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Konstruktiver Ingenieurbau I

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Konstruktiver Ingenieurbau I

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  • Vorlesungsskript Konstruktiver Ingenieurbau I

    7. Auflage April 2010

    Technische Universitt Berlin Fachgebiet Entwerfen und Konstruieren - Massivbau Sekretariat TIB 1 - B 2 Gustav-Meyer-Allee 25 13355 Berlin

    Prof. Dr. sc. techn. Mike Schlaich Dipl.-Ing. Achim Bleicher, Dipl.-Ing. Diana Bartsch

    Tel +49 (0)30 314-721 30 Fax +49 (0)30 314-721 32 [email protected] www.ek-massivbau.tu-berlin.de

  • Vorwort zur 1. Auflage

    Die Grundlagenfcher Mathematik, Mechanik, Statik, Werkstoffkunde, Bauinformatik, Baubetrieb, Prozessmodellierung etc., werden an fast allen Universitten werkstoff-bergreifend bzw. -unabhngig gelehrt. Der konstruktive Ingenieurbau ist keine Aus-nahme und deshalb wird an der Technischen Universitt Berlin auch auf diesem Gebiet werkstoffbergreifend gelehrt und geforscht.

    Die verschiedenen Werkstoffe verbindet mehr als sie trennt. Unabhngig von der oft knstlichen Trennung durch die Normen sollten die gemeinsamen Grundlagen und anwendungsbezogenen charakteristischen Eigenschaften der Werkstoffe fr das Entwerfen, Konstruieren und Bemessung herausgearbeitet und praxisnah vermittelt werden. Ein Bauherr bestellt ja keine Stahl- oder Betonbrcke, kein Holz- oder Glashaus, sondern gute Brcken und gute Huser. Neben klassischen Materialien wie Holz, Stahl und Beton kommen immer mehr neue, wie Glas und Membrane zum Einsatz. Nur ein mit allen Werkstoffen vertrauter Ingenieur kann kreativ entwer-fen.

    Im Rahmen der Vorlesungen Konstruktiver Ingenieurbau I bis II, die ab 2006 im Fachstudium des Bachelor Studiengangs (3. bis 6. Semester) gelehrt werden, wird deshalb das Bemessen und Konstruieren von stabfrmigen Tragwerken, von Stt-zen, Platten und Scheiben sowie ihrer Verbindungen werkstoffbergreifend vermittelt. Im vorliegenden Skript KI I wird zunchst die Bemessung der Querschnitte stabfr-miger Tragwerke und deren Verbindungsmittel behandelt.

    Erstmalig in ein Lehrkonzept integriert wurde eine werkstoffbergreifende Lehre im konstruktiven Ingenieurbau an der Universitt Stuttgart durch Professor Jrg Schlaich und Professor Kurt Schfer. Wir bedanken uns bei Professor Kurt Schfer fr die Er-laubnis sein Skript 'Grundlagen fr Bemessung und Konstruktion' als Grundlage fr das hier vorliegende Skript zu verwenden. Das Stuttgarter Skript wurde im Winter-semester 2004/2005 fr die Vorlesung Konstruktiver Ingenieurbau I (KI I) ange-passt, und es wird auch in Zukunft im Zuge des Bachelor/Master Studium fr die Vorlesung im Fachstudium verwendet werden. Dazu wurden verschiedene Kapitel umgestellt und einige Abschnitte auf den neuesten Stand gebracht, sowie der Ein-satz neuer Materialien angesprochen.

    Mike Schlaich, Berlin, April 2005.

  • TU Berlin Fachgebiet Entwerfen und Konstruieren Massivbau Konstruktiver Ingenieurbau I Inhaltsverzeichnis

    - I -

    INHALTSVERZEICHNIS

    1 EINFHRUNG 1

    1.1 Zur Geschichte des Konstruktiven Ingenieurbaus 1 1.1.1 Tragwerke aus Mauerwerk 1 1.1.2 Tragwerke aus Holz 2 1.1.3 Metallbau 3 1.1.4 Stahlbetonbau und Spannbetonbau 9 1.1.5 Mischbauweisen und neue Werkstoffe 11

    1.2 Einordnung der Bemessung in den Planungsprozess 12

    2 BEMESSUNGSGRUNDLAGEN 17

    2.1 B- und D-Bereiche der Tragwerke 17 2.1.1 Eigenarten der B- und D-Bereiche 17 2.1.2 Abgrenzen der D-Bereiche 19

    2.2 Gleichgewicht, Vertrglichkeit und Werkstoffgesetze 21

    2.3 Schnittgrenermittlung und Tragwerkswiderstand 22

    2.4 Anhang: Begriffe aus der Mechanik und Werkstoffkunde 29

    3 WERKSTOFFE 31

    3.1 Charakteristika der Baustoffe und ihre Kombination zu Verbundwerkstoffen 31

    3.2 Metallische Werkstoffe 37 3.2.1 Stahl 37 3.2.2 Gusseisen / Stahlguss 62 3.2.3 Nichteisenmetalle 64 3.2.4 Spannungs-Dehnungslinien metallischer Werkstoffe 66

    3.3 Holz 72 3.3.1 Holzarten 72 3.3.2 Physikalische Eigenschaften 75

    3.4 Beton 81 3.4.1 Druckfestigkeit 81 3.4.2 Zugfestigkeit 82 3.4.3 Spannungs-Dehnungs-Linien Beton 85 3.4.4 Elastizittsmodul und Querkontraktion 86 3.4.5 Schwinden, Kriechen und Wrmedehnung 86

    3.5 Mauerwerk 87

    3.6 Glas 92

    3.7 Membranen 94

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    - II -

    4 VERBUND ZWISCHEN BETON UND STAHL 99

    4.1 Das Wesen des Verbundes 99

    4.2 Verbundfestigkeit 100

    4.3 Verankerungs- und bergreifungslngen 104

    5 QUERSCHNITTSBEMESSUNG 107

    5.1 Ermittlung der Beanspruchungen im Querschnitt ausgehend vom linear-elastischen Stoffgesetz 108

    5.1.1 Bemessung von Stahlquerschnitten (Verfahren Elastisch-Elastisch nach DIN 18800-1) 110 5.1.2 Bemessung von Holzquerschnitten 117

    5.2 Bemessung von Stahlquerschnitten mittels plastischem Stoffgesetz (Verfahren Elastisch-Plastisch und Plastisch-Plastisch nach DIN 18800-1) 122

    5.3 Querschnittsbemessung bei Rissbildung oder klaffender Fuge (Mauerwerk) 128

    5.4 Bemessung von Stahlbetonquerschnitten fr Moment und Normalkraft 134 5.4.1 Mittig auf Druck beanspruchte Stahlbetonstbe 134 5.4.2 Grundlagen der Biegebemessung von Stahlbetonquerschnitten 138 5.4.3 Vereinfachte Ermittlung der Biegetragfhigkeit mittels Spannungsblock 143 5.4.4 berblick ber die Bemessungsverfahren fr M und N 144 5.4.5 Bemessung fr Druck mit geringer Ausmitte = kleines Moment und groe Druckkraft

    (Interaktionsdiagramme) 146 5.4.6 Bemessung fr reine Biegung und Druck / Zug mit groer Ausmitte = groes Moment und

    kleine Druckkraft (e = M/N > 0,5h) 148 5.4.7 Bemessung fr Zug mit geringer Ausmitte 150 5.4.8 Bemessung von Plattenbalkenquerschnitten 151 5.4.9 Druckbewehrung 154 5.4.10 Bemessung bei nicht rechteckiger Druckzone und schiefer Biegung 156

    5.5 Bemessung von Betonbalken mit Fachwerkmodellen 157 5.5.1 Fachwerkmodelle 157 5.5.2 Bemessung der Gurte (einschlielich Beteiligung der Querkraft) 158 5.5.3 Querkraftabtragung 162 5.5.4 Angehngte Lasten 171 5.5.5 Querkrafttragfhigkeit ohne Querkraftbewehrung 172 5.5.6 Anschluss von abstehenden Querschnittsteilen an den Steg (Anschluss Platte / Steg) 173

    5.6 Querschnittstragfhigkeit von Verbundtrgern 176 5.6.1 Allgemeines 176 5.6.2 Momententragfhigkeit 177 5.6.3 Querkrafttragfhigkeit und Interaktion mit der Momententragfhigkeit 180

    5.7 Der Stab mit Torsionsbeanspruchung 182 5.7.1 Allgemeines 182 5.7.2 Saint Venantsche Torsion 183 5.7.3 Wlbkrafttorsion 186 5.7.4 Stahlbetontragwerke unter reiner Torsion (Zustand II) 186

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    - III -

    6 LAST-VERFORMUNGSVERHALTEN VON STAHLBETONSTBEN, GEBRAUCHSTAUGLICHKEIT 193

    6.1 Last-Verformungs-Verhalten von Stahlbetonstben 193 6.1.1 Druck- und Zugbeanspruchung im elastischen Bereich 193 6.1.2 Stahlbeton-Druckstab im nichtlinearen Bereich 195 6.1.3 Stahlbeton-Zugstab im gerissenen Zustand II 196 6.1.4 Verformungen von Stahlbetonbalken unter Biegung 202

    6.2 Grenzzustand der Gebrauchstauglichkeit 203 6.2.1 Beschrnkung der Rissbreiten 203 6.2.2 Berechnung von Rissbreiten (Abgeschlossenes Rissbild) 207 6.2.3 Durchbiegungen 208 6.2.4 Dynamische Belastung 210

    6.3 Anhang 211

    7 VERBINDUNGSMITTEL 215

    7.1 berblick ber die Verbindungen von Bauteilen 215

    7.2 Allgemeines zu stabfrmigen Verbindungsmitteln 219

    7.3 Schraubverbindungen im Stahlbau 224 7.3.1 Eigenschaften von Schrauben und ihre Anordnung in den Verbindungen 224 7.3.2 Tragfhigkeitsnachweise fr Schraubverbindungen im Stahlbau 227 7.3.3 Bolzenverbindungen 230

    7.4 Schweiverbindungen im Stahlbau 230 7.4.1 Allgemeines 230 7.4.2 Schweiarten 232 7.4.3 Nahtarten 234 7.4.4 Beanspruchungen und Nachweise von Schweinhten 235

    7.5 Verankerungen, Umlenkungen und Beschlge bei Seilen und Spanngliedern 240 7.5.1 Verankerungen 240 7.5.2 Umlenkungen 241 7.5.3 Beschlge 241

    7.6 Verbindungen im Holzbau 242 7.6.1 Allgemeines zu stiftfrmigen Verbindungsmitteln 242 7.6.2 Stabdbel, (Pass-) Bolzen und Gewindestangen 243 7.6.3 Nagelverbindungen 245 7.6.4 Dbelverbindungen 245

    7.7 Konstruktionsdetails im Glasbau 248 7.7.1 Lagerungsarten 248 7.7.2 Zulassungen und Richtlinien 250

    7.8 Verbindungen im Membranbau 251 7.8.1 Flchenste 251 7.8.2 Randausbildungen 252

    LITERATUR 253

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    - IV -

  • TU Berlin Fachgebiet Entwerfen und Konstruieren Massivbau Konstruktiver Ingenieurbau I Kapitel 1

    - 1 -

    1 Einfhrung

    1.1 Zur Geschichte des Konstruktiven Ingenieurbaus

    1.1.1 Tragwerke aus Mauerwerk

    Bauten aus Mauerwerk und Holz sind so alt wie die menschliche Kultur. Auch knst-liche Steine aus getrocknetem Lehm und vor allem aus gebranntem Lehm gab es schon im Altertum. Manche Kulturen, z. B. die Inkas, haben mit tonnenschweren, sauber behauenen Steinen ohne Mrtel Bauten errichtet, deren Herstellung man sich heute noch nicht recht erklren kann.

    Hufig wurden fr die Decken und Dcher der Mauerwerksbauten Holztragwerke verwendet. Die mit Mauerwerk berbrckbaren Spannweiten waren durch die Lnge der handhabbaren (natrlichen) Steine begrenzt. Bei falschen Gewlben erreichte man mittels auskragender Steine wenige Meter Spannweite (bekanntestes Beispiel: das Schatzhaus des Atreus in Mykene, ca. 1325 v. Chr.).

