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KOSTASt AXELOS Einfüng in ein künftiges Denken Ober Marx und Heidegger Max Niemeyer Verlag Tübingen 1966

Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken

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Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken: Über Marx und Heidegger (Tübingen: Niemeyer, 1966).

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Page 1: Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken

KOSTASt AXELOS

Einführung in ein künftiges Denken

Ober Marx und Heidegger

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1966

Page 2: Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken

© Mu Nicmcyer Verlag Tübing<n

Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany 1966

Sat� und Druck von Poppe & Neumn-nn, Graph. Betrieb, Konnanz:

Einband von Heinr. Koch, Tübiogen

INHALT

Vorwort VII

I

MARX UND HEIDEGGER

Marx und Heidegger. Wegweiser eines künftigen Denkens . 3

li

üBER MARX UND HEIDEGGER

Thesen über Marx. Zur Kritik der Philosophie, der politischen Okonomie und der Politik 4 5

Aus der Erfahrung der Welt. Ober Heidegger . p

III

DAS PLANETARISCHE

Das Planetarische. Weltgeschichte der-. Technik . .; ; .. ...

Zwölf lückenhafte Thesen zum Probiem der revolutionären Praxis

Ein Gespräch über Wissenschaft .

Nachwort .

Anmerkungen .

6I

IOO

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VORWORT

Die folgenden Aufsätze, Vorträge, Thesen, Texte und Gespräche, von 1956 bis 1966 deutsch geschrieben, gehalten und mehrmals durch­gearbeitet, versuchen in einer mehrdimensionalen und zugleich ein­heitlichen Weise in ein künftiges Denken einzuführen. Sie denken mit

wie über Marx und Heidegger nach. Ober heißt - wie es auch in den

Wörterbüchern steht - sowohl7tep(, de, von, sur als auch fLeT<i, trans, hinüber, a1t-dela. Durch Marx und Heidegger hindurch können wir

einmal über sie hinaus denken. Dieses Nachdenken leitet zugleich ein Vordenken ein. Das künftige Denken, in das wir eingeführt werden müssen, ist untrennbar vom gewesenen und gegenwärtigen Denken -

und vom Ungedachten. Ebenfalls untrennbar soll es sein von der ver­gangenen, akn1ellen und zukünftigen Erfahrung. Der Erfahrung der Welt. Also handelt es sich darum, ein der Welterfahrung und deren Praxis entsprechendes Weltdenken sich entfalten zu lassen, das ebenso der Prosa wie der Poesie der Welt gehorcht.

Solch ein ursprünglicher und künftiger Denkstil gehört mit dem

herkömmlichen, kommenden und scheiternden Lebensstil in das Selbe: ins fragmentarische Eins-Alles, welches sich als Zeit und in der Zeit als Irre und Spiel entfaltet und verkümmert. So führt das Nachdenken

zum Vordenken, in das wir eingeführt werden. Das Neue entbirgt das sich verbergende Alte. Das Vordenken ist kein unverbindliches Prophezeien. Das künftige Denken - vorausgesagt und -gesehen,

voraussagend und -sehend - entspricht dem uns entgegenkommenden Futurum (das der wachsenden Physis entspricht).

Das hier versuchte Nach- und Vordenken greift bis in die Wurzeln

des dichterischen Denkens Heraklits zurück, stellt sich unter die Kon­stellation von Hege!, Marx, Nietzsche und Heidegger, versucht aber über sie hinauszugehen: um ein neues Denken der fragmentarischen Ganzheit- ein weltgeschichtliches, planetarisches, offenes, mehrdimen­sionales, fragendes, spielendes Denken - ins Weltspiel zu setzen. Vom Weltspiel wird alles überspielt.

VII

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Die Weltgeschichte scheint für heute und für morgen von der Tech­nik-und-Wissenschaft beherrscht zu sein. Diese Herrschaft selber ent­faltet sich als die sogenannte Weltgeschichte. Das herrschende Tech­nische stellt alles in Frage und steht zur Frage. Verlangt die plane­tarische Technik ein planetarisches Denken? Technisierte Wissenschaft und wissenschaftliche Technik übernehmen Kunst, Religion und Phi­losophie und lösen sie auf. Die Wissensd1aft-und-Technik löst aber nicht die Aufgaben des Denkens. Kann sie ihm entweichen und kann es ihr entweichen? Das Denken. Gibt es überhaupt so etwas? Könnte es einem kommenden - und schon dagewesenen - Denken gegeben sein, über Idealismus und Materialismus hinaus, und über die metaphysische oder antimetaphysische dualistische Trennung oder Kluft hinaus, mit dem Handeln innig verbunden und vermisdlt, seine Macht und Ohnmacht zu erfahren? Läßt sich die Metaphysik über­winden und nicht nur umdrehen? Der Versuch nimmt uns in Ansprud!. Wie kann aber das Denkspiel den irgendwie sd!on vollendeten Ober­stieg vollziehen?

Seit gewisser Zeit versud1e11 die Menschen - als Einzelne, als Glie· der der Gesellschaft und als Fragmente der Weltgesd!ichte - zu leben und zu lieben, zu sprechen und zu denken; sie arbeiten, sie kämpfen, sie sterben. Wofür? Für den problematischen Genuß und den einrid!t­baren Wohlstand- für die immer mehr alles zu wenig ist-, für die Anerkennung - die doch wachsend perspektivistischer wird -, für die Verwirklichung der Freiheit auf Erden und die allgemeine, vermittelte Versöhnung? Was treibt sie und wohin werden sie getrieben? Und wozu? Wie steht es noch mit den logischen oder mythologischen Grün­den, mit der geschichtlichen Bewegungskraft, mit den menschlichen Zie­len? Spielen sie sd!wankend? Schwanken sie spielend? Sie verfestigen sich, in der schon abgespielten Geschichte, lösen sid! auf, werden stän­dig wiederholt und überspielt. Bleibt uns also nur übrig - ohne rückständige Sehnsucht, ohne flad!e Gegenwartsabwertung und ohne eschatologische Deopie -, weiter, tiefer und breiter zu spielen? Ohne Warum?

Das künftige Denken ist nicht nur etwas, das immer zukünftig bleibt. Es war schon da, es ist schon da, es kommt erst. Es kann uns entzaubern und etwas ermuntern, und zugleich wird es neue Ein­seitigkeiteil und Verflad1ungen erfahren und bewirke11. Es gehört zum

VIII

neuen Reichtum und zur neuen Misere - die untrennbar vom alten und neuen Leben und Lieben, Sprechen und Denken, Arbeiten und Kämpfen, Spielen und Sterben sind und bleiben. So "ist" es mit und in dem Spiel. der Zeit, die alles versammelt und tilgt, in ihrer Ganzheit ruhend. So spielt die Irre, in deren Spiel alle Bewegung, in der Ruhe, beruht.

IX

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I

MARX UND HEIDEGGER

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MARX UND HEIDEGGER

Wegweiser eines künftigen Denkens

Wir sind nichts; was wir suchen, ist alles.

HÖLDERLIN, VORSTUFEN ZUM ,HYPERION'

I

Im Brief an seinen Pariser Freund Jean Beaufret, im Brief >Ober den Humanismus<, schreibt Heidegger: "Die Heimatlosigkeit wird ein

WeltschicksaL Darum ist es nötig, dieses Geschick seinsgeschichtlich zu denken. Was Marx in einem wesentlichen und bedeutenden Sinne von Hege! her als die Entfremdung des Menschen erkannt hat, reicht mit seinen Wurzeln in die Heimadosigkeit des neuzeitlichen Menschen zurück. Diese wird und zwar aus dem Geschick des Seins in der Ge­

stalt der Metaphysik hervorgerufen, durch sie verfestigt und zugleich von ihr als Heimat!osigkeit verdeckt. Weil Marx, indem er die Ent­fremdung erfährt, in eine wesentliche Dimension der Geschid1te hin­einreicht, deshalb ist die marxistische Anschauung [es wäre besser zu sagen: die Marxsche) 1 von der Gesdüchte der übrigen Historie über­legen. Weil aber weder Husserl, noch, soweit ich bisher sehe, Sartre

die Wcscntlichkeit des Geschichtlichen im Sein erkennen, deshalb kommt weder die Phänomenologie, noch der Existentialismus in die­jenige Dimension, innerhalb deren erst ein produktives Gespräch mit dem Marxismus möglich wird. "2 Ein produktives Gespräch mit dem

1 Was in e<kigen Klammern steht, ist von mir hinzugefügt. 2 •über den Humanismus< (1947), Frankfurt a. M. 1949, S. :q.

3

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Marxschen Denken - und mit dem Marxismus - soll also vorbereitet

werden, und es ist vielleicht höchst notwendig, diesen Dialog zu

ermöglichen. Wir lesen weiter: "Hierzu ist freilich auch nötig, daß

man sich von den naiven Vorstellungen über den Materialismus und

von den billigen Widerlegungen, die ihn treffen sollen, freimacht. Das Wesen des Materialismus besteht nicht in der Behauptung, alles sei nur

Stoff, vielmehr in einer metaphysischen Bestimmung, der gemäß alles

Seiende als das Material der Arbeit erscheint. Das neuzeitlich-meta­

physische Wesen der Arbeit ist in Hcgels >Phänomenologie des Geistes<

vorgedacht als der sich selbst einrichtende Vorgang der unbedingten Herstellung, das ist Vergegenständlichung des Wirklichen durch den

als Subjektivität erfahrenen Menschen. Das Wesen des Materialismus verbirgt sich im Wesen der Teclmik, über die zwar viel geschrieben,

aber wenig gedacht wird." Heidegger versucht, den Materialismus des

Marxismus und auch des Kommunismus auf das Wesen der Arbeit und der Technik zurückzuführen. Und er fährt fort: "Die Technik ist

in ihrem Wesen ein seinsgeschichtliches Gesduck der in der Vergessen­

heit ruhenden Wahrheit des Seins. Sie geht nämlich nicht nur im

Namen auf die -rtxv'l') der Griechen zurück, sondern sie stammt

wesensgeschichtlich aus der <ttxv"l als eine Weise des &'Al)3·&usw, das

heißt des Offenharrnachens des Seienden. Als eine Gestalt der Wahr­heit gründet die Technik in der Geschichte der Metaphysik. Diese

selbst ist eine ausgezeichnete und die bisher allein übersehbare Phase der Geschichte des Seins. Man mag zu den Lehren des Kommunismus

und zu deren Begründungen in verschiedener Weise Stellung nehmen, seinsgeschichtlich steht fest, daß sich in ihm eine elementare Erfah­rung dessen ausspricht, was weltgeschichtlich ist. Wer den ,Kommu­

nismus' nur als ,Partei' oder als ,Weltanschauung' nimmt, denkt in der

gleichen Weise zu kurz wie diejenigen, die beim Titel ,Amerikanis­

mus' nur und dazu noch abschätzig einen besonderen Lebensstil mei­

nen." (S. 17- 28)3

3 Wie anders klingt die Reflexion Jaspers' über den Marxismus. In einer seiner drei in Heidelberg gehaltenen Gastvorlesungen (1950) will Jaspers eine knappe, runde und einheitliche Skizze des Marxschen Denkens - als Nationalökonomie, Philosophie und Politik ausgelegt - und des Marxis­mus-als • Wissenschaft" und .Glauben" -seinen Hörern vorbringen. Die Vorlesung ist betitelt: >Die Forderung der Wissenschaftlichkeit<. (Diese drei Vorlesungen erschienen auch im Druck; siehe >Vernunft und Wider-

4

Um mit dem Marxismus ins Gespräch ZU kommen, mussen wir uns

nicht vorerst mit Marx: selbst in einen Dialog einlassen? Mit welchem

Marx aber? Dem Philosophen? Dem Wll'tschaftswissenschaftler?

Dem Politiker? Gibt es viele Gesichter von Marx, und was verbirgt sich hinter den verschiedenen Schichten und Gesid1tern? Vielleicht ist Karl Marx kein Philosoph mehr. In seinem in Cerisy (Normandie)

gehaltenen Vortrag •Was ist das - die Philosophie?< stellt Martin

Heidegger die Frage: "Wo haben wir die Vollendung der neuzeit­lichen Philosophie zu suchen? Bei Hegel oder erst in der Spätphiloso­

phie Schellings? Und wie steht es mit Marx und Nietzsche? Treten sie

schon aus der Bahn der neuzeitlichen Philosophie heraus? Wenn nicht,

wie ist ihr Standort zu bestimmen?"4

Aristotelcs, Thomas, Hege! erscheinen uns als die maß- und gesetz­

gebenden Philosophen. Hinter und zwischen ihnen stehen die Vor­

sokratiker, Platon, Augustin, Descartes. Alle einem geschichtlichen

Boden entwachsen, ihn bestintroend und von ihm bestimmt. Platon­

Aristoteles-Augustin-Thomas-Descartes-Hegel beherrschen das grie­chische-christliche-neuzeitliche Denken. Platon begründet den Platonis­

mus, d. h. die und jede Philosophie als Idealismus und Dualismus,

Aristoteles die onto-theo-logische Systematik. Augustin verchristlicht den Platonismus und platonisiert das Christentum, Thomas bewaff­

net es, läßt es sprechen mit dem Aristotelismus. Descartes führt den

genialen und neuzeitlichen Kompromiß ein zwischen der platonisch­aristotelischen Idee, dem christlichen Offenbarungsglauben und dem

vernunft in unserer Zeit<, München 1950). Sie will von Marxismus und Psychoanalyse handeln. Es handelt sich hier um ein sdtulphilosophi­sdtes Referat, einen kurzen Umriß der Grundlinien des Marxismus (und der Psychoanalyse) und eine kurzsichtige Interpretation des Marxismus als "Glaubensersatz", als vermeintliches Total wissen, das entlarvt werden muß: "Marx' Totalwissen ist zu entlarven als eine Form dieses vermeint­lichen Wissens, wie es noch Hegel verwirklichte, und das Marx airmodisch in der Form wiederholte mit spezifisch modernem Inhalt.• (S. 14). Frei­lid! wird auch dem Marxismus - professoral - eine partikulare Wahrheit zuerkannt. Im Grunde aber verfällt dieses ganze Totalwissen, diese ganze Totalplanung dem "Grundirren", dem .. Irrweg", dem "Irrtum" und der .Irrung" - als "ungeheuerliche Falschheit" verstanden-, denen gegenüber, im Glanze der Wahrheit, die "mögliche Existen.z durch Vernunft• steht und geht. So reflektiert J aspers, der Fürsprecher der .grenzenlosen Kom­munikation".

4 .Was ist das-die Philosophie?<, Pfullingen 1956, S. 41.

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"freigesetzten" denkenden ego des modernen Menschen- res cogitans, die die res extensa beherrschen, besitzen, verwalten und verwandeln soll, innerhalb _der Mischung Philosophie-Wissenschaft. Hege! schließt synthetisch, geschichtlich-systematisch, dieses ganze Kapitel irgendwie ab. Alle diese Denker sind vielfältig miteinander verbunden, folgen und verfolgen einander. Von Platon-Aristoteles geht es - durch das Römische hindurch - zur christlichen Theologie Augustins und Tho­mas, von diesen - durch Descartes und Kant - zu Hege!. Und von Hege! führt es zu Marx und zum Marxismus, die die Hegeische ideali­stische und spekulative Dialektik materialistisch und praktisch umstül­pen wollen. "Daß die mittelalterlieben Theologen auf ihre Weise, d. h. umdeutend, Platon und Aristoteles studieren, ist dasselbe, wie daß Karl Marx für seine politische Weltanschauung die Metaphysik Hegels benützt. Recht besehen, will aber die doctrina christiana nicht ein Wissen über das Seiende, darüber, was es ist, vermitteln, sondern

ihre Wahrheit ist durchaus Heilswahrheit. Es gilt die Sicherung des Heils der einzelnen unsterblichen Seele." So äußert sich, etwas flach, Heidegger in seinem Nietzsche-Buch über das Verhältnis Marx-Hegel.' Denn alle produktiven Deutungen sind Umdeurungeu, Versuche, die odysseische Irrfahrt der Weltgeschichte - einschließlich der Welt­geschichte des Denkens - zu bändigen. Heim- und Fernweh ent­sprechen sich, wie Ausfahrt und Rückkehr. Umstülpungen, Umdeu­tungen, Umwertungen gehören, mit dem was sie bekämpfen, in einen abenteuerlichen Gang, der einheitlich wie wedtselweise Gegensätze und kämpfende Mächte abarbeitet. In diesem Gang erscheint Nietz­

sche als derjenige, der den Platonismus-Christianismus umdrehen und umwerten will; sein Denken wird von ihm selber als ,.umgedrehter Platonismus" verstanden; also audt als umgedrehter Christianismus, wenn Christentum als "Platonismus für's ,Volk'" verstanden wird. Zu­

gleich will Niet:zsdte als der Erkenner und überwinder des Nihilismus auf die Bahn treten.

Also sind und bleiben Platonismus-Aristotelismus, Christianismus, Cartesianismus, Hegelianismus-Marxismus-Nihil1smus, - ihre ganze Lauf- und Drehbahn, die alle Umdrehungen einschließt -, der herr­

schende Weg der taumelnden Weltgeschichte. Ob er vorphilosophisch

6 >Nictzsche<, Band II, Pfullingen r96r, S. 131.

6

(bei Heraklit und den Vorsokratikern) durchlaufen wird, philoso­phisch-metaphysisch, d. h. ontotheologisch (von Platon bis Hegel), gläubig und christlich, bürgerlich, sozialistisch, nihilistisch oder gar

antiphilosophisch, gegen-metaphysisch, und selbst nidu-philosophisch, extra-metaphysisch, ob ein metaphilosophischer Weg ·(von Marx und

Nietzsche eröffnet) überhaupt gangbar ist, bleibt zu erörtern, haupt­sächlich zu erfahren.

