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Musterkonzept „Umgang mit bewegungseinschränkenden Massnahmen“ Alters- und Pflegeheime Auftraggeber: Verband Berner Pflege- & Betreuungszentren - vbb|abems Weihergasse 7a, 3005 Bern 031 808 70 70 / [email protected] Autor/Autorinnen: Urs Vogel, lic.iur., MPA 041 211 02 37 / [email protected] Katja Schnyder-Walser, lic. phil. I Dr. Regula Ruflin socialdesign ag, 031 310 24 80 / [email protected]

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Musterkonzept

„Umgang mit bewegungseinschränkenden

Massnahmen“ Alters- und Pflegeheime

Auftraggeber:

Verband Berner Pflege- & Betreuungszentren - vbb|abemsWeihergasse 7a, 3005 Bern

031 808 70 70 / [email protected]

Autor/Autorinnen:

Urs Vogel, lic.iur., MPA041 211 02 37 / [email protected]

Katja Schnyder-Walser, lic. phil. IDr. Regula Ruflin

socialdesign ag, 031 310 24 80 / [email protected]

22. Februar 2013

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Musterkonzept vom 16. May 2023Seite 2

Inhaltsverzeichnis1 Vorbemerkung.................................................................................................................32 Bewegungseinschränkende Massnahmen...................................................................3

2.1 Konzeptionell vorgesehene, vertraglich vereinbarte generelle Einschränkungen der Bewegungsfreiheit................................................................4

2.2 Individuelle bewegungseinschränkende Massnahmen...........................................4

3 Prävention........................................................................................................................53.1 Sensibilisierung und Erweiterung der Handlungskompetenz betroffener

Personen und ihrer Angehörigen............................................................................53.2 Sensibilisierung und Erweiterung der Handlungskompetenz der Mitarbeitenden. . .73.3 Austausch der Mitarbeitenden zur Analyse des Umgangs mit

bewegungseinschränkenden Massnahmen............................................................73.4 Bauliche Massnahmen............................................................................................73.5 Strukturelle Massnahmen.......................................................................................83.6 Personelle Faktoren................................................................................................8

4 Anwendung...................................................................................................................... 94.1 Entscheidungsprozess............................................................................................94.2 Prüfung der Urteilsfähigkeit...................................................................................114.3 Prüfung der Behandlungsmöglichkeiten................................................................124.4 Anordnung............................................................................................................12

4.4.1 Ordentliche Entscheidungszuständigkeit................................................124.4.2 Entscheidungszuständigkeit im Notfall....................................................13

4.5 Durchführung........................................................................................................134.5.1 Begleitmassnahmen bei der Anwendung einer

bewegungseinschränkenden Massnahme..............................................134.5.2 Mögliche Folgen von bewegungseinschränkenden Massnahmen

und Umgang damit..................................................................................14

5 Überprüfung der bewegungseinschränkenden Massnahmen..................................146 Dokumentation von bewegungseinschränkenden Massnahmen.............................147 Information.................................................................................................................... 16

7.1 Instruktion und Information der betroffenen Person..............................................167.2 Information der vertretungsberechtigten Person resp. der Vertrauensperson.......16

8 Einbindung ins Qualitätsmanagement........................................................................178.1 Statistische Auswertung........................................................................................178.2 Entwicklung von Verbesserungsmassnahmen......................................................178.3 Generelle Reflexion und Schulung........................................................................178.4 Aktualisierung des Konzepts.................................................................................18

9 Literatur und Materialien..............................................................................................19

AbbildungsverzeichnisAbbildung 1: Ablaufprozess aus Sicht der Institution zur Anordnung, Quelle: GEF (2012).. .10Abbildung 2: Quelle: KOKES-Praxisanleitung Erwachsenenschutzrecht, Rz. 11.25.............15

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1 VorbemerkungDas vorliegende Musterkonzept stützt sich auf die als Empfehlung formulierten „Qualitätsstandards zum Umgang mit freiheitsbeschränkenden Massnahmen in Institutionen“ des Alters- und Behindertenamts ALBA, Gesundheits- und Fürsorgedirektion GEF, Kanton Bern vom 16. Januar 2013. Für diese Empfehlung sowie das vorliegende Musterkonzept wurden Richtlinien, Praxisanleitungen und Merkblätter von den in diesem Bereich zentralen Verbänden, Institutionen und Gesellschaften konsultiert: CURAVIVA Schweiz, Konferenz der Kantone für Kindes- und Erwachsenenschutz KOKES, Nationaler Verein für Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken ANQ, Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW, Schweizerische Gesellschaft für Gerontologie SGG.

Dieses Musterkonzept soll die Alters- und Pflegheime bei der Formulierung ihres entsprechenden Konzepts unterstützen: bei der Gliederung des Konzepts (vgl. Inhaltsverzeichnis), mit Textbausteinen und Beispielen, mit Leitfragen.

2 Bewegungseinschränkende Massnahmen Die Empfehlung „Qualitätsstandards zum Umgang mit freiheitsbeschränkenden Massnahmen in Institutionen“ des Alters- und Behindertenamts ALBA, Gesundheits- und Fürsorgedirektion GEF, Kanton Bern vom 16. Januar 2013 richtete sich an einen breiten Kreis von Institutionen. Da auch Einrichtungen für Jugendliche (inkl. Jugendstraf- und Massnahmenvollzug) zu den Adressat/innen gehörten, welche zusätzlich Massnahmen gemäss dem Gesetz über freiheitsbeschränkende Massnahmen im Vollzug von Jugendstrafen und –massnahmen und in der stationären Jugendhilfe (FMJG) anwenden können, wird in diesen Empfehlungen der GEF der Überbegriff „freiheitsbeschränkende Massnahmen“ verwendet.

Im vorliegenden Musterkonzept, welches sich ausschliesslich an Alters- und Pflegeheime richtet, wird hingegen der im ZGB rechtlich abschliessend geregelte Begriff „bewegungseinschränkende Massnahmen“ verwendet (Art. 383 ff, 438 ZGB).