    Die Rmer haben die Wlbtechnik mit dem Bau von Bogenbrcken fr Straen und Wasserleitungen und mit der Einwlbung groer Hallen zu einer ersten Blte gefhrt, mit Spannweiten, die erst in der Renaissance wieder annhernd erreicht wurden (Bild 1-1, Bild 1-2). In Bezug auf die Khnheit gemauerter Tragwerke, die Aus-nutzung der Materialeigenschaften und ihrer gestalterischen Qualitt sind die goti-schen Dome bis heute unbertroffene Meisterwerke.

    a) b)

    Bild 1-1 Gemauerte Kuppeln: a) Pantheon in Rom, erbaut 118 bis 126 n. Chr., 43,3 m lichter Durchmesser; b) Kuppel des Doms in Florenz, begonnen 1420 von Bruneleschi, 42 m Durchmesser

  • TU Berlin Fachgebiet Entwerfen und Konstruieren Massivbau Konstruktiver Ingenieurbau I Kapitel 1

    - 2 -

    Obwohl auch heute noch Mauerwerk vor allem im Wohnungsbau eine wichtige Rolle spielt ist seine Bedeutung seit der Entwicklung neuerer Baustoffe wie Stahl und Be-ton stndig zurckgegangen. Der Nachteil des Mauerwerks, dass es eine sehr gerin-ge Zugfestigkeit besitzt, schrnkt seine Anwendungsmglichkeiten und den Formenkanon der damit herstellbaren Tragwerke stark ein (Wnde mit geringer Bie-gebeanspruchung, Gewlbe). Mauerwerk, das hnlich wie Stahlbeton bewehrt ist, um grere Zugkrfte aufzunehmen, kommt selten zur Anwendung.

    Die zunehmend hheren Anforderungen an die Wrmedmmung der Bauten haben in den letzten Jahrzehnten zur Entwicklung von besonders leichten Mauersteinen (z. B. Ytong, Poroton, Liapor) und Leichtmauermrteln gefhrt, die vor allem fr Au-enwnde im Wohnungsbau verwendet werden.

    1.1.2 Tragwerke aus Holz

    Durch handwerkliches Bearbeiten und Verbinden von Holzbalken wurden schon im Mittelalter und im alten China beachtliche Dachtragwerke und Brcken zustandege-bracht (Bild 1-2 a, Bild 1-3); der eigentliche Ingenieurholzbau begann aber wie der Stahlbau erst nach der industriellen Revolution. Insbesondere in Amerika und in den waldreichen Lndern Mitteleuropas sind fr die Eisenbahnen zunchst viele Holz-brcken errichtet worden, die dann spter durch Stahlbrcken ersetzt wurden. Einen Innovationsschub fr den Ingenieurholzbau brachte in den letzten Jahrzehnten der Holzleimbau, der die Herstellung beliebig groer und sogar stark gekrmmter Balken ermglicht (Bild 1-2 b). Hinzu kamen viele neue sthlerne Verbindungsmittel, die zug-feste und einfach herzustellende Verbindungen ermglichen, womit die Holztrag-werke mitunter den Charakter von Stahlbauten annehmen.

    a) b)

    Bild 1-2 Dachtragwerke aus Holz: a) Westminster Hall, London, 14. Jahrh., H. Herland; b) Schwimmhalle in Leimbauweise, Bad Drrheim, 1985-87, Ing: Wenzel, Frese, Prtner, Haller, Bathel, Arch: Geier + Geier

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    Bild 1-3 Rheinbrcke bei Schaffhausen, 1756, H.-U. Grubenmann, 2 x 60 m Spannweite,

    konzipiert als Einfeldtragwerk mit doppelter Spannweite

    1.1.3 Metallbau

    Die Verwendung von Eisen und Stahl fr Tragwerke hngt eng mit den Fortschritten zusammen, die bei der Erzeugung des relativ teuren Werkstoffs whrend der indu-striellen Revolution in England erzielt wurden. Einige Marksteine in dieser Entwick-lung sind die Erzeugung von Gusseisen im Hochofen um 1735 durch Abraham Darby II, die Erfindung des Puddelverfahrens zur Erzeugung schmiedbaren Eisens von Henry Cort im Jahre 1784, das aber erst mit der fortschreitenden Entwicklung des industriellen Walzens verschiedener eiserner Profile in der 1. Hlfte des 19. Jahr-hunderts wirtschaftlich fr Tragwerke eingesetzt werden konnte. In groen Mengen herstellbar und wesentlich billiger wurde der Flussstahl durch die Erfindung des Windfrischens in der Birne von Henry Bessemer im Jahre 1855 und durch den Sie-mens-Martin Ofen.

    Bild 1-4 Gusseiserne Brcke bei Laasan/Schlesien, 1796

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    Die erste (noch erhaltene) Brcke mit einem Tragwerk aus Eisen wurde in Co-albrookdale / Severn von Abraham Darby III und John Wilkinson in den Jahren 1773-1779 mit 30,6 m Spannweite errichtet. Im Jahre 1796 entstand die erste eiserne Br-cke in Deutschland mit 13 m Spannweite (Bild 1-4), auf die Anfang des 19. Jahrhunderts etliche kleinere und grere Straenbrcken folgten. Diese ersten Brcken bernahmen die traditionellen Formen des Steinbrckenbaus und waren daher Bogenbrcken, die noch vorwiegend nach handwerklichen Gesichtspunkten konstruiert wurden. Die druckbeanspruchten Teile aus dem sprden Gusseisen wur-den mit Nut und Feder oder mit schmiedeeisernen Bndern aus Puddeleisen ver-bunden.

    Mit dem Bau der Eisenbahnen seit 1825 wurden auer Bogenbrcken und Hnge-brcken unzhlige Fachwerkbrcken in verschiedensten Systemen errichtet, wobei als grte Spannweite 521 m bei der Brcke ber den Firth of Forth (Bild 1-5) er-reicht wurden.

    Dazu war neben der Weiterentwicklung der Stahltechnologie die rationale Erfassung des Tragverhaltens eine wichtige Voraussetzung. Nun wurden Tragwerke nicht nur nach handwerklicher Erfahrung und nach Proportionen gestaltet, sondern ihre Trag-fhigkeit wurde auf der Grundlage von Versuchsergebnissen und physikalischen Ge-setzen berechnet. Auf der Mechanik aufbauend und mit den Erkenntnissen aus Versuchen waren im 18. Jahrhundert Fragmente der Baustatik und Festigkeitslehre entstanden (Hooke (1635-1703), Belidor (1697-1761), Bernoulli (1700-1782), Coulomb (1736-1806)). Navier (1735-1836) hatte dieses Wissen geordnet, zusam-mengefasst, ergnzt und in seinen Vorlesungen an der Ecole des Ponts et Chaus-ses als praktische Wissenschaft etabliert. Die Ecole des Ponts et Chausses war schon im Jahre 1747 fr die naturwissenschaftliche Ausbildung der Offiziere gegrn-det worden, die sich auch mit staatlichen Tiefbauarbeiten und Brcken zu befassen hatten. Seit 1825 wurden nach dem Vorbild der franzsischen Ecole Polytechnique (gegrndet 1775) auch in verschiedenen Lndern Deutschlands, beginnend in Karls-ruhe, polytechnische Schulen gegrndet, aus denen dann die Technischen Hoch-schulen bzw. Universitten hervorgingen. Die TU Berlin (Neugrndung 1946) entstand aus der 1799 gegrndeten Bauakademie und der 1821 erffneten Gewer-beakademie, welche 1879 zur Kniglichen Technischen Hochschule zu Berlin ver-schmolzen.

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    Bild 1-5 Firth of Forth, Edinburgh, 1882-90, Sir B. Baker, Sir J. Fowler

    Hngebrcken, in China seit 2000 Jahren bekannt, entwickelten sich seit der indu-striellen Revolution aus Kettenbrcken mit geschmiedeten Kettengliedern ber Ket-tenbrcken aus Stabeisen und Seilbrcken vor allem in Amerika zu den Tragwerken, mit denen die grten Spannweiten berbrckt werden knnen. Hierzu einige Daten:

    1796 erste neuzeitliche Kettenbrcke in Amerika von J. Finley l = 21 m

    1816-26 Kettenbrcke ber die Menai-Meerenge von Th. Telford l = 175 m

    1816 erste weitgespannte Drahtseilbrcke in den USA l = 124 m

    1832-34 Saanebrcke (Seilbrcke) in Fribourg, von J. Chaley l = 273 m

    1870-83 Brooklyn-Brcke in New York von J. A. und W. A. Roebling l = 486 m

    1929-32 George-Washington-Brcke in New York von O. H. Ammann l = 1067 m

    1933-35 Golden Gate Brcke nach San-Francisco von J. B. Strauss l = 1280 m

    1993-98 Akashi-Kaikyo-Brcke in Japan l = 1991 m

    geplant Brcke ber die Strae von Messina l 3300 m

    Seit 1950 wurden mittlere und auch groe Spannweiten zunehmend mit Schrgseil-brcken berspannt (1957: Rheinbrcke Dsseldorf-Nord, Hauptspannweite 260 m; 1995: Normandie-Brcke bei Le Havre, Hauptspannweite 856 m). Mit ihrer voraus-sichtlichen Fertigstellung 2008 wird die Stonecutters-Brcke in Hong Kong (1018 m) die Tatara-Brcke in Japan (890 m) bertreffen.

    Die ersten Balkenbrcken in Vollwandbauweise, die Conway-Brcke (l = 122 m) und die Britannia-Brcke (max l = 140 m) wurden 1847 bzw. 1850 von W. Fairbairn und R. Stephenson vollendet. Sie waren die Vorlufer der vollwandigen Hohlkasten-brcken, die in den letzten Jahrzehnten zum Standardtypus von Stahlbrcken (und Spannbetonbrcken) wurden.

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    Bild 1-6 Flatterschwingungen der 1940 eingestrzten Tacomabrcke, 855 m Spannweite

    Viele bedeutende Brcken, insbesondere Hngebrcken, strzten wegen Sprd-bruch, Ermdungsbruch, Knicken von Stben, Beulen von Rohrprofilen, ungengen-der Aussteifung, Resonanzschwingungen verursacht von marschierenden Soldaten, Flatterschwingungen aus Wind (Bild 1-6) oder anderen bis dato unbekannten oder unterschtzten Phnomenen ein, wobei diese Fehlschlge meistens eine rege For-schungsttigkeit und die Weiterentwicklung der Bauweise nach sich zogen.

    Im Hochbau setzte sich der Eisenbau (wie der Stahlbau bis in die 20er Jahre des 20. Jahrh. genannt wurde) viel langsamer durch als im Brckenbau, obwohl seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts auch groartige Tragwerke fr Hallen aus eisernen Stben, zunchst Gusseisen, spter Schmiedeeisen und Walzeisen, entstanden (Bild 1-7).

    a) b)

    Bild 1-7 Eiserne Hallen: a) Kuppel der Halle au Bl in Paris, erbaut 1809-13; b) Palais des Machines in Paris 1889

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    Mit der 1803 gegrndeten Kniglichen Eisengieerei beginnt in Berlin das Bauen mit Guss- und Schmiedeeisen. Die ersten Impulse gehen von Karl Friedrich Schinkel (Architekt) und August Borsig (Maschinenbauer und gelernter Zimmermann) aus. 1847 wurde die erste gusseiserne Kuppel Preuens fr die Potsdamer Nicolaikirche gebaut. Die Konsolidierungsphase des Eisenbaus in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts uert sich vor allem im Zusammenhang mit der Entwicklung Ber-lins zur Hauptstadt des Kaiserreiches und dem Bauen mit Eisen als alltgliche Pra-xis. Beispielhaft werden nachfolgend einige bedeutende Eisenbaukonstruktionen genannt:

    - das groe Palmenhaus im alten Kniglich-Botanischen Garten, ein Skelettbau aus Eisen und Glas (1857-59).

    - das Palmenhaus der Flora (1871-73).

    - Berliner Fernbahnhfe wie der Anhalter Bahnhof (1876-80).

    - die alte Nationalgalerie (1866-73).

    Dass Berlin am Ende des 19. Jahrhunderts eine Stadt der eisernen Kuppeln ist, wird durch den mehrfachen Bau von Schwedlerschen Kuppeln deutlich, beispielsweise fr das Hauptgebude der Berliner Gewerbeausstellung in Treptow (Bild 1-8). Groe Meilensteine des frhen europischen Eisenbaus sind der Londoner Crystal Palace von Joseph Paxton (1851) und der Eiffelturm fr die Weltausstellung in Paris 1889.

    Bild 1-8 Berliner Gewerbeausstellung, Treptow,

    1895-96, J. W. Schwedler

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    Seit Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Hochhausbau, vor allem in den USA, mit dem Sears-Tower in Chicago 1974 als hchstem Gebude (422 m). Dieser wird derzeit durch den 508 m hohen Taipei 101 in Taiwan bertroffen. Es existieren aber bereits Entwrfe von Hochhusern und Trmen mit Hhen bis 1000 m.

    Seit Beginn des 20. Jahrhunderts musste der Stahlbau mit dem oftmals billigeren Eisenbeton konkurrieren. Nach dem 2. Weltkrieg im Brckenbau auch noch mit dem Spannbeton, der die reine Stahlbrcke aus dem Bereich kleiner und mittlerer Spannweiten fast vollstndig verdrngt hat. In der Kombination mit Beton als Ver-bundbau hat sich dabei der Stahl besser behauptet und im Hochbau mit den Trapez-blech-Verbunddecken auch zustzliche Anwendungsgebiete erobert. Hier ist in Zukunft eine weitere Strkung zu erwarten.

