milliarden werden fr die Beseitigung des Grbsten in den kommenden Jahrzehnten aufgewendet werden mssen.

    ISBN 978-3-86854-225-7

    Bernd Greiner Robert J. McMahon Roger E. Kanet Earl Conteh-Morgan Jason C. Pribilsky Ragna Boden Thomas Scheben Brigitte H. Schulz Judith Shapiro David C. Engerman Benjamin O. Fordham Monica R. Gisolfi Seth Shulman Christopher M. Davis Stephan Merl Paul R. Gregory Paul Josephson Martin Dangerfield Dagmara Jajesniak-Quast Patrick Gutmann Hanns-Dieter Jacobsen Frank Cain Shu Guang Zhang Christian Gerlach Christian Th. Mller

    http://www.his-online.de/verlag/hamburger-edition.html

  • Bernd Greiner/Christian Th. Mller/Claudia Weber (Hg.)

    konomie im Kalten Krieg

    Studien zum Kalten KriegBand 4

    Hamburger Edition

  • Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbHMittelweg 3620148 Hamburgwww.Hamburger-Edition.de E-Book 2011 by Hamburger Edition E-Book-Umsetzung: Drlemann Satz, Lemfrde ISBN: 978-3-86854-519-7

    der Printausgabe 2010 by Hamburger EditionISBN: 978-3-86854-225-7Redaktion: Jrg SpterUmschlaggestaltung: Wilfried GandrasTypografie und Herstellung: Jan und Elke EnnsSatz aus Sabon von Drlemann Satz, Lemfrde

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    Inhalt

    Bernd GreinerWirtschaft im Kalten Krieg. Bilanz und Ausblick 7

    Soll und Haben in der Dritten Welt

    Robert J. McMahonDie Macht der Schwachen 30

    Roger E. KanetVier Jahrzehnte sowjetische Wirtschaftshilfe 45

    Earl Conteh-MorganDie US-Entwicklungshilfe whrend des Kalten Krieges 63

    Jason C. PribilskyIndianerproblem, Agrarreform und der Kalte Kriegin den Anden 82

    Ragna BodenDas Scheitern der sowjetischen Modernisierungsoffensivein Indonesien 104

    Thomas SchebenWachstumsstrategien im Nahen Osten whrend des Kalten Krieges 124

    Brigitte H. SchulzDie zwei deutschen Staaten und das subsaharische Afrika 163

    Judith Shapirokologische Folgen der chinesischen Wirtschaftspolitikim Kalten Krieg 181

    Soll und Haben in den Zentren

    David C. EngermanDie USA und die konomie des Kalten Krieges 194

    Benjamin O. FordhamDie wirtschaftlichen und sozialen Folgen der amerikanischenMilitrausgaben 213

    Monica R. GisolfiFarmpolitik und die Entstehung des militrisch-industriellenKomplexes im amerikanischen Sden 234

  • 6 Inhalt

    Seth Shulmankologische Schden des Kalten Krieges in den USA 242

    Christopher M. DavisDie wirtschaftlichen und sozialen Folgen der sowjetischenMilitrausgaben 260

    Stephan MerlVon Chruschtschows Konsumkonzeption zur Politikdes Little Deal unter Breschnew 279

    Paul R. GregoryDer Kalte Krieg und der Zusammenbruch der UdSSR 311

    Paul JosephsonUmweltschden des Kalten Krieges in der UdSSR 326

    Kalte Krieger und Hndler

    Martin DangerfieldSozialistische konomische Integration. Der Rat fr gegenseitigeWirtschaftshilfe (RGW) 348

    Dagmara Jajesniak-QuastPolen, die CSSR und die Europische Wirtschaftsgemeinschaftwhrend des Kalten Krieges 370

    Patrick GutmannWest-stliche Wirtschaftskooperationen in der Dritten Welt 395

    Hanns-Dieter JacobsenDas Koordinationskomitee fr Multilaterale Exportkontrollen 416

    Frank CainDas US-Handelsembargo und Europa 438

    Shu Guang ZhangChina und die Wirtschaftssanktionen des Westens, 19501953 457

    Christian GerlachDas US-amerikanisch-sowjetische Getreidegeschft 1972 480

    Christian Th. MllerDer Erdgas-Rhren-Konflikt 1981/82 501

    Zu den Autorinnen und Autoren 521

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    Bernd GreinerWirtschaft im Kalten Krieg. Bilanz und Ausblick

    Die Verbindung einer immensen Militrbro-kratie mit einer groen Rstungsindustrie ist neuin unserer Geschichte. Die Auswirkungen sind injeder Stadt, jeder Landesregierung und in jederAbteilung der Bundesregierung zu spren wirt-schaftlich, politisch, selbst geistig. Wir verstehendie unhintergehbare Notwendigkeit hinter dieserEntwicklung. Und zugleich drfen wir nichtdie Augen vor den schwerwiegenden Folgenverschlieen. Wie wir arbeiten, wie wir mitunseren Ressourcen umgehen, wie wir unserenLebensunterhalt verdienen, all dies hngt damitzusammen.Prsident Dwight D. Eisenhower, Abschiedsredean die Nation, 17. Januar 1961

    Its the economy, stupid!Bill Clinton im amerikanischen Prsidentschafts-wahlkampf 1992

    Gegen Zukunftsangst und Alltagspanik im Kalten Krieg hielten Amerika-ner wie Sowjets eine gemeinsame Rezeptur bereit: permanent prepared-ness. Allzeit bereit klingt geflliger als totale Mobilisierung, meintaber dasselbe nmlich eine umfassende Indienstnahme wirtschaftlicher,wissenschaftlicher und technologischer Ressourcen zum Zwecke der Ab-schreckung und des Aufbaus einer kriegstauglichen, sprich berlegenenMilitrmaschinerie. Deren Wert wurde nicht mehr mit Infanteriedivisio-nen angegeben, sondern an der Stckzahl und Sprengkraft von Atom- undWasserstoffbomben samt ihrer Trgersysteme bemessen. Mit der Folge,dass militrische Auftraggeber ein nie gekanntes Interesse an Forschungund Technologie entwickelten und eine dauerhafte Allianz mit industriel-len Anbietern auf den Weg brachten.

    Im Grunde handelte es sich um das wirtschafts- und rstungspolitischePendant zur Diplomatie des brinkmanship. Sah sich Letztere dazu aufge-rufen, in Krisen bis zum Rande des Abgrunds zu gehen und dennochschwindelfrei das uerste zu verhindern, musste Erstere die prekre Ba-lance zwischen einer Akkumulation und Vernichtung gesellschaftlichenReichtums halten. So wenig am Ziel optimal ausgestatteter Streitkrfte ge-zweifelt wurde, so sehr mussten die gesamtwirtschaftlichen Belastungen

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    von Rstungsbudgets im Auge behalten werden. Sie zu berdehnen, warnur um den Preis politischer Instabilitt und mithin schwerer Rckschlgeim Ringen mit dem Systemkonkurrenten mglich.

    Die schieren Daten bersteigen das Vorstellungsvermgen eines Laien.Oder wer kann schon etwas mit der Zahl 7,2 Billionen Dollar anfangen?So viel, gerechnet in konstanten Dollars des Jahres 1982, haben die USAangeblich zwischen 1947 und 1989 fr ihren Kalten Krieg ausgegeben.Man muss nur einen anderen Dollarkurs als Fixwert zugrunde legen, dieRentenfonds fr pensionierte Soldaten und Offiziere mit einbeziehen so-wie die schwarzen Kassen von Pentagon und Energieministerium grobtaxieren, und schon stehen zweistellige Billionensummen zu Buche.

    In der UdSSR drfte es kaum anders gewesen sein. Der Konjunktiv ver-weist auf eines der zahllosen Probleme bei der Buchfhrung zum KaltenKrieg. Im sowjetischen Fall liegen schlicht keine verlsslichen Zahlen vor.Entweder wurden nur Stckmengen oder aber Preise protokolliert, die ad-ministrativen Vorgaben entsprachen und folglich mit den realen Kostenkaum etwas zu tun hatten. Schtzungen ber den Anteil der Rstungs- undMilitrausgaben am sowjetischen Staatshaushalt gehen dementsprechendweit auseinander: Der unterste Wert liegt bei 19, der oberste bei 33 Pro-zent. Dass die Aufwendungen, inflationsbereinigt, zwischen 1965 und1988 verdoppelt wurden, steht indes fest (Christopher M. Davis, PaulGregory).1

    Soll und Haben in den Zentren

    Wie diese Zahlen zu deuten sind, ist unter konomen und Wirtschaftshis-torikern umstritten. Man hat es mit einer Ressourcenvernichtung gigan-tischen Ausmaes mindestens in der Grenordnung der beiden Welt-kriege des 20. Jahrhunderts zu tun, argumentiert die eine Seite. Und fhltsich durch zahlreiche Untersuchungen besttigt, denen zufolge militri-sche Forschung und Entwicklung keinen Gewinn fr die Gesamtwirtschaftabwerfen. In der Tat: Der viel beschworene Spin-off ist selbst auf der Mi-kroebene nicht nachweisbar. Denn Unternehmen, die sowohl den mili-trischen als auch den zivilen Markt bedienen, sind zur Geheimhaltung

    1 Siehe auch Petra Opitz/Peter Lock, Deferred Costs of Military Defence: An Un-derestimated Economic Burden, in: Manas Chatterji/Jacques Fontanel/AkiraHattori (Hg.), Arms Spending, Development and Security, New Delhi 1996,S. 253266, hier S. 258.