Marx ist vielleicht kein Philosoph mehr, wenn die Philosophie mit Platon - als Philosophie - anfängt und sich bei Hegel vollendet, was

nicht heißen soll, daß Vollendutlg, Verendung und Ende zusammen­fallen, geschweige denn, daß ihr Telos rätselhaft bleibt. Marx könnte kein Philosoph mehr sein und trotzdem der neuzeitlichen Epoche, der Epoche der Subjektivität, angehörig bleiben; er könnte sogar die Sub­jektivität verallgemeinern und vergesellschaftlichen wollen. Auch als Nicht-Philosoph, vielleicht eben als Obergänger, ist aber Marx ein Denker. Was denkt er? Den natürlidt-gesellsdtaftlichen Menschen, die menschliche Gesellschaft, die die Natur selbst und den Mensdten pro­duziert. Im Humanismus-Brief wird das Denken Marx' und seine

Hauptrichtung kurz und treffend so bezeichnet: "Marx fordert, daß der ,menschliche Mensch' erkannt und anerkannt werde. Er findet

diesen in der ,Gesellschaft'. Der ,gesellschaftliche Mensch' ist ihm der ,natürliche' Mensch. In der ,Gesellschaft' wird die ,Natur' des Men­schen, das heißt das Ganze der ,natürlichen Bedürfnisse' (Nahrung, Kleidung, Fortpflanzung, wirtsdtaftliches Auskommen) [das Elemen­tare?) gleichmäßig gesichert." (S. 10). Heidegger setzt die Wörter

"mcnschliche(r) Mensch", "Gesellschaft", "Natur" und "natürlich" in Anführungszeichen. Warum? Weil sie von Marx in Anspruch genom­

men werden? Nicht nur, und hauptsächlich nicht darum. Sondern weil sie problematisch sind, weil wir nicht genau wissen, was wir uns bei ihnen denken sollen. Die Marxsche Forderung - die Aufhebung der

Entäußerung und der Veräußerung, die radikale Aufhebung der Ent­fremdung durch die Vernichtung ihrer "wirklichen• Basis, des Privat­eigentums, der kapitalistischen Arbeitsteilung und der bisherigen Weise der Produktion und der Arbeit, und die Anerkennung des natürlich­gesellschaftlich-menschlichen Menschen - ist und bitübt problematisch. Und doch ist und bleibt sie eine Forderung, die Elementar-Kräfte zur

Sprache bringt und ins Werk setzt.

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Heidegger selbst, versucht er mit Marx ins Gespräch zu geraten? Leitet er ein produktives Gespräch mit dem Marxismus ein? Heideg­

ger spricht nicht sehr oft von Marx. Trotzdem ist sein eigenes Denken vom Marxschen in Ansprudt genommen. Im Jahre 1932 erschien die wichtigste philosophische Schrift Marx', die Pariser ökonomisch-phi­losophischen Manuskripte von I 844, >Nationalökonomie und Philoso­phie<; diese Schrift war bisher unveröffentlicht geblieben. Die erste

Herausgabe im Jahre 1932 (bei Kröner) wurde von Siegfried Lands­hut besorgt, der Schüler Heideggers war, und Heidegger hat so ganz direkt vom Pariser Manuskript Kenntnis genommen. Seitdem fordert dieser tiefsinnige, aber aud1 lückenhafte und fragmentarische Text eine entsprechend tiefsinnige Interpretation, die ihrerseits eine Regel-Aus­legung voraussetzt, weil das Hauptthema dieser Marxschen Schrift

eine Auseinandersetzung mit Hege! und hauptsächlich mit der >Phä­nomenologie des Geistes< ist, "der wahren Geburtsstätte und dem Geheimnis der Hegeischen Philosophie" nach Marx' Formulierung.

Heidegger liefert uns nicht die Grundlinietl einer Marx-Interpre­

tation. Er hat sich niemals mit Marx eingehend beschäftigt, wie er es für Anaximandcr, Heraklit, Parmenides, Plato und Aristoteles, Leib­

niz, Kant, Hegel und Nietzsche getan hat. Marx bleibt aber keines­

falls abwesend bei seinem Denkversuch. Indem Heidegger das Wesen der modernen Technik - sogar der planetaris<hen Tedmik - zu erfas­sen versucht, indem er die Wurzeln des Maschinenzeitalters- und des Atomzeitalters- in die Helle zu bringen versucht, indem er das Welt­schicksal der Heimatlosigkeit und der Wurzellosigkeit denkend zu befragen versucht, läßt er spüren, daß im Hintergrund dieses Ver­suchs auch Marx steht.&

6 Es gibt Pariser Marxisten, Lucien Goldmann und Joseph Gabel z. B., die der Meinung sind, es bestehe eine Verwandschaft zwischen Heidegger und Lukacs. Erstens wollen sie auf manche biographischen Tatsachen auf­merksam machen: Heidegger und LuHcs bewegen sich, in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, in den Gewässern der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus. Beide stehen in enger Beziehung zu Emü Lask. Zwei­tens, und hauptsächlich, will aber diese Meinung aufweisen, Heidegger habe von Lukics gewisse wichtige Themen übernommen. >Die Seele und die Formen< und >Geschichte und Klassenbewußtseine von Lukacs ersdüc­nen 1911 und 192.3. >Sein und Zeit< erschien 1927. Was bei Lukacs die Tragik des Lebens, die Verdinglichung, die Totalität, die Gescl1ichte und das bewußte Sein konstituiert, soll bei Heidegger uneigencliches und

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Was befragt wird, das ist das Wesen der Technik. Die industrielle

Arbeit und die Maschinen sind Erscheinungen der Technik, deren Wesen uns noch verhüllt bleibt. Marx reicht in eine wesentliche Dimen­

sion der Geschichte hinein; wissen aber, wie es mit der Frage nach der Technik steht, das konnte er noch nicht und das können wir heute

noch immer nicht. In den Freiburger Vorlesungen >Was heißt Denken?< (19p/p) konnte man hören und kann man jetzt folgendes lesen: "Weder der Industriearbeiter, noch die Ingenieure, noch gar die Fabrikbesitzer und am wenigsten der Staat können wissen, wobei sid1

der heutige Mensch überhaupt aufhält., wenn er in irgendeinem Bezug

zur Maschine und zu Maschinenteilen steht. Wir alle wissen es noch nicht, welches Hand-Werk der moderne Mensch in der technischen Welt betreiben muß, auch dann betreiben muß, wenn er nicht Arbei­

ter ist im Sinne des Arbeiters an der Maschine. Auch Hegel, auch

Marx konnten dies noch nicht wissen und nicht fragen, weil auch ihr Denken sich noch im Schatten des Wesens der Technik b ewegen mußte,

weshalb sie auch niemals ins freie gelangten, um dieses Wesen zurei­

chend zu bedenken. "7

eigentliches Dasein, Sein zum Tode, Vergegenständlichung, Seiendes im Ganzen, Zeit, Geschichtüchkeit und Sein geworden sein. Beide streben danach, mit einem neuen geschichtlichen Seinsverständnis, die Verding­lidlUng und Vergegenständlichung, die in der kapitalistischen und neu­zeitlichen Welt herrschen, aufzuheben und einen neuen geschichtlichen Horizont zu eröffnen. Das Zusammenbringen Lukacs' und Heideggers soll aber auf eine Vorherrschaft Lukacs' hinweisen. Der junge Lukacs soll so als der Anreger Heideggers gelten. Die Historie der Einflüsse und Begeg­nungen, Vorwegnahmen usw. bleibt immer ein verworrenes Geschäft. Die Tendenz dieser Zusammenstellung ist doch sichtbar. Zeigt sieb durch sie etwas Bedeutendes? Steht die marxistische gescbichtsphilosophiscbe, ideo­logische und soziologische Denkrichtung Lukacs' auf derselben Ebene mit dem metaphysisch-ontologischen Denkversuch Heidcggers, mit seinem scheiternden seinsgesdlichtlichen Denken, das die Philosophie (Metaphy­sik) zu überwinden versucht? Müssen nicht die Wurzeln des Heideggcr­scben Denkens anderswo und anderswie gesucht werden? Indem sich die Fragen so stellen, eröffnet sich gleichzeitig der Raum einer entsprechenden Antwort. - Der junge Lukacs wurde älter, und als solcher geriet er in eine andere Dimension: innerhalb dicse.r schimpfte er über Heidegger und zerlegte polemisch, was er sich nicht mehr recht übe.rlegen konnte und wollte: siehe >Heidegger redivivus< (in: >Sinn und Form< 1949, 3· Heft), eine Kampfschrift gegen den Humanismus-Brief; •Existentialismus oder Marxismus?< (Berlin 1951); >Die Zerstörung der Vernunft< (Berlin 1954). ,

7 >Was heißt Denken?<, Tübingen 1954, S. 54- 55·

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Eine Feindschaft gegen die Technik, eine Ablehnung der Technik, eine rückgängige, wenn nicht reaktionäre Haltung und Einstellung werden Heidegger sehr oft vorgeworfen. Eine romantische Sehnsucht, eine unmoderne und nicht fortschrittliche Gesinnung charakterisieren nach dieser allzusehr verbreiteten Kritik des Werk Heideggers, wozu noch der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit kommt. Sind diese Be­hauptungen treffend? Selbst wenn in dieser Weise etwas Richtiges ausgesprochen wird, gelangt diese Kritik in den Bereich des Wesent­lichen? Trifft sie die Grundstimmung und die Hauptrichtung des Heideggerschen Denkversuchs, der, wie er selber sagt, ein Versuch ist und noch dazu ein Denken, dem das Scheitern als Geschenk zukommt? Will tatsächlid1 dieses scheitemde Denken vom aufbrechenden plane­tarischen Zeitalter nichts wissen? Bleibt das auf Erfolg gerichtete Zeitalter diesem scheiternden Denkversuch verschlossen und fremd, oder sind es die Krise selbst, der Riß und die Entfremdung, weld1e diese Epoche bewohnen, die hier zur Sprache kommen?

Vor der eben angeführten Stelle über Hegel und Marx, deren Den­ken sich noch im Schatten des Wesens der Technik bewegen mußte, warnt Heidegger seiLle Hörer und Leser. Er warnt vor jenem Miß­verständnis, welches das Gesagte und Gehörte rasch uminterpretiert. Wenn Heidegger spricht, spricht er oft von Hirten, Bauern und von li.ckern, von Feldwegen und von Holzwegen, von Bäumen und von Bergen. Dies alles klingt agrarisch, bauernhaft. Der schwarze Wald scheint ein dunkles Gebirge zu sein, das die helle Sicht der Entfaltung des Modernen verbinden. In der Vorlesung >Was heißt Denken?<, in der er vom Wesen der Technik und vom Denken als ausgezeichnetem Handwerk zu sprechen versucht, wählt er als Beispiel das Schreiner­handwerk des Dorfschreiners. Er wählt dieses Beispiel. Sicher. Aber er warnt: "Das Schreinerhandwerk wurde als Beispiel gewählt und dabei wurde vorausgesetzt, daß niemand auf die Meinung verfalle, durch die Wahl dieses Beispiels solle die Erwartung bekundet sein, der Zustand unseres Planeten lasse sich in absehbarer Zeit oder über­haupt je wieder in eine Dorfidylle verwandeln." (S. 53 -54). Also handelt es sidl nicht darum, zu erwarten, daß der Zustand des Erd­balles sich je wieder in eine Dorfidylle verwandle.

Marx spricht ganz ausdrücklich von der Entäußerung, der Ver­äußerung, der Vergegenständlichung, der Entfremdung des modernen

10

Menschen. Heidegger spricht von der Vergegenständlichung alles Sei­enden durch den Willen der Subjektivität, von der Heimatlosigkeit des neuzeitlichen Menschen, von der Seinsverlassenheit, der Seins­vergessenheit. Marx sagt, daß die technische Arbeit zur Verleugnung des Menschen führt und nicht nur den Menschen von seinem Wesen, sondern auch die Sachen von ihrem Wesen entfremdet. Vom Men­schen wird gesagt: "daß seine Lebensäußerung seine Lebensentäuße­rung ist, seine Verwirklichung seine Entwirklichung, eine fremde

Wirklichkeit."S Was sich entfremdet, das sind die Wesenskräfte des Menschen, "das ontologische Wesen der menschlichen Leidenscbaft",9 " ... da alle menschliche Tätigkeit bisher Arbeit, also Industrie, sidl selbst entfremdete Tätigkeit war - haben wir unter der Form sinnlid1er, fremder, nützlicher Gegenstände, unter der Form der Ent­fremdung die vergegenständlichten Wesenskräfte des Menschen vor uns. "10 Marx' Stimm!Jng ist nicht diejenige der Sehnsucht; Marx ver­langt keinen Rückgang - "der Humanismus von Marx bedarf keines Rückgangs zur Antike", lesen wir im Humanismus-Brief (S. u) -,er erwartet noch weniger, daß die Weltgeschichte in eine Dorfidylle umschlägt. Trotzdem - oder deswegen - kann aber Marx schreiben: "Die Lichtwohnung (das Wort Licht von Marx selbst hervorgehoben], welche Prometheus bei Aesd1ylus als eines der großen Geschenke, wodurch er den Wilden zum Menschen gemacht, bezeichnet, hört auf für den Arbeiter zu sein. "11 Alle Menschen sind zu Arbeitern gewor­den, und was Marx sieht und sagt, betrifft nicht nur den Industrie­arbeiter: "Der Wilde in seiner Höhle - diesem unbefangen sich zum Genuß und Schutz darbietenden Naturelement - fühlt sidl nicht frem­der, oder fühlt sich vielmehr so heimisch, als der Fisch im Wasser. Aber die Kellerwohnung des Armen ist eine feindlid1e, als fremde Macht an sich haltende Wohnung, die sich ihm nur hingibt, sofern er seinen Blutschweiß ihr hingibt, die er nicht als seine Heimat, - wo er end­lich sagen könnte, hier bin ich zu Hause - betrachten darf, wo er sich vielmehr in dem Haus eines anderen, in einem fremden Hause be-

s .Nationalökonomie und Phil osophie<, in: >Die Frühschriften<, Kröner, Stuttgan 1953, S. 239.

9 •Nationalökonomie und Philosophie<, S. 296. 10 •Nationalökonomie und Philosophie<, S. 244· H •Nationalökonomie und Philosophie<, S. 256.

ll

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findet . . . "12 Die Dinge selbst, indem sie in den Bereich der Vergegen­ständlichung und der Verdinglidlllng gerissen werden, verlieren ihr Wesen: "Das Privateigentum entfremdet nicht nur die Individualität der Menschen, sondern auch die der Dinge. Der Grund und Boden hat nichts mit der Grundrente, die Maschine nichts mit dem Profit zu tun." So verstand sidt der Stifter des Marxismus auszusprechen.13

Und was sagt Heidegger? Er sagt: "Der Untergang [der Wahrheit des Seienden) vollzieht sich zumal durch den Einsturz der von der Metaphysik geprägten Welt und durch die aus der Metaphysik stam­mende Verwüstung der Erde. Einsturz und Verwüstung finden den gemäßen Vollzug darin, daß der Mensch der Metaphysik, das animal rationale, zum arbeitenden Tier fest-gestellt wird. "14 Heidegger sagt: Die Arbeit ,.gelangt jetzt in den metaphysischen Rang der unbeding­ten Vergegenständlichung alles Anwesenden, das im Willen zum Wil­len west." 1•

li

Die angeführten Stellen aus Marx' und Heideggers Sdlriften sind keine einfachen Zitate, die etwas beweisen sollen. Sie wollen gar nidn beweisen - und sie wollen überhaupt nichts beweisen -, daß Marx und Heidegger das Gleiche nennen. Sie können höchstens auf das hinweisen, was Marx und Heidcgger - in verschiedener Art - als das Selbe zu bedenken versudlen: im Zusammenhalten des Ausein­anderhaltcns. Der Einwand, den man gegen diese Zusammenstellung erheben kann, ist richtig. Der Einwand lautet: Marx denkt "ontisch" und logisch-dialektisch, das heißt historisch-geschichtlich, soziologisch, ökonomisch, anthropologisch, politisch; es geht bei ihm um die Er­fahrung, die wirkliche Erkenntnis und das Anerkennen der wirklichen, realen, realistischen, praktischen, gegenständlichen, objektiven, sinn­lich erfaßbaren Zustände der modernen Welt, u m sie wirklich, real, realistisd1, praktisch, gegenständlich, objektiv, sinnlich und sinnhaft zu verändern, durch die wahre Anerkennung des natürlichen, gesell­schaftlichen Menschen, welche zur tatsädllidlen Befriedigung seiner

1! >Nationalökonomie und Philosophie•, S. 166. n >Die deutsche Ideologie< (t845/46), Berlin 1953, S. 234· H >Vorträge und Aufsätze<: >Überwindung der Metaphysik•, Pfullingen

1954· s. 72· n >Vorträge und Aufsätze<: >Überwindung der Metaphysik<, S. 72.

12

elementaren Bedürfnisse führen soll. Heidegger dagegen.denkt "onto­logisch-metaphysisch" und spekulativ, das heißt seins- und welt­geschichtlich, er befragt den Unterschied, die Zwiefalt von Sein und Seiendem; es geht bei ihm um das Denken des Seins, des Seins, da.s in der Seinsvergessenheit ruht, der Welt, die zu einer Umwelt geworden ist, und er versucht fragend die Metaphysik als Geschichte der Seins­vergessenheit zu überwinden, um einen neuen Horizont der sieb ent­ziehenden Lichtung der Welt zu eröffnen.