    Nachdem die Massenproduktion von Stahl in der 2. Hlfte des 19. Jahrhunderts mg-lich war, richteten sich die Entwicklungsziele vor allem auf die Verbesserung der Stahlqualitt (Festigkeit, Zhigkeit, Schweieignung, Korrosionsanflligkeit). Seit den 60er Jahren werden auch in Deutschland sog. wetterfeste Sthle hergestellt, nicht zu verwechseln mit korrosionsbestndig. Auch nichtrostende Sthle (i.d.R. Edelsthle) kommen im Bauwesen immer hufiger zum Einsatz (Kapitel 3.2).

    Allmhlich hat sich um die Mitte unseres Jahrhunderts die Verbindung der Stahlele-mente durch Schweien und Schrauben gegenber dem Nieten durchgesetzt. Schlupffreie Verbindungen mit vorgespannten hochfesten Schrauben (SLV-Verbin-dungen) wurden entwickelt, und mit Klebeverbindungen wurde experimentiert.

    Seit dem Bau des Olympiadaches in Mnchen (1972) wird auch wieder Gussstahl, der inzwischen zu einem sehr duktilen Werkstoff weiterentwickelt wurde, im Bauwe-sen fr komplizierte Knotenbereiche von Tragwerken verwendet.

    Bild 1-9 Stahlgussteile fr Humboldthafen-Brcke, Berlin, 1999,

    Ing: Schlaich Bergermann und Partner, Arch: GMP

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    1.1.4 Stahlbetonbau und Spannbetonbau

    Beton mit hydraulischem Kalk oder Puzzolan-Zement (vulkanischer Herkunft) als Bindemittel war schon den Rmern bekannt (Opus Caementitium). Die Erfindungen des Romanzements im Jahre 1796 durch den Englnder J. Parker und des Portland-zements durch den Franzosen J. Aspdin im Jahre 1824 leiteten die neuere Ent-wicklung zum Betonbau ein.

    In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden erstmals in Frankreich Stahleinlagen in Be-ton eingebaut: 1855 baute J. L. Lambot einen Kahn aus eisenverstrktem Zement-mrtel, 1861 stellte J. Monier Blumenkbel aus Beton mit Drahteinlagen her (Monier-Beton), 1861 verffentlichte F. Coignet Grundstze fr das Bauen mit be-wehrtem Beton und stellte 1867 auf der Weltausstellung in Paris Trger und Rhren aus bewehrtem Beton aus.

    Der Amerikaner W. E. Ward baute 1873 bei New York ein Haus aus Stahlbeton, Wards Castle, das heute noch steht. Weitere Schrittmacher waren T. Hyatt, F. Hennebique, G. A. Wayss, M. Koenen und C. W. F. Doehring.

    Die Markuskirche in Stuttgart, 1908 eingeweiht, ist ein frhes Stahlbetonbauwerk und hat den ersten Stahlbetonkirchturm der Welt. Bemerkenswert ist auch die Stuttgarter Markthalle, die in den Jahren 1912-1914 erbaut wurde.

    Emil Mrsch (Professor an der Technischen Hochschule Stuttgart von 1916 bis 1948) hat 1902 im Auftrag der Firma Wayss und Freytag eine wissenschaftlich begrndete Darstellung der Wirkungsweise des Eisenbetons verffentlicht und von Versuchser-gebnissen ausgehend die erste wirklichkeitsnahe Theorie zur Bemessung von Ei-senbetonbauteilen entwickelt.

    Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts forschte und arbeitete Franz Dischinger mit Walter Bauersfeld vor allem auf dem Gebiet der Schalenbauweise in Stahlbeton. Die ersten Entwicklungen sind die Planetariumskuppel auf dem Dach der Zeissfabrik in Jena 1922, der Stadt Jena 1924/25 und die doppelt gekrmmte Versuchsschale zur berdachung rechteckiger Grundrisse. Zusammen mit Ulrich Finsterwalder entfalten sie ihr ganzes Knnen in den Konstruktionen vielfltiger dnner Kuppelschalen und Tonnendcher. 1932 erhlt Dischinger die Berufung an den Lehrstuhl fr Stahlbeton-bau an der Technischen Hochschule Berlin.

    Beton ist heute weltweit das Produkt, das in der grten Menge hergestellt wird. Er ist in unserer gebauten Umwelt nicht bersehbar (und dort leider auch schon zum Stein des Anstoes geworden). Noch hufiger bildet Beton verdeckt durch Erde, Fassaden oder Verkleidungen das tragende Gerippe der Bauwerke und immer das Fundament, worauf alles Gebaute ruht. Mehr noch als bei anderen Baustoffen hngt das Tragverhalten und das Erscheinungsbild von Tragwerken aus dem vllig struk-turlosen Ausgangsmaterial Beton, von der Formgebung durch den Entwerfenden und von den Fertigungsmethoden ab (Bild 1-10, Bild 1-11).

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    a) b)

    Bild 1-10 Betonschalen: a) Hyparschalen, Xochimilco, Mexiko, 1957-58, F. Candela; b) Naturtheater, Grtzingen bei Karlsruhe, 1977, Ing: H. Isler, Arch: M. Balz

    Seit dem 2. Weltkrieg haben weiterentwickelte und neue Fertigungstechnologien er-heblich zur wirtschaftlicheren Herstellung von Betontragwerken beigetragen. Hierzu einige Stichworte: Groflchenschalung, Kletterschalung, Gleitschalung, Lift-slab-Verfahren, Lieferbeton, Pumpbeton, Spritzbeton, Unter-Wasser-Beton, Vakuum-beton, Mrtelinjektion, Stahlfaserbeton, Bohrpfhle, Schlitzwnde, Freivorbau, Takt-schiebeverfahren, Segmentbauweise, Vorfertigung von ganzen Bauelementen, Halb-fertigteile als verlorene Schalung. Neuere Entwicklungen zielen auf hochfeste Beto-ne, Faserbetone, selbstverdichtende Betone und Fertigungsroboter.

    Bild 1-11 Brstelbrcke Bad Oeynhausen, 2000, Ing: Schlaich Bergermann und Partner,

    Arch: Claus Bury

    Wegen der ungleichen Dehnfhigkeit von Beton und Stahl meldete der Amerikaner Jackson bereits 1886 und unabhngig davon der Berliner Ingenieur Doehring 1888 einen Vorschlag zum Patent an, wonach die Bewehrungsstbe durch Spann-schrauben angespannt werden. Dadurch wird der Beton unter Druck gesetzt, und die Zugspannungen aus Lastmomenten fhren erst spter zur Rissbildung. Einen Beton mit derart vorgespannten Stahleinlagen nennt man heute Spannbeton. Doehring, Koenen und andere erprobten dieses Verfahren auch praktisch. Die damaligen Ver-suche schlugen aber fehl, weil man noch nicht wusste, dass sich Beton mit der Zeit

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    durch Schwinden und Kriechen verkrzt und so die Vorspannung im gewhnlichen Stahl verloren geht. Erst 1928 entwickelte E. Freyssinet Verfahren mit hochfesten Sthlen, mit denen ausreichend hohe, bleibende Druckspannungen erzeugt werden konnten.

    Mit dem Spannbeton, der sich nach dem 2. Weltkrieg endgltig durchsetzte, ist der Betonbau in Anwendungsgebiete vorgedrungen, die bis vor wenigen Jahrzehnten noch eindeutig dem Stahlbau vorbehalten waren. Er konkurriert heute mit diesem auch bei groen Spannweiten und bei schlanken Tragwerken.

    1.1.5 Mischbauweisen und neue Werkstoffe

    Neben der Kombination verschiedener Werkstoffe miteinander im gleichen Bauteil, wie beim Stahlbetonbau und der bereits erwhnten klassischen Verbundbauweise aus Stahlprofilen und Aufbeton, ermglicht die Kombination von Elementen aus ver-schiedenen Baustoffen oder Verbundbaustoffen (Mischbauweise) oftmals neuartige und wirtschaftlichere Tragwerke. Dabei knnen die verschiedenen Werkstoffe gezielt fr den Zweck eingesetzt werden, fr den sie besonders geeignet sind. Mischkon-struktionen aus Mauerwerk und Stahlbeton sind im Wohnungsbau die Regel, solche aus Stahl und Konstruktionsbeton werden zunehmend bei Hochbauten und Brcken eingesetzt, wobei jeder dieser Werkstoffe fr jedes Einzelbauteil (z. B. Sttze, Pfeiler, Pylon, Fahrbahnplatte, Steg, Bodenplatte, Bogen, ja selbst Hngewerk) in Betracht kommt.

    Auch die Mischung der traditionellen Werkstoffe mit neuen Werkstoffen, z. B. kunst-stoffbeschichteten textilen Membranen, faserverstrkten Kunststoffen oder Glas er-ffnet vielfltige neue Mglichkeiten. Das Zeltdach des ehemaligen Instituts fr leichte Flchentragwerke der Universitt Stuttgart (jetzt Institut fr Leichtbau Ent-werfen und Konstruieren), dessen ehemaliger Leiter Prof. Frei Otto der geistige Vater dieser Leichtbauweise ist, ist das erste Seilnetztragwerk und Vorlufer der Seilnetz-tragwerke fr die olympischen Bauten in Mnchen und vieler anderer (Bild 1-12).

    a) b)

    Bild 1-12 a) Eissporthalle in Mnchen, 1983, Ackermann, Schlaich Bergermann und Part-ner; b) Aussichtsturm auf dem Killesberg / Stuttgart, 2000, Schlaich Bergermann und Partner

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    1.2 Einordnung der Bemessung in den Planungsprozess Die Planung eines Tragwerks ist kein normierbarer, kein geradliniger aber hoffentlich konzentrisch zum Ziel fhrender Prozess. Auf dem Weg zum tragfhigen, wirtschaft-lichen und schnen Tragwerk wird iteriert, tauchen zufllige und manchmal sogar chaotische Elemente auf und mssen Kompromisse geschlossen werden. Die Grundbausteine dieses Prozesses des Entwerfens und Konstruierens lassen sich trotzdem eindeutig identifizieren. Die tgliche, immer den Bauablauf bercksichtigen-de, Arbeit des Tragwerkplaners besteht aus folgenden Schritten:

    - Entwerfen: in diesem ersten und deshalb ganz wichtigen Schritt der Planung werden das Konzept des Tragwerks und signifikante Details festgelegt. Der Ent-wurf entsteht aus dem rtlichen Kontext, der topographisch-physikalischer, tech-nisch-konstruktiver oder politischer-kultureller Natur sein kann.

    - Modellieren: Abstraktion des Konzeptes. Modellbildung fr die statische oder dy-namische Berechung, Festlegung der Lasten sowie Bestimmung der Schnittkrfte und Verformungen.

    - Bemessen: Bestimmung der Querschnittsabmessungen in Abhngigkeit von der Art und der Kombination der gewhlten Werkstoffe.

    - Konstruktives Durchbilden: endgltige Detaillierung aller Verbindungen und Knoten des Tragwerks und zeichnen der Plne.

    Entwerfen Modellieren Backstay cables

    Max N [kN]

    Working stress [MPa]

    No. of strands (A=150mm each)

    1 13820,00 725,46 127

    2 13439,00 705,46 127

    3 11185,00 684,10 109

    4 10755,00 657,80 109

    Bemessen Konstruktives Durchbilden

    Bild 1-13 Der Prozess des Entwerfens und Konstruieren

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    Bild 1-14 Yamuna Brcke, Wazirabad, Delhi, Indien,

    Ing. Schlaich Bergermann und Partner, Arch. Ratan J. Batliboi

    Entwerfen

    Der Entwurf, die Geburtsstunde des Tragwerks, stellt dabei die wichtigste und schwierigste Phase dar. Funktionstchtigkeit, Wirtschaftlichkeit, uere Erscheinung, Bauausfhrung, Bauzeit und vieles andere mssen bedacht werden, wenn Baustoffe, System und Abmessungen gewhlt werden. Dabei mssen bereits beim Entwurf alle spteren Schritte vorab vollzogen werden, d. h. man muss im Voraus schon wissen bzw. abschtzen, wie die sptere Bemessung und konstruktive Durchbildung gelingt. Beispielsweise werden Tragwerksabmessungen fr die Schnittgrenermittlung be-ntigt, sie knnen aber erst bei der Bemessung endgltig festgelegt werden. Das zeigt: der Planungsablauf ist ein iterativer Vorgang. Man muss die genannten Phasen mehrmals durchlaufen, je nach Erfahrung mehr oder weniger hufig.