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    und mithin dazu verpflichtet, ihre Abteilungen rigoros voneinander abzu-schotten.

    Gleichwohl, so der Einwand, bescherte der Kalte Krieg eine Vielzahl po-sitiver Impulse. Man denke etwa an die Aufstockung des Bildungsetats umjhrlich zwei Milliarden Dollar, die mit dem National Defense EducationAct von 1958 beschlossen wurde und eine nie gekannte Expansion desamerikanischen Bildungswesens auf den Weg brachte; oder an die Ent-scheidung des Pentagon, die Spitzenuniversitten mit ppigen Fonds frmilitrische Forschung auszustatten allein 1964 waren es 200 MillionenDollar. Als der Kongress 1956 den Federal Highway Act verabschiedeteund die Bundesregierung 90 Prozent der Kosten fr den Ausbau des Fern-straennetzes bernahm, wurden 40000 Straenkilometer neu gebaut.Eine Manahme, die auf Drngen des Militrs zustande kam und demWunsch Rechnung trug, im Notfall mglichst viele Truppen mglichstschnell verlegen zu knnen; dass die zivile Wirtschaft ebenfalls und mg-licherweise in noch hherem Mae davon profitierte, liegt auf der Hand.

    Und war die technologische Revolution in der Kommunikationstech-nik, beim Bau von Computern und in der Werkstoffentwicklung nicht demRaumfahrtprogramm geschuldet, dem fr beide Seiten wichtigsten Projektim Wettlauf um Prestige und Anerkennung? Mglicherweise, entgegnenSkeptiker, aber dergleichen Modernisierungs- und Wachstumseffekte ht-ten sich auch ohne den Kalten Krieg eingestellt, nmlich im Gefolgeder Globalisierung, des Bevlkerungswachstums, erweiterter Mrkte undeiner im Wesentlichen denationalisierten Weltwirtschaft. Andererseitssteht die These im Raum, dass die neue Wirtschaftsordnung des Westens,von der europischen Integration bis zur Einbeziehung Japans, erst unterdem Handlungs- und Konkurrenzdruck des Kalten Krieges zustande kam.Ganz zu schweigen von der Vormachtstellung der USA und den wirt-schaftlichen Vorteilen, die Washington aus seiner Position als militrischeSchutzmacht zu schlagen wusste.

    Fr jedes Argument liegt also ein scheinbar schlagendes Gegenargu-ment parat. Mit welchen Ergebnissen die zeithistorische Forschung knf-tig auch immer aufwarten mag, das grundstzliche Problem wird kaumaus der Welt zu schaffen sein: Was geschah whrend des Kalten Krieges?Und was geschah wegen des Kalten Krieges? Die Kontroverse wird wei-tergehen und auch in Zukunft zu Gedankenexperimenten im Sinne einercounterfactual history einladen.

    Apropos kontrafaktisch: Gesetzt den Fall, es htte keinen Kalten Kriegund keine berrstung beider Seiten gegeben, wren die fr Raketenund Panzer verpulverten Milliarden dann zum Nhrboden zivilwirtschaft-lichen Wachstums oder einer stabilen Grundversorgung mit Gtern des

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    Gemeinwohls geworden? Bei aller Sympathie fr dieses Szenario, dass esim Bereich des Mglichen lag, weisen die hier versammelten Autoren uni-sono zurck.

    Im Falle der Vereinigten Staaten kann man mit guten Grnden vonschier unberwindbaren politischen Hrden sprechen. Wenn es nmlicheine Konstante im dortigen politischen Leben gibt, dann ist es das Miss-trauen gegen einen starken Staat, genauer gesagt, gegen einen in das so-ziale und wirtschaftliche Leben intervenierenden Staat. Wer als PolitikerSteuern fr die nationale Sicherheit erheben will, kann mit der Gunst derWhler rechnen; wer stattdessen einer frsorglichen Umverteilung dasWort redet, zieht sich verlsslich ihren Zorn zu. So gesehen ist es auch we-nig plausibel, das Scheitern von Lyndon B. Johnsons Great Society in ers-ter Linie mit dem Vietnamkrieg in Verbindung zu bringen. Wahrscheinli-cher ist, dass dieser Entwurf eines modernen Wohlfahrtsstaates ohnehinzum Scheitern verurteilt war wie auch alle nachgngigen Bemhungen,in Zeiten rcklufiger Militrausgaben die Mittel fr Sozialetats aufzusto-cken (Benjamin O. Fordham).

    Die sowjetischen Kommunisten htten mit einer derartigen Umwid-mung von Ressourcen ideologisch keine Probleme gehabt. Im Gegenteil.Aber ihnen stand die Eigengesetzlichkeit sozialistischen Wirtschaftens imWeg. Selbst massive Investitionen trugen wenig zur Erhhung der Arbeits-produktivitt und des Gterausstoes bei; dafr sorgte die administrativeKommandowirtschaft mit ihrer endemischen Vergeudung von Kapital,Arbeit und Rohstoffen. In anderen Worten: Dieses System, in dem es oben-drein fr Betriebsleiter keinerlei Anreize fr die Erhhung von Effizienzgab, weil der Gewinn weder vom Verkauf der Produkte noch von der Zu-friedenheit der Kufer abhing, konnte sich nur auf niedrigem Niveaudurchwursteln. Zustzliche Gelder in Milliardenhhe htten daran nichtsgendert; sie wren vermutlich ebenso unmerklich versickert wie die in derSptphase des Kalten Krieges aufgenommenen Auslandskredite.

    Jenseits aller Spekulation und auf empirisch solidem Grund bewegensich die Studien ber das sogenannte military remapping der VereinigtenStaaten. Auch wenn der Kalte Krieg die dortige Volkswirtschaft nicht berGebhr strapazierte und gemessen am Bruttosozialprodukt im Laufeder Jahre mit stets geringeren Belastungen einherging, hinterlie er dochdauerhafte Spuren in der industriellen Geografie des Landes. Von einemneuen Zeitalter der politischen konomie in den USA (David C. Enger-man) zu sprechen, scheint nicht bertrieben.

    Military remapping steht erstens fr die Staatsabhngigkeit ganzer in-dustrieller Branchen. Bis Mitte der 1950er Jahre konnte davon noch keineRede sein. Zwar zhlten die Marktfhrer der Schwerindustrie und des

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    Maschinenbaus wie auch der Automobil-, Chemie- und Petroindustrie al-lesamt zu den Grokunden des Militrs; aber nur ein kleiner Teil ihresUmsatzes resultierte aus Rstungsgeschften. Selbst im Bereich der Mikro-elektronik bedienen alteingesessene Konzerne wie General Electric, Wes-tinghouse oder IBM den militrischen Markt lediglich als Zusatzgeschft.Die Luft- und Raumfahrtindustrie hingegen, erst recht aber die seit den1950er Jahren gegrndeten und auf Halbleiter sowie integrierte Schalt-kreise spezialisierten Unternehmen sind auf Gedeih und Verderb vonmilitrischen Auftrgen abhngig. Zwischen 33 und 80 Prozent ihrer Pro-dukte werden vom Pentagon gekauft, im Flugzeugbau verfgen die Anbie-ter mit Ausnahme von Boeing weder ber hinreichende Kapitalressourcennoch ber angemessene Forschungs- und Entwicklungsetats, um sich aufdem zivilen Markt zu behaupten wie die gescheiterten Diversifikations-strategien von Fairchild, Martin, Northrop, General Dynamics, Douglasund Lockheed eindrcklich demonstrieren. Selbst bei der Auswahl vonSubunternehmern und bei der Ausgestaltung von Tarifvertrgen redet dasPentagon mit.

    Zweitens beschreibt military remapping die rumliche Umverteilungindustrieller Zentren. Der Nordosten und Mittlere Westen bten imVerlauf des Kalten Krieges ihre Vormachtstellung ein. Die Westkste, derSden und Sdwesten des Landes hingegen Regionen, die bis zumZweiten Weltkrieg ein konomisches Schattendasein gefhrt hatten undzu Recht als Armenhuser der Nation galten entwickelten sich zu Lo-komotiven der Binnenwirtschaft.2 Die mrchenhafte Erfolgsgeschichtevon Silicon Valley oder der Aufstieg von Seattle, Los Angeles und SanDiego sind vielfach beschrieben worden. Weniger bekannt sind die ver-schlungenen Wege, auf denen viele Regionen des tiefen Sdens ihreStrukturkrise lsten. Fr ber drei Millionen Menschen, die whrend desZweiten Weltkrieges eine besser dotierte Arbeit beim Militr und in Rs-tungsfabriken angenommen hatten, war der Kalte Krieg geradezu einGlcksfall. Andernfalls htten sie in eine Landwirtschaft zurckkehrenmssen, der seit Jahrzehnten ein berangebot an Arbeitspltzen zur Ver-fgung stand und die im Zeichen fortschreitender Mechanisierung immerweniger Hnde bentigte (Monica R. Gisolfi). Unter diesem Gesichts-punkt erhlt die Rede vom bootcamp der Nation, vom Sden als militri-

    2 Siehe u.v.a.: Anne Markusen et al., The Rise of the Gunbelt. The MilitaryRemapping of Industrial America, New York 1991; Donald A. MacKenzie, In-venting Accuracy. A Historical Sociology of Nuclear Missile Guidance, Cam-bridge, Mass. 1990; Roger W. Lotchin, Fortress California 19101961. FromWarfare to Welfare, New York 1992.