Dies alles ist richtig. Marx und Heidegger sagen keineswegs das Gleiche, ihr Denken bewegt sich innerhalb des "Selben". Diese Selbig­keit umschließt sie beide. Beide stehen auf dem bodenlosen Boden der neuzeitlichen Geschichte, der Epoche der Subjektivität; beide wagen den Versuch, die Philosophie z u überwinden; beide kämpfen um ein neues Seinsverständnis. Marx vollzieht den Unterschied zwi­schen Sein und Seiendem nicht; vielleicht nimmt aber Heidcgger sei­nerseits gewisse wichtige Gesichter des Seienden nidtt in den Blick.

Man könnte auch gegen die Zusammenstellung von Marx und Heidegger innerhalb einer weltlosen Welt erwidern, daß weder Marx noch Heidegger tiefe und bedeutende Denker sind, die von der Welt etwas zu sagen vermöchten. In welchen Denkens Namen aber könnte das Denken dieser beiden Denker abgeschätzt werden? Letzthin könnte man auch noch etwas Zweifaches meinen: daß Marx der grö­ßere von beiden ist, Heidegger in seinem Denken einschließend, so daß nur eine Marxsche - oder sogar marxistisd1e - Interpretation Heideg­gers übrig bliebe. Das Heideggersdle Denken würde so vom Marx­sdten Licht erhellbar und erklärbar sein. Umgekehrt könnte man der Meinung sein, daß Heidegger Marx umgreift, daß sich Marx - und der Marxismus-innerhalb des Heideggerschen Denkens völlig und be­friedigend einordnen läßt, grob gesagt, daß Heidegger Marx aufhebt, indem er weitergeht und höher schaut. Die doxographisch gesinnte Historie der Philosophie, die Philosophiewissensdlaft, die Schulphilo­sophie, die Kulturphilosophie und Kultursoziologie verfahren gerne in dieser Weise. Bei ihnen geht es nicht um die "Wahrheit", sondern nur um die "Meinungen", die sieb vom eingleisigen Denken einord­nen lassen. Daß kein großer Denker einen anderen großen Denker aufhebt., daß die Wahrheit des Denkens und das Denken der Wahr­heit mehrdimensional ist und bleibt, daß sich die Offenheit der Welt '

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von keinem Denken - sei es riesig groß - endgültig erfassen läßt, wol­len die Historiker, die Ideologen, die orihodoxen oder heterodoxen Anhänger oder Bekämpfer der -ismen, die Professoren und die Jour­nalisten gar nicht wissen. Die höhere Mehrdeutigkeit geht sie nicht an.

Man will überhaupt wenig wissen, d. h. denken, wie es mit dem Denken und dem Sein steht; man will hauptsächlich wissenschaftliche Auslegungen. Das Denken und das Sein? Das Sein und das Denken? Im Horizont der Zeit? "Denken und Sein sind also zwar unter­

schieden [vom Autor selbst hervorgehoben] aber zugleich in Ein­

heit miteinander". Wer hat diesen Satz ausgesprochen? Marx oder Heidegger? Ist er marxistisch, ist er heideggerisch? Steht er im Pariser Manuskript Marx' oder in Heideggers Brief an seinen Pariser Freund?

Es wäre nötig, um Marx und Heidegger wirklich und wahrhaft zu verstehen, das Ganze der Geschichte der Philosophie metaphysisch und zugleich metaphilosophisch in den Blick zu fassen. Die Vorsokratiker stehen im Hintergrund, und Marx wie Heidegger berufen sich auf die Denker des frühen Griechentums. Plato und Aristoteles sind für den einen der }\.nfang der systematisierten ideologischen Entfremdung, für den anderen der philosophisch-metaphysisch denkende Ansatz der Seinsvergessenheit. Das Christentum und seine zwei Welten, der Machtanspruch des Christentums, werden vom einen wie vom ande­ren - muß man immer flach wiederholen: in verschiedener Weise? -ernst genommen. Die Philosophie des deutschen Idealismus und seine Vollendung bei Hegel, dem letzten Philosophen, Hegels Denken selbst sind der Ausgangspunkt von Marx. Mit Hege! geht eine große Epoche zu Ende, und eine verwickelte Geschichte fängt an. Der Zusammen­bruch des deutschen Idealismus und der Romantik läßt den Riß der Welt in Erscheinung treten. "Die Diremption der Welt ist nicht kausal, wenn ihre Seiten Totalitären sind. Die Welt ist also eine zerrissene, die einer in sich totalen Philosophie gegenübertritt. Die Erscheinung der Tätigkeit dieser Philosophie ist dadurch auch eine zerrissene und widersprechende; ihre objektive Allgemeinheit kehrt sich um in sub­jektive Formen des einzelnen Bewußtseins, in denen sie lebendig ist. Gemeine Harfen klingen unter jeder Hand; Aeolsharfen nur, wenn der Sturm sie schlägt. Man darf sich aber durch diesen Sturm nicht irren lassen, der einem großen, einer Weltphilosophie folgt", schreibt der ganz junge Marx in seiner Doktordissertation über die >Differenz

der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie<.16 Stürmt aber nach Hegel ein neues Denke11 heran? Wie schon gesagt wurde, setzt eine ausreichende Marx-Interpretation eine Hegel-Auslegung voraus. Eine solche besitzen wir immer noch nicht. Wie sich Marx zu Hegel verhält; ist gar nicht so einfach, wie es scheinen könnte. Marx stellt nicht in sonnenklarer Weise die Hegeische Dialektik auf die Füße. Und was macht er aus dem Kopf dieser Dialektik? Geht Marx über die Kamische und die Hegeische Fragestellung nur hinaus? Fällt er nicht auch hinter sie zurück? Als Drehpunkt ersd1eint die Grund­einstellung Marx': er will nicht mehr spekulativ und metaphysisch denken, weil dieses Denken der Entfremdung verhaftet ist; el' will praktisch erfassen und praktisch verwandeln. Was geschieht aber in diesem Wandel?

Es ist kein unmittelbarer ·geschichtlicher Sprung, der von Hegel und Marx zu Heidegger führt. Kierkegaard und Nietzscbe treten auch auf den Plan. Kierkegaard fühlt sich seinerseits als ein Gegner Hegels; er kämpft um die Ausnahme, um die Existenz, um den (verlorenen) Bezug zu Gott; is't er nur oder hauptsächlich ein "religiöser Schrift­steller", wie er von Heidegger einmal genannt '\\'-ird? Nietzsche ist das noch immer bestehende Rätsel: der Blitz, der alles und den ihn Erblickenden zerschlägt. Nietzsches Denken, seine Worte und seine Gedanken bleiben rätselhaft; die Wörter "Rätsel" und "rätselhaft" sollen hier nicht dazu dienen, das Geheimnis zu beschwören: sie sagen nur, was noch nicht gesagt werden kann. Denn was sollen wir, dürfen wir und können wir sagen? Gott ist tot. Der Wille zur Macht herrscht. Der Nihilismus fängt an zu herrschen in der wachsenden Wüste. Der Übermensch ist noch nicht da. Keiner erfährt die Unschuld des Wer­dens. Die ewige Wiederkunft des Gleichen versteckt sich und wird verstellt. Die übersinnliche, metaphysisch-theologische sinnspendende göttliche Wahrheit, der Gott als Figur (Gestalt) der Gottheit, die Ganzheit des Göttlichen wesen nicht mehr. Gott ist ermordet worden. Vom Menschen? Vom Menschen als Machthaber des Willens zur Macht? Vom Menschen, der den Machtwillen über den ganzen Planeten erstrecken will? Ist die Zeit des Nihilismus der Zeitraum des Welt­spiels, das den Erdball - den Irrstern - ins Irrende wandernd hinein-

J6 (r84o/4r), in: >Die Frübschriften<, S. 13.

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reißt? Versteckt sich jenseits von Gut und Böse, weder sinnhaft noch sinnlos, im Nihilismus die irrende "Wahrheit" selbst, das ins Werden hineingerissene "Sein", vielleicht sogar die "göttliche Irre", von der Sokrates spielend etwas zu sagen vermochte? Besinnen wir uns des heraklitisch-platonischen >Kratylos< (42 x b ), wo die Wahrheit,&A+,&e�.a.,

als&X'l) &e!«, göttlich e Irre, sokratisch-ironisch, heraklitisch aber sophi­stisch, irreführend und doch wahrhaftig - für einen Moment nur als solche - interpretiert wird. Vernichtet das im Nihilismus selbst ver­nichtete Nichts das Sein und seine Wahrheit, das Seiende und dessen Sinn? Eröffnet der Nihilismus einen neuen planetarischen Zeit- und Spiel-Raum, für den der Obermensch fehlt? Die Erlösung von der Rache, der vollzogene und überwundene Nihilismus, die aufgehobene Gleichgültigkeit und Indifferenz, werden sie eine Welt, ein unschul­diges Werden, werden und weiten lassen? Ein Werden, welches nicht mehr dem Sein gegenübersteht? Von der ewigen Wiederkunft des Gleichen sehen wir hauptsächlich, was sie verstellt: die Rotationsbewe­gung der Technik, den Kreislauf des Erdballs, die planetarischen Ringe und das weltgeschichtliche Ringen. In allen diesen Kreisen bleibt die ewige Wiederkunft des Gleichen (welches Gleichen?) ver­steckt, und das Ewige bildet eine Maske der Zeit.

Warum haben wir diese Fragen aus Nietzsches Denken zu wieder­holen versucht? Was hat das mit Hege! und Marx zu tun? Inwiefern betrifft es - o.der betrifft es nicht- Marx und Heidegger? Hege!, Marx, Nietzsche, Heidegger . . . Vier Namen, vier Denker; vier Denker, die, jeder in einem anderen Schritt, auf demselben Wege gehen und fallen.

III

Marx beschreibt die "Weltordnung" der Veräußerung, der Entäuße­rung, der Fremdheit und der Entfremdung. Ein neues Schicksal kann aber die Welt befeuern und innerhalb des Geschehens die Welt­geschichte erst entstehen lassen. Diese notwendige Möglichkeit heißt: Aufhebung der Entfremdung, "vollständige, bewußte und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordenen Rück­kehr des Menschen für sieb" ,11 "wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlid1uug und Selbstbestä-

17 >Nationalökonomie und Philosophie<, S . .1.35·

1 6

tigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit. "18 Dieser Rückgang in das noch nie verwirklichte Wesen des Menschen und der Weltgeschichte ist ein Sprung in die Richtung der Zukunft und bedeutet die Ent­fesselung der Technik und der Produktivität. Die "Resurrexion der Natur", von der Marx spricht, heißt zugleich und zuerst "durchgeführ­ter Humanismus der Natur", praktische Aneignung des Naturseins vom gesellschaftlichen Menschensein. Marx weiß manchmal auch, daß sich das Wesen des Kommunismus nicht verwirklichen kann, daß keine wahre Auflösung des Streites stattfinden muß. Er spricht von der "Voraussetzung" des Sozialismus-Kommunismus und schreibt sogar auf einer stark eingerissenen und schwer leserlichen Seite des Pariser Manuskriptes: "Wenn wir den Kommunismus selbst noch -weil als Negation der Negation, als die Aneignung des menschlichen Wesens, die sich mit sich durch Negation des Privateigentums vermit­telt, daher noch nicht als die wahre [von Marx hervorgehoben], von sich selbst, sondern vielmehr vom Privateigentum aus beginnende Position - bezeichnen" (S. 264), dann muß das heißen, daß die Ent­fremdung nicht wirklich aufgehoben wird. Trotzdem muß der Weg der Aufhebung des Privateigentums gegangen werden. Die Aktion muß durchgeführt werden. "Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirk­lichkeit sich zu richten habe. Wir nennen Kommunismus die wirk­

liche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingun­gen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraus­setzung", lautet eine Stelle aus einer anderen, ebenfalls von Marx nicht selbst veröffentlichten Schrift.19 Die Aktion, die den Kommunismus vollbringt, ist keine endgültige: der Kommunismus ist "das wirkliche,

für die nächste geschichtliche Entwidcl.ung notwendige Moment der menschlichen Emanzipation und Wiedergewinnung. Der Kommunis­mus ist die notwendige Gestalt und das energische Prinzip der nächsten Zukunft, aber der Kommunismus ist nicht als solcher das Ziel der menschlichen Entwicklung, - die Gestalt der menschlichen Gesell­schaft. "20 Der Kommunismus - falls er sich seinem Wesen nach ver­wirklicht oder sogar: nach seiner empirischen Verwirklichung, d. h.

18 >Nationalökonomie und Philosophie<, S. 235· 1e >Die deutsche Ideologie<, S. 32· 2o >Nationalökonomie und Philosophie<, S. 248.

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seiner "unreinen" und rauben Realisierung - wird selbst überwunden werden. Die Handlung und die Bewegung, der Prozeß der Aktion, die zu ihm führen, um ihn durchzuführen, werden ihrerseits aufgeho­ben werden. "Die Geschichte wird sie bringen [diese Aktion] und jene Bewegung, die wir in Gedanken schon als eine sich selbst auf­hebende wissen, wird in der Wirklichkeit einen sehr rauben und weit­läufigen Prozeß durchmachen. Als einen wirklichen Fortschritt müssen wir es aber betrachten, daß wir von vorn herein sowohl von der Be­schränktheit als dem Ziel der geschichtlichen Bewegung, und ein sie überbietendes Bewußtsein erworben haben. "21 Also sprach der Stifter des Marxismus, vor dem Ins-Werk-setzen des Kommunismus, vom aufgehobenen Sozialisierungsprozeß; was im Denken schon aufgehoben ist, kann aber nur innerhalb der Bewegung seiner Verwirklichung (die zugleich eine Entwirklichung ist) überwunden und aufgehoben werden. Es ist nicht nur der junge Marx, der so denkt. Der junge Marx läßt sich vom reifen und alten ebensowenig trennen wie der frühe Heidegger vom späteren, obwohl es eine Brücke gibt, die vom früheren Denken zum späteren führt. Das Denken des gereiften Denkers kann noch anfänglicher und ursprünglic.�er sein oder auch in festere Bahnen

geleiten - hinsichtlich der ersten Entfaltung. Jedenfalls schreibt im >Vorwort< zum ersten Bande des >Kapital< (1867) der älter gewordene Marx, was schon der jüngere gesagt hatte: "Neben den modernen Not­ständen drückt uns eine ganze Reihe vererbter Notstände, entsprin­gend aus der Fortvegetation altertümlicher, überlebter Produktions­weisen mit ihrem Gefolg von zeitwidrigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. Wir leiden nicht nur von den Lebenden,

sondern auch von den Toten. Le mort saisit le vi/!"'22 Das Tote (le mort), das das Lebendige (le vif) ergreift, ist nicht nur wirtschaft­licher, politischer und gesellschaftlicher Art.