Durch Massnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einer urteilsunfähigen Bewohnerin oder eines urteilsunfähigen Bewohners einschränken, greift die Institution in ein Grundrecht ein. Der Begriff der Einschränkung der Bewegungsfreiheit (Art. 383 ZGB) ist weit zu verstehen und erfasst alle Arten von Bewegungseinschränkungen zum Sicherungszweck (Schutz der betroffenen Person vor etwas, z.B. vor Sturz, oder Schutz von Dritten).

Zentral für die Anwendung von bewegungseinschränkenden Massnahmen ist die Unterscheidung zwischen konzeptionell vorgesehenen generellen Einschränkungen, welche die gesamte Institution

oder Abteilungen betreffen, und individuellen Einschränkungen.

Für die generellen bewegungseinschränkenden Massnahmen (vgl. Kapitel 2.1), welche im Betreuungsvertrag/im Anhang des Betreuungsvertrags pro Bewohner/in spezifisch aufgeführt sind, ist eine Einwilligung der betroffenen Person resp. von deren vertretungsberechtigter Person erforderlich.

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Individuell angeordnete bewegungseinschränkende Massnahmen (vgl. Kapitel 2.2), welche nicht vertraglich vereinbart sind, entscheidet die Institution bei urteilsunfähigen Personen gemäss Kapitel 4 des vorliegenden Konzepts.

Bewegungseinschränkende Hilfsmittel, wie z.B. das Steckbrett zur Unterstützung beim selbständigen Essen, welches nach dem Essen entfernt wird, stellen keine bewegungseinschränkenden Massnahmen im Sinne dieser Gesetzesartikel des Erwachsenenschutzrechts dar.

Die medikamentöse Bewegungseinschränkung ist eine medizinische Massnahme und stellt keine bewegungseinschränkende Massnahme im Sinne dieser Gesetzesartikel dar. Medizinische Massnahmen benötigten die Zustimmung einer vertretungsberechtigten Person bei einer urteilsunfähigen Person, entweder im Behandlungsplan oder im Einzelfall durch Arzt verordnet.

Die beiden nachfolgenden Unterkapitel enthalten Listen mit Beispielen vertraglich vereinbarter generellen Einschränkungen resp. individueller bewegungseinschränkender Massnahmen.

2.1 Konzeptionell vorgesehene, vertraglich vereinbarte generelle Einschränkungen der Bewegungsfreiheit

Die folgenden generellen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit sind in unserer Institution konzeptionell vorgesehen: geschlossene Abteilung(en); abgeschlossene oder mit Codes gesicherte Ausgänge mit generalisierter oder individueller

Alarmfunktion (auch Abteilungs- und Zimmertüren, Lifttüren); Lichtschranken/Bewegungsmelder; elektronische Raumüberwachung. 1

Diese Einschränkungen der Bewegungsfreiheit sind im schriftlichen Betreuungsvertrag (resp. im Anhang) mit urteilsunfähigen Personen pro Person spezifisch aufgeführt. Die Verlegung einer Person von einer offenen auf eine geschlossene Station stellt eine Vertragsänderung dar. Entsprechend muss in diesem Fall der Betreuungsvertrag resp. dessen Anhang angepasst und von der vertretungsberechtigten Person die Einwilligung eingeholt werden.

2.2 Individuelle bewegungseinschränkende MassnahmenIn unserer Institution werden in Ausnahmefällen, nach dem Ausschöpfen von Massnahmen mit einer geringeren Eingriffstiefe sowie nach sorgfältiger Prüfung der Verhältnismässigkeit gemäss dem vorliegenden Konzept die folgenden bewegungseinschränkenden Massnahmen angewendet:

Mechanische/elektronische Einschränkung Abschliessen von Türen im Einzelfall, Isolierung Fixation von Rumpf und/oder Extremitäten durch Körpergurte oder Sicherheitswesten therapietische Fixation (verunmöglicht das Aufstehen) Feststellen von Rollstuhlbremsen (verunmöglicht das selbstständige Fortbewegen) Wegnahme des Elektrorollstuhles hochgestellte Bettgitter Anbringen von anderen Schranken Pflegeoverall/ Pflegebody Spezialdecke (z.B. Zevi-Decke) Sitzmöbel, die das selbstständige Aufstehen verunmöglichen (z.B. tiefe Stühle)

1 Diese und die weiteren Listen möglicher Massnahmen im Musterkonzept sind nicht abschliessend, sondern dienen als Beispiele und wären von der jeweiligen Institution bei der Erstellung des Konzepts anzupassen.

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Sensormatten als Bettvorlage oder im Bett2

Funkortung (in der Regel GPS).3

3 PräventionDie folgenden Konzepte enthalten Hinweise auf Massnahmen und Instrumente zur Vermeidung von bewegungseinschränkenden Massnahmen:

Becker, Clemens; Projektgruppe ReduFix (2007). ReduFix. Alternativen zu Fixierungsmassnahmen oder: Mit Recht fixiert? Hannover: Vincentz Network.

CURAVIVA Schweiz (2012). Neues Erwachsenenschutzrecht. Basisinformationen, Arbeitshilfen und Musterdokumente für Alters- und Pflegeinstitutionen. Bern: CURAVIVA Schweiz.

Dialog Ethik (2009). Handbuch Ethik im Gesundheitswesen. Band 1 – 5. Muttenz: EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG.

Fischer T., Spahn C., Kovach C. (2007): Gezielter Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Demenz: Die „Serial Trial Intervention“ (STI). In: Pflegezeitschrift 59 (7): 370 – 373.

Integrative Validation® (2007). Integrative Validation® . Brücken bauen in die Welt des demenziell Erkrankten. DVD. Hannover: Vincentz.

Kirsch, Sebastian (2008): Gemeinsam Verantwortung übernehmen. Der Werdenfelser Weg zur Vermeidung freiheitsentziehender Automatismen. Auf: http://www.lra-gap.de/550.0.html (31.01.2012).

Kovach C., Noonan P., Reynolds S., Schlidt A. (2005). The Serial Trial Intervention (STI) Teaching Manual: An Innovative Approach to Pain and Unmet Need Management in People with Late Stage Dementia. Eigendruck.

Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW (2004): Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende. Medizinisch-ethische Richtlinien der SAMW.

3.1 Sensibilisierung und Erweiterung der Handlungskompetenz betroffener Personen und ihrer Angehörigen

Leitfrage allgemein: welche Massnahmen, Arbeitsmittel und -material werden dafür eingesetzt?

Wir setzen die folgenden Massnahmen, Arbeitsmittel und –material zur Erweiterung der Handlungskompetenz von betroffenen Personen und der Vermeidung von bewegungseinschränkenden Massnahmen ein: Durchführung eines individuell auf die Hochrisikopatienten zugeschnittenen

„Fixierungsassessments“ zur Beurteilung der funktionellen Fähigkeiten/Defizite; Einsatz von Hüftprotektoren, Sturzhelmen, Socken mit Rutschhemmung und Gehhilfen (z.B.

„Gehfrei“, Dynamikoâ); Mechanische Anpassung von Stuhlhöhen, Sitzflächen, Lehnen etc.; Einsatz von Abrollmatten vor dem Bett mit darunter liegender Klingelmatte4,

2 Zur Frage, ob Sensormatten/Abrollmatten und Funkortung (nächster Punkt) bewegungseinschränkende Massnahmen oder im Gegenteil als präventive Instrumente zu klassieren sind, welche zur Vermeidung von bewegungseinschränkenden Massnahmen angewendet werden können, bestehen unterschiedliche Meinungen, aber noch keine Rechtsprechung. Auch aus den Kommentaren zum neuen ZGB ergibt sich noch kein einheitliches Bild. Die Botschaft will diesen Begriff allerdings sehr weit verstehen (siehe dazu BBl 2006 7039).

3 Vgl. Fussnote 2.4 Vgl. Fussnote 2. CURAVIVA 1/13 geht davon aus, dass es sich dabei um eine präventive Massnahme

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Ausreichende Wartung von Hilfsmitteln wie Rollatoren und Rollstühlen, Einsatz von Bettalarmsystemen, Einsatz von absenkbaren Betten / Niederflurbetten, gezieltes Muskelkraft- und Balancetraining, Physiotherapie, Medikamentöse Behandlung der Osteoporose, Optimierung der (psycho-)pharmakologischen Therapie bzw. Vermeidung iatrogener

Befundverschlechterung, Gewährleistung ausreichender Flüssigkeitsversorgung, Anwenden von speziellen Interventions- und Kommunikationstechniken im Umgang mit

verhaltensauffälligen Demenzkranken (z.B. Integrative Validation), Humorinterventionen (Hirsch 2001, Woijnar 2001), Milieutherapie, Musiktherapie, Bewegungstherapie, Ergotherapie, Vermeidung von Reizüberflutung (Klingeln, Fernsehen, Durchgangsräume), Ermöglichung nächtlicher Aktivitäten, z.B. „Nachtcafé“, Herausfinden spezieller „Vorlieben“ eines Patienten und Förderung dieser Aktivitäten (z.B.

Sortieren von Werkzeug, Wäschesortieren etc., Verwendung von Personensuchsystemen, Angehörigenarbeit und familientherapeutische Angebote.

Leitfrage: Wie und wann werden die betroffenen Personen (bei ihrem Eintritt, evtl. regelmässig) über bewegungseinschränkende Massnahmen generell sowie ihre Rechte informiert?

Die Bewohnerinnen und Bewohner informieren wir über ihre Rechte sowie generell über die bei uns angewendeten bewegungseinschränkenden Massnahmen mittels: Information beim Eintrittsgespräch; vieler direkten Gespräche mit betroffenen Bewohner/innen; schriftlicher Hinweis im Pensions- und Heimvertrag resp. Betreuungsvertrag; Info-Schrift.

Leitfrage: Wie werden die betroffenen Personen befähigt, bewegungseinschränkende Massnahmen zu erkennen und zu wissen, welche Handlungsmöglichkeiten und Rechte ihnen dabei zustehen?

Damit die betroffenen Personen befähigt werden, bewegungseinschränkende Massnahmen zu erkennen, und wissen, welche Handlungsmöglichkeiten und Rechte ihnen dabei zustehen, setzen wir folgende Instrumente ein: Information beim Eintrittsgespräch; jährliche Informationsveranstaltungen für Bewohner/innen; gezielte Gespräche der Pflegedienstleitung, deren Stellvertretung, Pflegefachpersonen

(Bezugspersonen Pflege und Betreuung) mit den Bewohner/innen.

Leitfrage: welche Massnahmen, Arbeitsmittel und -material werden für die Sensibilisierung der Angehörigen eingesetzt?

Wir setzen die folgenden Massnahmen, Arbeitsmittel und –material zur Sensibilisierung der Angehörigen für bewegungseinschränkenden Massnahmen resp. das Prinzip der Bewegungsfreiheit ein:

Information an die Angehörigen an einem Angehörigenanlass; direkte Gespräche mit Angehörigen.

handelt.

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3.2 Sensibilisierung und Erweiterung der Handlungskompetenz der Mitarbeitenden

Wir setzen die folgenden Massnahmen, Arbeitsmittel und –material zur Sensibilisierung und Weiterbildung der Mitarbeitenden ein:

Jährliche Schulung der Pflegefachpersonen im Rahmen von „ReduFix Schweiz“5; Informationsveranstaltungen für alle Mitarbeitenden der Pflege; Situationsbesprechungen im Pflegeteam; Teamreflexion zu bewegungseinschränkenden Massnahmen; Evaluation von Haltungen und Einstellungen des Personals zum Problemfeld Fixierungen, gezielte und regelmässige Fortbildungen und Workshops zum Thema unter Einbeziehung

von Geschäftsleitung, Juristen/Juristinnen und Angehörigen mit Bewusstmachung der Problematik, Aufzeigen von Vorteilen und Risiken sowie Alternativen von Fixierungen sowie Diskussion gefürchteter juristischer Konsequenzen und einer vermeintlich höheren Arbeitsbelastung;

anschauliches und gut zugängliches Lehr- und Fortbildungsmaterial wie Videos, Infozeitung etc.;

Möglichkeit zur Selbsterfahrung anbieten; Erlernen von speziellen Interventionstechniken im Umgang mit verhaltensauffälligen

Demenzkranken (z.B. Validation); Förderung von Kreativität und Ideen von Pflegemitarbeitern für neue individuelle Wege zur

Vermeidung von Fixierungen.