    Hilfreich fr den Entwurfsprozess ist eine Ordnung der Tragwerke unabhngig von den Werkstoffen, die erst im Laufe der Planung gewhlt werden (Bild 1-16). Nur ein guter Entwurf und die Fhigkeit werkstoffbergreifend das passende Material bzw. eine werkstoffgerechte Materialkombination whlen zu knnen, fhrt zu ganzheitli-cher Qualitt und zum guten Tragwerk.

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    Bild 1-15 Eine werkstoffbergreifende Ordnung der Tragwerke

    Das einfachste Element ist das hngende, rein zugbeanspruchte Seil. Die Umkeh-rung fhrt zum rein druckbeanspruchten Bogen. Beide Beanspruchungsarten sind im Balken unter Biegung wiederzufinden. Ausgehend von diesen linearen Systemen, werden Flchen aller Art eben, gleichsinnig gekrmmt oder gegensinnig gekrmmt - nach den Prinzipien der Translation und der Rotation generiert.

    Translation: durch parallele Verschiebung entstehen die ebene Deckenplatte, das Hngedach, das Tonnengewlbe oder die Hyparflche.

    Rotation: durch Drehung um einen Mittelpunkt entstehen die Kuppel, die Ringseild-cher oder die Khltrme.

    Modellieren

    Um die Gesamttragwerke von Gebuden und Ingenieurbauwerken mit sinnvollem Aufwand berechnen zu knnen, mssen sie gedanklich in berschaubare einzelne Tragwerke gegliedert werden. Diese wiederum mssen zu Systemen idealisiert wer-den. Fr bergeordnete Tragwerksfunktionen, z. B. die horizontale Aussteifung eines Gebudes durch Decken, Wnde und Kerne sind dabei meistens andere, grbere Systeme zweckmig als fr die Bemessung einzelner Bauteile wie Sttzen, Trger oder Deckenplatten. Die in Wirklichkeit rumlichen Tragwirkungen werden zur Ver-einfachung meistens in mehreren zueinander senkrechten Ebenen getrennt unter-sucht. Ebenso werden in parallelen Ebenen stehende Rahmen und Wnde getrennt berechnet, obwohl sie durch die Decken miteinander verbunden sind.

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    Nachdem ber die Gliederung des Gesamttragwerks in Einzeltragwerke entschieden ist, mssen fr jedes davon die Systemlinien, Steifigkeiten und Randbedingungen so festgelegt werden, dass das System fr das Tragwerk reprsentativ ist und dem rea-len Tragverhalten entspricht. Dabei bereitet die zweckmige Wahl der Rand-bedingungen oder der bergangsbedingungen an Schnittstellen zu anderen Trag-werksteilen oft Schwierigkeiten. Zwei Beispiele mgen dies verdeutlichen: Darf an der Einspannung der Decke in die Untersttzung ein Gelenk angenommen werden (Bild 1-16)? Ist die Lagerung der Fundamente auf dem Boden gengend steif, um die Annahme unverschieblicher Auflager von Rahmen oder Durchlauftrgern zu rechtfer-tigen? - Das Gliedern des Bauwerks in berechenbare Tragwerke und das Herauskris-tallisieren des zweckmigen statischen Systems ist oft wichtiger und schwieriger als die eigentliche statische Berechnung.

    Bild 1-16 Annahme gelenkiger Lagerungen am Deckenauflager

    Bemessen

    Nachdem die Schnittgren am statischen System ermittelt sind, wird schlielich mit der Bemessung und konstruktiven Durchbildung das statische System wieder materi-alisiert. Um die Schnittgren aufnehmen zu knnen, muss beispielsweise die Sys-temlinie durch einen Stab oder Balken mit endlicher Dicke und Breite ersetzt werden. Nicht nur die ueren Abmessungen, sondern auch die Ermittlung der erforderlichen Bewehrung bei Stahlbetonbauteilen zhlen zur Bemessung.

    In diesem Skript und in der Lehrveranstaltung Konstruktiver Ingenieurbau (KI) wird die Bemessung, hauptschlich von Stahl- und Stahlbetonbauteilen, behandelt.

    Konstruktives Durchbilden

    Knotenbereiche sowie Auflager- und Krafteinleitungsbereiche mssen so ausgebildet werden, dass alle auf sie einwirkenden Krfte dort ihren Ausgleich finden knnen. Entsprechend der Modellierung mssen beispielsweise gelenkige oder biegesteife Anschlsse duch Schraub- bzw. Schweiverbindungen ausgebildet werden. Einige Anschlussdetails werden in Kapitel 7 vorgestellt.

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    2 Bemessungsgrundlagen Das Bemessen von Bauteilen ist die Ermittlung der notwendigen Bauteilabmessun-gen, die zur sicheren Aufnahme der Beanspruchungen aus Lasten, Zwngen, Vor-spannung und Umwelteinflssen erforderlich sind. Bemessen werden auch die Ver-bindungen der Bauteile und die Stahleinlagen (Bewehrung) in Betonbauteilen. Dabei mssen im Allgemeinen die notwendigen Abmessungen zunchst aufgrund von Er-fahrungen geschtzt oder angenommen werden, um dann als ausreichend (oder n-derungsbedrftig) nachgewiesen zu werden.

    2.1 B- und D-Bereiche der Tragwerke

    2.1.1 Eigenarten der B- und D-Bereiche

    Fr ein methodisches Vorgehen erweist es sich als zweckmig, das Tragwerk vor dem Bemessen in B - und D - Bereiche einzuteilen (Bild 2-1). In D-Bereichen kann mit Stabwerkmodellen bemessen werden. Bislang wird dieses Vorgehen hauptsch-lich bei der Bemessung von Stahlbetonbauteilen angewendet und ist auch in der DIN 1045-1 verankert. Die bertragung auf die Werkstoffe Stahl und Holz wird zur-zeit untersucht.

    Bild 2-1 Die verschiedenen B- und D-Bereiche eines Rahmens

    a) In den B - Bereichen gilt ausreichend genau die Bernoulli-Hypothese (siehe Kapitel 2.4) vom Ebenbleiben der Querschnitte bei der Verformung des Trag-werks unter Lasten (Bild 2-2). Solche Bereiche stellen sich in Balken und Plat-ten mit gleichbleibender Dicke und gleichmiger Belastung ein. Sofern die Hooke'schen Stoffgesetze gelten, knnen die Beanspruchungen (Spannungen) mittels der Technischen Biegelehre eindeutig aus den Schnittkrften und Quer-schnittswerten berechnet werden, z. B.:

    = = Ml

    z V Sb l

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    Auch fr andere, realistischere Stoffgesetze gibt es standardisierte Bemes-sungsverfahren in den Normen und Handbchern, mit denen die B-Bereiche bemessen werden knnen.

    Bild 2-2 In B-Bereichen bleiben die Querschnitte praktisch eben: lineare

    (geradlinige) Dehnungsverteilung

    b) In D - Bereichen, das sind Tragwerksbereiche mit abrupten nderungen der Geometrie (geometrische Diskontinuitt) oder mit konzentrierten Lasten (stati-sche Diskontinuitt) treffen die oben genannten Voraussetzungen nicht zu (Bild 2-3). Beispiele fr geometrische Diskontinuitten sind Querschnittssprn-ge, Rahmenecken, Knicke und Aussparungen (Bild 2-4 a, c). Statische Diskon-tinuitten entstehen beispielsweise durch Einzellasten, Auflagerkrfte und Spannkraftverankerungen (Bild 2-4 b, c). Solange der Beton ungerissen ist, knnen die Spannungen in den D-Bereichen mit blichen Programmen nach li-near elastischer Theorie berechnet werden. Im gerissenen Zustand geht dies aufgrund der Spannungsumlagerungen und der meist sehr komplizierten ebe-nen oder rumlichen Spannungszustnde nicht mehr so einfach und erweist sich in der Regel auch bei der Detailausbildung als unrealistisch (Bewehrungs-verankerung). Um bei der Berechnung die Besonderheiten der D-Bereiche be-rcksichtigen zu knnen empfiehlt sich die systematische Methode der Stabwerkmodelle zur Bemessung (Lehrveranstaltung KI II).

    Bild 2-3 In D-Bereichen verwlben sich die Querschnitte bei Belastung erheblich

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    Bild 2-4 D-Bereiche: a) geometrische Diskontinuitten; b) statische Diskontinuitten,

    c) geometrische und statische Diskontinuitt

    Die Unterteilung in B - und D - Bereiche zeigt also vor allem, wo die Standardbemes-sungsverfahren gelten bzw. wo Besonderheiten vorliegen, die Anlass zum Denken geben sollten.

    2.1.2 Abgrenzen der D-Bereiche

    Diskontinuitten wie konzentrierte Krafteinleitungen oder abrupte Querschnittsnde-rungen stren das gleichmige Spannungsbild der B - Bereiche. Man kann diese Strung aus dem wirklichen Spannungszustand abspalten und rumlich begrenzen, wenn man den wirklichen Spannungszustand in einen B Bereichszustand und ei-nen Eigenspannungszustand aufteilt, wie dies im Bild 2-5 beispielhaft fr einen Stab mit konzentrierten Lasten gezeigt wird:

    Der B - Bereichszustand (Bild 2-5 b) entspricht den Spannungen, wie sie sich aus den Schnittgren N, M, V in einem B - Bereich nach der technischen Biegelehre ergeben wrden. Dies setzt z. B. voraus, dass die Lngskrfte als linear verteilte Spannungen aufgebracht werden, und dass Auflagerkrfte bei Balken mit recht-eckigem Querschnitt durch parabolisch verteilte Schubspannungen eingeleitet wer-den.

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    a

    aus FE Berechnung

    Bild 2-5 Aufteilung in B - und D - Bereiche mit dem Prinzip von Saint - Venant

    Der Eigenspannungszustand (Bild 2-5 c) ergibt sich aus der Differenz des wirklichen Belastungszustandes (Bild 2-5 a) und des B - Bereichszustandes (Bild 2-5 b). Er kor-rigiert die unzutreffenden Randbedingungen des B - Bereichszustandes (bzw. die unterschiedlichen Spannungen auf beiden Seiten einer Querschnitts-Diskontinuitt), so dass der wirkliche Belastungszustand entsteht.

    Der Eigenspannungszustand ist die Folge einer Gleichgewichtsgruppe von Krften, die alle in dem Querschnitt wirken, in dem sich die Diskontinuitt befindet. Die Span-nungen klingen mit zunehmendem Abstand von der Strstelle ab. Nach dem Prinzip von Saint - Venant sind sie vernachlssigbar klein, wenn der Abstand h zu den Gleichgewichtskrften ungefhr gleich dem grten Abstand a zwischen den Gleich-gewichtskrften ist (

    Bild 2-6). Der Abstand der Gleichgewichtskrfte an der Strstelle ist gleich der Quer-schnittsabmessung an der Diskontinuitt. Mit dieser Querschnittsabmessung kann man also die Ausdehnung der D - Bereiche von der Strstelle aus begrenzen (Bild 2-3, Bild 2-4).

    B

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    Bild 2-6 Die Wirkung einer Gleichgewichtsgruppe

    von Krften ist auf die Umgebung der Krfte beschrnkt

    2.2 Gleichgewicht, Vertrglichkeit und Werkstoffgesetze Um den wirklichen Beanspruchungszustand in einem Tragwerk zu bestimmen, ms-sen berall und fr jeden aus dem Tragwerk herausgeschnittenen Bereich drei grundlegende Bedingungen erfllt werden:

    1. Gleichgewicht der Krfte oder Spannungen (Statik). 2. Vertrglichkeit der Verformungen (Kinematik).

    3. Werkstoffgesetze (--Beziehung). Dabei haben die Gleichgewichtsbedingungen Vorrang. Die anderen drfen, um prak-tikabel zu sein, bei ausreichend duktilen Baustoffen gegenber der komplizierten Wirklichkeit stark vereinfacht werden.

    a) b)

    Bild 2-7 a) Gleichgewicht an einem durch Ritter'schen Schnitt abgetrennten Trag-werksteil, b) Gleichgewicht der Schnittgren und der Spannungen im Schnitt (fr Hooke'schen Werkstoff)

    Wir verwenden in der Folge Gleichgewichtsbetrachtungen fr zwei sich wesentlich unterscheidende Problemstellungen:

    a) Gleichgewicht zwischen Lasten, Lagerkrften und Schnittgren im statischen System oder einem abgeschnittenen Tragwerksteil (Bild 2-7 a):

    N = 0 M = 0 V = 0 (in jeder Ebene)

    P

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    b) quivalenzbedingungen zwischen Schnittgren und Spannungen in einem Querschnitt des Bauteils (Bild 2-7 b):

    ===)A()A(

    xy)A(

    x dAVdAzMdAN

    Man kann die Schnittgren aus den Spannungen mittels quivalenzbedingun-gen (Gleichgewichtsbedingungen) eindeutig berechnen, whrend die Umkeh-rung nicht immer gilt (vgl. nichtlinearer Spannungsverlauf, Eigenspannungen).