Die Weltordnung, die die Welt als Welt in Ordnung bringen würde, scheint nicht für morgen zu sein. Vielleicht kann sogar die Welt nicht durch ein Ordnen in Ordnung gebracht werden. Vielleicht handelt es sich nicht mehr um Ordnungen. "Der Mensch versucht vergeblich, durch sein Planen den Erdball in eine Ordnung zu bringen", sagt

21 >Nationalökonomie und Philosophie<, S. z65. 22 >Das Kapital<, Band I, Berlin 1955, S. 7·

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Heidegger, auf dem Feldweg gehend23 und sich auf die Holzwege wagend. "Weltentzug und Weltzerfall sind nie mehr rückgängig zu machen", schreibt er in den >Holzwegen<.24 Also was denken und was tun? Vorwärts schreiten? Wohin? Wozu? Ein neues Wachstum vor­bereiten und schon p�egen? "Weil die Wirklichkeit in der Gleich­förmigkeit der planbaren Rechnung besteht, muß auch der Mensch in die Einförmigkeit eingehen, um dem Wirklichen gewachsen zu blei­ben"; so lautet ein Satz aus jenem Denkversuch, welcher der >Über­windung der Metaphysik< gewidmet ist, d. h. der Überwindung der Philosophie als "Entsprechen, das den Zuspruch des Seins des Seienden zur Sprache bringt" ,26 - ein Entsprechen, das die Wahrheit des Seins als Sein in der Seinsvergessenheit ruhen läßt. Marx - obwohl in einem anderen Sinne - zielte auch auf die Aufhebung der Philosophie, und Nietzsche bat dazu einen mächtigen Beitrag geleistet. Ist es so wichtig, die Unterschiede zu unterstreichen? Besteh�n noch Unterschiede? Die Seinsvergessenheit vergißt den Unterschied - die Differenz -, die zwi­schen Sein und Seiendem waltet. Wird aber nicht heute alles unter­schiedslos im höchsten Sinne, indifferent, gleid1gültig? Die "Umer­schiedlosigkeit bezeugt den bereits gesicherten Bestand der Unweit der Seinsverlassenheit. Die Erde erscheint als die Unweit der Irrnis. Sie ist seynsgeschichtlich der Irrstern".26 Die Irre selbst, die tief ursprünglicher als die Irrnis ist, verlangt dennoch erfahren und vom Denken aufgenommen zu werden. Die Philosophie, als Metaphysik, vermochte nicht, die Irre wahrhaftig zu denken; die in der planetari­schen Technik sich vollendende Metaphysik, kann sie noch für ein Verständnis der Irre eine Beihilfe leisten? Wenn aber schon die triumphierende Metaphysik dies nicht vermochte, wie kann die Philoso­phie, die sich schon vollendet hat, das "Wesen" der Irre erörtern? Wird es einem künftigen Denken gegeben sein, die "Wahrheit" als "Irre" und die "Irre" als "Wahrheit" - keineswegs aber in dieser Trennung

- zu erfahren? Es scheint, als wäre es vorerst notwendig, die Irrnis -

das weltgeschichtliche Geschids. des Irrsterns - zu bedenken. Die pla­netarische Denkweise, der dieses gefährliche Geschenk aufgegeben ist,

23 >Der Feldweg<, Frankfurt a. M. 1953, S. 4· 24 >Der Ursprung des Kunstwerkes<, Frankfurt a. M. 1950, S. 30. 25 >Was ist das - die Philosophie?<, S. 46. 26 >Vorträge und Aufsätze<: >Überwindung der Metaphysik<, S. 97·

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bleibt aber noch diesseits des künftigen planetarischen Denkens. Der planetarische Horizont hat sich noch nicht eröffnet. Kehren wir noch einmal zum Denkversuch Heideggers, der auf die Oberwindung der Metaphysik weist, zurück, um es nachher wagen zu dürfen, weiter zu schreiten; da steht: "Die vollendete Metaphysik, die der Grund der planetarischen Denkweise ist, gibt das Gerüst für eine vermutlich lange dauernde Ordnung der Erde. Die Ordnung bedarf der Philosophie nicht mehr, weil sie ihr schon zugrunde liegt. Aber mit dem Ende der Philosophie ist nicht auch schon das Denken am Ende, sondern im Übergang zu einem anderen Anfang. "27 Planetarische Denkweise be­deutet noch lange nicht eigens vollzogenes planetarisches Denken. Die planetarische Denkweise verallgemeinert auf der ganzen Erdober­fläche wissenschaftlich-philosophisch, ideologisch-metaphysisch, anthro­pologisch-psychologisch, uni versalhistorisch-soziologisch, literarisch und ästhetisch die gesamte His�orie der Metaphysik und deren Denkweise. Die planetarische Denkweise gehört notwendig zur planetarischen Technik, und beide vereinigt sind an das Werden des Irrsternes gebun­den. Das planetarisd1e Denken nun, falls es sim so benennen läßt, erfährt seins- und welt-gesmimtlich die Irre, deutet als Denken auf einen neuen Anfang, ist zukünftig. Indem Marx und Heidegger die Weltgeschichte von dem Druck der bloßen Vergangenheit zu befreien versuchen, um die Zeit als Gewesenheit, Anwesen und hauptsächlim als Zukunft zeitigen und weiten zu lassen, führen sie vielleicht in die­ses künftige planetarische Denken ein. Die "Destruktion", die sie frag­mentarisch vollbringen, ist die Destruktion der entäußerten Produk­tion des Lebens und des ideologischen Überbaus, die Destruktion des in der Seinsvergessenheit verhaftenden Seinsverständnisses der Meta­

physik. Beide wissen, daß Welt und Mensch (Sein und Dasein), so wie sie

sind, gleichfalls nichts sind; was sie suchen, das ist alles - das Eins­Alles. Natürlich, d. h. geschichtlich, irren sie auch beide. Vielleicht aber nicht genug. >Aus der Erfahrung des Denkens< einen Hinweis gebend, schreibt Heidegger: "Wer groß denkt, muß groß irren" .2s

Dieses Irren soll jedoch nicht so irrig und platt mißverstanden wer-

27 >Vorträge und Aufsätze<, S. 83. 28 Pfullingen 1954, S. 17.

20

den. Marx und Heidegger sind unterwegs, die Logik Und die Ratio aus den Angeln zu heben. Marx unternimmt keineswegs im Namen der "Vernunft" den Versuch, die Verwandlung und die "Umwand­lung der Geschichte in Weltgeschichte"29 zu erfassen. Er strebt sogar nicht einmal nach einer dialektischen Logik, geschweige denn, daß er jemals vom "dialektischen Materialismus" gesprochen hätte. So wenig aber wie Heidegger fordert er die Unvernunft, den Irrationalismus.

Wenn dieser zu sagen wagt: "Das Denken beginnt erst dann, wenn wir erfahren haben, daß die seit Jahrhunderten verherrlichte Vernunft die hartnäckigste Widersamerio des Denkens ist", dann irrt er nicht bloß herum auf den H olzwegen;30 er gibt sich denkend die Mühe, in vorläufiger Weise, den Weg des zukünftigen planetarischen Denkeos vorzubereiten, des irrend-denkenden Sprechens, das eine fragende Antwort auf den Zuspruch des weltgeschichtlimen planetarischen

Schicksals zu entfalten versucht und in der Offenheit verbleibt, ohne je zu erstarren oder sich zu versteifen. st

IV

Wer von uns weiß nicht, daß es bei Marx um die Praxis geht, um die "praktische, menschlich-sinnliche Tätigkeit" ,32 daß es darauf ankommt, die Welt praktisch und revolutionär zu verändern, an­

statt sie nur philosophisch und theoretism versmieden zu inter­pretieren.ss Alles, das Ganze des Seienden, soll in den Kreis der mensdtlichen produktiven Praxis treten und von dieser hervorgebradtt

u ·Die deutsche Ideologie<, S. 44· 30 s. 247· 31 Als im August des Jahres 195 5 in Cerisy-la-Salle (Normandie) unter der

Leitung Heideggers eine Tagung stattfand, brach, nachdem der Vortrag >Was ist das - die Philosophie?< (Qu�est-ce que Ia philosophie?) gehalten war, eine heftige und verwirrte Diskussion aus. Jeder wollte endlich wis­sen, wie es mit dem Heideggerschen Denken stehe. Am Ende der Diskus­sion des ersten Tages schloß Heidegger die Sitzung mit folgenden Worten des Malers Georges Braque : Les preuves fatiguent Ia verite. Und nach sieben Tagen Diskussion, am Ende der Sitzung, schloß Heidegger wieder mit einem ausgezeichneten Gedanken von Braque: Penser et raisonner font deux. Eine andere Aufzeichnung von Bra�ue zeigt auf das Selbe; sie lautet: L'erreur n'est pas le COntraire de Ia verite.

3! >Thesen über Feuerbach<, 8. 33 >Thesen über Feuerbach<, r I.

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werden; sicher: das All soll sich "in der menschlichen Praxis" abspie­geln und durch sie seine Gestalten finden; doch Marx fügt hinzu: "und in dem Begreifen dieser Praxis" ;33a das denkende Begreifen der ein­greifenden Praxis tritt so auch auf den Plan, obwohl als zweitrangige Macht und Machenschaft. Dagegen - was. heißt aber dagegen, wenn Heidegger selbst uns aufmerksam madu: "Gäbe es im Denken schon Widersacher und nicht bloße Gegner, dann stünde es um die Sache des Denkens günstiger"34 - verlangt nicht derselbe Heidegger, daß wir uns frei machen von der technischen Interpretation des Denkens? "Deren Anfänge reichen bis zu Plato und Aristoteles zurück. Das Denken selbst gilt dort als eine Te)(V'l), das Verfahren des Übedegens im Dienste des Tuns und Machens. Das überlegen aber wird hier schon aus dem Hinblick auf ttpii�t� und !tO('l)ou; gesehen. Deshalb ist das Den­ken, wenn es für sieb genommen wird, nicht ,praktisch'. Die Kenn­zeichnung des Denkens als &e:wpl« und die Bestimmung des Erkennens als des ,theoretischen' Verhaltens geschieht schon innerhalb der tech-. ' mschen' Auslegung des Dcnkens. Sie ist ein reaktiver Versuch, auch das Denken noch in eine Eigenständigkeit gegenüber dem Handeln und Tun zu retten. "35 Heißt dies aber, daß das Denken kein Tun ist, oder falls es ein eigentümliches Tun wäre - oder werden könnte -, kein begriffliches Denken mehr ist? Es fällt uns schwer, zu verstehen, wie ein in die Wahrheit des Seins (Den "Siim" des "Seins") vor­zudenken versud1endes Denken zugleich alles theoretische Betrachten und Wissen und alles praktische Handeln und Herstellen übertrifft. "So ist das Denken ein Tun. Aber ein Tun, das zugleich alle Praxis übertrifft. "38 Können wir uns nicht auf den Weg machen, von einem Denken beflügelt, das weder theoretisch noch praktisch ist - d. h. ursprünglicher als diese Unterscheidung -, bedenkend, ,.daß es ein Denken gibt, das strenger ist als das begriffliche" ?37 Ist es uns wirklich unmöglich, uns vom instrumentalen Gebrauch des "Denkens", vom Schul- und Kulturbetrieb des Denkens frei zu madlen, und uns an das Bedenklichste zu binden?

33a.,Thesen über Feuerbad1<, 8. 34 >Aus der Erfahrung des Denken I<, S. 9· a.s •Ober den Humanismus<, S. 6. 36 >Ober den Humanismus<, S. 45· 37 >Über den Humanismus<, S. 41.

2.2.

Wenn Sartre seinen Existentialismus als Humanismus· definiert und

ihn mit dem Marxismus in Verbindung bringt (innerhalb des Reichs

der -ismen), sieht er zugleich die Existenz ganz wurzellos und eng, die

Mensduimkeit des Mensd1en zu anthropologisch, und geht am Wesen

des Marxismus vorbei. Er kann nicht mit dem Marxismus ins Gespräch

kommen, weil er m versmiedeneo pro und COntra befangen bleibt,

sich nur mit Einzelheiten beschäftigt und nicht das Ganze ins Auge

zu fassen vermag. Deswegen schreibt Heidegger an Jean Beaufret,

gewisse Worte Sartres gebrauchend: "Das Denken ist nicht nur l'enga­

gement dans l'action für und durch das Seiende im Sinne des Wirk­

lichen der gegenwärtigen Situation. Das Denken ist l'engagement

durch und für die Wahrheit des Seins. Dessen Geschid1te ist nie ver­

gangen, sie steht immer bevor. Die Geschidlte des Seins trägt und

bestimmt jede condition et Situation humaine. "38 Es geht also um das Geschick., unser Geschick, die Geschichte des

Seins, die Weltgesdlichte (und nicht die Universalhistorie). Wer von

uns weiß nicht, daß für Marx die Welt, die wahre, die wirkliche, die

bewirkte Welt, als "die sinnliche Welt als die gesamte lebendige sinn­

liche Tätigkeit der sie ausmacl1enden Individuen" aufzufassen ist?89

Das übersinnliche gehört dem Oberbau und wird durch die religiös­

ideologische Entfremdung bestimmt, ist eine "ideelle Ergänzung" der

reellen Welt. Heidegger weiß es auch, er kann es sogar sagen: "Das

übersinnliche wird zu einem bestandlosen Produkt des Sinnlichen. "'0 Diese "Absetzung endet im Sinn losen. "41 Die übersinnliche Welt ist

aber die metaphysische; "Wenn jedoch das Wesen des Nihilismus in

der Geschimte beruht, daß im Erscheinen des Seienden als soldlen im

Ganzen die Wahrheit des Seins ausbleibt, und es demgemäß mit dem

Sein selbst und seiner Wahrheit nichts ist, dann ist die Metaphysik

als die Geschichte der Wahrheit des Seienden als solchen in ihrem

Wesen Nihilismus. Ist vollends die Metaphysik der Gescbidltsgrund

der abendländischen und europäisch bestimmten Weltgeschidlte, dann

ist diese in einem ganz anderen Sinne nihilistisch."42 Der Nihilismus als

38 , Ober den Humanismus•, S. 56. so >Die deutsche Ideologie<, S. 4z. 40 >Holzwege<: >Nietzsches Wort nGott ist rot"<, S. 193· 41 >Holzwege<: >Nietzsches Wort "Gott ist tot"•, S. 193· •� >Holz.wege<: >Nietz.sches Wort .,Gott ist tot"<, S. 244·

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Reich der Herrschaft des Willens zum Willen - Nietzsche sah schon: der Wille, "eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wol­len"" -, als Epoche der Technik (sie selbst als "die vollendete Meta­physik" verstanden) bildet vielleicht den Kern des Marxismus, seine treibende Wahrheit. Die vollendete und "überwundene" Metaphysik, die in die Technik umschlägt und so gewandelt und verwandelt "zurtickk.ehrt" und in der Herrschaft bleibt, fällt mit dem Nihilismus zusammen. "Der Nihilismus ist die weltgeschichtliche Bewegung der in den Machtbereich der Neuzeit gezogenen Völker der Erde. "43 Aber er ist nicht "nur" das. "Nihilismus bedeutet: es ist mit allem in jeder Hinsicht nichts. Alles, da.s meint das Seiende im Ganzen. In jeder seiner Hinsichten steht das Seiende aber, wenn es als das Seiende erfahren ist. Nihilismus bedeutet dann, daß es mit dem Seienden als solchem im Ganzen nichts ist. Aber das Seiende ist, was es ist und wie es ist, aus dem Sein. Gesetzt, daß am Sein alles ,ist' liegt, dann besteht das Wesen des Nihilismus darin, daß es mit dem Sein selbst nichts ist. Das Sein selbst ist das Sein in seiner Wahrheit, welche Wahrheit zum Sein gehört. "44 Ein Erfahren des Seins selbst - dessen Sinn und Wahrheit - hat es dennoch niemals gegeben. Auch nicht bei den vor­platonischen Denkern. "Die Geschichte des Seins beginnt und zwar notwendig mit der Vergessenheit des Seins."45 Diese selbst ist ein Ereignis - dennoch nicht das Ereignis - und kein bloßes Ver­säumnis; das Seinsgeschidt, in der Seinsvergessenheic, soll auch nicht einer geringeren Fähigkeit des menschlid1en Denkens zugerechnet wer­den. Das Sein selbst verbirgt sich, entzieht sich und bleibt abwesend. Die Absenz ist aber stets aus "einer Präsenz her und durch diese bestimmt" ,48 und die Präsenz selbst durchwaltet den überstieg, das Schwindende übersteigend. Das nichtende Nichts, das zum Sein ge­hörende NidltS - und nicht das nid1tige und bloß vernichtende und vernichtete Nichts-, "bestätigt [ . . . ] sich vielmehr als eine ausgezeich­nete Präsenz, verschleiert [ . . . ] sich als diese selbst. "47 Das Nichts -das nichtende, das sogar als das Andere zu allem Seienden, als das

43 >Holzwege< : >Nietzsches Wort .Gott ist tot"<, S. 101 - 10.2. 44 >Holzwege•, S . .245. 45 >Holzwege<, S . .243· 46 >Zur Seinsfragec, Frankfurt a. M. 1956, S. 32. 41 >Zur Seinsfrage<, S. 13.

Nicht-Seiende, "als das Sein" west18 - ist ursprünglicher als jene Ver­neinung und jedes Nicht. Das Nichts tut als Absenz der Präsenz (Anwesen) Abbruch, nichtet sie, aber vernichtet sie nicht. Die Ge­schichte ist und bleibt Geschichte der Seinsvergessenheit und mündet in der beginnenden planetarischen Vollendung des Nihilismus, mit der die Endphase des Nihilismus nur und erst beginnt. Das Sein selbst, seine Wahrheit und sein Sinn, das Seyn, ist immer vergessen geblieben. Das Sein des Seienden bleibt aus und wird sogar aktiv vernichtet in der sieb jetzt erst vollendenden - sich zu vollenden anfangenden -Seinsvergessenheit. Jetzt geht auch noch die Wahrheit des Seienden unter, und die von der Metaphysik geprägte Welt stürzt ein. "Unter­gang der Wahrheit des Seienden besagt: die Offenbarkeit des Seienden und nur des Seienden verliert die bisherige Einzigkeit ihres maß­gebenden Anspruchs. "49 Der Nihilismus nichtet und vernichtet das immer schon vergessene Sein, das durchgestrichene Sein, aber zugleich ,.das einsther ins ,Sein' verwandte Wesen des Nichts"50 und vollbringt

den Untergang der Wahrheit des Seienden. Der Nihilismus, der in der Irrnis waltet, ist jedoch nicht "unwahr", er ist keineswegs eine Ab­irrung. "Das Wesen des Nihilismus ist weder heilbar noch unheilbar. Es ist das Heil-lose, als dieses jedoch eine einzigartige Verweisung ins Heile."51 Jedenfalls kann der Nihilismus - "normaler Zustand" der Menschheit - nicht überwunden werden durch die ausschließlich "re­aktiven Versuche gegen den Nihilismus, die, statt auf eine Ausein­andersetzung mit seinem Wesen sich einzulassen, die Restauration des Bisherigen betreiben."52 Die Überwindung des Nihilismus kann doch nur nach seiner Verwirklichung, seiner Vollendung und dem Anfang seiner Endphase ins Spiel treten. Dieses Ende und der neue Anfang sind noch gar nicht sichtbar. Vielleicht sind wir noch weit entfernt von einer Erfahrung der Wahrheit des Nihilismus. Wahrheit des Nihilis­mus bedeutet hier: was dem \Vesen der Seinsvergessenheit, dem Welt­einsturz, dem Wesen der Technik und der Arbeit, der absoluten Pro­duktivität, dem Willen zum Willen entspricht. Im Nihilismus bleibt

48 >Was ist Metaphysik?•, Frankfurt a. M. S· Auflage 1949, S. 41. 4' >Vorträge und Aufsätze<: >Uberwindung der Metaphysik<, S. 71. 50 •Zur Seinsfragec, S. 29. st >Zur Seinsfrage•, S. 9· 62 ·Zur Seinsfragec, S. 1 3 .