3.3 Austausch der Mitarbeitenden zur Analyse des Umgangs mit bewegungseinschränkenden Massnahmen

Die folgenden Massnahmen, Arbeitsmittel und -material werden für den regelmässigen Austausch der Mitarbeitenden hinsichtlich des Umgangs mit bewegungseinschränkenden Massnahmen eingesetzt:

Fallbesprechungen bei Veränderungen und Beobachtungen betr. Rückzug und Aggression; Austausch im Rahmen eines Rapports; regelmässige sowohl patienten- als auch teambezogene Supervision zur Sensibilisierung

eines Verstehens z.B. von Verhaltensauffälligkeiten als Ausdruck möglicher zugrundeliegender Gefühle und Bedürfnisse vor dem Hintergrund der eigenen Biographie eines Patienten/einer Patientin, aber auch zur Bearbeitung von Hilflosigkeits-, Ohnmachts-, Wut- und Schuldgefühlen zur Vermeidung von Gegenübertragungsagieren als unreflektiertes Handeln auf der Helferseite in der Beziehung zum Patienten sowie von Teamkonflikten;

„Round-table“-Konferenzen aller Beteiligten (evtl. inkl. der Angehörigen) zur Informed-consent-Entscheidung über den Neueinsatz oder die Fortführung einer Fixierungsmassnahme.

3.4 Bauliche MassnahmenDie folgenden baulichen Massnahmen dienen u.a. dem Zweck, Situationen vorzubeugen, in denen bewegungseinschränkende Massnahmen angeordnet werden müssten:

Sturz- und Verletzungsprävention: z.B. Handläufe; Ausreichende Lichtquellen, automatische Lichtregulation z.B. durch Drucksensoren wie

„Funkfinger“; Einzelzimmer sowie Wohngruppen;

5 Vgl. www.redufix.de und entsprechende Schulungen bei CURAVIVA und vbb.

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schockabsorbierende Fussbodenbeläge (z.B. Kunstkautschuk oder Kork); Umgebungsanpassung, z.B. sogenannte „Endlosrundgänge“, „Kochstellenkonzept“,

Badeinrichtung oder sogenannte „Snoezel-Ecken“ für ein „Nickerchen“; Beleuchtung; übersichtliche Einrichtung; Schutz vor Reizüberflutung; Wohngruppen bzw. hausinterne „Magnete“, d.h. Anziehungspunkte, mit baulichen Mitteln

gestalten zwecks Abwechslung; individualisierte Anregungen (z.B. von Aktivierungstherapeutin).

3.5 Strukturelle MassnahmenDie folgenden strukturellen Massnahmen dienen u.a. dem Zweck, Situationen vorzubeugen, in denen bewegungseinschränkende Massnahmen angeordnet werden müssten:

Flexible Abläufe statt fixe Tagespläne bei den Betreuungs- und Pflegeaufgaben, dabei Orientierung an den individuellen Bedürfnissen und Gewohnheiten der Bewohner/innen (z.B. Frühstückstisch steht bis um 11Uhr bereit);

Teilnahme an Einzel- und Gruppenaktivitäten (ohne Überforderung); begleitende und betreuende Aktivitäten; Umgebungsgestaltung ist vertraut und nahe an den Bewohner/innen; Tagesgestaltung ist „wie zuhause“ (Voraussetzung dazu ist eine schlüssige

Biografieerhebung); tagesstrukturierende Massnahmen, z.B. Sinne eines Tagesraumkonzeptes mit

regelmässiger Ansprache und Orientierungshilfe sowie kognitiv aktivierenden, aber nicht überfordernden Aktivitäten;

Nachtcafé.

3.6 Personelle FaktorenDie folgenden personellen Massnahmen dienen in unserer Institution u.a. dem Zweck, Situationen vorzubeugen, in denen bewegungseinschränkende Massnahmen angeordnet werden müssten:

Berücksichtigung des geäusserten Willens der Bewohnerin/des Bewohners betreffend die Betreuungsperson;

Berücksichtigung einer Tagesraumbetreuung für Demenzkranke (hierbei möglichst individuelle Fähigkeiten und Vorlieben der einzelnen Mitarbeitenden berücksichtigen) in der Dienstplangestaltung bzw. Schichtdienstregelung;

phasenweise Eins-zu-Eins-Betreuung von besonders unruhigen Bewohner/innen und dafür Befähigung der Pflegepersonen, Aufgaben der Tagesgestaltung zu übernehmen;

Information an alle Mitarbeitenden über die Weglaufgefährdung von Bewohner/innen; Aktivierungstherapeutin (für Einzel- und Gruppenaktivitäten sowie Veranstaltungen).

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4 AnwendungIn allen Situationen, in denen bewegungseinschränkende Massnahmen angewendet werden, unabhängig ob die betroffene Person urteilsfähig ist oder nicht (vgl. hierzu Kap. 4.2), ist der gleiche Entscheidungs- und Dokumentationsprozess durchzuführen. Entsprechend wird auch bei einer urteilsfähigen Person die Einwilligung zu bzw. die Nachfrage nach einer bewegungseinschränkenden Massnahme protokolliert. Die Dokumentation erfolgt im dafür vorgesehenen Dokument (vgl. Kap. 6).

4.1 EntscheidungsprozessDer Entscheidungsweg betreffend die Anwendung von bewegungseinschränkenden Massnahmen wird hier für die Institution festgelegt und die dafür verantwortlichen internen und externen Stellen sind konkret benannt. Für den Entscheidungsweg gilt:

Der Entscheidungsweg berücksichtigt den Unterschied zwischen urteilsfähigen und urteilsunfähigen betroffenen Personen.

Die Urteilsfähigkeit resp. Urteilsunfähigkeit bezieht sich einzig auf die Gefährdungssituation und die entsprechende bewegungseinschränkende Massnahme.