    Die Vertrglichkeit fr das Tragwerk als Ganzes wird durch die statische Berechnung des Systems befriedigt. Als Vertrglichkeitsbedingung fr die Bemessung von Quer-schnitten in B - Bereichen wird die Bernoulli - Hypothese verwendet. Die Vertrglich-keitsbedingungen in den D - Bereichen werden meistens nur sehr berschlgig bercksichtigt (Konstruktiver Ingenieurbau II).

    Die Bemessungsgrundlagen werden durch die Stoffgesetze und Verbundgesetze, die in getrennten Hauptabschnitten behandelt werden, vervollstndigt. Fr den ULS wird blicherweise starrer (unverschieblicher) Verbund in den Oberflchen von sich be-rhrenden Verbundwerkstoffen angenommen, woraus beispielsweise folgt, dass sich im Beton eingebetteter Stahl genau so viel dehnt wie der umgebende Beton. Fr be-stimmte Nachweise im SLS, z. B. Rissbreitenbeschrnkung oder Ermittlung von rea-listischen Durchbiegungen wird mit verschieblichem Verbund gearbeitet.

    2.3 Schnittgrenermittlung und Tragwerkswiderstand Es ist nachzuweisen, dass die Einwirkungen auf das Tragwerk mit einiger Zuver-lssigkeit vom Tragwerk whrend seiner geplanten Lebensdauer schadlos ertra-gen werden knnen und dass seine Funktionsfhigkeit erhalten bleibt. Solche Nachweise werden nach den geltenden Normen im Allgemeinen fr zwei Beanspru-chungszustnde gefhrt:

    - Grenzzustand der Tragfhigkeit (ULS = Ultimate Limit State, Sicherheit gegen Versagen) mit faktorisierten (-fachen) Lasten.

    - Grenzzustand der Gebrauchstauglichkeit (SLS = Service Limit State) mit 1,0-fachen Lasten wie z. B. die Begrenzung der Verformungen, Rissbildung, Erm-dung, dynamisches Verhalten, Komfort.

    Whrend frher die Tragfhigkeit blicherweise das Bemessungsergebnis domi-nierte, gewannen in letzter Zeit die Kriterien der Gebrauchstauglichkeit immer mehr an Bedeutung. Beide Grenzzustnde nehmen mittlerweile einen hnlichen Stellen-wert ein, wobei der ULS selbstverstndlich immer erfllt werden muss.

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    Bei der Schnittgrenermittlung legt man blicherweise vereinfachend linear-elasti-sches Materialverhalten zugrunde (elastische Schnittgrenermittlung). Die ein-fache, proportionale (lineare) Verknpfung nach dem Hooke'schen Werkstoffgesetz

    = E E: Elastizittsmodul ermglicht die Berechnung der Schnittgren nach der linearen Elastizittstheorie. Fr Betontragwerke werden dabei die Bruttoquerschnittswerte des ungerissenen Be-tons (Zustand I) unter Vernachlssigung des Bewehrungsstahles verwendet.

    Das lineare Stoffgesetz ist eine Voraussetzung fr die Anwendbarkeit des Superpo-sitionsprinzips. Dieses Vorgehen hat auerdem den Vorteil, dass die Schnittgren in statisch unbestimmt gelagerten Betontragwerken unabhngig von der noch zu bemessenden Bewehrung sind. (Bei statisch bestimmt gelagerten Tragwerken erge-ben sich die Schnittgren ohnehin unabhngig von den Steifigkeiten und Stoffge-setzen allein aus den Gleichgewichtsbedingungen).

    Bei der elastischen Schnittgrenermittlung werden die Gleichgewichts- und Vertrg-lichkeitsbedingungen im Rahmen der Rechengenauigkeit exakt eingehalten, aller-dings mit einem unrealistischen Stoffgesetz.

    Die realistischere Schnittgrenermittlung mit nichtlinearen Stoffgesetzen, z. B. nach der Plastizittstheorie (Traglastverfahren), wird in der Vertiefung behandelt.

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    Beim Nachweis der Tragfhigkeit wird gezeigt, dass die Einwirkungen (Lasten, Zwnge) nicht grer als die Widerstnde (Tragfhigkeit) des Tragwerks sind, wobei entweder die Einwirkungen oder der Tragwerkswiderstand oder beide mit Sicher-heitsbeiwerten versehen werden. Dieser Nachweis kann grundstzlich auf drei ver-schiedenen Ebenen durchgefhrt werden: dem Vergleich von Spannungen, Schnittgren oder Lasten.

    a) Spannungsnachweise (Bild 2-8 a)

    Die aus den normgemen Einwirkungen im Tragwerk entstehenden Spannun-gen drfen an keiner Stelle und zu keinem Zeitpunkt die zugehrige Werkstoff-Festigkeit oder eine in den Normen definierte Grenzspannung berschreiten, z. B.

    Ed Rd bzw. vorh zul In der Praxis fhrt man solche Spannungsnachweise nicht fr alle Punkte des Tragwerks durch, sondern nur fr die magebenden Stellen mit den grten Spannungen, beispielsweise bei einem Einfeldtrger mit konstantem Quer-schnitt nur fr die Randfasern in Feldmitte. Die weiter innen liegenden Punkte des Mittelquerschnitts und alle anderen Punkte in dem Balken haben dann gr-ere Sicherheiten gegenber der zulssigen Spannungsgrenze bzw. der Fes-tigkeit.

    Die DIN 1053 fr Mauerwerk verwendet das Konzept der zulssigen Span-nungen fr die Bemessung. Auch Stahlkonstruktionen drfen nach DIN 18800 und EC 3 mit Spannungsnachweisen bemessen werden (Nachweisverfahren elastisch-elastisch), ebenso wie Holzquerschnitte. Dabei mssen Teilsicher-heitsbeiwerte bei den Lasten und den Festigkeiten bercksichtigt werden.

    b) Querschnittsnachweis mittels Schnittgren (Bild 2-8 b)

    Wenn der Werkstoff plastische Eigenschaften hat, wie z. B. der Stahl, dann ist mit dem Erreichen der Fliegrenze in der Randfaser die Momententragfhigkeit eines Querschnitts noch nicht erschpft. Mit zunehmender Verkrmmung des Stabes plastizieren die Randbereiche des Querschnitts, und das aufnehmbare Moment nimmt noch zu, weil die weiter innen liegenden Fasern verstrkt zum Tragen herangezogen werden (Kapitel 5.2). Bei Bercksichtigung realistischer Materialeigenschaften ergibt sich also eine hhere Querschnittstragfhigkeit als aus den Spannungsnachweisen fr die Randspannungen. Dies nutzt man aus, wenn man statt der Randspannungen die einwirkenden und aufnehmbaren Schnittgren einander gegenberstellt. In der Schreibweise der nationalen Normen stellt sich dies fr das Biegemoment beispielsweise so dar:

    MSd MRd

    MEd MRd (DIN 1045-1)

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    Hierin stehen die Indizes S fr sectional effect (einwirkende Schnittgre), R fr resistance (Widerstand) und d fr design (Bemessungswert unter Berck-sichtigung von Sicherheitsbeiwerten). In DIN 1045-1 wird anstatt dem Index S der Index E fr die Beanspruchungen (Einwirkungen) verwendet.

    Dieses Nachweisverfahren fr den Grenzzustand der Tragfhigkeit ist als Alter-native zu den Spannungsnachweisen bei Stahlbauten zulssig (elastisch-plastisch); es liegt allen Normen fr Stahlbetontragwerke zugrunde.

    c) Traglastverfahren (Bild 2-8 c)

    Bei den Traglastverfahren werden sowohl bei der Schnittgrenermittlung als auch bei den Querschnittswiderstnden die plastischen Werkstoff-eigenschaften ausgenutzt. Dabei werden durch Schnittgrenumlagerungen bei der Bildung plastischer Gelenke alle Tragreserven ausgenutzt. Letztlich werden nicht Spannungen an einzelnen Punkten oder einzelne Schnittgren, sondern die einwirkenden Lasten mit den aufnehmbaren Lasten verglichen.

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    Bild 2-8 Drei Mglichkeiten von Tragfhigkeitsnachweisen fr einen Durchlauftrger:

    a) Spannungsnachweise unter Annahme linear elastischer Stoffgesetze fr die Schnittgrenermittlung am System und die Spannungsermittlung im Quer-schnitt; b) Querschnittsnachweise mit realistischeren (nichtlinearen) Stoffgeset-zen fr linear elastisch ermittelte System-Schnittgren M und V; c) Traglast-nachweise mit realistischen (plastischen bzw. nichtlinearen) Stoffgesetzen fr die Schnittgrenermittlung und die Querschnittstragfhigkeit

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    Wie bereits angedeutet und auch aus Tab. 2-1 ersichtlich, liegen den Bemessungs-normen fr die gngigen Baustoffe unterschiedliche Bemessungsregeln zugrunde. Einige dieser Differenzen ergeben sich aus dem unterschiedlichen Materialverhalten, andere sind aber nur aus dem unterschiedlichen Alter und der schlecht koordinierten parallelen Entwicklung der baustoffbezogenen Normen zu erklren. Mittlerweile be-ziehen sich alle in Tab. 2-1 aufgefhrten Normen auf das Sicherheitskonzept der DIN 1055-100:2001-03 mit globalen Teilsicherheitsbeiwerten auf der Einwirkungsseite. Lediglich bei den Kombinationsbeiwerten gibt es noch Differenzen. Im Zuge der Einfhrung der neuen europischen Regelwerke ist eine werkstoffbergreifende Har-monisierung der Nachweiskonzepte anzustreben.

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    Sicherheitsbeiwerte im Grenzzustand der Tragfhigkeit fr

    Berechnung der

    Zugehrige Normen

    Einwirkungennach

    DIN 1055-100

    Widerstnde Schnittgren

    Quer-schnitts-

    widerstnde

    DIN 1053-100: 2007-09

    G = 1,35 Q = 1,5

    M = 1,5 oder 1,875

    Mauerwerk DIN V ENV 1996-1-1 (EC 6)

    G = 1,35 Q = 1,5

    M = 1,73,0 elast. - elast.

    mit klaffender Fuge (zul )

    DIN 1052: 2008-12 2)

    G = 1,35 Q = 1,5 nach DIN 1055-100

    Holz M = 1,3 Stahl in Verbindungen M = 1,11,25

    Holzbau DIN V ENV 1995-1-1 (EC 5)

    G = 1,35 Q = 1,5

    Holz M = 1,3 Stahl in Verbindungen M = 1,1

    elast. - elast. oder

    elast. - plast.

    DIN 18800-1: 2008-111)

    G = 1,35 Q = 1,5 = 0,9 fr vernderl. Einwirkungen

    M = 1,1

    Stahlbau

    DIN V ENV 1993-1-1 (EC 2)

    G = 1,35 Q = 1,5

    M = 1,1

    elast. - elast. oder

    elast. - plast. oder

    plast. - plast.

    DIN 1045-1: 2008-08 1)

    G = 1,35 Q = 1,5 nach DIN 1055-100

    Beton-/Spannstahl s = 1,15Beton c = 1,5

    Beton, Stahl- und Spannbeton DIN V ENV

    1992-1-1 (EC 4) G = 1,35 Q = 1,5

    Beton-/Spannstahl s = 1,15Beton c = 1,5

    elast. - plast. oder

    plast. - plast.

    DIN 18800-5: 2007-051)

    G = 1,35 Q = 1,5 nach DIN 1055-100

    Stahl a = 1,1 Betonstahl s = 1,15 Beton c = 1,5 Verbundmittel v = 1,25

    Verbundbau DIN V ENV 1994-1-1 (EC 4)

    G = 1,35 Q = 1,5

    Stahl a = 1,1 Betonstahl s = 1,15 Beton c = 1,5 Verbundmittel v = 1,25

    elast. - plast. oder

    plast. - plast.

    Die fettgedruckten Normen bilden die derzeitige Grundlage fr die Vorlesungen und bungen. 1) Fr die Bemessung und Konstruktion von Stahlbrcken gilt der DIN-Fachbericht 103, von Betonbrcken DIN-Fachbericht

    102, und von Stahlverbundbrcken DIN-Fachbericht 104 jeweils in Verbindung mit DIN Fachbericht 101: Einwirkungen auf Brcken.

    2) Fr die Bemessung von Holzbrcken gilt DIN 1074:2006-09

    Tab. 2-1 Aktuelle Bemessungsnormen

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    2.4 Anhang: Begriffe aus der Mechanik und Werkstoffkunde

    Bernoulli - Hypothese: Querschnitte bleiben bei der Verformung eben. Dehnun-gen sind proportional zum Abstand von der Nulllinie.