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    schem Ausbildungslager, eine zustzliche Bedeutung: Sie verweist auf diesozial attraktiven und damit integrativen Effekte der Wirtschaft im undfr den Kalten Krieg.

    hnlich positive Auswirkungen sind in der Sowjetunion zu beobachten.Zusammen mit dem Verkauf von Erdl und Erdgas splten die weltweitenWaffenexporte erhebliche Devisenreserven in die Staatskassen. Nicht zu-letzt diese Gelder ermglichten in den 1970er Jahren den Kauf erheblicherMengen Getreides und sonstiger Konsumgter, vor allem aus den USA.Dass sich wie aus einschlgigen Befragungen hervorgeht die Mehrheitder Bevlkerung nicht als Verlierer des Kalten Krieges sah und die Jahrevon 1960 bis 1990 als Konsumrevolution erlebte (Stephan Merl), kannalso unmittelbar mit der Rstungskonomie in Verbindung gebracht wer-den. bersehen wird gemeinhin auch, in welchem Umfang Militr undRstungsbetriebe fr die Bedrfnisse der Zivilwirtschaft in Anspruch ge-nommen wurden. Uniformierte halfen beim Bau von Straen, Dmmenund Kanlen, aus Militrdepots konnten Konsumartikel und Nahrungs-mittel bezogen werden, Rstungsbetriebe produzierten langlebige Gterdes tglichen Bedarfs: Fernseher und Khlschrnke fr Privatkunden,Computer und Eisenbahnwaggons fr staatliche Abnehmer. Zusammen-genommen handelt es sich um Dienste und Leistungen, die aus der volks-wirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht wegzudenken sind (ChristopherM. Davis).

    Gleichwohl hlt sich hartnckig der Verdacht, dass die UdSSR am Endeunter der Last ihrer Rstungsausgaben zusammenbrach. Dass sie, in an-deren Worten, vom Westen totgerstet wurde. Indizien gibt es scheinbarzuhauf. Auch wenn infolge der extremen Geheimhaltung und gegenseiti-gen Tuschung die so weit getrieben wurden, dass selbst die Fhrung desLandes ber den Gesamtumfang der Rstungsausgaben nicht im Bildewar genaue Daten fehlen, so kann es keinen Zweifel am enormen Gefllegegenber den westlichen Staaten geben. Vermutlich verschwendete dieSowjetunion Jahr fr Jahr 15 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes frdas Militr; in den USA waren es 6 Prozent, in der Bundesrepublik 3 Pro-zent und in Japan 1 Prozent. Obgleich die Privilegierung der Schwerindus-trie bis in die 1920er Jahre zurckreicht und nicht originr mit dem KaltenKrieg in Verbindung zu bringen ist, geriet die Wirtschaft seit den 1950erJahren infolge der Rstungsinvestitionen immer mehr in Schieflage. Je ln-ger der Kalte Krieg dauerte, desto mehr Ressourcen wurden der zivilenProduktion sowie dem staatlichen Sozial- und Gesundheitswesen entzo-gen. Am Ende entfiel jeder zehnte Arbeitsplatz auf die Rstungsindustrie eine Entwicklung, die im Vergleich zu den USA offenbar umgekehrt pro-portional verlief (Christopher M. Davis).

  • Wirtschaft im Kalten Krieg 13

    Man wird die Militrausgaben zusammen mit den exorbitanten Trans-ferzahlungen an die Verbndeten in Osteuropa die zwischen 1975 und1981 von 5,3 auf 18,6 Milliarden Dollar anschwollen folglich bei einerErklrung der sowjetischen Malaise in Rechnung stellen mssen. Abertotgerstet wurde die Sowjetunion mitnichten, wie Stephan Merl undPaul Gregory mit Nachdruck betonen. Zum einen ist nicht der Rstungs-sektor, sondern vielmehr die administrative Kommandowirtschaft fr dieUnterversorgung mit Konsumgtern verantwortlich zu machen. Zum an-dern blieb das System trotz dieses Mangels politisch bemerkenswert stabil;korrupte und illegale Alltagspraktiken, vom Staat aus guten Grndentoleriert, wenn nicht gar mit Vorsatz gefrdert, glichen die eklatanten De-fizite offenkundig aus. In anderen Worten: Auf dem gewohnt defizitrenNiveau fr Jahrzehnte weiterzumachen, lag Mitte der 1980er Jahre durch-aus im Bereich des Mglichen. Nicht die Schwche der konomie ver-setzte dem System den Todessto, sondern Michail Gorbatschow, derwirtschaftliche Teilsysteme reformieren wollte, aber dabei zu Mitteln griff,die am Ende das System als Ganzes lahmlegten.

    Aus wirtschaftshistorischer Perspektive vermag Paul Gregorys Thesevom politischen Selbstmord der Sowjetunion zu berzeugen. Doch wirdsie der komplexen internationalen Konstellation in der Sptphase des Kal-ten Krieges gerecht? Was trieb Gorbatschow zu ebenso unberlegten wieberhasteten Reformen? Hatte er mglicherweise auch den KonkurrentenChina mit seinen zweistelligen Wachstumsraten im Auge? Wollte er einemwirtschaftlichen Zangengriff hier die bermchtigen USA, dort die be-drohlich aufstrebenden Chinesen vorbeugen? Begab sich ausgerechnetGorbatschow, der den Kalten Krieg gedanklich berwinden wollte, in dieBahnen des alten, von Einkreisungsngsten durchdrungenen Denkens?Darber wird noch geraume Zeit zu diskutieren sein.

    Dass der Kalte Krieg trotz des Zusammenbruchs der UdSSR weit indie Gegenwart hineinragt, zeigt die Enttuschung ber die ausbleibendeFriedensdividende. Wenn weltweit alle Lnder, so eine Prognose ausden frhen 1990er Jahren, ihre Rstungsausgaben um mindestens 3 Pro-zent reduzieren, wird binnen eines Jahrzehnts eine Dividende von1,5 Billionen Dollar zur Verfgung stehen vier Fnftel in den industria-lisierten Lndern, der Rest in der Dritten Welt.3 Stattdessen griff ein neu-erliches Wettrsten um sich. Zwischen 2001 und 2006 stiegen die Militr-ausgaben weltweit um inflationsbereinigte 30 Prozent, China ist hinterGrobritannien bereits auf den dritten Platz vorgerckt, auch Russland

    3 United Nations Development Programme, Human Development Report 1992,New York/Oxford 1992, S. 9.

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    macht zunehmend wieder Boden gut. Fast die Hlfte aller Aufwendungenentfllt auf die USA, Investitionen, die in keinem erkennbaren Zusammen-hang mit Terrorbekmpfung stehen, sondern verlsslich den im KaltenKrieg planierten Pfaden folgen: Innovation um der berlegenheit willen,berlegenheit zum Zwecke einer vermeintlichen Unverwundbarkeit.4

    Immer wieder scheitern korrigierende Eingriffe an den Erblasten derHochrstungspolitik. Selbst Staaten, die ihre Streitkrfte abbauen und we-niger Gertschaft ordern, knnen nicht automatisch mit niedrigeren Kos-ten rechnen. Insbesondere im Hightech-Bereich sind hohe Stckzahlen miteiner Kostendegression verbunden; umgekehrt treibt ein niedrigeres Be-schaffungsvolumen die Preise fr komplexe Waffensysteme in die Hhe.Wer beispielsweise, so eine gngige berschlagsrechnung, den Etat frKampfflugzeuge um die Hlfte reduziert, erhlt als Gegenwert nur einViertel der ursprnglichen Stckzahl.5 Von dieser stofflichen Seite abgese-hen, scheinen auch soziale Interessen an Rstung eine erhebliche Rolle zuspielen. Darin nmlich liegt eine weitere Pointe der permanent prepared-ness: im Aufstieg und Behauptungswillen professioneller Eliten wie sozia-ler Milieus, die sich sei es wegen hherer Lhne, krisenfester Arbeits-pltze oder attraktiver Herausforderungen fr Spezialisten eigenstndigfr den Erhalt rstungsgeleiteter Investitionen engagieren. Man knnteauch von einer Verschrnkung staatlicher Mobilisierung und privaterSelbstmobilisierung sprechen oder einem unmilitaristic militarism, wiees in der amerikanischen Fachliteratur heit. In anderen Worten: Wer diepolitische konomie des Kalten Krieges ergrnden will, wird den Blickvon Wirtschaftshistorikern um kulturwissenschaftliche Perspektiven er-weitern mssen ein bislang noch unbestelltes Feld (Benjamin O. Ford-ham).