Der Entscheidungsweg berücksichtigt den Unterschied zwischen Personen mit Fürsorgerischer Unterbringung (FU) und ohne FU.

Die Entscheidungen werden innert 24 Stunden von der intern vorgesetzten Stelle (PDL, ZL) überprüft.

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Abbildung 1: Ablaufprozess aus Sicht der Institution zur Anordnung, Quelle: GEF (2012).

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4.2 Prüfung der UrteilsfähigkeitUrteilsfähig im Sinne von Art. 16 ZGB ist jede Person, der nicht wegen ihres Kindesalters, infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln.

Urteilsfähigkeit ist Voraussetzung für die Rechtmässigkeit einer Einwilligung. Die Urteilsfähigkeit ist immer in einer konkreten Situation, angesichts einer aktuellen Frage und im Hinblick auf eine anstehende Handlung (Einwilligung) zu überprüfen. Die Urteilsfähigkeit setzt einerseits die Fähigkeit des Einwilligenden voraus, die Realität wahrzunehmen und sich Urteil und Wille zu bilden (Erkenntnisfähigkeit), andererseits die Fähigkeit, dem Willen entsprechend zu handeln (Steuerungsfähigkeit). Es gibt keine schematischen Lösungen zur Feststellung der Urteilsfähigkeit resp. Urteilsunfähigkeit, es ist immer die Einzelsituation zu beurteilen.

Grundsätzlich wird bei einer Person Urteilsfähigkeit vermutet. Bestehen aber Zweifel, können nachfolgende Kriterien helfen, die Urteilsfähigkeit festzustellen: die Fähigkeit, Information in Bezug auf die zu fällende Entscheidung zu verstehen; die Fähigkeit, die Situation und die Konsequenzen, die sich aus alternativen Möglichkeiten

ergeben, richtig abzuwägen; die Fähigkeit, die erhaltene Information im Kontext eines kohärenten Wertsystems rational

zu gewichten; die Fähigkeit, die eigene Wahl zu äussern.6

Ob jemand urteilsfähig ist oder nicht, gilt es immer wieder neu herauszufinden, da dies auch phasenweise ändern kann. Gemäss der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin ist es nur nach sorgfältiger und immer wieder erneuerter Abklärung punktuell zulässig, einem Menschen die Urteilsfähigkeit für gewisse Bereiche dauerhaft oder gar generell abzusprechen.7

Leitfrage: Wer ist verantwortlich für die Prüfung der Urteilsfähigkeit und die Kommunikationsfähigkeit betreffend eine allfällige Einwilligung?

Für die Beurteilung der Urteilsfähigkeit einer Bewohnerin/eines Bewohners unterscheidet sich die Zuständigkeit je nach Dringlichkeit (Notfall, kein Notfall).

Bei einem absehbaren Verlust der Urteilsunfähigkeit resp. bei einer Urteilsunfähigkeit beim Eintritt der Bewohnerin/des Bewohners ist die Frage der Urteilsfähigkeit in Situationsbesprechungen im interdisziplinären Team zu klären, gegebenenfalls nach Konsultation eines Arztes/einer Ärztin: Ethikkommission; Interdisziplinäres Team (durch die Institution im Konzept genauer zu bestimmen).

In einem Notfall ist die folgende Person/ der folgende Personenkreis zuständig für die Beurteilung der Urteilsfähigkeit der Bewohnerin/des Bewohners hinsichtlich der Anordnung einer bewegungseinschränkenden Massnahme: Pflegefachperson mit Tagesverantwortung; Interdisziplinäres Team (durch die Institution im Konzept genauer zu bestimmen).

Die Pflegefachperson kann dafür bei einem Arzt/einer Ärztin Informationen für die Entscheidung einholen.

Wird eine Urteilsunfähigkeit festgestellt, hält die Person, welche die Beurteilung vorgenommen hat, die folgenden Angaben in den Akten (wo, wie?) schriftlich fest:

Konkrete Situation;

6 Vgl. SAMW (2005b), S. 18.7 Vgl. NEK (2011).

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Kriterien, welche für die Annahme der Urteilsunfähigkeit sprechen.

Bei urteilsfähigen Menschen darf die Bewegungsfreiheit im Heimalltag nicht gegen ihren Willen eingeschränkt werden. Kommt es mit urteilsfähigen Bewohnern zu Problemen, gilt die Hausordnung mit allfälligen Konsequenzen. So, wie das beim Heimeintritt vertraglich vereinbart wurde. Die einzige Möglichkeit, die Bewegungsfreiheit von Urteilsfähigen einzuschränken, ist die fürsorgerische Unterbringung. Allein in deren Rahmen sind Zwangsmassnahmen zulässig.

4.3 Prüfung der BehandlungsmöglichkeitenEine wichtige Grundlage für einen verantwortungsvollen Umgang mit bewegungseinschränkenden Massnahmen ist die Analysefähigkeit des interdisziplinären Teams. Es gilt, gemeinsam herauszufinden, welche Ursachen und Risiken dazu führen, dass sich eine Bewohnerin oder ein Bewohner sicherheitsgefährdend verhält. Ziel soll sein, behebbare Probleme zu erfassen und durch geeignete medizinische und pflegerische Massnahmen so zu behandeln, dass sich Freiheitseinschränkungen erübrigen.

Bei der Beurteilung, ob eine bewegungseinschränkende Massnahme bei einer urteilsunfähigen Person verhältnismässig ist, muss die Situation anhand der folgenden Fragestellungen beurteilt werden: Gefährdet das Verhalten eines Bewohners in erheblichem Mass die Sicherheit und die

Gesundheit von ihm oder von Dritten? Stört das Verhalten einer Bewohnerin in schwerwiegendem Ausmass die Ruhe und das

Wohlbefinden der Mitbewohner sowie das Gemeinschaftsleben? Könnte das Verhalten der betroffenen Person auf behandelbare, therapierbare oder

anderweitig behebbare Ursachen zurückzuführen sein?