    Prinzip von Saint - Venant: Die Spannungen infolge einer Gleichgewichtsgruppe von Krften klingen von der Krafteinleitung weg ab und sind in einem Abstand, der grer ist als der Abstand der Krfte voneinander vernachlssigbar klein.

    Prinzip vom Minimum der Formnderungsarbeit: Von allen mglichen Gleichge-wichtszustnden stellt sich derjenige ein, der die Lastab-tragung mit einem Minimum an Formnderungsarbeit ermglicht.

    homogen: Die Eigenschaften des homogenen Krpers sind berall gleich (gleiches Material). Gegenteil: inhomogen

    isotrop: Die Eigenschaften des isotropen Krpers sind in allen Richtungen gleich. Gegenteil: anisotrop. Sonderfall von Anisotropie: orthotrop (Hauptrichtungen stehen senkrecht aufeinander)

    elastisch: Die Verformungen sind reversibel, d. h. der Krper geht nach Entlastung in seine Ursprungslage zurck. Sonder-fall: linear - elastisch (Hooke'sches Gesetz)

    plastisch: Verformungen sind irreversibel, d. h. Krper geht nach Entlastung nicht in seine Ausgangslage zurck.

    ideal plastisch: Keine Zunahme der Spannung mit der Verformung (hori-zontaler Ast der --Linie).

    visko - elastisch: (Zeitlich) verzgert elastisch. Verformungen stellen sich erst im Laufe der Zeit ein, z. B. beim Kriechen und gehen nach Entlastung wieder allmhlich zurck.

    Kriechen: Im Laufe der Zeit zunehmende Verformungen unter kon-stanter Spannung. Gegenteil: Rckkriechen

    Schwinden: Zeitabhngige Verkrzung ohne Einwirkung von Span-nungen (z. B. infolge nderungen der Feuchtigkeit). Gegenteil: Quellen

    Relaxation: Im Laufe der Zeit abnehmende Spannung bei konstant gehaltener Verformung.

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    3 Werkstoffe Das Verhalten der Werkstoffe ist sehr komplex und muss fr die praktische Bemes-sung vereinfacht werden. In den folgenden Kapiteln 3.2 bis 3.5 werden die wichtigs-ten Festlegungen der Normen zu den Stoffgesetzen zusammengestellt. Darber hinaus muss der Ingenieur aber das wirkliche Verhalten der Werkstoffe kennen, mit denen er arbeitet. Dieses Wissen wird insbesondere in den Lehrveranstaltungen ber Werkstoffkunde vermittelt und soll hier nicht wiederholt werden. Im vorliegenden Skriptum werden immer dann Werkstoffeigenschaften wiederholt, wenn sie im gera-de behandelten Fall besonders wichtig sind.

    In den Festlegungen der Normen ber die Werkstoffeigenschaften spielen auch Si-cherheitsberlegungen eine Rolle, so dass die angegebenen rechnerischen Stoff-gesetze und Kennwerte vom tatschlichen Materialverhalten betrchtlich abweichen knnen.

    Solange das europische Normenwerk noch nicht vollstndig und verbindlich ist, mssen mitunter europische und deutsche Normen parallel und sinngem ange-wendet werden. Teilweise werden auch in Anlehnung an die europischen Normen neue nationale DIN-Vorschriften erarbeitet und in Kraft gesetzt.

    3.1 Charakteristika der Baustoffe und ihre Kombination zu Verbundwerkstoffen

    Holz eignet sich von Natur aus zunchst nur fr stabfrmige Bauteile mit Abmessun-gen, die durch den Wuchs der Bume begrenzt sind. Es wird fr Tragwerke haupt-schlich in der Form von geraden Sttzen, Balken und Bohlen mit rechteckigem Querschnitt eingesetzt (Bild 3-1 a). Durch das Verkleben von (gegebenenfalls vor-gebogenen) Holzstben sind aber auch (gekrmmte) stabfrmige Bauteile mit be-liebig groen Querschnitts- und Lngenabmessungen mglich (Bild 3-1 b und Bild 1-2 b). Schlielich gibt es noch dnne Platten aus Holzwerkstoffen, z. B. Sperr-holz- oder Holzfaserplatten.

    Herstellungsbedingt und aus wirtschaftlichen Grnden wird auch Stahl fr Tragwerke hauptschlich in der Form von geraden Stben aus Walzprofilen und gewalzten Ble-chen verwendet (Bild 3-1 c). Die Profilierung erhht die Biegesteifigkeiten und Wider-standsmomente im Vergleich zu Vollquerschnitten mit gleicher Querschnittsflche und erleichtert die Verbindung der Stbe miteinander durch Schweien oder Schrau-ben. Mit Gussstahl knnen auch komplizierte rumliche Formen realisiert werden, die Gieformen dafr sind aber teuer und sollten deshalb fr mglichst viele Elemen-te gleich sein.

    Im Gegensatz zu Holz und gewalztem Stahl ist Beton von Natur aus formlos, nicht in Einzelteile gestckelt und bedarf keiner speziellen Verbindungsmittel. Er kann in be-liebig groe stabfrmige, flchige oder rumliche Formen gegossen werden, wobei allerdings aus fertigungstechnischen Grnden einfache Schalungsformen aus ebe-nen Flchen und mit rechten Winkeln vorherrschen. In Betontragwerken knnen sich

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    die Bauelemente Sttze, Balken, Wand, Platte usw. gegenseitig durchdringen; dann gehren manche Bereiche mehreren Traggliedern an. Beispielsweise ist der Flansch des Plattenbalkens auch ein Teil der quer zur Balkenachse gespannten Platte (Bild 3-1 g); auerdem kann er als Bestandteil der Deckenscheibe mglicherweise an der Abtragung der Windlasten mitwirken.

    Der Tragwerksplaner sollte bestrebt sein, die Werkstoffe mglichst so einzusetzen, dass ihre besonderen Strken genutzt werden knnen und ihre Nachteile eine unter-geordnete Rolle spielen. Oftmals fhrt dies zur Verwendung verschiedener Werk-stoffe im gleichen Bauwerk (Mischbauweisen, z. B. aus Stahlsttzen, gemauerten Wnden und Betondecken) und zur Kombination von mehreren Werkstoffen im glei-chen Bauteilquerschnitt (Verbundwerkstoffe). Der gebruchlichste Verbund-werkstoff ist der Stahlbeton.

    Bild 3-1 Typische Querschnittsformen: a) Holzbalken, b) Brettschichttrger, c) Stahl

    profile, d) Verbundtrger, e) Trapezblech-Verbunddecke, f) Stahlbetonbalken, g) Stahlbeton-Plattenbalken, h) Spannbetonbalken

    Vergleicht man den Baustoff Beton mit anderen Konstruktionsmaterialien wie Holz oder Stahl, so fllt vor allem der groe Unterschied zwischen der Druck- und Zug-festigkeit des Betons auf. Whrend Druckkrfte im Beton billiger als mit jedem ande-ren Material aufgenommen werden knnen, sind Zugglieder oder Balken aus reinem Beton ganz unzweckmig. Die ohnehin geringe Zugfestigkeit des Baustoffes wird

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    oftmals schon durch Zwangs- und Eigenspannungen aus dem Abbinden und Aus-trocknen des Betons berschritten. Dann entstehen Risse, und fr die eigentliche Lastabtragung steht gar keine Zugfestigkeit mehr zur Verfgung. Msste man aber mit Beton so bauen, dass keine wesentlichen Zugbeanspruchungen entstehen, dann wren die Konstruktionsmglichkeiten in hnlicher Weise eingeschrnkt wie bei Mauerwerk.

    Die heutigen Konstruktionsformen des Massivbaues sind erst durch die Symbiose von Stahl und Beton mglich geworden. Im Wesentlichen wird dabei der zugbean-spruchte Beton durch Stahl ersetzt oder verstrkt. Dazu gibt es verschiedene Mg-lichkeiten:

    Man kann beispielsweise die gesamte Zugzone eines Trgers durch ein Stahlprofil ersetzen (Bild 3-1 d), wie es beim sogenannten Verbundbau geschieht. Dabei wird das Zusammenwirken, der Verbund, der beiden Baustoffe hauptschlich durch Dbel erzielt, die am Stahltrger angeschweit sind.

    Bei den Verbunddecken wird der Beton auf Trapezbleche aufbetoniert, die allein durch Haftung oder eine zustzliche Verzahnung (Noppen, ausgestanzte Blechteile) mit dem Beton zusammenwirken (Bild 3-1 e).

    Bei der Stahlbeton-Bauweise werden Bewehrungsstbe oder Matten entsprechend den Zugbeanspruchungen im Bauteil verteilt und insbesondere dort eingelegt, wo die grten Zugbeanspruchungen infolge der Biegemomente auftreten, also am Zugrand (Bild 3-1 f, g). Die Bewehrungsstbe mssen immer um die sog. Mindestbetonde-ckung von den Betonauenflchen entfernt sein, um eine mgliche Korrosion durch Umwelteinflsse (z. B. Chloride) zu vermeiden. Die Lngs-bewehrung wird durch B-gel fr die Aufnahme der Querkrfte (Kapitel 5), konstruktive Bewehrung fr die Mon-tage und nicht berechnete innere Zugkrfte ergnzt (Bild 3-2).

    Bgel

    Bewehrungsstbe

    Bgel

    Bild 3-2 Stahlbetontrger

    Wenn unter Zugbeanspruchung der Beton reit, bernimmt der eingelegte Beweh-rungsstahl die Zugkrfte. Die Kraftbertragung erfolgt hierbei ber die Kontaktflche zwischen Stahl und Beton (abhngig von Rauhigkeit und Geometrie), dem soge-nannten Verbund. Die Bewehrung dehnt sich dabei mehr als der Beton, was zu einer gewissen Rissbreite fhrt, die man recht gut steuern kann. Bei gut verteilter, mit dem Beton verzahnter Bewehrung sind die Risse sehr fein und unschdlich. Sie werden aber immer als ein gewisser Nachteil des Stahlbetons empfunden.

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    Man kam daher schon frh auf den Gedanken, die Stahleinlagen gegen den Beton vorzuspannen, um dadurch Druckspannungen im Beton zu erzeugen, die den Zug-spannungen aus den Eigen- und Verkehrslasten entgegenwirken. Man kann dies z. B. dadurch realisieren, dass man einen hochfesten Bewehrungsstab in einem Hll-rohr beweglich einbetoniert (Bild 3-1 h), seine Enden mit Ankerplatten, Gewinden und Muttern versieht und ihn durch Anziehen der Muttern spannt (Bild 3-3). Im Allgemei-nen wird der Zwischenraum zwischen Hllrohr und Spannstahl nach dem Vorspan-nen mit Zementmrtel verpresst, so dass von da ab der Spannstahl - wie der normale Bewehrungsstahl - auf seiner ganzen Lnge mit dem Beton verbunden ist.

    Bild 3-3 Spannbetontrger

    Die Spannkraft V des Stahlstabs wirkt ber die Ankerplatten auf den Betonstab in gleicher Gre als ausmittige Druckkraft den Zugspannungen aus der Last entgegen. Den so unter Druck gesetzten Beton nennt man vorgespannt oder kurz Spann-beton, eine nicht ganz treffende Bezeichnung, denn vorgespannt ist der Stahl, der Beton ist vorgedrckt. Wenn spter die Biegezugspannungen aus ueren Lasten hinzukommen, mssen sie zuerst die Druckspannungen aus der Vorspannung ab-bauen, bevor Zugspannungen und Risse im Beton entstehen knnen. Man kann also die Vorspannung als knstlich erzeugten, gnstigen Belastungszustand betrachten. Wenn die Druck-Vorspannung des Betons aufgezehrt ist und die Belastung weiter gesteigert wird, werden die Zugspannungen den Spannbetonbalken ebenso zum Reien bringen wie den Stahlbetonbalken.

    Nachfolgend werden stichwortartig einige wesentliche Vor- und Nachteile der ver-schiedenen Baustoffe aufgezhlt, die schon beim Entwurf von Tragwerken berck-sichtigt werden sollten:

    Wesentliche Vorteile von Mauerwerk gegenber anderen Baustoffen:

    - einfache Technologie, einfachste Anschlsse und Verbindungen, keine formge-bende Schalung ntig. Obwohl gemauerte Wnde viel Handarbeit erfordern - die Entwicklung von Robotern steckt in den Anfngen - sind sie selbst in Hochlohn-lndern im Allgemeinen billiger als Betonwnde.

    - gnstige bauphysikalische Eigenschaften, die in weiten Grenzen durch die Wahl der Materialien beeinflusst werden knnen: Wrmedmmend, wrmespeichernd, dampfdurchlssig, schalldmmend. Die einschaligen, leichten Auenwnde ms-sen aber wegen der neuerdings zur Energieeinsparung geforderten Wrmedm-mung so dick ausgefhrt werden, dass schwerere, dnnere Wnde mit einer

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    Wrmedmmschicht aus Fasern oder Kunststoffschaum wirtschaftlicher sein knnen.