    Seit den 1960er Jahren ist in den USA eine stetige Dynamisierung desprivaten Engagements fr Rstung zu beobachten parallel zu der Um-schichtung von Investitionen fr militrische Forschung und Entwicklung.Kamen bis zu diesem Zeitpunkt noch gut 60 Prozent der zur Verfgung ge-stellten Gelder aus der Staatskasse, so kehrten sich die Verhltnisse in den1970er Jahren um. Seither bestimmen die von Unternehmen und Univer-sitten akquirierten Mittel das Entwicklungstempo militrisch relevanterHochtechnologie. Auch in der UdSSR ist im Laufe des Kalten Krieges einedeutliche Statusaufwertung von Wissenschaftlern und Technikern zu be-

    4 Vgl. Helen Caldicott, Atomgefahr USA. Die nukleare Aufrstung der Super-macht, Mnchen 2003.

    5 Opitz, Lock, Deferred Costs, S. 253266.

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    obachten. Aus ihrer Mitte, der Breschnew-Generation, machten viele inVerwaltung und Politik Karriere. Wie ihre amerikanischen Kollegen muss-ten sie zur Kooperation nicht angehalten oder gar zwangsverpflichtetwerden. Im Gegenteil. Von Aufstiegserwartungen und Machtinteressenmotiviert, effektivierten sie eine Rstungswirtschaft von robuster Eigen-dynamik und zher Nachhaltigkeit, eine gegen politische Korrekturen wi-derborstige Parallelwelt.6

    Zu den unabgegoltenen Hypotheken des Kalten Krieges gehrt nichtzuletzt die groflchige Verwstung der Umwelt ein Flurschaden, deruntrennbar mit der Herstellung, Lagerung und dem Test von Waffen ver-bunden ist. Und mit der Mentalitt der Waffenproduzenten: Sie hattensich das Denken ihrer Auftraggeber, die Logik der permanent prepared-ness, zu eigen gemacht, produzierten ohne Rcksicht auf menschliche Ar-beitskraft und natrliche Ressourcen, geschtzt von staatlichen Behrden,denen die Geheimhaltung ber alles ging. Was ein US-Offizier noch Mitteder 1980er Jahre ffentlich zum Besten gab, htte auch aus der Presseab-teilung einschlgiger Unternehmen kommen knnen: Unser Geschft istder Schutz der Nation, nicht der Umwelt. Der Zweck heiligte alle Mittel,im Grunde kopierte man im Westen jenen Krieg gegen die Natur, den Sta-lin bereits in den 1930er Jahren erklrt und whrend des Kalten Kriegesauf die Spitze getrieben hatte (Seth Shulman, Paul Josephson). Berchtigtsind die geschlossenen Stdte in der UdSSR, die ausschlielich fr dieRstungsindustrie reserviert waren, sowie riesige Flchen in Sibirien undder arktischen Region exterritoriale Gebiete, in denen unvorstellbareMengen von Schwermetallen und radioaktiver Abflle bedenkenlos ent-sorgt wurden. In den USA ist von 20000 verseuchten Orten die Rede,Waffenlabore, Sttzpunkte und Fertigungsanlagen, von denen sehr vielevermutlich fr alle Zeit kontaminiert bleiben werden.

    Mindestens 200 Milliarden Dollar werden in den Vereinigten Staa-ten allein fr die Beseitigung des Grbsten veranschlagt. Dabei ist nochnicht bercksichtigt, dass fr die radioaktive Hinterlassenschaft vielerNuklearanlagen bislang keine technischen Lsungen gefunden sind. Eben-so wenig hat man eine Vorstellung von den wirtschaftlichen Belastungen,die auf das Gesundheitswesen wegen der Behandlung einschlgigerErkrankungen weiterhin zukommen werden. Fr die Nachfolgestaaten

    6 Vgl. Aaron L. Friedberg, The United States and the Cold War Arms Race, in:Odd Arne Westad (Hg.), Reviewing the Cold War. Approaches, Interpretations,Theory, London/Portland 2000, S. 207231; Dietrich Beyrau, Intelligenz und Dis-sens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917 bis 1985, Gt-tingen 1993.

  • 16 Bernd Greiner

    der ehemaligen Sowjetunion die bekanntlich bis in die 1980er Jahre mitkatastrophalen Nuklearunfllen zu kmpfen hatten fehlen selbst grobeberschlagsrechnungen.

    Krieger und Hndler

    So wichtig die Rstungsproduktion auch war der kalte Wirtschaftskriegdrehte sich keineswegs nur darum, wer die besten und die meisten Waffenauf den Markt brachte. Beide Blcke wollten sich auch auf dem Gebiet desKonsums und Lebensstandards gegenseitig bertreffen. In der martia-lischen Rhetorik des Ostblocks war von berholen, ohne einzuholendie Rede und vom Beerdigen der anderen Seite whrend des berhol-vorgangs. Ganz in diesem Sinn riet der amerikanische Soziologe DavidRiesman zu einem Nylonkrieg nmlich die UdSSR so lange mit Kon-sumgtern zu berschtten, bis das Regime unter den nicht mehr zu kon-trollierenden Begehrlichkeiten seiner Brger zusammenbrach. Die Re-sonanz auf Riesmans Idee blieb bescheiden. Wesentlich populrer warhingegen der Vorschlag, dem Osten durch Boykott und Embargo denKonsumhahn zuzudrehen. Wie auch immer: Im Wettbewerb um das ber-legene Modell und die klgere Philosophie nahm man in Kauf, die Priori-tten konomischen Denkens infrage zu stellen: Der Schaden des anderenwog schwerer als der eigene Nutzen.

    Dass blumige Rhetorik, mit den Realitten des Alltags konfrontiert, oftzu blutleerem Gestammel gerinnt, ist hinlnglich bekannt. Der Kalte Kriegfgt dieser Geschichte der Peinlichkeiten ein weiteres Kapitel hinzu, eineEndlosschleife aus Pleiten, Pech und Pannen und das langsame Erwachenaus einem ideologischen Delirium. In erster Linie aber kommt die Redevon der politischen konomie zu sich selbst. Zu beobachten ist, wie Po-litik fortwhrend der konomie im Wege steht; und wie, allem planeri-schen Kalkl zum Hohn, unerwnschte Effekte am Ende den Gang derDinge bestimmen.

    Besonders aufschlussreich ist das Scheitern einer wirtschaftlichen Inte-gration des Ostblocks. Mit der Grndung des Rates fr gegenseitige Wirt-schaftshilfe (RGW) im Januar 1949 wollte man den innersozialistischenHandel beleben, den Technologie- und Wissenschaftstransfer verbessern,die Arbeitskrftemobilitt erhhen, kurz: dem wirtschaftlich kooperie-renden Westen mit gleichen Mitteln Paroli bieten. Soweit zur deklarato-rischen Politik. Stalin indes war an multilateralen Kontakten innerhalbseines osteuropischen Machtbereichs nicht gelegen; wie blich von para-noiden Unterstellungen getrieben, frchtete er eine unkontrollierbare

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    Eigendynamik, zumal Absprachen hinter dem Rcken oder auf KostenMoskaus. Von diesem Fluch der frhen Jahre sollte sich der RGW nie wie-der erholen. Chruschtschows Korrekturversuche liefen ebenso in die Leerewie Gorbatschows Appelle mittlerweile waren nmlich die vergleichs-weise starken Mitglieder nicht mehr von den Vorteilen einer sozialisti-schen Arbeitsteilung mit den schwcheren Brudernationen berzeugt.Im Gegenteil: Beziehungen zum kapitalistischen Ausland erschienen ihnenbei Weitem attraktiver (Martin Dangerfield).7

    Merkwrdigerweise ist die Wirtschaftskooperation ber Block- undBndnisgrenzen hinweg noch immer ein Stiefkind zeithistorischer For-schung. Dass der Eiserne Vorhang alles andere als undurchlssig warund von einer wirtschaftlichen Bipolaritt im Laufe der Jahre immer we-niger die Rede sein konnte, lsst sich gleichwohl festhalten. Seit Mitte der1960er Jahre importierten die UdSSR und ihre Partner im groen Stil west-liche Technologie, Maschinen und Ausrstung, in der folgenden Dekadekauften sie Patentlizenzen und warben erfolgreich Kredite ein, in den1980er Jahren erlaubte man gar Direktinvestitionen aus den EG-Staaten.Wer den Kalten Krieg vornehmlich als Geschichte der Konfrontation liest,wird die Beharrlichkeit und den Einfallsreichtum staunend zur Kenntnisnehmen, mit dem Lnder wie Polen oder die CSSR ihre Westkontakte aus-bauten zum Teil unabhngig von der UdSSR, bisweilen auch gegen sie.Aber dergleichen lag in der Natur der Sache. Historische Verflechtungen in diesem Fall ein ber Jahrhunderte gewachsener, allen Europern ge-meinsamer Wirtschaftsraum und habitueller Pragmatismus vertragensich nicht nur schlecht mit politischem Dogmatismus; sie knnen sich inder Regel auch neben ihm behaupten (Dagmara Jajesniak-Quast).

    Darin bereits die Vorboten von 1989 zu sehen, wre gewiss bertrieben.Wandel durch Annherung trifft den Kern der Sache ebenso wenig, zu-mindest aus Sicht des Ostens. Von einer richtungslosen Annherung zusprechen, scheint angemessener so paradox diese Formel klingen mag. Injedem Fall war es auch, vielleicht sogar gerade der Initiative osteuropi-scher Staaten zuzuschreiben, dass der Prozess in Gang gehalten wurde. Pa-trick Gutmann unterstreicht diese Beobachtung am Beispiel der Tripartite

    7 Siehe auch: Randall W. Stone, Satellites and Commissars: Strategy and Conflictin the Politics of the Soviet Bloc, Princeton 1996; Ralf Ahrens, Gegenseitige Wirt-schaftshilfe? Die DDR im RGW Strukturen und handelspolitische Strategien19631976, Kln 2000; Lee Kendall Metcalf, The Council of Mutual EconomicAssistance: The Failure of Reform, Boulder, Co. 1997; David Stone, CMEAs In-ternational Investment Bank and the Crisis of Developed Socialism, in: Journalof Cold War Studies 10 (2008), Heft 3, S. 4877.