Dabei sind zudem die folgenden drei Fragen abzuklären: Reichen mildere Massnahmen aus, um mit der Situation fertig zu werden (z.B. Anpassung

der Medikamente und der Ernährung, Einsatz von Gehhilfen und Hüftprotektoren, geeignete Schuhe, regelmässiges Kraft- und Balancetraining in Kombination mit Hirntraining, anderes Tempo der Pflege und Betreuung, konstante Präsenz auf Pflegegruppe)?

Wäre die anzuwendende bewegungseinschränkende Massnahme mit grosser Sicherheit geeignet und erforderlich, um den betroffenen Menschen oder Dritte zu schützen?

Was ist der mutmassliche Wille der betroffenen urteilsunfähigen Person: Ist jemand eher freiheitsliebend und couragiert? Oder im Gegenteil eher ängstlich und auf Sicherheit bedacht?

Verändert sich der Zustand des betroffenen Bewohners, so wird die bewegungseinschränkende Massnahme neu (von wem? z.B. Interdisziplinäres Team, Ethikkommission) evaluiert.

4.4 Anordnung Das vorliegende Konzept unterscheidet zwischen der ordentlichen Zuständigkeit für die Anordnung von bewegungseinschränkenden Massnahmen bei urteilsunfähigen Personen und der Zuständigkeit im Notfall.

4.4.1 Ordentliche EntscheidungszuständigkeitHandelt es sich nicht um einen Notfall, so wird die Entscheidung zur Anwendung einer bewegungseinschränkenden Massnahme bei einer urteilsunfähigen Person gemeinsam von einem interdisziplinären Team (durch die Institution im Konzept genauer zu bestimmen) getroffen, unter Beizug von z.B.: Pflegedienstleitung Heimarzt/Heimärztin einer unabhängigen Drittperson, z.B. Psychiater/in

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Anschliessend erfolgt (durch wen? Innert welcher Frist?) eine schriftliche/mündliche Information an die Zentrumsleitung.

4.4.2 Entscheidungszuständigkeit im NotfallJede Pflegefachperson der tertiären Stufe kann im Notfall die Anwendung einer bewegungseinschränkenden Massnahme bei einer urteilsunfähigen Person entscheiden. Dabei wird möglichst schnell Rücksprache (mit wem?) genommen.

Anschliessend erfolgt (durch wen? Innert welcher Frist?) eine schriftliche/mündliche Information an die Zentrumsleitung.

4.5 Durchführung4.5.1 Begleitmassnahmen bei der Anwendung einer bewegungseinschränkenden

MassnahmeLeitfrage: Welche Kriterien, Hilfen, Instrumente, Massnahmen stehen dafür zur Verfügung?

Bei der Durchführung einer bewegungseinschränkenden Massnahme wird darauf geachtet, dass parallel dazu deeskalierend wirkende Begleitmassnahmen angewendet werden, zum Beispiel über:

Alltagsgestaltende Elemente; Aktivierung bei der Anwendung einer Zevi-Deck; Intensivierung der Kontrollen; Anpassung der Tagesstruktur; Bedürfnisgerechte Alltagsstruktur; Zusammenarbeit mit Angehörigen; Validation; Basale Stimulation; Bedürfnisse der betroffenen Person aufnehmen (Beschäftigung, Begleitung, Anregung,

Beruhigung mit professionellen Pflegeinterventionen).

Der Entscheid für eine Bewegungseinschränkung muss auch Überlegungen und Massnahmen zur Berücksichtigung von Folgeproblemen bei der Umsetzung der Bewegungseinschränkung angewendet werden.

Leitfrage: welche Begleitmassnahmen eignen sich für die Abschwächung der negativen Wirkung einer Massnahme und/oder würden dazu beitragen, dass die bewegungseinschränkende Massnahme abgelöst werden könnte?

Den Institutionen wird empfohlen, für Pflegepersonen der Funktionsstufen 1 und 2 Merkblätter mit Optionen von Begleitmassnahmen (Aktivierung, Alltagsgestaltung etc.) zur Verfügung zu stellen, um einen adäquaten Pflegeprozess sicherzustellen.

Fallbeispiel:Es wird angeordnet, bei Frau X. nachts ein Bettgitter hochzuziehen. Da sie vor dieser bewegungseinschränkenden Massnahme mehrmals nachts alleine die Toilette aufgesucht hat und diese Selbständigkeit erhalten werden soll, wird als Begleitmassnahme Toilettentraining (Begleitung zur Toilette) durch die Nachtwache im Pflegeprozess vorgesehen. Die Anordnung des Bettgitters darf nämlich nicht dazu führen, dass der betroffenen Person Pampers angezogen werden, sondern der Toilettengang muss durch entsprechende organisatorische Massnahmen ermöglicht werden.

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4.5.2 Mögliche Folgen von bewegungseinschränkenden Massnahmen und Umgang damit

Leitfragen: Welche Folgen können die bewegungseinschränkenden Massnahmen haben? Wie geht die Institution damit um, wenn eine dieser Folgen eintritt?

Textbausteine basierend auf CURAVIVA (2012): Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass bewegungseinschränkende Massnahmen weder Stürze noch sturzbedingte Verletzungen wirklich verhindern – ganz im Gegenteil: Körpernahe Massnahmen wie Bettgitter erhöhen potenziell die Verletzungsgefahr noch. Werden pflegebedürftige Menschen anhaltend und wiederholt in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, reduziert dies ihre Muskelkraft und ihre Balancefähigkeit. Das ernüchternde Resultat: Die Sturzgefahr nimmt nicht etwa ab, sondern zu! Dazu kommen mögliche Folgen körpernaher Massnahmen: Quetschungen, Nervenverletzungen und Ischämien (Durchblutungsstörungen). Im schlimmsten Fall führen bewegungseinschränkende Massnahmen zum Tod – beispielsweise infolge Schädel-Hirn-Verletzungen durch Stürze aus grosser Höhe (Übersteigen der Bettgitter) oder durch Ersticken.