    - nicht brennbar, groer Feuerwiderstand.

    - als Sichtmauerwerk gutes, durch Fugen strukturiertes Aussehen, in vielen natr-lichen Farbtnen.

    Als Nachteile von Mauerwerk sind vor allem zu nennen:

    - geringe Festigkeit, insbesondere auf Zug.

    - meistens muss es verputzt werden, um eine gengend glatte oder wetterfeste Oberflche zu erhalten.

    Wesentliche Vorteile von Holz:

    - natrlicher Baustoff.

    - einfach zu bearbeiten und abzubrechen.

    - geringes Gewicht im Vergleich zur Festigkeit.

    - relativ gute Wrmedmmung.

    - ansehnliche Optik der Oberflche.

    Nachteile von Holz sind:

    - Holz brennt.

    - es kann verrotten oder von Schdlingen befallen werden.

    - es verformt sich relativ stark, auch durch Witterungseinflsse.

    - es ist feuchteempfindlich.

    Wesentliche Vorteile von Stahl:

    - sehr hohe Festigkeit, auch im Vergleich zum Gewicht.

    - groe Zhigkeit (Duktilitt) des Grundwerkstoffes.

    - Stahlelemente knnen weitgehend in der Werkstatt vorgefertigt und vor Ort schnell montiert werden.

    - nderungen oder Ergnzungen an Stahlkonstruktionen knnen leicht vorgenom-men werden (Schweien, Schrauben).

    - Stahlbauten sind leicht abbaubar und knnen recycled werden.

    - Stahlbauten knnen sehr schlank ausgefhrt werden.

    Nachteile von Stahl sind:

    - Stahl korrodiert, wenn er nicht geschtzt wird.

    - er ist zwar nicht brennbar, verliert aber bei hohen Temperaturen seine Festigkeit (bei 500 C: 50-60 % Festigkeit).

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    - er hat ungnstige bauphysikalische Eigenschaften, insbesondere ein hohes Wrmeleitvermgen (Kltebrcken).

    - er ist als Material relativ teuer.

    - bei der Bemessung von Stahlkonstruktionen spielen wegen der Profilierung der Querschnitte und der oft schlanken Bauelemente Stabilittsprobleme eine wichti-ge Rolle.

    - Sprdbruchgefahr (speziell bei hochfesten Sthlen) bei schlecht ausgefhrten Schweiverbindungen und zyklischen Beanspruchungen.

    Wesentliche Vorteile von Konstruktionsbeton:

    - Beton ist leicht formbar: Frischbeton passt sich jeder Schalungsform an; die Stahleinlagen knnen entsprechend dem inneren Kraftfluss eingelegt werden.

    - er ist bestndig gegen Feuer, Witterungseinflsse und mechanische Abnutzung.

    - er ist wirtschaftlich (billige Rohstoffe wie Sand und Kies) und bedarf in der Regel keiner Unterhaltung.

    Nachteile von Konstruktionsbeton sind:

    - groe Eigenlast der Konstruktionen.

    - geringer Wrmeschutz.

    - Umbauten und Abbruch sind aufwendig und teuer.

    - die Rissbildung, die aber bei sachgemer konstruktiver Durchbildung und Aus-fhrung von Betontragwerken unauffllig und unschdlich ist.

    - die Korrosion der Bewehrung, wenn das Tragwerk nicht ordnungsgem kon-struiert oder ausgefhrt ist (Depassivierung des Stahls).

    - das graue, oftmals schmutzig wirkende Aussehen, das vor allem bei groen, un-strukturierten Sichtbetonflchen und einem lieblosen Entwurf zum Ausdruck kommt, obwohl Beton an sich die vielfltigsten Gestaltungsmglichkeiten offen lsst (Bild 1-10, Bild 1-11).

    Wesentliche Vorteile von Verbundkonstruktionen (im Sinne von Bild 3-1 d, e):

    - gegenber Stahlbetonkonstruktionen sind sie leichter und schneller herstellbar.

    - gegenber Stahlkonstruktionen sind sie oft wirtschaftlicher, weil sie die ohnehin ntige Betonplatte zum Mittragen ausnutzen.

    Als Nachteil der Verbundbauweise gilt leider (noch), dass zwei Gewerke - der Beton-bau und der Stahlbau - sehr eng zusammenarbeiten mssen.

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    3.2 Metallische Werkstoffe Zu den metallischen Werkstoffen zhlen zunchst einmal die Eisenmetalle, von de-nen Stahl der am meisten verwendete metallische Werkstoff im Bauwesen ist. Im Unterschied zum Gusseisen betrgt sein Kohlenstoffgehalt weniger als 2%. Von den Nichteisenmetallen wird im Folgenden nur Aluminium behandelt

    3.2.1 Stahl

    3.2.1.1 Stahlherstellung

    Gewinnung von Roheisen mit Hilfe von Eisenerz und Koks

    Eisenerze sind berwiegend Verbindungen von Eisen und Sauerstoff, die in der Na-tur mit Verunreinigungen in Form von nicht-eisenhaltigem Gestein, der sogenannten Gangart, vorkommen. Die wichtigsten Frderlnder fr Eisenerze sind Brasilien, Australien, China, Russland und Indien. Nach dem Abbau werden die Erze noch vor Ort in einem Zerkleinerungs- und Aufbereitungsprozess vom grten Teil der Gang-art getrennt, um die Transportkosten zu reduzieren. Danach werden sie entweder in der Nhe der Erzgruben unter Zugabe von Bindemitteln und Wasser zu Pellets ge-formt, oder sie werden unbehandelt in die Httenwerke geliefert. Dieses erfolgt dann entweder als Stckerz mit einer Korngre zwischen 8 und 30 mm und einem Eisen-anteil von mindestens 60 %, das direkt weiterverarbeitet werden kann, zum weit gr-eren Teil aber als Feinerz, das sich zunchst einer weiteren Behandlung unterziehen muss, bevor es zur Eisengewinnung geeignet ist. In einer Sinteranlage wird das Feinerz mit Brennstoff, Kalk-, Kies- oder Dolomitzuschlgen und Zusatzstof-fen gemischt und auf unterfeuerten Wanderrosten gesintert, das heit angeschmol-zen und damit sozusagen zusammengebacken, um dann wieder gebrochen zu werden. Es gibt also letztlich drei Varianten, die zur Beschickung eines Hochofens geeignet sind: Pellets, Sinter und Stckerz. Sie werden unter dem Begriff Mller zusammengefasst.

    Der zweitwichtigste Stoff, der bei der Produktion zum Einsatz kommt, ist Koks. Und auch der muss erst einmal hergestellt werden. In der Kokerei wird Kohle zermahlen und unter Luftabschluss auf 900 - 1400 Grad erhitzt; bei diesem Verkokung ge-nannten Prozess entweichen die gasfrmigen Bestandteile. Damit ist Koks unter an-derem schwefelrmer und kohlenstoffreicher als unveredelte Kohle. Das bringt Vorteile fr den weiteren Verarbeitungsprozess mit sich.

    Koks und Mller werden schlielich im Hochofen zusammengebracht. Bei Tempera-turen von bis zu 1600C entzieht der Koks dem Erz den Sauerstoff und setzt damit das enthaltene Eisen als Metall frei. Durch die Verbrennung entsteht gleichzeitig Kohlenmonoxid, das ebenfalls mit dem Eisenerz unter Sauerstoffentzug reagiert. Dieser Vorgang wird als Reduktion bezeichnet. Auerdem liefert der Koks gleichzei-tig die ntige Reaktionswrme, damit dieser Prozess berhaupt ablaufen kann. Ne-ben dem geschmolzenen Roheisen entsteht eine Mischung aus Zuschlgen, Gangartresten und Koksasche, die als flssige Schlacke den Hochofen verlsst. Die-

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    se Schlacke ist gut vom flssigen Eisen zu trennen, weil sie leichter ist und auf ihm schwimmt. Sie wird zum grten Teil zu Zuschlagsstoffen bzw. Zemnet weiterverar-beitet.

    Zur Weiterverarbeitung des Roheisens gibt es verschiedene Verfahren. Die in der zweiten Hlfte des 18. Jahrhunderts entwickelten Windfrischverfahren (Bessemer- bzw. Thomas-Verfahren) und Herdfrischverfahren (Siemens-Martin-Verfahren) sind heute fast vollstndig abgelst durch modernere Verfahren. Der Betrieb des letzten Thomas-Konverters in Deutschland wurde in den 1970er Jahren eingestellt. Der letz-te deutsche Siemens-Martin-Ofen wurde 1993 in Brandenburg an der Havel stillge-legt.

    Heutzutage erfolgt die Verarbeitung zumeist mit Hilfe eines sogenannten Sauer-stoffaufblaskonverters, in dem das flssige Roheisen mit Zuschlgen und einem kleinen Anteil Schrott auf 1650 Grad Celsius erhitzt wird, whrend von oben durch eine wassergekhlte Lanze Sauerstoff aufgeblasen wird - ein Vorgang, der auch den Namen Frischen trgt. So werden unerwnschte Begleitstoffe oxidiert und knnen dann als Schlacke abgestochen werden. Durch Zugabe von Schrott kann der Rohei-seneinsatz verringert und die Schmelze gekhlt werden. Der fertige Stahl wird durch Kippen des Konvertergefes in Pfannen abgestochen.

    Das Gesamtverfahren wird nach den sterreichischen Stdten, in deren Stahlwerken es zum ersten Mal angewandt worden ist, auch als Linz-Donawitz-Verfahren (LD-Verfahren) bezeichnet.

    Eine weitere Mglichkeit ist das Elektrostahlverfahren, welches 1904 von Paul-Louis Heroult entwickelt wurde. Bei diesem Verfahren verarbeitet man im Gegensatz zu den bereits erwhnten Verfahren kein oder nur geringe Mengen Roheisen. Der Stahl wird bei dieser Produktionsvariante hauptschlich aus Eisenschrott in elektri-schen Lichtbogen- oder Induktionsfen geschmolzen. Im Lichtbogenofen stellt im Prinzip die Metallschmelze die eine Elektrode und der darber installierte Kohlestab die andere Elektrode dar. Bei Betrieb bildet sich zwischen beiden Elektroden ein Lichtbogen, der gleichzeitig die Wrmequelle ist. Im Induktionsofen wird die Wrme in einer Spule erzeugt. Dieses Verfahren eignet sich besonders gut fr die Herstel-lung von Edelsthlen und anderen hochlegierten Sthlen, die nach genauen Vorga-ben hergestellt werden mssen.

    3.2.1.2 Weiterverarbeitung des Flssigstahls

    Der Flssigstahl kann beim Ausleeren des Konverters in eine Giepfanne mit ande-ren Legierungselementen versetzt werden um so die Eigenschaften des Stahls fr bestimmte Anwendungsbereiche noch einmal zu verbessern. (vgl. Kapitel 3.2.1.4)

    Der flssige Stahl wird heute nicht mehr in Blcke gegossen, sondern blicherweise im Stranggieverfahren in eine feste Form gebracht. Der Anteil des Stranggieens liegt in der Bundesrepublik heute bei mehr als 95%, weltweit bei etwa 85%. Dazu wird er aus der Giepfanne zum Abkhlen durch eine wassergekhlte, bei Giebe-ginn unten verschlossene Kokille gegossen. Whrend des Gieens wird der Ver-

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    schluss abgesenkt, so dass der erstarrende Strang nach unten austreten unde durch Tranzportwalzen weiterbefrdert werden kann. Die Kokille oszilliert whrend des Gievorgangs in Laufrichtung des Stranges, damit dieser nicht an der Kokilleno-berflche haftet. Wenn der Gussstrang aus der Gleitkokille austritt, hat er eine er-starrte Schale von 10 bis 30 mm Dicke, whrend der Kern noch flssig ist. Die Giegeschwindigkeitne betragen zwischen 0,6 und 6 m/min. Der Strang wird mit Hilfe von mitlaufenden Schneidbrennern zu sogenannten Brammen geschnitten, die 20 bis 30 cm dick, 80 bis 200 cm breit und 5 bis 16 m lang sind.

    Im Warmwalzwerk schlielich werden die Brammen zu versandfertigen Blechen gewalzt oder zu Profilstahl verarbeitet, die teilweise direkt an die Kunden geliefert werden, teilweise aber auch im Kaltwalzwerk noch einmal umgeformt und/oder vor der Auslieferung zum Beispiel durch Verzinkung weiter veredelt werden.