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    Industrial Cooperation. Gemeint ist eine Form der Kooperation, die aufideologische Puristen wie der grte anzunehmende Unfall wirken musste.In den 1970er Jahren schlossen Auenhandelsorganisationen des RGW,westliche Firmen und lokale Betreiber aus der Dritten Welt Konsortialab-kommen zum Bau von Fabriken und Infrastrukturanlagen in den Entwick-lungslndern. 1982 hatte man 40 TIC-Projekte auf den Weg gebrachtund gut 80 westliche Firmen als Partner gewonnen. So bescheiden der ma-terielle Rahmen war, die politische Sogwirkung blieb nicht aus. Alsbaldzeigte auch die UdSSR, wie eh und je um eine Aufstockung ihrer west-lichen Devisenfonds bemht, Interesse Jahre, bevor Michail Gorbat-schow zu einer Abkehr vom erstarrten Denken mahnte.

    Erst recht voller unerwarteter berraschungen steckt die Geschichtewestlicher Boykott- und Embargopolitik (Hanns-Dieter Jacobsen, FrankCain, Christian Th. Mller). Mittels des 1949 gegrndeten CoordinatingCommittee on Multilateral Export Controls, kurz CoCom, wolltendie NATO und Japan den Export sicherheitsrelevanter Gter und Tech-nologien in den Ostblock unterbinden. An rhetorischer Entschiedenheitmangelte es ebenso wenig wie an publicitytrchtigen Kampagnen, die denWeltuntergang fr den Fall voraussagten, dass militrisch Nutzbares in diefalschen Hnde geriet. In der Kulturindustrie, Abteilung Spionageromanund Agentenfilm, lebte man ber Jahre eintrglich von diesem Sujet. Woaber verlief die Grenze zwischen technologisch relevant und unbedenk-lich? Waren moderne Hightech-Produkte nicht von Haus aus fr zivile wieauch fr militrische Zwecke brauchbar?

    1954 mussten die USA einrumen, dass man im ideologischen bereiferzu weit gegangen war. Auf Druck ihrer Bndnispartner wurden die Co-Com-Beschrnkungen gelockert, 1958 folgte eine neuerliche Revision.Von Beginn an hatten westeuropische Behrden die Bestimmungen auf-fllig lax gehandhabt, wenn nicht vorstzlich hintergangen. Gelistete G-ter gelangten in stetigem Fluss ber Drittlnder wie sterreich, Sdafrikaund die Schweiz oder durch die noch offene Grenze in Berlin in den Osten.An Mangelwirtschaft gewhnt, hatte man sich dort bereits Mittel undWege zur forcierten Entwicklung eigener Technologie ausgedacht. Anfangder 1960er Jahre besttigten interne Studien der US-Regierung das Offen-sichtliche. Das Embargo war ein Fehlschlag, selbst die Rstung des War-schauer Paktes wurde nicht geschdigt.

    Wie man dem Westen mit dessen Waffen Einhalt gebietet, hatte dieVolksrepublik China bereits in den frhen 1950er Jahren vorgefhrt. Mitraffinierten Devisengeschften und Anlagestrategien, die Wall Street zurBrokerehre gereicht htten, hebelte man den zu Beginn des Koreakriegesverhngten Boykott aus. Mit Wissen und Duldung Londons florierte auch

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    die Umleitung des Handels ber die britischen Kolonien Hongkong undMalaya. Je lnger die Repressalien whrten, desto besser wusste die Volks-republik schlielich ihre eigenen Ressourcen zu nutzen. Alsbald warenSchlsselbranchen vom Ausland unabhngig, ein erster sichtbarer Erfolgder Zentralregierung, die sich den Ausnahmezustand zunutze gemachtund die bis dahin starken Provinzgewalten entmachtet hatte. Politisch undwirtschaftlich intensivierte Beziehungen zur UdSSR taten ein briges, dassChina ausgerechnet zur Zeit des Embargos eine blendende Bilanz vorlegenkonnte: Man exportierte und importierte mehr denn je zuvor (Shu GuangZhang).

    Innerhalb der NATO sorgte die Boykottstrategie verlsslich fr Streit.Viele westeuropische Regierungen verwahrten sich gegen den RigorismusWashingtons, insbesondere gegen das Ansinnen, die Kontrollen auf nichtstrategische Gter auszuweiten. Mit guten Grnden mutmaten sie, dassden USA nicht allein aus sicherheitspolitischen Grnden an einer Schw-chung der sowjetischen Wirtschaft gelegen war; offenbar ging es auch da-rum, sich einen potenziell lstigen Handelskonkurrenten in der DrittenWelt vom Leib zu halten. Obendrein war noch in frischer Erinnerung, wiebedenkenlos die Regierung Truman wirtschaftliche Druckmittel zur poli-tischen Disziplinierung ihrer Partner eingesetzt hatte. Wer Gelder aus demMarshallplan in Anspruch nehmen wollte, musste seine Ostgeschftedrosseln, wenn nicht gar kappen; im Mrz 1949 drohte man den Nieder-landen mit dem sofortigen Entzug der Hilfe, sollten sie der amerikanischenVerhandlungsstrategie zur Lsung der Konflikte in Indonesien nicht zu-stimmen.

    Auch mit Blick auf die CoCom-Liste sprachen Kritiker abwechselndvon einer Gngelung Westeuropas oder einem neurotisierten Politikstil.Tatschlich konnten sich in amerikanischen Wahlkmpfen der 1950erJahre nur Politiker Chancen ausrechnen, die alle Klischees eines unnach-giebigen Auftretens gegenber dem Kommunismus bedienten egal,welcher Art ihre feilgebotenen Heilmittel waren. Das Londoner ForeignOffice jedenfalls riet Premierminister Harold Wilson in ungewhnlichdeutlichen Worten zur Distanz gegenber Washington. In Sachen Co-Com war den Amerikanern, so die Mehrheitsmeinung britischer Diplo-maten Ende der 1960er Jahre, mit rationalen Argumenten nicht beizukom-men (Hanns-Dieter Jacobsen).8

    8 Zu bundesdeutschen Positionen siehe Karsten Rudolph, Wirtschaftsdiplomatieim Kalten Krieg: Die Ostpolitik der westdeutschen Groindustrie 19451991,Frankfurt am Main/New York 2004.

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    Zum Eklat kam es wegen des westeuropischen Interesses an sowjeti-schem Erdl und Erdgas. 1962 hatten bundesdeutsche Stahlkonzerne be-reits vertraglich vereinbart, im Gegenzug die zum Pipelinebau bentigtenRhren zu liefern. Unter Berufung auf die CoCom-Liste stellten sich dieUSA quer ein durchsichtiger Versuch zur Verteidigung ihrer eigenen l-gesellschaften, die verstrkt den europischen Markt bedienen wollten.Die Bonner Regierung beugte sich aus Rcksicht auf das transatlantischeBndnis; deutsche Unternehmen mussten in der Folge zusehen, wie Firmenaus Grobritannien, Italien, Schweden und Japan ihren Part bernahmen.Am Ende verzgerte sich der Bau der sowjetischen Pipeline nur um einpaar Monate (Christian Th. Mller).

    Genau 20 Jahre spter verschrfte Ronald Reagan die Gangart. Um einneuerlich anstehendes Erdgas-Rhren-Geschft zu blockieren, verhngtendie USA im Herbst 1982 Sanktionen gegen europische Lizenznehmer undTochtergesellschaften amerikanischer Firmen eine zu Recht als vlker-rechtswidrig kritisierte Ausweitung der landeseigenen Rechtsprechungber die Grenzen der USA hinaus. Das Gegenangebot: Die USA erhhenden Kohleexport nach Europa, ihre Atomindustrie greift den Europernbeim Bau neuer Kernkraftwerke unter die Arme. Mitten in der berhitztenDebatte hob Prsident Reagan das von seinem Vorgnger Jimmy Carterwegen der sowjetischen Invasion in Afghanistan verhngte Getreideem-bargo wieder auf ob mehr aus Rcksicht auf die Einkommen oder eherwegen des Wahlverhaltens amerikanischer Farmer, ist eine mige Frage.Frankreich, Grobritannien und Italien reagierten ungehalten, selbst dieBundesregierung gab die gewohnte Zurckhaltung auf und strkte deut-schen Firmen demonstrativ den Rcken. Im Herbst 1982 musste die Rea-ganadministration klein beigeben.

    Fazit: Auer Streit im eigenen Haus und einem bndnispolitischen Flur-schaden von betrchtlichem Ausma hatte die Embargopolitik nichtszuwege gebracht sieht man davon ab, dass der Ostblock enger zusam-menrckte. Im Wirtschaftskrieg des Kalten Krieges kmpfte der Westenber weite Strecken mit stumpfen Waffen.

    Auf amerikanischer Seite zogen nur Richard Nixon und Henry Kissin-ger die naheliegende Konsequenz. Sie lockerten zahlreiche CoCom-Re-gularien und wiesen zustndige Ministerien, allen voran das Verteidi-gungsministerium, wegen bocksbeiniger Sturheit in die Schranken. In denfrhen 1970er Jahren wurden ehemals indizierte Gter fr den Exportnach China, Polen und Rumnien freigegeben, im Oktober 1972 unter-schrieben Nixon und Leonid Breschnew ein Wirtschaftsabkommen vonbis dato unbekanntem Umfang. Kurz davor hatten sich beiden Seiten aufein gigantisches Agrargeschft geeinigt: Fr den Zeitraum von drei Jahren

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    sollte die UdSSR zu Vorzugszinsen amerikanisches Getreide im Wertvon 750 Millionen Dollar beziehen. Die Sowjets versprachen sich eine Er-hhung des Konsumniveaus, insbesondere eine bessere Versorgung mitFleisch, Milchprodukten und Eiern Ziele, die im damaligen Fnfjahrplanvorgegeben und fr die politische Stabilitt offenbar unerlsslich waren.Die USA wollten, neben der Untersttzung einkommensschwacher Far-mer, auf diesem Wege wirtschaftlich belastende Effekte des Krieges inVietnam abfedern und vorweg ihre Handelsbilanz sanieren.