Von Bewegungseinschränkungen betroffene Heimbewohnerinnen und Heimbewohner erleiden zudem ein erhöhtes Risiko für gesundheitliche Komplikationen wie Lungenentzündung, Dekubitus und Thrombose. Auch ihre Stuhl- und Urininkontinenz wächst. Insbesondere demenzkranke Menschen reagieren mit erhöhtem Stress auf Einschränkungen ihrer persönlichen Bewegungsfreiheit. Der Stress vermehrt Verhaltensauffälligkeiten wie Unruhe, Aggression oder Apathie. Nicht selten ziehen bewegungseinschränkende Massnahmen denn auch eine Erhöhung der beruhigenden Medikamente nach sich! Dies alles zeigt: Die Wirksamkeit bewegungseinschränkender Massnahmen zur Prävention von Stürzen und sturzbedingten Verletzungen sowie im Umgang mit herausforderndem Verhalten lässt sich nicht nachweisen.

Mit einer bewegungseinschränkenden Massnahme greift die Wohn- und Pflegeeinrichtung in das Grundrecht des Menschen auf persönliche Bewegungsfreiheit ein. Aus pflegefachlicher und medizinischer Sicht kommt hinzu, dass die Wirksamkeit der Freiheitsbeschränkung als mangelhaft oder gar kontraproduktiv zu bezeichnen ist. Das bedeutet: Bewegungseinschränkende Massnahmen müssen in Heimen und Institutionen die Ausnahme bleiben. Das neue Erwachsenenschutzrecht legt viel Wert auf professionelle Entscheidungsprozesse für oder gegen solche Massnahmen.

5 Überprüfung der bewegungseinschränkenden Massnahmen

Es ist festgelegt, auf welche Weise und durch wen eine bewegungseinschränkende Massnahme überprüft wird und wer diese Überprüfung einfordern kann.

Die Überprüfung ist bei jeder Veränderung des Zustandes der betroffenen Person neu vorzunehmen.

Bei länger andauernden Massnahmen erfolgt eine laufende Überprüfung der angeordneten Massnahme spätestens nach sechs Monaten.

Jede Überprüfung wird in der Dokumentation protokolliert.

6 Dokumentation von bewegungseinschränkenden Massnahmen

Durch Massnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einer urteilsunfähigen Bewohnerin oder eines urteilsunfähigen Bewohners einschränken, greift die Institution in ein Grundrecht ein. Das ZGB gibt vor, dass die Institutionen den betroffenen Bewohner und dessen Vertretung genau

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über die geplante Massnahme informieren und die Massnahme dann auch schriftlich protokollieren müssen. Das Protokoll gehört ins Bewohnerdossier.

Leitfrage: Wie, wo und durch wen werden die bewegungseinschränkenden Massnahmen und deren Überprüfung protokolliert? E-Dok (Pflegedokumentation) durch Pflegefachperson (Funktionsstufe III)

Abbildung 2: Quelle: KOKES-Praxisanleitung Erwachsenenschutzrecht, Rz. 11.25.

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7 InformationIn diesem Kapitel sind Anforderungen an die Information festzuhalten:a) der betroffenen Person (auch bei Urteilsunfähigkeit und/oder

Kommunikationseinschränkungen), b) der vertretungsberechtigten Person und/oder c) der Vertrauensperson (bei Personen mit fürsorgerischer Unterbringung)

über Zweck, Art, Dauer, mögliche Folgen (siehe Kapitel 4.5.2) und wer die Massnahme

angeordnet hat die Prüfung von weniger eingreifenden Alternativen; notwendige Verhaltensänderungen resp. Voraussetzungen, welche zur Aufhebung der

Massnahme führen würden; die zur Verfügung stehenden Rechtsmittel (Anrufung der zuständigen KESB am Sitz des

Alters- oder Pflegeheims8); das Einsichtsrecht.

7.1 Instruktion und Information der betroffenen PersonDie betroffene Person wird in der Regel mittels eines Gesprächs (von wem?) unmittelbar vor der Anwendung einer bewegungseinschränkenden Massnahme informiert und instruiert (vgl. Art. 383 Abs. 2 ZGB). Das Gespräch wird (von wem, wo, wie?) protokolliert.

7.2 Information der vertretungsberechtigten Person resp. der Vertrauensperson

Die vertretungsberechtigte Person und/oder Vertrauensperson wird (von wem? Innert welcher Frist?) nach der Anordnung und Durchführung einer bewegungseinschränkenden Massnahme telefonisch / schriftlich (Fax, Formular, Mail, Brief?) über Inhalt und Form der Massnahme informiert und auf das Recht zur Einsicht in die Protokollierung hingewiesen.

Die Information wird (von wem, wo, wie?) protokolliert.

8 Gut zu wissen: Für die Errichtung einer Beistandschaft ist die KESB am zivilrechtlichen Wohnsitz der Bewohnerin/des Bewohners zuständig (Art. 442 Abs. 1 ZGB). Bei der Anordnung einer bewegungseinschränkenden Massnahme ist jedoch die KESB am Sitz des Alters- oder Pflegeheimes für die Behandlung von Beschwerden zuständig (Art. 385 Abs. 1 ZGB).

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8 Einbindung ins QualitätsmanagementDas erarbeitete Konzept zu bewegungseinschränkenden Massnahmen ist ein Teil des Qualitätsmanagementsystems der Institution.

8.1 Statistische Auswertung Die statistische Auswertung nach Häufigkeit der angewandten bewegungseinschränkenden Massnahmen dient ausschliesslich der institutionsinternen Qualitätssicherung und –verbesserung. Für weitergehende Auswertungen wären konkretisierende Vorgaben notwendig.

In der ERFA-Gruppe von vbb/abems besteht darüber hinaus die Möglichkeit, diese Statistiken in einer Diskussion qualitativ zu betrachten.

Leitfrage: Wer wertet zu welchem Zeitpunkt nach welchen Kriterien die Anwendung welcher bewegungseinschränkenden Massnahmen aus? Woraufhin wird was ausgewertet?

Pflegedienstleitung/Stv. PDL erstellen quartalsweise eine Einzelfallanalyse und reflektieren diese mit dem betreffenden Pflegeteam.