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nicht nur das Sein des Seienden aus, das durchgekreuzte Sein (das Sein als Sein, das Seyn, ruht von seiner Wesensherkunft in der Seinsver­gessenheit) ; es ist nicht nur nichts (im Sinne des nichtigen Nichts und des nichtenden seinsgehörigen Nichts) mit diesem Sein; das Nichts selber bleibt aus. Der Mensch als "Hirt des Seins" und "Platzhalter des Nichts" erfährt weder das Sein noch das Nichts, und diese Ver­borgenheit verbirgt sich selber, ohne auf das menschliche Tun und Las­sen sich zurückführen zu lassen. Vollendung und Oberwindung des Nihilismus könnten vielleicht - eher als das "Sein" - das Nichts (das weder einen Sinn besitzt noch sinnlos ist) auftreten lassen. Heidegger stellt so die Frage und versucht, ihr zu entsprechen: "Verschwindet mit der Vollendung oder wenigstens mit der Oberwindung des Nihilismus das Nichts? Vermutlich kommt es erst dann zu dieser Überwindung, wenn statt des Anscheins des nichtigen Nichts das einsther ins ,Sein' verwandte Wesen des Nichts ankommen und bei uns Sterblichen unterkommen kann. "58 Kann es also gewagt werden, den Spielraum des Nihilismus als einen dem Nichts vorbehaltenen Raum zu ver­stehen? Darf es gewagt werden, das Zeitspiel selbst als einen offenen Horizont zu erblicken, innerhalb dessen das weder sinnvolle noch sinnlose, weder übersinnliche noch sinnliche Nichts-Sein des Welt­Seins als Spiel seine Irr-Wahrheit planetarisd1 entfalten wird?

Heidegger fragt: "Wohin gehören Sein und Nichts, zwischen denen spielend [von mir hervorgehoben] der Nihilismus sein Wesen ent­faltet?"54 Wir wagen es, auf das Weltspiel des Nichts-Seins, in der Dimension der Oberwindung des Nihilismus, auf das Zeitspiel des wahrhaften Irrens hinzuweisen, als Möglichkeit einer ganz neuen Lichtung des Seins, als die Möglichkeit einer offenen Welr, die die Vollendung des Nihilismus überleben und überdauern wird. Das »Spiegel-Spiel der Welt", von dem Heidegger spricht, aus dem Dinge werden, anwesen, sich ereignen und dingen,ss könnte als Welt-Spiel dieser offene Zeitraum sein, wo sich Sein (sogar in seiner \Vahrheit) und Nichts aufgehoben haben. Die Erfahrung der Abwesenheit ist vielleicht die zukünftige Grunderfahrung. Diese neue Möglichkeit der Lichtung des Nid1tS-Seins, diese Möglichkeit eines neuen offenen

53 >Zur Scinsfragcc, S. z9. a• >Zur Seinsfragec, S. 32. •� •Vorträge und Aufsätze<: >Das Dinge, S. 180.

W eltseins, diese Mög lichkeit des Seinsverständnisses im Spiel ist vielleicht sdwn eine Notwendigkeit, entspridtt der Weltnot. Nachdem der Nihilismus nicht nur das Sein des Seienden, sondern soga.r das Seiende nichtig gemacht hat, wenn wir anfangen einzusehen, daß keine bisherige Entfaltung der Wahrheit und keine Offenbarkeit des Weltganzen wahr war und es auch nicht bleiben konnte, werden wir zugleich bereit sein, im Horizont des Weltspiels der Weltzeit, alles aufs Spielbrett zu setzen.

V

Unser Thema war und ist: Marx und Heidegger. Und wir gelangten zum Nihilismus. Warum gelangten wir zum Nihilismus? Wie kam der Nihilismus zu uns? Auf dem Wege von Marx, auf dem Wege von Heidegger? Oder ist der Nihilismus selbst der Hauptweg? Es könnte scheinen, als hätten wir Marx zugunsten Heideggers etwas vergessen.

. Ist dem aber so? Gehören nicht Veräußerung und Entäußerung; Ver­gegenständlichung und Entfremdung sowohl wie Seinsvergessenheit, Seinsver!assenheit, Heimatlosigkeit und unbedingte Vergegenständ­lichung alles Seienden in das Wesen des Nihilismus? Gehört nicht zugleich der praktische Versuch der Aufhebung der Entfremdung in das Wesen des Nihilismus, diesen sogar vollbringend und in seiner unbedingten "Wahrheit" erst herrschen lassend? Wußte schon Marx etwas davon, als er einsah, daß das Gegenteil seinem entgegengesetzten Teil verhaftet bleibt? "Die Aufhebung der Selbstentfremdung macht denselben Weg, wie die Selbstentfremdung."GG Dieser Gedanke kam zu Marx und steht vor uns.

Weder Heidegger noch dieser Beitrag versuchen im geringsten, das Denken Marx' abzuschätzen. Ist es nicht Heidegger, der die Seins­geschichte - der Wahrheit - in der Seinsvergessenheit andenkend zur Sprache kommen läßt? Das sich gebende und sich versagende, zum Geschick kommende Sein, ko=t es nicht vielfältig zum Scheinen? "Die absolute Metaphysik gehört mit ihren Umkehrungen durch Marx und Nietzsche in die Geschichte der Wahrheit des Seins. Was aus ihr stammt, läßt sich nicht durch Widerlegungen treffen oder gar besei­tigen. [ . . . ] Alles Widerlegen im Felde des wesentlichen Denkens ist

56 >Nationalökonomie und Philosophie<, S. 232.

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töricht. Der Streit zwischen den Denkern ist der ,liebende Streit' der Sache selbst", steht im Humanismus-Brief (S. 23-24). Marx kehrt

metaphysisch die Metaphysik um, bleibt also innerhalb des Bereichs der

Trennung: Sinnlichkeit-Übersinnliches; Marx übersteigt nicht die Vor­stellung der Subjektivität; er übersteigert sie sogar. Aber zugleich eröff­

net er einen anderen Raum. Es wäre nicht unrichtig zu sagen, daß sich bei Marx und Heidegger verschiedene Auslegungsrichtungen desselben

Sachverhalts geltend machen. Der Sachverhalt bleibt dennoch im Dunklen.

Das Gespräch Heidegger-Marx, falls es sich um ein solches handeln sollte, bedarf eines angemessenen Raumes und einer rechten Zeit.

Wenn wir dieses Gespräch in das Problem"Heidegger und der Marxis­

mus" hineinschieben sollen, dann läßt sid1 vielleicht kein Ausweg fin­

den, geschweige denn ein Weg, der zur Fragestellung der Frage führen

kann. Hcidegger sagt tatsächlich nichts vom Klassenkampf, vom

Proletariat, von der kapitalistismen Ausbeutung. Er sagt nichts dafür und nichts dagegen. Wie er auch nichts von der Sexualität und der Erotik sagt. Können wir sogar im >Wesen des Grundes< nicht lesen, hinsid1tlich der Neutralität des Daseins gegenüber der "Geschledlt­lichkeit": "Alle Wesenssätze einer ontologischen Analytik des Daseins im Mensd:ten nehmen dieses Seiende im vorhinein in dieser Neutrali­tät"?$7 Heidegger versud:tt auch, die sogenannte gesellschaftliche oder politische Neutralität zu durchdenken. Er weiß, daß die "private Existenz", die sid1 von der .,Diktatur der Öffentlichkeit" freihalten will, noch keineswegs mit dem "freien Menschsein" zusammenfällt. Ablegen und Sich-zurü<kziehen bleiben fest abhängig vom eigenwillig

Verneinten und nähren sim widerwillig, in der Knechtschaft, aus der Herrschaft. Weder im Ich noch im "Man" wurzelt das Ereignis der Begegnung im Zusammengehören - und nicht in der Verknüpfung -von Sein und Mensm . .,Soll aber der Mensch nom einmal in die Nähe des Seins finden, dann muß er zuvor lernen, im Namenlosen zu

existieren. Er muß in gleicher Weise sowohl die Verführung durch die Öffentlichkeit als auch die Ohnmacht des Privaten erkennen. Der Mensch muß, bevor er spricht, erst vom Sein sich wieder ansprechen lassen auf die Gefahr, daß er unter diesem Anspruch wenig oder selten

57 • Vom Wesen des Grundes< (1919), Frankfurt a. M. 4· Auflage 1955, S. 38.

etwas zu sagen hat. "58 Jenes .,noch einmal" und ., wieder" bedeuten keine bloße Rückkehr in die Vergangenheit, ebensowenig wie eine

ungeschimtliche Wiederholung, eine Repetition. Marx bezeichnet doch

auch den Weg der geschichtlichen Bewegung .,als Reintegration oder

Rückkehr des Menschen in sich. "59 Rückgang in den Ursprung, einen

niemals faktischen Ursprung, im Sinne einer ursprünglichen Situation,

die sich in irgendeiner Vergangenheit abgespielt hätte, heißt: Sprung

in die Zukunft. Für dieses Springen hat Heidegger oft nimt das Wort. In seinem Tun und Lassen entweimt Heidegger weder der Stimme der

Stille noch dem Schweigen. Verbirgt sim in diesem Denken eine Überlegenheit oder ein Mangel?

Haben wir etwas gesagt, indem wir antworten: weder-noch? Gehen wir einen Weg, indem wir die Fragestellung: entweder-oder fragend

zu überschreiten versucllen? Ist die Frage erledigt worden mit der

Behauptung: Heidegger eröffnet einen Horizont, innerhalb dessen sich Klassenkämpfe und Geschlechtsbegegnungen, Gewesenes und die Zu­kunft Vorbereitendes abspielen und verspielt werden? Wahrscheinlid1

nicht. Aber es handelt sich nicht darum, die Frage zu erledigen. Geht

die Gerechtigkeit Heidegger nid1t an? Welche Gerechtigkeit? Die­jenige, die wir noch nicht verstehen: "Zur Vorbereitur1g eines Ver­

ständnisses der Gerechtigkeit [ .. . ) müssen wir alle Vorstellungen über

die Gerechtigkeit ausschalten, die aus der duistlichen, humanistischen,

aufklärerischen, bürgerlieben und sozialistischen Moral stammen",

lautet eine Stelle der >Holzwege< (S. 227-8). Will also Heidegger den

Marxismus und Sozialismus übersteigen oder gelangt er nicht einmal

in ihr problematisches Wesen? Steht er diesseits oder jenseits, und auf welchem Wege geht er? All dies smeint doch so schwer methodisch erreichbar zu sein. Die Methode - aber welche? -, ist sie ein Weg, eine M ethodos? Ist die Dialektik die ausgezeichneteste der Methoden?

Marx hat überhaupt sehr wenig von der Dialektik gesprochen. Er

hat aber dialektisch gedacht, wird man erwidern. Was heißt aber dia­

lektisch? Gibt es jemanden, der nicht "dialektisch" gedacht hat und

doch ein Denker war? Indem er Hegcl interpretiert, kommt Heideg­

ger notwendig auf die Frage der Dialektik. Er stellt sie so: "Insglei­

chen mag das Problem beiseite bleiben, ob die Dialektik nur eine

68 >Über den Humanismus<, S. 9- xo. 5g >Nationalökonomie und Philosophie<, S . .235.

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Methode des Erkennens sei oder ob sie in das objektive Reale selbst

als etwas Reales gehöre. Das Problem ist ein Scheinproblem, solange

nicht bestimmt ist, worin die Realität des Realen besteht, inwiefern

diese Realität im Sein des Bewußtseins beruht und welche Bewandtnis

es mit diesem Sein hat. Die Erörterungen über die Dialektik gleichen

dem Verfahren, das Springen der Quelle aus dem stehenden Wasser

der Abwässer zu erklären. Vielleicht ist der Weg zur Quelle noch

weit. "60 Die Dialektik also läßt sich weder als Bewegung der Thesis,

Antithesis, Syuthesis (oder der Position, Negation, Negation der Ne­

gation) noch als unendliche Negativität hinreichend auslegen. Sie ist

weder subjektiv noch objektiv, weder logisch noch ontisch. Was ist sie?

Dasjenige, was aus dem Logos und dem "Dialog", dem Entsprechen zum Zuspruch, aus der Sprache (Logos) und dem Widerspruch, dem

Streit und dem Widerstreit, dem "Sein" und dem Werden, der Sub­jektivität und der Gegenständlichkeit-und deren Bewegung, Verwick­

lung und Verwirrung - zu verstehen bleibt. Die Dialektik, die "seins­

geschichtlich zu denkende Dialektik aber, gewandelt, als historisch­

dialektischer Materialismus, bestimmt vielfältig die heutige Mensch­heitsgeschichte. Die weltgeschichtliche Auseinandersetzung in unserem

Zeitalter kommt weiter her, als uns die vordergründigen politischen

und wirtschaftlichen Machtkämpfe einreden möchten."61 Was vorder­

griindig ist, hört dennoch nicht auf, dem Grunde zu entsprechen. Dem __. Grunde und dem Abgrund. Denn: "Allein gerade dies zeigt sich als

das jetzt zu-Denkende, nämlich: Sein ,ist' der Ab-grund, insofern Sein

und Grund: das Selbe. Insofern Sein gründend ,ist', und nur insofern,

hat es keinen Grund. "82 Würde also das Sein aufhören, einen Grund

zu haben, um als Sein ins Spiel mitgerissen zu werden? Das Wider­

spiel des Geschicks und des Entzugs des Seins, könnte es vom

Weltspiel selbst übernommen und in der Spiel-Zeit aufgelöst wer­den? Die Warum-Frage, könnte sie in die fragende Antwort

.,ohne \Varum" umschlagen - weder grundlos noch begründend,

weder im Ton des Trauer-Spiels noch im Stil des Lust-Spiels, ohne durch Seiendes die Offenheit des offenen Horizontes zu er­ldären?

eo >Holzwege<, S. r68. u >Der Satz vom Grund<, Pfullingen 1957, S. 149- 50. G2 >Der Satz vom Grund<, S. 1 8 5.

30

Entwickelt sich die entfesselte Produktion und Reduktion der Welt

(genitivus subjectivus und objectivus) "dialektisch"? Liefert uns die Dialektik eher ernste ontische Erklärungen oder ein spielendes onto­

logisches Weltverständnis? Und wie fungiert sie innerhalb des ganzen

ontisch-ontologischen Verhältnisses? Jedes Verständnis der Dialektik ­selbst da, wo sie wissendich getrieben wird - bleibt problematisch.

Mit Recht stellt Heidegger fest, "daß durch die Anstrengung der Den­

ker Fichte, Schelling und Hegel, vorbereitet durch Kant, das Denken

in eine andere, nach gewissen Hinsichten höchste Dimension seiner

Möglichkeiten gebracht wird. Das Denken wird wissentlich dia­lektisch. Im Bezirk dieser Dialektik bewegt sich auch, und zwar nod1 erregte.r von ihren unausgeloteten Tiefen angerührt, die dichterische

Besinnung von H ölderlin und N ovalis. Die theoretisch-spekulative,

vollständig ausgeführte Entfaltung der Dialektik in die Geschlossen­

heit ihres Umkreises vollzieht sich im Werk Hegels das betitelt ist , Wissenschaft der Logik' " .Gs Die Frage bleibt aber offen : welche

Dialektik - d. h. welche Sprache und welches Denken, welche Logik

und welche Wirklichkeit und in welcher Verbindung und welcher

differenzierten Einheit - gelangt zur Herrschaft? "Zwar vermerkt

man, sobald heute von Dialektik die Rede ist, daß es einen dialek­

tischen Materialismus gibt. Man hält ihn für eine Weltanschauung, gibt

ihn als Ideologie aus. Doch wir gehen mit dieser Feststellung dem

Nachdenken aus dem Weg, statt zu erkennen: Die Dialektik ist heute

eine, vielleicht sogar die Weltwirklichkeit. Hegels Dialektik ist einer

der Gedanken, die-von weither angestimmt- ,die Welt lenken', gleich­

mächti g dort, wo der dialektische Materialismus geglaubt, wie dort,

wo er - nur in einem leicht abgewandelten Stil desselben Denkens -widerlegt wird. Hinter dieser, wie man sagt, weltanschaulichen Aus­

einandersetzung tobt der Kampf um die Erdherrschaft. Hinter diesem

Kampf jedoch waltet ein Streit, in den das abendländische Denken selber mit sich selbst verstrickt bleibt. Sein letzter Triumph, in den

es sich auszubreiten beginnt, besteht darin, daß dieses Denken die Natur zur Preisgabe der Atomenergie gezwungen hat. "G4 Das

ganze und ganzheitliche - und zugleich fragmentarische - "dialekti-

03 >Grundsätze des Denkens<, in: •Jahrbuch für Psychologie und Psycho­therapie<, Freiburg und München, Heft r/3, 1958, S. 34·

64 >Grundsätze des Denkens<, S. 37·

J I

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sehe" Spiel der Produktion und der Reduktion der Welt ist weder durch die gedankliche Bewegung und die Reflexion noch durch die wirkliche Bewegung und die Aktion zu verstehen, obwohl Heidegger schreiben kann: "In einer frühen, aus seinem Nachlaß veröffentlichten Schrift [>Nationalökonomie und Philosophie<] erklärt Karl Marx, daß ,die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anderes ist als die Er­zeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen'. [ . . . ] Viele werden diese Deutung der

· -Weltgeschichte und die ihr zugrunde liegende Vorstellung vom Wesen des Menschen zurückweisen. Aber niemand kann leugnen, daß Tech­nik, Industrie und Wirtschaft heute maßgebend als Arbeit der Selbst­produktion des Menschen alle Wirklichkeit des Wirklichen bestimmen. Allein mit dieser Feststellung fallen wir bereits aus derjenigen Dimen­sion des Denkens heraus, in der sich die angeführte Aussage von Marx über die Weltgeschichte als ,die Arbeit der Selbstproduktion des Men­schen' bewegt. Denn das Wort ,Arbeit' meint hier nicht die bloße Be­tätigung und Leistung. Das Wort spricht im Sinne von Hegels Begriff

der Arbeit, die als der Grundzug des dialektischen Prozesses gedacht ist, durch den das Werden des Wirklichen dessen Wirklichkeit entfaltet und vollendet. Daß Marx im Gegensatz zu Hege/ das Wesen der Wirklichkeit nicht im absoluten sich selbst begreifenden Geist sieht, sondern in dem sich selbst und seine Lebensmittel produzierenden Menschen, bringt Marx zwar in einen äußersten Gegensatz zu Heget, aber durch diesen Gegensatz bleibt Marx innerhalb der Metaphysik

Hegels; denn Leben und Walten der Wirklichkeit ist überall der Arbeitsprozeß als Dialektik und d. h. als Denken, insofern das eigent­lidl Produktive jeder Produktion das Denken bleibt, mag das Denken als SP,ekulativ-metaphysisches oder als wissenschaftlich-technisches oder als Gemisch und Vergröberung beider genommen und vollzogen wer­den. Jede Produktion ist in sich schon Re-flexion, ist Denken. "S5 Mit der Trennung oder der Verbindung, mit dem Seinsverhältnis oder der Zusammengehörigkeit von Logos, Theorie, Denken, Reflexion, Be­wußtsein und Praxis, Techne, Handeln, Wirklichkeit, Aktion, Sein -d. h. mit der Frage nach der "Dialektik" - kommen weder Marx noch Heidegger aus. In seiner französisch verfaßten Kampfschrift gegen

es >Grundsätze des Denkens <, S .40-41.