    Sosehr Ost und West am Ende von dem Geschft profitierten, so hochwaren die Kosten fr unbeteiligte Dritte. Bedingt durch das amerikanisch-sowjetische Abkommen, wurde der Weltgetreidemarkt leer gefegt, diePreise stiegen auf Rekordniveau, arme, importabhngige Lnder konntensich das Ntigste nicht mehr leisten die Welternhrungskrise der 1970erJahre nahm ihren Lauf. In anderen Worten: Der neue Wirtschaftsfrie-den in den Zentren kam einer wirtschaftlichen Kriegserklrung an dieDritte Welt gleich (Christian Gerlach).

    Soll und Haben in der Dritten Welt

    Wenn man sich den Kalten Krieg wegdenkt, schreibt der HistorikerOdd Arne Westad, wren Afrika, Asien und wahrscheinlich auch La-teinamerika heutzutage gnzlich andere Regionen.9 In der Tat: DieEntwicklungslnder wurden zum Schauplatz einer weltumspannendenAuseinandersetzung, weil Moskau und Washington einen Alleinvertre-tungsanspruch auf die Moderne angemeldet hatten. Der paternalistischenTradition des Kolonialismus verpflichtet, drngten sie sich als Patrone auf,die ihre Schutzbefohlenen auf den richtigen Weg bringen, genauer gesagtzur Nachahmung des eigenen Gesellschaftsmodells motivieren wollten.Andererseits lieen sich bemerkenswert viele Adressaten aus freien St-cken auf diesen Wettbewerb ein, nicht zuletzt, weil sie sich ihrerseits demFortschrittsideal verschrieben hatten. Diese vielfach verschrnkte Ge-schichte zu entwirren und insbesondere den Folgen auf die Spur zu kom-men, gehrt zu den grten Herausforderungen der zeithistorischen For-schung.

    Die amerikanische Modernisierungspolitik im Kalten Krieg grndetin der nationalen Meistererzhlung der Republik. Das Recht auf Privat-eigentum gilt als Garant der Freiheit, die Wahrung von Freiheit wird mit

    9 Odd Arne Westad, The Global Cold War. Third World Interventions and theMaking of Our Times, Cambridge 2007, S. 3.

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    der Verbreitung privater Eigentumsrechte verkoppelt. Der universelle An-spruch und die teleologische Grundierung dieser Weltsicht standen nie in-frage. Strittig war allein, wie das Vorbild USA am wirkungsvollsten zumTragen komme passiv, durch das beispielgebende Wirken im Hinter-grund; oder aktiv, forciert durch eine Politik der Parteinahme und Einmi-schung. Bereits im Zweiten Weltkrieg galt Letzteres, verbunden mit demAnspruch, ab sofort nicht mehr nur fr sich selbst zu sprechen, sondern alsglobale Garantiemacht des Kapitalismus aufzutreten. Und sptestens seitBeginn des Kalten Krieges gesellte sich ein hypertrophes Verstndnis vonSicherheit hinzu. Amerika schien auf Dauer nur sicher, wenn mglichstviele Staaten den amerikanischen Weg einschlugen. In diesem Sinne wurdedie ganze Welt zum Laboratorium kapitalistischer Modernisierung.

    Laboratorium ist durchaus im Wortsinn zu verstehen. Wie Jason Pri-bilsky im Detail erlutert, betrieb die Cornell University zusammen miteinheimischen Behrden auf einer Hazienda im Hochland Perus von 1952bis 1966 ein riesiges Sozialexperiment mit 2300 Indios: Welche Mittel undMethoden waren geeignet, die Bauern aus ihren traditionellen Lebenswel-ten herauszufhren, mit der modernen Landwirtschaft vertraut zu machenund zugleich gegen sozialrevolutionre Agitation zu immunisieren? DieGrnde fr das absehbare Scheitern sind nicht weiter der Rede wert; wohlaber die gedanklichen Voraussetzungen des Projekts. Getragen von einerebenso naiven wie berzogenen Wissenschafts- und Fortschrittsglubig-keit, waren amerikanische Mentoren neben Cornell eine Reihe weitererUniversitten sowie die Stiftungen von Ford, Rockefeller und Carnegie allen Ernstes auf der Suche nach einem weltweit adaptierbaren Modell.Die Feinsteuerung des historischen Fortschritts war zu einer intellektuellenIndustrie, vor allem aber zum Lieblingskind akademischer Politikbera-ter geworden.

    Die Sowjetunion huldigte verblffend hnlichen Visionen. Bereits zuZarenzeiten ob schon unter Peter dem Groen oder erst seit Katharinader Groen, sei dahingestellt war ein Missionsgedanke aufgekommen,der wie eine Kopie der amerikanischen Manifest Destiny anmutet. AuchRussland sah sich in der Rolle einer redeemer nation, dazu auserkoren,den Rest des Kontinents vor Dekadenz und Verfall zu bewahren. Moder-nisieren hie russifizieren und umgekehrt. Im Insistieren auf demKommunismus als hchster Form der Modernitt trieben die Bolschewikidiese Tradition auf die Spitze: Moskau als neues Rom und Zentrum einerhheren, weil gerechten Weltordnung. Ausgerechnet Stalin bremste dieEuphorie und die Zurichtung der Kommunistischen Internationale zumKatalysator universeller Neuordnung. Wie es scheint, traute er den Vl-kern der Dritten Welt weder die Mittel noch den Willen zum Sozialismus

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    zu; selbst Mao wollte er den sozialistischen Umbau Chinas ausreden. ErstNikita Chruschtschow verknpfte die Tradition mit den besonderen Um-stnden des Kalten Krieges, suchte umgehend China, Indien, Burma undAfghanistan auf und unterstrich auch bei anderen Gelegenheiten die ber-ragende Bedeutung der Entwicklungslnder. Obwohl Chruschtschow imUnterschied zu den USA berall und stets von Sozialismus und anti-imperialistischer Befreiung sprach, teilte er mit dem Klassenfeind einegrundlegende politische Prmisse: Die nationale Sicherheit des eigenenLandes wurde in der Dritten Welt verteidigt.10

    Dass die UdSSR und die USA in der Praxis ebenfalls wie politischeZwillinge auftraten, ist vor diesem Hintergrund wenig berraschend. Er-staunlich ist vielmehr, wie kurzsichtig und einseitig sie ihren Interessennachgingen, fixiert auf den schnellen Erfolg und den propagandistischenMehrwert (Roger Kanet, Earl Conteh-Morgan). Das sdliche Asien sowieder Nahe und Mittlere Osten waren fr Amerikaner und Sowjets vonhauptschlichem Interesse, Afrika und Lateinamerika spielten stets eineuntergeordnete Rolle. Nicht die wirtschaftliche oder soziale Bedrftigkeiteines Landes gab den Ausschlag dafr, ob und wie viel wirtschaftliche Un-tersttzung gewhrt wurde. Im Mittelpunkt standen strategische Er-wgungen: Die geopolitische Lage eines Landes, Art und Umfang seinermilitrisch relevanten Rohstoffvorkommen, schlielich das Kalkl, diekonkurrierende Hegemonialmacht verdrngen oder zumindest auf Ab-stand halten zu knnen. Oder Hilfsdienste wurden zur politischen Waffeim Alltagsgeschft wie 1967, als nach einer zweijhrigen Hungersnot inIndien Lyndon B. Johnson die Food for Peace-Hilfe vom auenpolitischenWohlwollen der Regierung in Neu-Delhi abhngig machte. berdieswurde der grte Teil der Auslandshilfe fr Waffenlieferungen oder an-dere militrische Projekte aufgewendet wobei die USA mit 95 Prozent imJahr 1954 einen Spitzenwert verbuchten, der von den Sowjets zu keinerZeit auch nur annhernd erreicht wurde. Nach dem Ende des Kalten Krie-ges krzten beide Seiten ihre einschlgigen Etats drastisch Russland, weilder Staat pleite war, die USA, weil sie von einem bankrotten Russlandnichts mehr zu befrchten hatten.

    Sosehr sich die Gromchte als Masters of the Universe gefielen, so we-nig wurde der Kalte Krieg von ihnen allein bestimmt. Die Vorstellung vonHerrschaft und Unterwerfung von bermchtigen Befehlsgebern in denZentren und ohnmchtigen Befehlsempfngern an der Peripherie er-scheint bei nherer Betrachtung wie eine Verweigerung gegenber dem Of-

    10 Westad, Global Cold War, S. 41, S. 72.

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    fensichtlichen. In Schlsselregionen der Dritten Welt gaben selbstbewussteEliten mit einem ausgeprgten Willen zur Macht den Ton an. Nach Jahr-hunderten kolonialer Herrschaft waren sie wenig geneigt, alte gegen neueAbhngigkeiten einzutauschen. Im Gegenteil. Sie fhlten sich historisch imAufwind, dazu berufen, anstelle der verbrauchten Kolonialmchte und ih-rer Nachlassverwalter in Moskau und Washington die Zukunft zu gestal-ten daher auch die Neigung, nationale Souvernitt im Zweifel mit na-tionalistischen bersteigerungen zu behaupten.