8.2 Entwicklung von VerbesserungsmassnahmenLeitfragen: In welchem Gefäss/in welchem Prozess werden in welchem Rhythmus Verbesserungen besprochen, entwickelt und entschieden, welche präventiv und/oder deeskalierend wirken sollen? Wie wird deren Wirksamkeit überprüft?

PDL und Wohngruppenleitungen führen Situationsbesprechungen durch und reflektieren die bewegungseinschränkenden Massnahmen.

8.3 Generelle Reflexion und SchulungLeitfrage: Wie und wann werden die Mitarbeitenden für die Entscheidung und Anwendung von bewegungseinschränkenden Massnahmen geschult?

Jährliche Schulung der Pflegefachpersonen im Rahmen von „ReduFix Schweiz“; Informationsveranstaltungen für alle Mitarbeitenden der Pflege; PDL / Stv. führen funktionsstufenspezifische und teamspezifische Fallbesprechungen

durch. anschauliches und gut zugängliches Lehr- und Fortbildungsmaterial wie Videos, Infozeitung

etc.; Möglichkeit zur Selbsterfahrung anbieten; Erlernen von speziellen Interventionstechniken im Umgang mit verhaltensauffälligen

Demenzkranken (z.B. Validation); Förderung von Kreativität und Ideen von Pflegemitarbeitern für neue individuelle Wege zur

Vermeidung von Fixierungen. Pflegefachpersonen ab Funktionsstufe 3 werden zudem regelmässig darin geschult, die

Urteilsfähigkeit von Bewohnerinnen und Bewohnern hinsichtlich bewegungseinschränkender Massnahmen zu prüfen (vgl. Kapitel 4.2).

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Leitfrage: Inwiefern werden dabei unterschiedliche Sichtweisen thematisiert? Durch gezielte und regelmässige Fortbildungen und Workshops zum Thema unter

Einbeziehung von Geschäftsleitung, Juristen/Juristinnen, weiteren Fachpersonen und Angehörigen mit Bewusstmachung der Problematik, Aufzeigen von Vorteilen und Risiken sowie Alternativen von Fixierungen sowie Diskussion gefürchteter juristischer Konsequenzen und einer vermeintlich höheren Arbeitsbelastung;

Leitfrage: Wie erfolgt die Reflexion der folgenden Fragestellungen:a) Welche bewegungseinschränkenden Massnahmen haben sich bewährt?b) Welchen Nutzen hatte die Massnahme für den/die Bewohner/in? c) Welchen Nutzen hatte die Massnahme für das Pflegepersonal? d) Müssen wir unsere Abläufe anpassen? (z.B. Entscheidungs-, Informations-,

Dokumentationsprozess)

In den folgenden Gefässen der Institution erfolgt eine generelle Reflexion: jährliche Veranstaltung zur Evaluation von Haltungen und Einstellungen des Personals zum

Problemfeld Fixierungen; regelmässige Auswertung und Reflexion in Kader-Sitzungen und Teamsitzungen; Einsetzung einer Arbeitsgruppe zu bewegungseinschränkenden Massnahmen; in Fallbesprechungen; Diskussion in den ERFA-Gruppen von vbb/abems; im Gespräch mit betroffenen Bewohner/innen; im Gespräch mit Angehörigen von betroffenen Bewohner/innen; in Mitarbeitendengesprächen (insb. hinsichtlich Nutzen des Pflegepersonals); etc.

8.4 Aktualisierung des KonzeptsDer Konzeptinhalt wird (von wem?) mindestens alle zwei Jahre überprüft und den neusten Entwicklungen angepasst. Die Initiative zur Aktualisierung des Konzeptes geht von der Pflegedienstleitung aus. Die Ausführung obliegt ihr bzw. der Qualitätsverantwortlichen.

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9 Literatur und MaterialienBredthauer, Doris (2002). Bewegungseinschränkende Massnahmen bei dementen alten

Menschen in der Psychiatrie. Eine Dissertation zum Thema: Gewalt gegen alte Menschen. Dissertation, Universität Ulm. http://vts.uni-ulm.de/docs/2003/3001/vts_3001.pdf (29.01.2013)

CURAVIVA: Merkblätter zum Thema Freiheitsbeschränkende Massnahmen im neuen ZGB. In: „Dossier Erwachsenenschutzrecht“. http://www.curaviva.ch (29.01.2013).

CURAVIVA (2012). Neues Erwachsenenschutzrecht. Basisinformationen, Arbeitshilfen und Musterdokumente für Alters- und Pflegeinstitutionen. CURAVIVA Schweiz: Bern.

Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern (GEF), Alters- und Behindertenamt (2012). Qualitätsstandards zum Umgang mit freiheitsbeschränkenden Massnahmen in Institutionen. Empfehlung.

Konferenz der Kantone für Kinder- und Erwachsenenschutz KOKES (2012). Praxisanleitung Erwachsenenschutzrecht (mit Mustern). DIKE: Zürich/St. Gallen.

NEK (2011). Patientenverfügung. Ethische Erwägungen zum neuen Erwachsenenschutzrecht unter besonderer Berücksichtigung der Demenz.

Schmid, Christoph. Ohne bewegungseinschränkende Massnahmen geht es auch. CURAVIVA (2013) 1, 35-37.

Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW (2004). Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende. Medizinisch-ethische Richtlinien der SAMW.

Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW (2005a): Zwangsmassnahmen in der Medizin. Medizinisch-ethische Richtlinien zu Zwangsmassnahmen. In: Schweizerische Ärztezeitung (2005/34), S. 1992-1999.

Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW (2005b). Recht der Patientinnen und Patienten auf Selbstbestimmung. Medizinisch-ethische Grundsätze der SAMW.

Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW (2008). Medizinische Behandlung und Betreuung von Menschen mit Behinderung. Medizinisch-ethische Richtlinien und Empfehlungen.

Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW (2010). Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen. Medizinisch-ethische Richtlinien und Empfehlungen.

Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW (2011). Empfehlungen „Strukturen zur ethischen Unterstützung in der Medizin“. Richtlinien in Vernehmlassung.

Schweizerische Gesellschaft für Gerontologie SGG (2011). Richtlinien zum Umgang mit freiheitsbeschränkenden Massnahmen.

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