Proudhon's >Philosophie de la nusere<, obwohl er auch weiß, daß die Arbeit eine gewisse Einheit der "reellen" und der "ideellen" Kräfte darstellt - innerhalb eines Geflechts von Vermittlungen -, spricht Marx vom "mouvement reel de la production" und äußert sich ironisch gegen die dialektischen Abstraktionen, Produkte und theoreti­schen Vorstellungen und Verstellungen der wirklichen - praktischen und materiellen - Bewegung.66 Und in seiner >Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie< betont er, daß erst in den modernsten Daseinsformen der bürgerlichen Gesellschaft und der kapitalistischen Wirtschaft der Ausgangspunkt der modernen Ökonomie verwirklicht wird: "Hier also wird die Abstraktion der Kategorie ,Arbeit' ,Arbeit überhaupt', Arbeit sans phrase, der Ausgangspunkt der modernen Öko­nomie, erst praktisch wahr. "67 Zugleich weiß Marx, daß die wirkende

Arbeit sich vorn Denken nicht so einfach trennen läßt: "Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeich­net, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in

Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das bei Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung

des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich sei­nen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß. Und diese Unterordnung ist kein vereinzelter Akt. Außer der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist der zweckmässige Wille, der sich als Auf­merksamkeit äußert, für die ganze Dauer der Arbeit erheisd1t, und um so mehr, je weniger sie durch den eignen Inhalt und die Art und

Weise ihrer Ausführung den Arbeiter mit sich fortreißt, je weniger er sie daher als Spiel (von mir hervorgehoben) seiner eigenen körper­lichen und geistigen Kräfte genießt" .68 Muß also der Weg in der Richtung einer Wirklichkeit "und" Denken, Arbeit und Spiel vereini­

genden Techno-logie gefunden werden? "Die Technologie enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Pro­duktionsprozeß seines Lebens, damit auch seiner gesellschaft!id1en

66 ·Misere de Ja philosophie< (r847), Paris 1950, S. 51, xzr - rzz, 1.25 -1.27, q8- 149· 67 >Zur Kritik der politischen Okonomie<, Berlin 195I, S. z6r.

es •Das Kapital<, Band I, S. r86.

3 3

\

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Lebensverhältnisse und den ihnen entquellenden ge1st1gen Vorstel­lungen."69 Eine weder . idealistische noch materialistische Techno­logie, die sich sogar metadialektisch entfalten könnte, gibt es aber noch nicht.

In der letzten Stunde seiner Vorlesungen über den >Satz vom Grund< (1955/56), aus denen auch die Stelle über den "historisch-dialektischen Materialismus" stammt - die nicht ohne Zusammenhang bleiben soll mit dem im Vortrag >Der Satz vom Grund< über den Materialismus Gesagten, nämlich, daß der Geist des Materialismus gar nicht so ein­seitig weht, denn: "Es weht vom Westen her nicht weniger stark als vom Osten"70 -, beendet Heidegger diese Vorlesung mit der Frage nach dem Spiel. Er läßt das Spiel, in dem das Sein als Sein ruht, ohne darauf als seinem Grunde zu beruhen, zur Sprache kommen und bedenklich werden. Nicht nur im Zeit-Spiel-Raum, in dem Seiendes erscheint und hergestellt wird. Als Spiel ohne "Warum", als das Höchste und das Tiefste, als Seinsgeschick, als das Eins-Alles, müssen wir vielleicht den Sinn des Seins denken, ohne daß man sich das Spiel "als etwas, das ist" vorstellt. "Läßt sich das Wesen des Spiels sachgemäß vom Sein als Grund her bestimmen, oder müssen wir Sein und Grund, Sein als Ab-Grund aus dem Wesen des Spiels her denken und zwar des Spiels, in das wir Sterbliche gebracht sind, die wir nur sind, indem wir in der Nähe des Todes wohnen, der als äußerste Möglichkeit des Daseins das Höchste an Lichtung des Seins und seiner Wahrheit vermag?" (S. I 8 6 - 7).

Das Denken ist so auf das Spiel gesetzt, unlösbar sogar vom Spiel. Das Spiel zu denken vermag unser Denken noch nicht. Wird es dem planetarischen Denken gegeben sein, die Welt (die weltende Welt -die Lichtung und Dunkelheit des Seins) als Spiel, das weitet und zei­tigt, wahrhaft-irrend zu denken? Die Weltzeit des Weltseins, wird sie sich im Spiel offenbaren? Das Spiel als das Eine, das offene Ganze, das Eins-Alles, das Einzige und Einigende, könnte es als Spiel, und nicht nur durdt seiende Spiele, mitgespielt werden? Weil es spielt?

Uns Menschen, wird es uns aber gelingen, uns harmonisch-plane­tarisch in das Spiel zu fügen, und wie werden wir, auf das Spiel gesetzt, spielend leben und vergehen können?

70 >Der Satz vom Grund<, S. I99·

34

In diesem Horizont verschwindet der Unterschied zwischen dem Denken Mar:x:' und demjenigen Heideggers. Als aufgenommener und aufgehobener Unterschied ist er dennoch aufs Spiel gesetzt. Viel­leicht öffnete sich auch für Marx das Weltspiel als Spiel: nach der Aufhebung der Entfremdung der Arbeit, nach der Oberwindung des Kommunismus selbst könnte sich nicht die Menschengeschichte, und nicht nur diese, als Spiel vollziehen, ein Spiel, in dem das unüber­windbare Wesen der Entfremdung mitspielen würde? Weder im Reiche der Notwendigkeit verhaftet bleibend noch als Freiheit ver­standen, weder als verbindende Dialektik noch als Willkür aufgefaßt, könnte dieses Spiel alles, was ist, in einer lösenden Bindung zusam­menhalten? Ohne daß das Spiel selbst, das sich abspielt, als etwas inmitten des Seienden zu finden wäre?

VI

Der Mensch ist noch nicht in das Spiel der Welt gefügt. Muß er vorher "Weltbürger" werden? Muß er als Weltbürger in das Welt­spiel sich einspielen? Marx fordert die weltgeschichtliche Existenz der Menschen: "Weltgeschichtliche Existenz der Individuen, d. h. Existenz der Individuen, die umnittelbar mit der Geschichte ver­knüpft ist. "71 Weltgeschichte heißt noch keineswegs Geschick des Weltseins; der Weltbürger bleibt immer gestaltlos, und er wird wohl auch so bleiben. Die Weltgeschichte und der Weg zum Welt­bürgertum führen vielleicht - über sie hinaus - zur Welt des Offenen, zum Zeit-Spiel-Raum anderer Möglichkeiten. Im Weltspiel der Seins­welt und des Zeitspiels, könnte da ein neues Menschentum beheimatet sein, seine Heimat finden? Jene Heimat wäre nicht patriotisch, natio­nalistisch, international oder kosmopolitisch; sie wäre seins- und welt­geschichtlich, geschick.lich, wenn sie überhaupt etwas "sein" sollte. Der Irrstern im Zeit-Spiel-Raum ist doch geworden, was er ist: ein Pla­net. Könnten also nicht auch die Menschen erst bewohnen, was ihr Ort ist - im Zeit-Spiel-Raum? Mit Fernweh und mit Heimweh? Falls sich noch Abenteuer und Heimkehr unterscheiden lassen.

Um durch die Heimatlosigkeit hi11durch die Welt-Heimat zu errei­chen, muß nicht vorher der Mensch der neuzeitlichen Epoche der Sub-

n >Die deutsche Ideologie<, S. 33·

3 5

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jektivität (die sich in der Kollektivität bloß verallgemeinert) und der von ihr erzeugten Vergegenständlichung überwunden wet·den? Marx

gehört noch dieser Epod:!e an: er sieht den Menschen als das animal rationale der Metaphysik, das vemünftige Lebewesen, das von seinen (biologischen) Trieben getrieben ist, sie gegenständlich befriedigen will und dafür Technik und Denken ins Werk setzt. Deswegen

bezeichnete er selbst sein Denken als vollendeten Naturalismus­Humanismus-Sozialismus. Von der animalischen - aber menschlich­gesellschaftlichen - Natur des Menschen ausgehend, strebt er nach der Humanisierung alles Seienden durch die Praxis der gegenständlichen Subjektivität des Menschen, die zur einheitlichen kommunistischen menschlichen Gesellschaft führen soll. Das Cartesische ego des cogito, das heißt die res cogitans, das Kantische transzendentale Ich und die transzendentale Gegenständlid1keit, das Hegeische absolute Subjekt als absolutes Wissen, als der \1(lille des Geistes, wird bei Marx "die Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte, deren Aktion daher auch eine gegenständliche sein muß",72 die er noch ins Gesell­schaftliche, in das alles umfassende und begründende Gesellschaft­liche (in das Sozial-Sozialistische) erheben will. Im Brief über den Humanismus fordert "dagegen" Heidegger die Oberwindung der naturalistisch-psychologisch-soziologisch-humanistischen Auffassung des

Mensdten, durm ein Denken, das zu fragen wagt, in welcher Weise das Wesen des Mensd1en zur Wahrheit des Seins gehört. Was er dem Humanismus "vorwirft�, ist, daß er die Humanität des Menschen, sein Wesen, seine Natur, nicht hoch genug ansetzt und sie nicht in die Lidttung des Seins einsetzt. Es braucht einer anderen Wesensbestim­mung des Menschen, um zu erfahren, "wie der Mensch in seinem eige­nen Wesen zum Sein anwest" ,73 im ekstatischen Innestehen in der Wahrheit des Seins, in der Ek-sistenz, im Da-sein. "Durm diese Wesensbestimmung des Menschen - betont Heidegger - werden die humanistischen Auslegungen des Menschen als animal rationale, als ,Person', als geistig-seelisch-leibliches Wesen nicht für falsm erklärt und nicht verworfen. Vielmehr ist der einzige Gedanke der, daß die höchsten humanistischen Bestimmungen des Wesens des Menschen die

72 >Nationalökonomie und Philosophie<, S . .173· 73 >Über den Humanismus<, S. 19.

eigentlid1e Würde des Menschen nom nicht erfahren."74 Der Mensch des Humanismus, der Mensch der Heimatlosigkeit, der Entfremdung,

des Subjektivismus und des Objektivismus begegnet gerade nirgends sidt selber; sein Wesen bleibt ihm fremd. Der Mensch, der sich als der Machthaber des Seins, als das Subjekt des Seienden (des Objekts) vor­stellt, bleibt so inmitten des Seienden "stehen • ; er verfällt der Besin­nungslosigkeit, die den sich selbst so verstehenden (d. h. mißverstehen­den) Menschen inmitten des Seienden hängen läßt. Der Humanismus

macht es dem Menschen unmöglich zu bedenken, daß und wie er vom

Sein in die Welt "geworfen" ist, in "seinem" In-der-Welt-sein; so

wird aber der Mensch nicht in die Ek-sistenz geleitet, um in dieser die

Wahrheit des Seins zu hüten und dem Nichts als dessen Platzhalter

zu entsprechen. Dieser Vorwurf ist kein formaler und kein kritischer; er richtet sim

auf die Wesenszusammengehörigkeit des Seins und des Menschenseins. Er strebt nach der Befreiung des Wesens des Menschen "und" der Wahrheit des Seins. "Man denkt im Prinzip stets den homo animalis, selbst wenn anima als animus sive mens und diese später als Subjekt, als Person, als Geist gesetzt werden. Solmes Setzen ist die Art der Metaphysik. Aber dadurch wird das Wesen des Menschen zu gering geachtet und nicht in seiner Herkunft gedacht, welche Wesensherkunft für das geschichtliche Mensd1entum stets die Wesenszukunft bleibt. Die Metaphysik denkt den Menschen von der animalitas her und denkt nidn zu seiner humanitas hin. "76 Trifft das von Heidegger so Gesagte das von Marx selbst Gedachte? Hören wir also Marx: "Der Mensch ist unminelbar Naturwesen. Ais Naturwesen und als lebendiges Naturwesen ist er, teils mit natürlichen Kräften,

mit Lebemkräften ausgerüstet, ein tätiges Naturwesen; diese Kräfte existieren in ihm als Anlagen und Fähigkeiten, als Triebe;16 teils ist er als natürliches, leibliches, sinnliches, gegenständliches Wesen ein lei­dendes, bedingtes und besmränktes Wesen, wie es auch das Tier und

" >über den Humanismus<, S. 19. 75 • Ober den Humanismus<, S. I 3. 7& An die naturalistisch-"natürliche«, d. h. biologisch-psychologische Trieb­

auffassung der Anthropologie knüpfen auch Freud und die Psychoanalyse produktiv an. Zugleich aber entbi11dct Freud die Mädlte des Wunsches nach Leben, Liebe, Zerstörung und Tod und setzt die Spiele des Un-, des \ Vorbewußten und des Imaginären in eine ungeheure Bewegung.

37

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die Pflanze ist, d.. h. die Gegenstände seiner Triebe e:usneren außer ihm, als von ihm unabhängige Gegenstände. Aber diese Gegenstände sind Gegenstände seines Bedürfnisses, zu.r Betätigung und Bestätigung seiner Wesenskräfte und unentbehrliche, wesentlidte Gegenstände. "17 Dieses gleichzeitige Setzen des Gegenstandes als Objekt für ein Subjekt und des menschlichen Subjekts als gegen­ständlidtes, dieses natürliche, leibliche, biologische, gegenständlich subjektiv-objektive Setzen des "Wesens" des Mensmen kennzeichnet also den Marxschen Humanismus, den vollendeten Naturalismus. Die von Marx geforderte Anerke1u1ung des natürlichen, menschlimen und gesellschaftlichen Menschen - von der wir eben Heidegger sprechen gehört haben -, der i m Reidt des Kommunismus, durch die entfesselte Technik, alle seine natürlidten, menschlichen und gesellschaftlichen Bedürfnisse befriedigen soll, geht aus von der gegenständlichen Set­zung des Subjekts, des von seinen Trieben· getriebenen Subjekts, um in die gegenständliche Vcrgesellschaftlid1ung der Subjektivität (in der Kollektivität) zu gelangen. Gehört also nicht Marx der Epoche der Subjektivität, der Metaphysik des Humanismus an? Er radikalisiert eben die Bewegung, in der auf Grund derselben Auffassung die Meta­physik (das übersinnliche) in die Physik (das Sinnliche) umsdtlägt, obwohl oder gerade weil er folgendes schreibt, was durchaus richtig ist, wenn es auch eng bleibt: "Zum Leben aber gehört vor allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges andere [ist das das Elementare?]. Die erste geschichtliche Tat ist also die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des materiellen selbst, und zwar ist dies eine geschichtliche Tat, eine Grundbedingung aller Geschichte, die noch heute, wie vor Jahrtausen­den, täglich und stündlich erfüllt werden muß, um die Menschen nur am Leben zu erhalten. "78 Und für Marx ist es die Produktion, die Technik, die auf einer immer breiteren Basis das Leben sichern soll. Das Ganze des Seienden soll demnach von der technisch-produktiven Arbeit umgewandelt werden, um des Menschen Triebe zu befriedigen.