    Vertrauen in die eigene Strke, Optimismus und Missionsbewusstseinbildeten die Grundlage ihrer ebenso robusten wie durchsetzungsfhigenPolitik. In anderen Worten: Wirtschafts- und ordnungspolitische Optio-nen wurden nicht nach ideologischen Kriterien sortiert, sondern an ih-rem Nutzen fr eine schnelle und radikale Modernisierung gemessen.Wie Thomas Scheben am Beispiel des Nahen Ostens zeigt, war der ko-nomische Spielraum der Supermchte auch und gerade an Drehkreuzendes Kalten Krieges sehr begrenzt. Auf keinen Fall sollte die von Kairo bisDamaskus gepflegte Vorliebe fr eine staatsgelenkte Kommandowirt-schaft mit einem Faible fr den sowjetischen Weg verwechselt werden;vielmehr gaben landestypische Traditionen den Ausschlag. Gleiches giltauch fr andere Regionen und Zeiten. Nirgendwo kann die Rede davonsein, dass wirtschaftliche Investitionen automatisch das politische Kapi-tal von Ost oder West mehrten; Verlustabschreibungen kamen wesent-lich fter vor.

    Gerade Verbndete oder Umworbene in der Dritten Welt, die ber stra-tegische Rohstoffe verfgten oder von geopolitischem Interesse waren,verstanden sich auf ein virtuoses Nutzen von Handlungsspielrumen (Ro-bert J. McMahon). Indira Gandhi fhrt die Reihe berhmter Beispiele an,dicht gefolgt von Gamal Abdel Nasser, der seinen Gromachtfantasienumso nher kam, je gewiefter er Ost und West gegeneinander ausspielte.Und Mengistu Haile Mariam in thiopien und Zia ul-Haq in Pakistan de-monstrierten noch in den letzten Jahren des Kalten Krieges, wie einfach eswar, den Antagonismus der Supermchte zum eigenen Vorteil auszu-beuten. In der Regel reichten Solidaritts- und Treueschwre, um in denGenuss grozgiger Wirtschafts- oder Militrhilfe zu kommen. Auch dieDrohung der vermeintlich Schwachen, ein ideologisches Lager zu ver-lassen oder die Schutzmacht als unzuverlssig blozustellen, konnte ver-lsslich zur Erpressung der starken Seite eingesetzt werden. Angola,Mosambik, Somalia, thiopien und der Sdjemen piesackten damit denKreml, ausgerechnet in den 1970er Jahren und auf dem Hhepunkt sow-jetischer Macht in Afrika. Eben weil die Starken in vielfltiger Weisemanipulierbar waren, ist eine Tyrannei der Schwachen zu beobachten.

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    In einem wenig schmeichelhaften, aber zutreffenden Bild gesprochen:berraschend oft wedelte der Schwanz mit dem Hund.

    Die Bilanz schliet im Soll. Zweifellos wurden wirtschaftliche Erfolgs-geschichten in der Dritten Welt geschrieben. Man denke etwa an den Auf-stieg Taiwans oder Sdkoreas. Nicht zu vergessen die Lebensmittelliefe-rungen in das subsaharische Afrika, die von den meisten Empfngern zumnackten berleben bentigt wurden. Aber die fr zivile Projekte investier-ten Gelder versickerten gemeinhin teils in wirtschaftlich nutzlosen Pres-tigeobjekten, teils in den Privatfonds lokaler Potentaten. Und stets, weilman sich mit atemberaubender Ignoranz ber die wirtschaftlichen Bedrf-nisse und das kulturelle Umfeld in den Empfngerlndern hinwegsetzte,wie Ragna Boden am Beispiel Indonesiens und seines Sponsors Moskaudarlegt. Dass die USA in den 1980er Jahren beispielsweise drei MilliardenDollar Wirtschaftshilfe an El Salvador gaben, hinterlie ebenfalls keinerleiSpuren; vorher wie nachher lebten ber 90 Prozent der Bevlkerung in Ar-mut. Aufs Ganze gesehen bleibt also festzuhalten: Die von Ost wie Westgewhrte Entwicklungs- und Wirtschaftshilfe war ein Desaster. MancheGesellschaften blieben im Ringen um den richtigen Weg buchstblichverwstet auf der Strecke.11

    Dafr ausschlielich die Umstnde und Politik des Kalten Krieges ver-antwortlich zu machen, wre gewiss bertrieben. Unabhngig von derpolitischen Growetterlage forderte ein seit den frhen Tagen des Kolo-nialismus etabliertes Welthandelssystem seinen Preis: Rohstoffe werdenbillig, Fertigprodukte teuer gehandelt. Aus dieser Falle der Terms of Tradekonnten sich nur wenige Entwicklungslnder befreien. Die Mehrheit warentweder von der technologischen Entwicklung die bekanntlich mit ei-nem steten Preisverfall bei Rohstoffen einherging berfordert; oderrannte mit kontraproduktiven Mitteln dagegen an. Sich neue Einnahme-quellen durch einen forcierten Abbau von Rohstoffen zu erschlieen,fhrte in der Regel zum Raubbau an natrlichen und sozialen Lebens-grundlagen: Entwaldung und groflchige Bodenerosion im ersten, Land-flucht und Massenelend in den Stdten im letzten Schritt. Ob die Handels-partner aus dem kapitalistischen oder sozialistischen Lager kamen, spieltekeine Rolle. Keine Industrienation, Ost wie West, war an einer nderungder Terms of Trade interessiert. Als das bettelarme Mosambik, in den1980er Jahren mehr denn je im Hintertreffen, in Ost-Berlin um eine wei-tere Staatshilfe nachsuchte, gewhrte die DDR den Kredit aber zu hhe-ren Zinsstzen als bei westlichen Glubigern blich (Brigitte H. Schulz).

    11 Vgl. Westad, Global Cold War, S. 347, S. 404.

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    Auch sozialistische Partner hatten Gefallen an den wlfischen Gesetzendes Weltmarktes gefunden.12

    Zur berwindung ihrer Strukturdefizite hatten viele Entwicklungsln-der, ermutigt durch die Niedrigzinspolitik der Zeit, in den frhen 1970erJahren zum Teil enorme Anleihen aufgenommen; andere stabilisierten aufdiesem Weg korrupte Clans und marode Herrscherhuser. Zehn Jahre sp-ter sollte sich zeigen, dass man weniger in die wirtschaftliche Zukunft in-vestiert als diese Zukunft vielmehr verpfndet hatte. Infolge einer weltwei-ten Rezession fielen die Weltmarktpreise fr Rohstoffe zwischen 1980 und1982 im Schnitt um 40 Prozent, viele Rohstoffexporteure bten in jenenJahren die Hlfte ihres Staatsaufkommens ein. Das von Washington undLondon in der internationalen Finanzwelt durchgesetzte Diktat des Mo-netarismus verschrfte die Krise in der Dritten Welt auf seine Weise. UmSchulden stornieren, geschweige denn neues Geld aufnehmen zu knnen,mussten ausgerechnet die von der Krise am meisten betroffenen Staatenihre Markttauglichkeit unter Beweis stellen: Haushalte sanieren, ffent-liche Dienstleistungen privatisieren und den Kreditgebern eine rasche Til-gung in Aussicht stellen. Dass dergleichen auf dem Rcken einer bedrf-tigen Bevlkerung ausgetragen wurde, ist hinlnglich bekannt.13

    Andererseits wird am Beispiel dieser Schuldenkrise auch deutlich, dassein Gutteil der Malaise in der Dritten Welt unmittelbar auf das Konto desKalten Krieges ging. Genauer gesagt: der massiven Aufrstungspolitik un-ter Ronald Reagan geschuldet war. Weil die USA die Grenzen ihrer Neu-verschuldung erreicht hatten und Reagan obendrein mit dem Versprechenvon Steuersenkungen bei seinen Whlern im Wort stand, kamen zur Fi-nanzierung neuer Waffensysteme nur die internationalen Finanz- und Ka-pitalmrkte infrage. Auf diesen bediente sich die US-Regierung ohneRcksicht auf Dritte, sie fegte den weltweiten Kreditmarkt faktisch leer.Mit dem Ergebnis, dass die Zinsen nach oben schossen und von vielen Ent-wicklungslndern nicht mehr bedient werden konnten. 1978 belief sich dieSchuldenlast aller Entwicklungslnder einer Schtzung der OECD zufolgeauf 340 Milliarden Dollar; vier Jahre spter waren es 626 Milliarden Dol-lar. Sich um alternative Finanzierungsquellen zu kmmern war sinnlos.Internationale Finanzinstitutionen wie die Weltbank oder der Internatio-nale Whrungsfonds, von groen Privatbanken gar nicht zu reden, hattendas Geld noch teurer gemacht als jede Staatsbank (Earl Conteh-Morgan).In Mali, das sich auf Druck seiner Glubiger einen drastischen Sparkurs

    12 Vgl. David C. Engerman u.a. (Hg.), Staging Growth: Modernization, Develop-ment, and the Global Cold War, Amherst 2003.

    13 Westad, Global Cold War, S. 358363.

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    verordnet hatte, stieg die Kindersterblichkeit in der ersten Hlfte der1980er Jahre um mehr als 25 Prozent.14 An weiteren Beispielen dieser Artfehlt es nicht; im Gegenteil.

    Noch mehr schlugen die in der Dritten Welt hausgemachten Kata-strophen zu Buch. Grundstzlich wurde jede Politik forcierter Moderni-sierung teuer bezahlt. Als Gamal Abdel Nasser 1970 starb, stand gyptenmit fnf Milliarden Dollar Schulden am Rande des Zusammenbruchs; seinMitstreiter und Nachbar Hafiz al-Assad brdete Syrien mit seiner fehlge-leiteten Industrialisierungspolitik eine Schuldenlast in Hhe des Bruttoin-landsproduktes auf (Thomas Scheben). Am hchsten war der Preis jedochdort, wo Wirtschaftspolitik in den Dienst des Kalten Krieges gestellt undmithin fr ideologische Zwecke in Anspruch genommen wurde.