    Bei dem Werkstoff Stahl handelt es sich um einen homogenen isotropen Werkstoff. Dennoch knnen sich durch die Herstellung bzw. Weiterverarbeitung gewisse Mate-rialvernderungen ergeben:

    Seigerungen:

    Flssiger Stahl kann grere Mengen Sauerstoff lsen. Sinkt die Temperatur der Schmelze nach dem Vergieen, so nimmt die Lslichkeit fr Sauerstoff ab. Das ge-bildete FeO und der Kohlenstoff reagieren unter Bildung von CO und das nach oben entweichende Gas bringt das Bad zum Kochen. Dieser Effekt tritt besonders beim Blockgussverfahren auf. Der Erstarrungsvorgang beginnt von auen. Verunreinigun-gen werden nach innen und durch das Kochen nach oben gedrngt. Diese Entmi-schung nennt man Seigerung. Die reine, saubere Auenschicht nennt man Speckschicht. Um das Kochen und damit die Entstehung von Seigerungen zu ver-meiden, muss der frei werdende Sauerstoff zu einer festen Verbindung abgebunden werden. Als Desoxidationsmittel verwendet man z.B. Silicium und Mangan. Da so keine gasfrmigen Reaktionsprodukte entstehen, erstarrt das Bad ruhig, d.h. ohne Kochen. Man spricht in diesem Fall von beruhigtem Vergieen. Die Verunreinigun-gen sind in diesem Fall ziemlich gleichmig ber den Querschnitt verteilt. Beim Stranggieverfahren ist diese Gefahr nicht so gro, es kann aber durch die hhere Erstarrungsgeschwindigkeit eher zu Mittenseigerungen kommen, die aber durch sorgfltige berwachung der Anlagen, der Gietemperatur und der Khlungsverhlt-nisse beherrschbar sind.

    Beim Walzvorgang bleiben die eventuell entstandenen Seigerungen im Innern erhal-ten und werden zusammengeschoben (vgl. Bild 3-4). In diesen Seigerungszonen darf nicht geschweit werden.

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    Bild 3-4 Seigerungszonen in einem unberuhigten Formstahl

    Dopplungen:

    Als Folge des Schwindens bilden sich am Kopf des Vergussblockes bei der Erstar-rung trichterfrmige Hohlrume, sogenannte Kopflunker. Bei beruhigt vergossenem Stahl ist der Kopflunker wesentlich tiefer. Der lunkerhaltige obere Teil sollte tief ge-nug abgeschnitten werden, da es sonst beim Auswalzen dieser Lunker zu Fehlern im Walzstahl, den sogenannten Dopplungen kommen kann.

    Z-Gte:

    Flacherzeugnisse und Profile aus Stahl weisen, verursacht durch das Walzen, bei Beanspruchung senkrecht zur Oberflche (in Dickenrichtung) andere Verformungs-eigenschaften als parallel zur Oberflche auf. Dieser Effekt kann zu Schwierigkeiten bei geschweiten Konstruktionen fhren. Senkrecht zu ihrer Ebene sollen Bleche und Profile daher mglichst nur gering beansprucht werden. Nichtmetallische Ein-schlsse im Rohstahl (Bramme), die beim Walzen flach ausgeformt werden, knnen bei einer Zugbeanspruchung in Werkstoffdickenrichtung zu einem sogenannten Ter-rassenbruch fhren. Ein Beispiel hierfr ist ein T-Sto mit beidseitigen Kehlnhten. (vgl. Bild 3-5) Diese Gefahr ist bei dicken Blechen aus hochfesten Sthlen noch gr-er, weil der Terrassenbruch in diesem Fall schon beim Abkhlen der Schweinaht entstehen kann.

    Terrassenbruch

    Bild 3-5 Gefahr des Terrassenbruchs bei senkrecht zur Walzrichtung belastetem Blech

    Es ist jedoch mglich, die Eigenschaften in Dickenrichtung durch zustzliche Ma-nahmen bei der Herstellung des Stahles zu verbessern. Als Kenngren fr die Ei-genschaften in Dickenrichtung dienen die in DIN EN 10164 geforderten Mindestwerte fr die Brucheinschnrung beim Zugversuch an senkrecht zur Erzeugnisoberflche

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    entnommenen Proben. In Abhngigkeit von der Brucheinschnrung in Prozent wird in Gteklassen Z15, Z25 und Z35 eingeteilt und dieser Zusatz der Stahlbezeichnung angefgt. Besonders bei periodischen Beanspruchungen oder Stobeanspruchun-gen sind Z-Gten nachzuweisen. Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen diesen Werten und dem Verhalten der Bauteile besteht, da die Gefahr von Terrassenbrchen wesentlich auch von der Konstruktion sowie der Art und Ausfhrung der Schweiung abhngt. Die Einhaltung der Mindestwerte der Brucheinschnrung knnen deshalb nicht direkt als ausrei-chende Sicherung gegen das Auftreten von Terrassenbrchen angesehen werden. Die Brucheinschnrung ist jedoch ein guter allgemeiner Anhalt fr den Widerstand gegen Terrassenbrche, d.h. die Gefahr von Terrassenbrchen vermindert sich mit zunehmender Brucheinschnrung beim Zugversuch an senkrecht zur Erzeugnis-oberflche entnommenen Proben. Weiterhin gelten die Empfehlungen zur Vermei-dung von Terrassenbrchen nach DASt-Richtlinie 014 des deutschen Aussschusses fr Stahlbau.

    3.2.1.3 Gefgestruktur

    In verschiedenen Temperaturbereichen nimmt reines Eisen unterschiedliche Kristall-strukturen an. Je nach Gefgestruktur unterscheidet man die Phasen Austenit, Ferrit, Zementit. Das Eisen-Kohlenstoff-Diagramm (EKD) (vgl. Bild 3-6) zeigt bei langsamer Temperaturvernderung von warm zu kalt die Gefgebestandteile.

    Stahl Gusseisen

    Bild 3-6 Eisen-Kohlenstoff-Diagramm

    Diese Umwandlung und nderung des Gefges innerhalb des EKDs macht man sich zum gezielten Erreichen von bestimmeten Eigenschaften des Stahls zunutze. So knnen zum Beispiel durch hhere Abkhlungsgeschwindigkeiten die Gleichge-

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    wichtsstellungen zwischen Schmelze und Kristall oder die fr das Gleichgewicht zwi-schen den Kristallphasen erforderlichen Diffusionsvorgnge unterbunden werden. Damit erhlt man ein eingefrorenes Metallgefge bei Raumtemperatur, das sonst nur bei hheren Temperaturen stabil ist.

    Austenit (-Eisen) ist nicht magnetisch, zh aber weich, hitzebestndig, korrosions-bestndig, leicht verformbar. Austenit ist kubisch-flchenzentriert, daher knnen sich Kohlenstoffatome in die Kristallgittermitte eingliedern. Im EKD ist Austenit nicht bei Raumtemperatur vorzufinden. Durch weitere Legierung mit Chrom, Nickel oder Man-gan ist dies jedoch erreichbar.

    Ferrit (-Eisen) ist zh aber weich, leicht verformbar, korrosionsanfllig. Da der Kris-tallaufbau kubisch-raumzentriert ist, findet sich kein Platz fr Kohlenstoffatome. Den-noch kann Ferrit mit Kohlenstoff zwangslegiert werden, daraus ergibt sich dann Martensit. Martensit ist hart und dadurch sprde.

    Zementit enthlt 6,67 % Kohlenstoff, ist sehr hart und sprde und weist eine hohe Festigkeit auf. Zementit besteht aus einem sehr stark verwobenen Gitter aus Kohlen-stoff und Eisen.

    Perlit ist ein Gefge, welches genau 0,83 % Kohlenstoff innehlt. Perlit ist ein Kris-tallgemisch aus Ferrit und Zementit und zeichnet sich durch eine hohe Festigkeit aus, ist daher auch sprde. Erhht sich der Kohlenstoffanteil ber die 0,83% hinaus, bleibt der Perlit unverndert, an den Korngrenzen entsteht dann jedoch Zementit (zwischen 0,83 und 2,06% Kohlenstoffanteil), der Sekundrzementit genannt wird, und das Per-litgefge wie ein Netz durchsetzt.

    3.2.1.4 Einteilung der Sthle

    Stahl ist nach DIN EN 10020 definiert als Werkstoff, dessen Massenanteil an Eisen grer ist als der jedes anderen Elementes, dessen Kohlenstoffgehalt im Allgemei-nen kleiner als 2% ist und der andere Elemente enthlt.

    Durch Legieren mit Kohlenstoff und anderen Elementen in Kombination mit Wrme- und thermomechanischer Behandlung (gleichzeitige thermischer Behandlung mit plastischer Umformung, vgl. 3.2.4.1) knnen die Eigenschaften von Stahl fr einen breiten Anwendungsbereich angepasst werden. Der Stahl kann zum Beispiel sehr weich und damit ausgezeichnet verformbar hergestellt werden oder demgegenber sehr hart und dafr sprde. Moderne Entwicklungen zielen darauf, den Stahl gleich-zeitig fest und duktil (verformbar) zu fertigen. Die Bedeutung von Kohlenstoff im Stahl ergibt sich aus seinem Einfluss auf die Stahleigenschaften und Phasenumwandlun-gen. Im Allgemeinen wird Stahl mit hherem Kohlenstoffanteil fester, aber auch sprder und seine Schweieignung sinkt.

    Aufgrund der Vielzahl existierender Eisenwerkstoffe ist ein einheitliches System zur Bezeichnung und Einteilung notwendig. Die Bezeichnungen geben gleichzeitig ver-bindliche Informationen zu wesentlichen Eigenschaften oder Zusammensetzungen. In DIN EN 10020 erfolgt eine Unterscheidung einerseits nach der chemischen Zu-

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    sammensetzung in Abhngigkeit des Massenanteils der enthaltenen Legierungsele-mente und andererseits nach Hauptgteklassen in Abhngigkeit von Haupt-eigenschafts- oder Hauptanwendungsmerkmalen. Wobei die Einteilung in Haupt-gteklassen die Einteilung nach der chemischen Zusammensetzung lediglich verfeinert, indem die Begriffe Qualitts- und Edelsthle eingefhrt werden.

    Unlegierte Sthle Fr keines der enthaltenen Legierungselemente wird der zugehrige Grenzwert

    gem Tab. 3-2berschritten.

    Unlegierte Qualittssthle

    Unlegierte Sthle, fr die im Allgemeinen festgelegte Anforde-rungen an Zhigkeit, Korngre und/oder Umformbarkeit be-stehen.

    Unlegierte Edelsthle

    Unlegierte Sthle, die insbesondere bezglich nichtmetalli-scher Einschlsse einen hheren Reinheitsgrad besitzen als Qualittssthle. Sie sind meist fr eine Vergtung und Oberfl-chenhrtung bestimmt und erfllen hohe Anforderungen be-zglich der Verformbarkeit.

    Nichtrostende Sthle Die Massenanteile von Chrom und Kohlenstoff sind genau definiert (Cr > 10,5 M-% und C < 1,2 M-%).

    Andere legierte Sthle Die Bedingung fr die Zuordnung zu nichtrostenden Sthlen ist nicht erfllt und fr mindestens ein Legierungselement ist der Grenzwert gem Tab. 3-2 berschritten.

    Legierte Qualittssthle

    Legierte Qualittssthle entsprechen in ihren Anforderungen den unlegierten Qualittssthlen. Um Eigenschaften zu opti-mieren sind jedoch typische Legierungselemente wie Cu, Cr und Ni enthalten. Legierte Qualittssthle sind im Allgemeinen nicht fr eine Vergtung oder Oberflchenhrtung geeignet.

    Legierte Edelsthle

    Legierte Sthle, denen aufgrund ihrer chemische Zusammen-setzung sowie besonderer Herstellungs- und Prfbedingungen verbesserte Eigenschaften verliehen werden und die nicht den nichtrostenden Sthlen zuzuordnen sind.

    Tab. 3-1 Einteilung der Sthle nach DIN EN 10020

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    Festgelegtes Element Grenzwert Massenanteil in% Al Aluminium 0,30 B Bor 0,000 8 Bi Bismut 0,10 Co Cobalt 0,30 Cr Chrom 0,30 Cu Kupfer 0,40 La Lanthanide (einzeln gewertet)

    0,10

    Mn Mangan 1,65a Mo Molybdn 0,08 Nb Niob 0,06 Ni Nickel 0,30 Pb Blei 0,40 Se Selen 0,10 Si Silicium 0,60 Te Tellur 0,10 Ti Titan 0,05 V Vanadium 0,10 W Wolfram 0,30 Zr Zirconium 0,05 Sonstige (mit Ausnahme von Kohlenstoff, Phosphor, Schwefel, Stickstoff) (jeweils) 0,10 a Falls fr Mangan nur ein Hchstwert festgelegt

    ist, ist der Grenzwert 1,80 % und die 70 %-Regel (siehe 3.1.2) gilt nicht.

    C Si Mn Cr Al Ti Mo Ni V W Nb

    Festigkeit + + + + + + + o + + +

    Streckgrenze + + + + + + + o + + +

    Hrte + + + + + + + o + + +

    Verformungsvermgen - - - - - - - + - - -