Der Raum des "Wcltseins", im Rahmen des Seienden und nur des Seienden gesehen, muß so technisch-produktiv erfüllt werden. Kann

77 >Nationalökonomie und Philosophie<, S . .274. 78 >Die deutsche Ideologie<, $. 24.

aber die Leere des Seins durch die Produktion und die Technik erfüllt werden? Das Seiende selbst erscheint inlmer mehr als unbefrie­digend, als mangelhaft, und die Technik organisiert den Mangel und seine technische Befriedigung. Sie produziert zugleich neue Bedürf­nisse, um sie befriedigen zu müssen. Es ist immer mehr zu wenig, es wird immer mehr produziert und inlmer mehr konsumiert und ver­braucht. Der ganze Erdball wird in diese Rotationsbewegung hinein­gerissen, und es scheint ganz und gar folgerichtig, daß sich dieset· Prozeß ausdehnt und vertieft. Die Produktion erscheint als der Grund des Seienden und dessen Transzendenz, und tatsächlich ist auch die moderne Technik ein Entbergen, ein Herausfordern, ein Herstellen. Indem der Mensch der modernen und schon planetarischen Technik in dieser Weise das Seiende entbirgt und zu Bestand bringt, entspricht er dem Zuspruch der Unverborgenheit, oder widerspricht er ihm? Viel­leicht entspricht er, indem er widerspricht, und vielleicht hebt er so seine Subjektivität auf und die ihr angemessene Gegenständlichkeit. Vielleicht kommt er auf diesem Weg - wenn es ein Weg sein sollte -zu einer neuen Offenheit, wcld1e die objektive Subjektivität und die objektive Gegenständlichkeit überwindet und den für die Modernität allumfassenden Bereich der Subjekt-Objekt-Spaltung auflöst und überschreitet. Etwas Neues kommt zum fließenden Bestand. Das sid1 Entbergende ist aber stets eine sich entbergend-verbergende Lichtung; was sich zuschickt, zieht sich zugleich zurück. In einem gewissen Sinne, der eine von der Leere des Seienden her, der andere von der Ver­gessenheit des Seins, streben Marx und Heidegger, nicht aber Heideg­ger wie Marx, nach demselben: uns der Technik gegenüber, der Tech­nik als Gesd1ick und nicht als unausweichlid1em Verlauf und "Schick­sal", zu eröffnen. Ohne sie blindlings zu betreiben oder, was das Gleiche bedeutet, sie als Teufelswerk zu verdammen, sollten wir doch uns dem Wesen der Technik eigens öffnen. Denn und nur, "wenn wir uns dem Wesen der Tedmik eigens öffnen, finden wir uns unverhofft in einen befreienden Anspruch genommen. "78

Alles was ist, erscheint immer mehr unter dem Gesichtspunkt der Reduktion, als mangelhafte Fülle, als Immerweniger an Ursprüng­lichlleit. Diese Reduktion ist aber kein bloßes Ergebnis eines Gesichts-

79 .vortd.ge und Aufsätze<: ·Die l�rage nach der Technik<, S. 33·

.39

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punktes. Sie entspricht dem produktiven Willen zur Macht, ilu1 beglei­tend und sich von ihm bestimmend. Ist der Wille zur Mamt, der Wille, der sich will, der unbedingte Wille zum Willen, eine Produktion des Seins des Seienden? Ist die Produktion der Technik eine auf dem "Sein" begründete Produktion? Das Zwiespiel der Reduktion und der Produktion hat noch nicht sein Spiel in seinem vollen Reichtum entfaltet. Wir stehen noch allzusehr im Bereich der Metaphysik, und deswegen taumeln wir. Der Metaphysik, die uns sagt, "daß und wie ,es' das Sein des Seienden ,gibt' " ,so der Metaphysik als Geschick des Oberstiegs (der "Transzendenz"), des Oberstiegs des Seins des Seien­den. "Fast scheint es, als sei die Metaphysik durch die Art, wie sie das Seiende denkt, dahin gewiesen, ohne ihr Wissen die Schranke zu sein, die dem Menschen den anfänglichen Bezug des Seins zum Menschen­wesen verwehrt."81 Nach der Metaphysik ist alle "Objektivität" als solche "Subjektivität" ; in dieser Weise zergeht das Fundament des Sei­enden, und die ontologische Logik herrscht im leeren-und im überfüll­ten - Raum über die ontologische Metaphysik. So erfahren wir nicht das Sein als Sein, noch das seinsgehörige Nichts. Oberwindung des Nihilismus heißt: Verwindung uud Oberwindung der Metaphysik, Vorbereitung eines neuen Horizontes. Das Nichts bleibt immer noch zu erfahren. "Sein und Nichts gehören zusammen, aber nicht weil sie beide - vom Hegeischen Begriff des Denkens aus gesehen - in ihrer Unbestimmtheit und Unmittelbarkeit übereinkommen, sondern weil das Sein selbst im Wesen endlich ist und sich nur in der Transzendenz des in das Nichts hinausgehaltenen Daseins offenbart. "82 Das Nichts west als das Sein. Es "ist" nimt, aber es ist auch nidtt nichts. "Das Sein ,ist' so wenig wie das Nichts. Aber Es gibt bei des. "BS Beides in einem Im Nimts-Sein? Wären Sein und Nichts in einem gewissen Horizont· das Selbe? "Das Sein läßt sich nicht gleich dem Seienden gegenständ­lich vor- und herstellen. Dies schlechthin Audere zu allem Seienden ist das Nicht-Seiende. Aber dieses Nichts west als das Sein. Wir sagen dem Dei1ken zu übereilt ab, wenn wir das Nichts in billiger Erklärung für das bloß Nichtige ausgeben und es dem Wesenslosen gleichsetzen. Statt solcher Übereilung eines leeren Scharfsinns nachzugeben und die

80 ,zur Seinsfrage<, S. 33· 81 >Was ist Metaphysik?<, S. 1 r.

82 >Was ist Metaphysik?<, S. 36. 83 >Zur Seinsfrage<, S. 38.

rätselhafte Mehrdeutigkeit des Nichts preiszugeben, müssen wir uns auf die einzige Bereitschaft rüsten, im Nichts die Weiträumigkeit dessen zu erfahren, was jedem Seienden die Gewähr gibt, zu sein. Das ist das Sein selbst. "84 Das Nimts west also als das Sein. Das Nichts ist das Sein selbst. In den >Holzwegen< wird wieder vom Nichts gesagt: "es ist das Sein selbst" (S. 104 ). Ist dies das höchste Spiel, das Eine, das Einzige, das Alleinigende? Das Weltspiel in der Weltzeit? Der überwundene Spiel-Plan? Wir dürfen nicht vergessen, daß Sein und Zeit sich nicht trennen lassen. " ,Sein' ist in >Sein und Zeit< nicht etwas anderes als ,Zeit', insofern die·,Zeit' als der Vorname für die Wahr­heit des Seins genannt wird, wekhe Wahrheit das Wesende des Seins und so das Sein selbst ist. "85 Sein, Zeit, Welt, Nidm, Spiel sind - ohne etwas Seiendes zu sein - dasselbe: Nichts-Sein, Welt-Zeit, Welt-Sein, Zeit-Spiel, Seins- und Weltgeschick.

Die Produktion der Technik entfaltet sich als eine Provokation des Seins, also "auch" des Nichts, stürmt ins Weltsein hinein, innerhalb der Weltzeit, des Zeitspiels. Marx reduziert die Welt auf das Produkt­tive der Technik; Heidegger verlangt, daß wir uns dem Wesen der Te<hnik eigens öffnen.

Notwendig ist es, der Provokation des Seins zu entsprechen. Pro­vokation des Seins heißt: vom Weltsein selbst herausgeforderte, pro­duzierte Aufforderung (einer Produktion), die der Produktion, der Provokation, der Herausforderung der Te<hnik entgegenkommt, ihr begegnet. So begegnen sich in einem Zweikampf die provozierende und produzierende, spielende List des Weltseins und jene Technik und Produktion, die das Weltsein und das Nichts auffordert. Jede der beiden Mächte ist provozierend und provoziere.

Wie dieser Kampf enden wird, ist noch unübersehbar: wird sich alles im nichtigen Nichts verruchten und zu Grunde gehen? Wird der Nihilismus i.iberwunden werden? Falls es uns gelingen sollte, in das Wesen des Nihilismus einzukehren, alles, was ist und was gemacht wird, in eine höhere Mehrdeutigkeit zu heben, dem Spiel als Spiel uns zu fügen und es spielend mitzuspielen, wird es unserem Tun und Lassen gegeben sein, ganzheitlich-zerrissen, harmonisch-planetarisch

im Spiel zu verweilen - im Zeitspiel? Das von Marx Gesagte muß

84 >Was ist Metaphysik?<, S. 41. 85 >Was ist Metaphysik?< , S. r6.

41

Page 26: Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken

erst in diese höhere Mehrdeutigkeit gehoben und von dieser getragen werden. Innerhalb dieser Mehrdeutigkeit begegnen und entfernen sich

Marx und Heidegger in dem, was sie sagen, und dem Ungedachten und Unausgesprochenen. Hauptsächlich werden sie -in Bewegung und Verbindung gesetzt durch einen "dritten", planetarischen Schritt, der

sich zu vollziehen anfängt. Die Konstellation des aufbrechenden planetarischen Zeitalters steht und bewegt sich unter einem höheren

Sternengang.

Der Zweikampf Mensch-und-Welt ist nodl keineswegs entfacht. Alles verbirgt sich, entzieht sich, erscheint als nichtig. Zugleich öffnen

sid1 andere Horizonte. Marx "wie" Heidegger, jeder in einer anderen Sprache, bringen zur Sprache, was der Dichter des Irrsternes, der im Irrsinn sein großartiges Zu-Grunde-gehen erfuhr, schon - aber roman­tisch und utopisch - sagte. Dasjenige nämlich, was die entzauberte Grundstimmung der irrenden Wahrheit eines künftigen planetarisd.len Denkens werden könnte: Wir sind nichts; was wir suchen, ist alles.

Il

OBER MARX UND HEIDEGGER

Page 27: Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken

THESEN ÜBER MARX

Zur Kritik der Philosophie, der politischen Okonomie und der Politik

Alle Welt weiß heute, oder bildet sich ein zu wissen, wie es mit dem Unternehmen von Marx steht. Marx will den vulgären, naturalisti­schen und mechanischen Materialismus, der, durch das Objekt ver­dunkelt, das tätige, sich in der Produktion objektivierende Subjekt nicht anerkennt, überwinden. Die ·Thesen über Feuerbach< entwerfen die genialste Kritik des unhistorischen und undialektischen Materialis­mus. Zugleich will Marx die idealistische Philosophie überwinden, die,

auf das denkende Subjekt ausgerid1tet, die praktische Tätigkeit der Menschen und ihr wirkliches Leben aus den Augen verliert. In seinem

berühmten >Nachwort< zur zweiten Auflage des •Kapital< schreibt Marx: "Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegeischen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hege! ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle . . . [Die Dialektik] steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß

sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken." Was geschieht aber mit dem Denken in dieser auf den Füßen gehenden Dialektik? Hege! betradnete die Philosophie als eine verkehrte Welt und dachte, philosophieren heiße auf dem Kopfe stehen; aber für ihn ist die Welt des naiven Bewußtseins in Wirklich­keit umgekehrt und verkehrt, und der gesunde Menschenverstand bil­det sich bloß ein, gut zu gehen. Marx will die verkehrte Welt umstül­pen, obgleich er weiß, daß "die verkehrte Welt die wirklid1e ist", solange die Entfremdung nid1t aufgehoben worden ist. Ist so das Wirkliche, das er fordert, nicht von der realistischen Auffassung der umgekehrten und verkehrten Welt belastet?

45

Page 28: Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken

Der Entwurf von Marx trachtet nach der Überwindung des philo­sophischen Denkens, nach seiner Verwirklichung in der wirklichen Praxis, durch die praktischen Menschen, die aktiven Materialisten. Was wird also aus der Einheit der Welt? Wie soll, inmitten der Ober­windung, zugleich die Wahrheit des Materialismus und des Idealism\IS bewahrt werden? Wird eine dieser beiden Mächte - die beide zusam­men überwunden werden müßten - zu einer absoluten Herrschaft gelangen?

Es tut not, Marx nicht als einen "toten Hund" zu betrachten - er forderte, daß man Hege! nicht so behandle -, sondern sein eigenes theoretisches, ökonomisches und politisches Denken und alles, was sich auf ilm beruft, zu befragen; weder um gelehrte Arbeiten über alle mög­lichen Marxschen, marxistischen und marxologischen Themen, wie sie sich leidenschaftsloser Forschung anbieten, aufzuhäufen, noch im Sinne der Marxschen, marxistischen und marxologischen Pedantexie, deren Ausbreitung erst anfängt.

Seit Lenin (•Kar! Marx<, >Die drei Quellen und die drei Bestand­teile des Marxismus<) wird der Marxismus so betrachtet, als habe er aus drei Quellen geschöpft - aus der klassischen deutschen Philosophie, aus der englischen politischen Ökonomie und dem französischen uto­

pischen Sozialismus - und sich in drei konstitutive Teile gegliedert: die Philosophie (des historischen und dialektischen Materialismus), die politische Okonomie (auf die Theorie der Arbeit, des Wertes und des Mehrwerts ausgerichtet) und die Politik (des Klassenkampfes und der Diktatur des Proletariats). So bildeten sich auch die drei Fronten des ideologischen, ökonomischen und politischen Kampfes. Vielleicht ist es Zeit, ebenso innerhalb jeder dieser drei Mächte wie auch im einheit­lichen Zentrum, aus dem sie hervorwadlsen, die Negacivität wixken zu lassen.1

I

Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den historisch­dialektischen von Marx mit eingerechnet) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, die Materialien nur unter der Form der produzierten

1 Vergleid1e dazu : >Marx penseur de Ia technique. De l'alienation de l'hom­me a Ia conquetc du monde<, Collection •Arguments<, Editions de Minuit, Paris 1961, 2. Auflage 1963.

Objekte, der materiellen Wirklichkeiten, der Materialien der Arbeit gefaßt werden; sie werden zwar so tatsächlich erfaßt, ermangeln aber eines Grundes und Horizontes. Daher die andere Seite metaphysisch, im Gegensatz zu dem naiven oder gelehrten Realismus, von der idea­litischen Philosophie entwickelt, die natürlich die sogenannte wirkliche Welt weder kennt noch erkennt: das Ganze der Gestalten, Kräfte und Schwächen der konstituierten, konkretisierten und fixierten Welt -Seinsart der konstituierenden und offenen Welt, die andere Seite der sclben und einzigen Welt. Marx will sinnliche - von den Gedanken­objekten wirklich unterschiedene, höhere Objekte: aber er erfaßt die menschliche Tätigkeit selbst nid1t als problematische Tätigkeit. Er betrachtet daher in der >Kritik der politischen Okonomie< ebensosehr wie im >Elend der Philosophie< nur das materielle Leben als das echt menschliche, während das Denken und das Dichten nur in ihrer be­dingten und ideologischen Erscheinungsform gefaßt und fixiert wer­den. Er begreift daher nicht die Bedeutung des alles in Frage stellenden und die Frage offenhaltenden Denkens, eines Denkens, das zu sehen wagt, daß jeder große Sieg Vorspiel einer Niederlage ist.

II

Die Frage, ob dem menschlichen Denken (immer irrende) Wahrheit

zukomme, ist weder eine Frage der Theorie noch eine praktische Frage. In dem Befragen muß der Mensch die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit und Unwirklichkeit, Macht und S<heitern seines Denkcns und der Welt erfahren. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit der Praxis - die vom fragendm Denken isoliert ist -, ist eine rein pragmatische Frage: sie ermangelt eines dem Abgrund und der Ver­wirrung entrissenen Grundes, sie wagt nicht die Sicherheit der befestig­ten Positionen zu erschüttern.

lii

Die marxistis<he Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände nicht immer mit den Menschen zusammenfallen und daß alle Erzieher irreführen. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile - von denen der eine der führende bleibt -sondieren. Das Nichtzusammenfallen des Anderns der Umstände und

47

Page 29: Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken

der menschlichen Veränderung oder Selbstveränderung kann nur als sich selber in Frage stellende permanente Revolution gefaßt und "wahrhaftig" verstanden werden.

IV

Marx geht von dem Faktum der ökonomischen Selbstentfremdung

aus, der Verdoppelung der Welt in eine Welt der (wirklichen) Basis und eine des (ideologischen) Oberbaus. Seine Arbeit besteht darin, die

ideologische, idealistische und ideale Welt in ihre weltliche Grund­lage aufzulösen. Aber daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst

abhebt w1d sich ein selbständiges Reich auf der ganzen Erdoberfläche fixiert, ist nur aus dem Mangel an Zusammenhang und Begründung

dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muß also in sich

selbst sowohl in ihrer Unzulänglichkeit verstanden als auch revolu­tioniert werden. Also nachdem zum Beispiel die irdische Familie als das vermeintliche Geheimnis der heiligen Familie entdeckt ist, müssen nun die Institutionen der ersteren geöffnet werden, bis sie bersten.

V

Marx, mit dem realen Denken nicht zufrieden, will die Praxis; aber er faßt die Praxis nicht als sinnliche Tätigkeit, welche die Fra.ge des

Sinns unentschieden läßt. Bedürften wir nicht, inmitten einer Epoche,

in der die erobernde planetarische Technik gegen eine Welt einen töd­lichen Streit ficht, einer Techno-logie, die alles, was die Technik erfaßt,

und die Technik selbst zu denken begänne? Denn die Technik umfaßt nicht nur, was den Bereichen des Universums und der Kosmologie, des Lebens und der Biologie, des Seelenlebens und der Psychologie, der Gesellschaft und der Soziologie, der Ideen und der Ideologie eigen

ist; sie reißt das Ganze des Seienden - und des Gemachten - in ihr Räderwerk.

VI

Marx löst das weltliche Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen kann nicht auf sich selber wie auf einem eigenen Grund ruhen. Im Spiel des Werdens ist es Fragment eines Gesprächs,

ohne welches weder der Mensch streben würde Mensch zu sein, noch die Welt Welt "wäre".