    In Nordvietnam und Tansania fhrte die Kollektivierung der Landwirt-schaft zur massenhaften Abwanderung beziehungsweise Umsiedlung vonBauern. Die von Schah Reza Pahlavi im Iran dekretierte Grne Re-volution steigerte anfnglich, wie auch in Indien und Indonesien, denlandwirtschaftlichen Ertrag; freilich war das neue Saatgut derart dnger-und wasserbedrftig, dass nur die ohnehin wohlhabenden Bauern aufDauer damit wirtschaften konnten. Als Mengistu Haile Mariam ver-suchte, thiopiens Weg in die Moderne mit sozialistischen Mitteln ab-zukrzen, ruinierte er zunchst die Bden des Landes. Danach brach dieVersorgung mit Nahrungsmitteln zusammen, am Ende verhungerten zwi-schen 1984 und 1986 weit ber eine Million Menschen.15 WirtschaftlicherDilettantismus trug in hohem Mae auch zu den Brgerkriegen im Latein-amerika der 1980er Jahre bei. 70000 Tote hatte El Salvador zu beklagen,Nicaragua 30000 gemessen an Zahl seiner Einwohner zahlte Nicaraguaeinen hheren Blutzoll als die USA in allen ihren Kriegen zwischen 1861und 1975.16

    In welcher Weise und mit welchen Folgen die Umwelt in Mitleiden-schaft gezogen wurde, ist am Beispiel Chinas vergleichsweise gut erforscht(Judith Shapiro). Wiederholt fhrte Mao wirtschaftspolitische Beschlsseherbei, die ohne den Kalten Krieg schwer vorstellbar sind. Zum Teil ginges ihm darum, den Westen in Schlsselbereichen der Industrie, insbeson-dere bei der Stahlproduktion, binnen einer Dekade zu berholen; zum Teilwollte er das Land mittels eines konomischen Crashprogramms fr einenvermeintlich unabwendbaren Krieg gegen die USA oder die UdSSR wapp-

    14 Ebenda, S. 361.15 Ebenda, S. 287, S. 335.16 Vgl. Lynn Horton, Peasants in Arms: War and Peace in the Mountains of Nica-

    ragua, 19791994, Athens 1998.

  • 28 Bernd Greiner

    nen. Ein heier Krieg blieb bekanntlich aus; stattdessen fhrte Mao un-ablssig Krieg gegen die Natur. Ohne volkswirtschaftlichen Sinn und Ver-stand wurden Wlder gerodet, Smpfe trockengelegt, Flsse gestaut,Grobetriebe demontiert und Hunderte Kilometer entfernt in unterirdi-schen Stollen neu errichtet. Ernteausflle, Versalzung und Versteppungzhlen zu den relativ harmlosen Folgen, gemessen an der Hungersnot, diezwischen 1958 und 1961 an die 30 Millionen Menschen dahinraffte. Auchnach dem Groen Sprung wurden Ressourcen in einem Mae vernich-tet, das in der Geschichte zivilisierter Nationen ohne Beispiel ist: perma-nent preparedness auf Chinesisch.17

    Dieser Teil der Wirtschaftsgeschichte des Kalten Krieges ist zugleich alsAnregung zu verstehen nmlich sich auch anderen Regionen und Ln-dern zuzuwenden und die politische kologie in der Dritten Welt zukartografieren.

    17 Jung Chang, Jon Halliday, Mao. The Unknown Story, London 2007, S. 465,S. 481ff., S. 498, S. 521ff., S. 526, S. 531, S. 534, S. 584ff., S. 588.

  • Wirtschaft im Kalten Krieg 29

    Soll und Haben in der Dritten Welt

  • 30 Robert J. McMahon

    Robert J. McMahonDie Macht der Schwachen

    Die erste Generation von Wissenschaftlern, die sich mit dem Kalten Kriegbefasste, war weitgehend eurozentrisch. Sie konzentrierte sich auf die sow-jetisch-amerikanische Konfrontation im Herzen Europas und widmeteden meisten Regionen der Dritten Welt allenfalls beilufig Aufmerksam-keit. Hielt die frhe Geschichtsschreibung des Kalten Krieges jedoch ein-mal inne und untersuchte den sowjetisch-amerikanischen Wettstreit undKonflikt auerhalb Europas, dann tendierte sie dazu, die Bedeutung derEntwicklungslnder herunterzuspielen; so wie sie auch dazu tendierte, dieHandlungsfhigkeit von Akteuren in der Dritten Welt auer Acht zu las-sen. Bis weit in die 1980er Jahre hinein zeichneten die meisten Standard-werke ber den Kalten Krieg ein schlichtes und stark vereinfachtes Bild, in dem die Supermchte agierten und die Dritte Welt reagierte. DiesesBild lehnte sich insofern an das alte imperiale Modell von Dominanz undUnterwerfung an, als es die Lnder der Dritten Welt implizit zu einerGruppe von Marionetten erklrte, die gewhnlich von ihren Herren inWashington und Moskau manipuliert worden seien.

    In diesem Licht lieen sich die wirtschaftlichen Dimensionen des KaltenKrieges auf eine einfache Erzhlung reduzieren, in der die VereinigtenStaaten und die Sowjetunion vermittels Wirtschafts- und Entwicklungs-hilfe Einfluss ausbten, Verbndete gewannen und sich ihren Zugang zuRessourcen, Investitionsmglichkeiten und militrisch-strategischen Ein-richtungen sicherten. In der jngeren Geschichtsschreibung stellt sich dieRolle der Dritten Welt im Kalten Krieg jedoch komplizierter dar; das Pa-radigma von Dominanz und Unterwerfung ist weitgehend umgestrztworden. Die meisten Wissenschaftler erkennen inzwischen an, dass derKalte Krieg beinahe von Beginn an ein tatschlich globales Phnomen dar-stellte. Nicht nur war die Dritte Welt ein wichtiger Schauplatz des Kon-flikts, vor allem hatten nicht westliche Akteure selbst einen erheblichenEinfluss auf seinen Verlauf.

    Im Folgenden werde ich einige der vielfltigen Weisen skizzieren, wieStaatsfhrer in den Entwicklungslndern geschickt den Hebel nutzten, denihnen ein bipolarer globaler Wettstreit pltzlich in die Hand gab. Einigewaren sehr an einem Bndnis mit dem Westen interessiert, von dem siesich erhebliche, vor allem wirtschaftliche Vorteile versprachen. Andere, dienationale, Gruppen- und persnliche Interessen anders gewichteten, ent-

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    schieden sich fr ein Bndnis mit dem Osten. Wieder andere verfolgteneinen Mittelweg und optierten fr die Strategie einer bewussten Neutra-litt, um beide Seiten gleichzeitig zu Entwicklungshilfe zu bewegen. In al-len drei Fllen jedoch versuchten die Staatsfhrer, die Mglichkeiten aus-zuschpfen, die ihnen ein weitestgehend vom Kalten Krieg bestimmtesinternationales System insofern erffnete, als Sowjets wie Amerikaner insmtlichen Entwicklungsregionen Einfluss und Verbndete suchten. Ichwerde argumentieren, dass die oft raffinierten Manver, mit denen Dritte-Welt-Fhrer die Hebelkraft ihrer Staaten gegenber den Supermchten zuvergrern suchten, als ein zentrales Thema des wirtschaftlichen KaltenKrieges anerkannt werden mssen. Die Schwachen hatten tatschlichMacht und wo immer mglich, machten sie von ihr Gebrauch, um dieStarken fr ihre eigenen Zwecke einzuspannen.

    Man strapaziert die Wahrheit nur ein wenig, so Henry W. Brands,wenn man die Nachkriegsra als Zeitalter der Dritten Welt beschreibt.1

    In der Tat zhlt der Sturz der westlichen Kolonialreiche in den anderthalbJahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, der mit der Geburt von etwa40 unabhngigen Nationen einherging, zu den folgenreichsten histori-schen Entwicklungen der Moderne. Das zeitliche Zusammenfallen derEntstehung des Trikont mit der Verschrfung des globalen Machtkampfeszwischen den USA und der UdSSR bildet daher eine entscheidende Ku-lisse fr smtliche Dimensionen des wirtschaftlichen Kalten Krieges. DerKampf zwischen Ost und West bot Dritte-Welt-Fhrern Mglichkeiten,auslndische Hilfe anzuziehen, um ihre ehrgeizigen Plne fr den Aufbauvon Staat und Wirtschaft zu verfolgen. So wurden die Entwicklungslnderzum Gegenstand eines lang andauernden Wettstreits, den sie zugunstenihrer eigenen Interessen zu beeinflussen suchten. Da beide Supermchtedarauf aus waren, Freunde zu gewinnen und gleichzeitig die berlegenheitihres jeweiligen Entwicklungsmodells zu demonstrieren, strmten schlie-lich Dollar und Rubel in die Dritte Welt. Ohne den Kalten Krieg, so dasFazit von Odd Arne Westad, wren Afrika, Asien und mglicherweiseauch Lateinamerika heute vollkommen andere Regionen.2

    1 Henry W. Brands, The Specter of Neutralism: The United States and the Emer-gence of the Third World, 19471960, New York 1989, S. 1.

    2 Odd Arne Westad, The Global Cold War: Third World Interventions and theMaking of Our Times, New York 2005, S. 3.