Marx, der auf diese Konstellation des Menschen und der Welt nicht

eingeht, ist daher gezwungen: r. Von der immer offenen Zeit zu abstrahieren und das mensch­

liche Wesen in einer gewissen praktischen und humanistischen Inter­

pretation zu fixieren und ein wirkliches menschliches Wesen voraus­

zusetzen. So verliert er den Menschen als Wesen der Feme aus den

Augen. 2. Das Wesen kann daher nur als empirische Totalität, als herstel­

lende und hergestellte, die alle Wesen technisch zu einer Gattung verbindende Allgemeinheit gefaßt werden.

VII

Marx sieht daher nicht, daß die ökonomische Produktion selbst ein

Produkt ist und daß die konkrete Gesellschaft, die er analysiert, einer irrenden Welt angehört - in deren Verlauf alles, was gewaltig

oder friedlich verneint wird, befremdlich weiterspielt; denn die Kritik gehört dem Kritisierten.

VIII

Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich zerrissen. Alle Rätsel,

die das Denken in die Offenheit weisen, können ihre "wahrhafte" Lösung weder in der menschlichen Praxis, noch im platten oder gelehr­ten und kritischen Begreifen dieser Praxis finden.

IX

Das Höchste, wozu der praktische Materialismus kommt, das heißt der Materialismus, der das Denken als eine abgeleitete Tätigkeit be­

greift, ist die abstrakte Voraussehung der totalen Gesellschaft und der totalen Menschen.

X

Der Standpunkt des Marxschen Materialismus ist die vergesellschaft­lichte Gesellsdtaft; was ein neues Denken, ohne Standpunkt und ohne eindimensionale (weder spiritualistische noch materialistische, weder idealistische noch realistische) Richtung, in den Blick nehmen muß, ist

das Spiel der planetarischen Welt - denn das werdende Sein des Gan­zen "ist" Spiel.

49

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XI

Die Techniker verändern die Welt nur auf differente Weise, in der verallgemeinerten Indifferenz ; es kommt darauf an, die Welt zu den­ken und die Veränderungen in ihrer Unergründlichkeit zu interpre­tieren, die Differenz, die das Sein ans Nichts bindet, zu erfassen und zu erfahren.

AUS D E R ERFAHRUNG DER WELT

über Heidegger

In seiner kleinen Schrift >Aus der Erfahrung des Denkens< versucht Heidegger, denkerisch-dichterisch - ohne Anspruch auf Vollständig­keit, ein Verzicht, zu dem alle heutigen Denkversuche gezwungen sind -, ein gedankenreiches - obwohl tatenarmes - Vor- oder Nach­spiel zur Sprache zu bringen. Heidegger sucht nach dem Wort, der Wahrheit, der Offenheit, dem Sinn des Seins als Sein (Seyn). ,.Wahr­heit bedeutet lichtendes Bergen als Grundzug des Seyns", sagt er im >Wesen der Wahrheit<; anfänglich sd1on erscheint Seyn "im Licht des verbergenden Entzugs", und dies lichtende Bergen ermöglicht erst und "läßt wesen die Übereinstimmung zwischen Erkenntnis und Seien­dem", die "Richtigkeit des Vor-stellens". Obwohl Heidegger die Irre "im Zugleich der Entbergung und Verbergung" walten sieht - denn "die Verbergung des Verborgenen und die Irre gehören in das anfäng­liche Wesen der Wahrheit" -, unterwirft er die Irre, das "Walten des Geheimnisses in der Irre", der Wahrheit: "Die Irre ist der Spielraum jener Wende, in der die in-sistente Ek-sistenz wendig sich stets neu vergißt und vermißt. Die Verbergung des verborgenen Seienden im Ganzen waltet in der Eiltbergung des jeweiligen Seienden, die als Vergessenheit der Verbergung zur Irre wird".

Gibt es aber ein oberstes Wort für das waltende und sich ent­ziehende, offene und fragmentarische Weltspiel des werdenden Sein­und-Nidm im Ganzen?

Seit •Sein und Zeit< versucht Heidegger das Sein "als" Zeit zu er­fassen. Sein wird manchmal mit Nichts vereinigt, als das Selbe er­fahren. Die enigmatische Differenz, der ontisch-ontologische Unter­schied von Sein und Seiendem, die Zwiefalt, innerhalb deren das Nid1ts Sein und Seiendes scheidet- denn das Nicht des Seienden "ist" das Sein und das Sein ist nicht das Seiende -, beide, in ihrer Einfalt,

Page 31: Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken

nichtend, bleibt untrennbar vom Dasein: Sein und Mensdlenwesen ge­hören zusammen, sind nicht verknüpft; man geht nicht von einem aus und von da zum anderen über, oder umgekehrt. Manchmal ver­steht sogar Heidegger das Sein als "das Spiel selbe.r", dieses Ver­ständnis verschwindet aber wieder.

Das Sein ist nicht zu retten. Weder sein "notwendiger" Mitspieler, das mensdtliche Dasein. In die Langweile der Zeit stürzt der Blitz ein, wenn die Welt nicht abblitzt. Die Welt weitet als das "Spiegel-Spiel". Im Zeit-Spiel-Raum, in der sich bewegenden und still ruhenden Zeit, die Vergangen- und Gewesenheit, uns entgegenwartende Gegenwart und schon gezeitigte Zukunft versammelt und tilgt. Erschüttert und platt haben wir zu erfahren, was wir gelassen und aufgeregt wissen. Ein mehrfältiges und mehrdeutiges produktiv­fragendes Denken sucht heute seinen Weg und seinen Stil, innig ver­bunden und verwachsen mit dem Versuch nadt einem einheitlich­mehrdimensionalen Lebensstil. Das Denken kann nicht mehr als eine Sache des Kopfes - der Idee, des Geistes oder des Seyns - er­fahren werden. Weltweite und Kleinweltgeist entsprechen sich sehr oft. Der planetarische Horizont, in der Vieldimensionalität seiner Pläne, wartet auf seine zusammenspielende - wie sollen sie benannt werden, diejenigen Träger, die weder Hirten des Seins noch Platzhäl ter des Nichts sein können? Im Zusammen ist ein Zusammengehören im Spiel. Indem jeder Bestand aufgehoben und restauriert, jedes "ist" verfestigt und aufgelöst wird, indem jedes Wort ein Ding ergibt und zerbricht, verspielen die Menschen ihre Karten: eher �eltarm als weltoffen. Alles entfaltet sich und versammelt sich und zerbricht im Zeit-Spiel der Irre. Zeit, Welt, Irre, Spiel, sind sie, wenn sie überhaupt etwas "sind", Namen des namenlosen Selben?

Der Denkbereich ist "nur" die ganze Hälfte der halben Ganzheit. Die andere Hälfte? Immer werden wichtige Gesichter und Masken des Seienden "und" des Seins vernachlässigt. Fragen und Gegenfragen kreuzen und durdtkreuzen sidt. Kein Problem wird gelöst. Das Geheimnis selbst wird fraglich. Das Abstrakte und das Konkrete, das Positive und das Negative - d. h. was noch diese Namen trägt - vermischen sich untrennbar. Indem gewisse Sterne unter­gehen, erscheinen andere - und die Seihen. Individuum und Univer­sum - beide endlich, für uns, endliche Seiende, die das Sein be-

fragen - entsprechen und entspredten sich nicht. Jede Weltverwaltung und jeder Weltplan scheitern an und in der Welt. Der einzige Mensd1 und die Gesellschaft durd1Streichen und werden durd1gestrichen. In seiner Schrift >Zur Seinsfrage< wagt es Hcidegger, das Sein - wel­ches? - kreuzweise zu durchstreichen und dasselbe für das Nichts zu fordern. Das Zeichen der Durchkreuzung zeigt in die vier Gegenden -die Weltgegenden - des Gevierts, die einer Einheit gehören: Erde und Himmel, Göttliche (Götter und Gott), Sterblid1e (Menschen). Die Einfalt dieser Vier wird geschont. Dem Fragwürdigen uicht entwei­chend und es ins Denkwürdige erhöhend, versucht Heidegger in sei­nem dem >Bauen Wohnen Denken< gewidmeten Aufsatz, das Retten, Empfangen, Erwarten, Wohnen zu hüten. Wie kann aber dies alles ­das Eins-Alles- geschont verweilen, wenn eine "neue" Welterfahrung einbricht? Das Seiend-Vernichtete, das Durchgestridtene, verbleibt als Zeichen der Kreuzung, in die Perspektiven des Welt-Gevierts weisend, als unbekanntes x.

Heidegger setzt die weltgeschichtliche abendländisch-europäische Seinsauslegung, . die zugleich eine Seinsvergessenheit bedeutet - von Heraklit bis Nietzsche und Marx -, in Frage.2 Er erfragt und gibt fra­gende Antworten. Sein Versuch verlangt selber in Frage gestellt zu werden.

Entdecken und Verdecken, heitres Wort und trübe Lüge finden sich auf einem Weg.

Sag und leugne irr und wage quer zum selben-andren Steg.

Wenn die traurige Morgenröte uns zum Schaudem führt . . . .

Die Welt blitzt ab und die Irrtümer enthüllen die Systemfragmente eines Spiels dessen Anfang und Ende kreishaft verschlungen und verhüllt bleiben.

2 Vergleiche dazu: >Hhaclitc ct Ia philosophie. La prcmiere saisie de l'etrc en devenir de Ia totalite<, Collection >Arguments<, Editions de lv1inuit, Paris x96.t.

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Wenn die Götter sterben fängt der Mensch an in der Erwartung seines eigenen Todes zu wohnen. Im angefangenen prosaischen Gedicht der 0 berwindung des Menschen.

Den fallenden Sternen zustimmen.

Denken ist das Eingehen in das Labyrinth der Welt, das nicht einem obersten Namen gehorcht.

Wenn der Rauch des Schorosteins die Asdte verrät . . . .

Entspricht der Mut des Denkens den Sternstunden, dann bringt er den · ruhenden Lauf der Irrsterne zur Sprache.

Sehen und Hören haben von alters her das Denken aufmerksam und unglücklich gemacht.

Die kommende verallgemeinerte Kombinatorik setzt alles mit .allem in Beziehungen, bringt neue Scheidungen hervor und entbindet Mächte des Weltalls.

jedes Gespräch verbindet stumme und tau,be Menschenkinder.

Wenn in einem dunklen Himmel helle Spuren sichtbar werden . . . .

Wer oder was pr-oduziert die Gedanken?

Der Dialog ist immer ein Zwischenspiel.

Weder für noch gegen die Welterfahrung können die Sterblichen hart kämpfen. Der Erfolg überwindet Spieler und Zuschauer und zer­bricht. Der Wind ermuntert und zerschlägt.

In der Leistung und im Scheitern sind Handgriff und Versuch aufs Spiel gesetzt. Die Meister sind stets gemeistert.

Wenn die Blumen der Wiese uns märchenhaft täuschen . . . .

5 4

Die Vielfalt des Einfachen.

Gebild und Gesicht werden verwandelt, durch ihre Masken hindurch,

in eine konkrete Abstraktion.

Hoffnung und Hoffnungslosigkeit tragen einander.

Die List des Schmerzes ist wahrscheinlich weltweiter als die der Lust.

Wenn der Wind alles Schwache und Feste alarmiert . . . .

Drei einheitliche Spiele spielen Denken und Welt.

Das Weltspiel selber, welches in Regeln gesetzt wird.

Das Denkspiel, das ständig an Beispielen entgleist. Es muß jeden Be­stand auflösen, unbeholfen und tl/erlos verweilen, was es nur selten vermag.

Das Spiel der Menschen, die sich einbilden, die Gefahr zu vermeiden, indem sie die SpieZenden sein wollen.

Wenn sich eine Ortschaft eröffnet und verschließt: wie eine Wunde und eine Blume . . . .

In der Stimme der Stille entfaltet sich scheinbar das sprechende Den­ken als die ganze Hälfte des halben Ganzen.

Wie könnte man Gedanken und Dinge unterscheiden?

Lange Weile und kurze Frist spielen sich ab und verspielen sich im Kreise der Zeit.

Wer groß denkt, muß er philisterhalt leben?

Wenn die erratischen Felsblöcke an ihrer riesigen Ironie listig fest­halten . . . .

Das Alte und das Neue erscheinen beirrend als zwei Seiten einer Münze.

Darum begreift das Vorspiel die Entfaltung und die Verflachung. •

5 5

Page 33: Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken

Reif sein heißt: jeden Ort und Moment, gegenwärtige Larven der ver­gangenen und k�nftigen Zeit als fast unbegreifbar zu erfassen und zu erfahren.

Sehnsucht und Antizipation sind eins und zugleich unterschieden.

Wenn das Gebirge verbirgt und die Stille lärmig wird . . . .

Aus der Stille tritt alles hervor, in sie zurückkehrend. Inzwischen befällt uns das Unsagbare und das Ungesagte, das Namenlose und das Ungedachte.

Bleibt nicht das Unbedingte an die Bedingungen und Dinge gekettet?

Was entzieht sich: die Sachen, die Worte, die Sprache, das Denken, . der Entzug, die Welt?

Daß niemals ein Denken das Weltspiel auslegen kann, wessen Er­folg möchte dies az�sloten?

Wenn die Hirten von ihren Herden auf die Weiden getrieben werden, lockend und gelock.t . . . .

Der Spielcharakter des Denkens ist noch verborgen.

Wo er sich zeigt, gleicht er, in der Zeit, einer Utopie, die einen nie ge­mäßen Aze/enthalt verspricht und verdirbt.

Aber wie würde eine Chronologie zmd Topologi.e des Seins und Nicht­seins im Zeit-Raum-Spiel stehen und fallen können?

Anerkennend, daß Wesen az1ch Unwesen ist.

Wenn sich das Abendlicht nicht mehr vom Morgenlicht trennen läßt . . . .

Sagen und Denken, Dichten und Handeln sind die nachbarlichen Stämme eines rätselhaften Battms.

s6

Sie entwachsen der Welt 1-md reichen fast in die Wurzel der Irre.

Ihr Zusammenspiel gibt z" erfahren, was Novalis von il7rem gemein­samen Fug stt<mmelnd sagt:

,. Wahrheit ist ein vollständiger Irrtum".

Ziele fragen Fragen brechen Sterne ruh'n.

Menschen warten Spiele zielen Ohne warum.

Reiter fallen Kinder hoffen Ein heiles Tun.

57

Page 34: Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken

III

DAS PLANET ARISCHE

Page 35: Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken

DAS PLANETARISCHE

Weltgeschichte der Technik

Aber sage nur niemand, daß uns das Schicksal trenne! \Vir sind's, wirf wir haben unsre Lust daran, uns in die Nacht des Unbekannten, in die kalte Fremde irgendeiner andern Welt zu stürzen, und, wär es möglich, wir verließen der Sonne Gebiet und stürmten über des Irrsterns Grenzen hinaus. Ach!

für des Menschen wilde Brust ist keine Heimat möglich.

HÖLDERLIN, HYI'ERlON ODER DER

EREMIT lN GRIECHENL.•.ND.

I

Versuchen wir ganz nüchtern, plan und platt, in den Blick zu nehmen, wie, was wir noch immer Welt nennen, in den Blick ge­nommen wird und wie wir - an der Schwelle des planetarischen Zeit­

alters - in das Ganze der in Teile zerstückelten Welt technisch hinein­greifen, planmäßig und planierend.

Nehmen wir an, daß das Seiende im Ganzen, die "Totalität" (die unheimlid1e Heimat des heimatlosen modernen Mensd1en), den Ge­samtbereich aller Erfahrungen bildet. Dieses Ga11ze erscheint nicht mehr als ein einheitliches All. Das einig-einigende Schick-sal, das viel­leicht noch innerhalb seines unbegrenzten Kreises waltet, kommt nicht zum Vorschein. Das All selbst und alles, was ist, scheint grundsätz- '•

6!

Page 36: Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken

lieh in verschiedene Gebiete, Bereiche, Bezirke und Schichten gegliedert und zergliedert zu sein, denen die verschiedenen Hinsichten und Ge­sichtspunkte entsprechen sollen, und es sind die Gesichtspunkte, die die Gebiete und Schichten umgrenzen. Die große, grobe Einteilung der Totalität betrifft den Unterschied von Natur und Geschichte, ob­wohl das einzig gemeinsame Fundament dieser beiden "Teile" un­erfaßt und undurchdacht bleibt.

Die Natur gilt als Gesamtbereich von allem, was wächst (<pÖtrcu) und in Erscheinung tritt ( cpoclvETet� ), ohne vom Menschen erzeugt zu sein. Was die Griechen Physis und Kosmos nannten und von den Römern in Natura und Universum umgedeutet wurde, ver­wandelte sich, d. h. wurde durch eine lange Geschichte hindurch zur "Natur" verwandelt. Die Natur gilt so als "Inbegriff aller Dinge, insofern sie als Gegenstände unserer Sinne, mithin auch der Erfahrung sein können" (Kant). Das planetarische System, die Erde und die Sonne, das Wasser, die Luft und das Feuer, die Materie und die Energie, das Gestein, das Gewächs, das Getier und endlid1 aud1 der Mensch, als natürliches Lebewesen, gehören zu den Mächten der Natur. Die mit der Tedmik zusammengewad1senen Naturwissenschaften erforsd1en und bearbeiten plangemäß diese Natur-die zum Gegenstand der Physik gewordenePhysis-,und jeder ihrer Regionen und Kräfte entspricht ein adäquates handelndes Wis­sen. Kosmologie, Astronomie, Mechanik, Physik, Chemie, Geologie,

Botanik, Zoologie und Biologie durchforschen die ganze Stufenord­nung und Entstehungsgeschichte des Naturseienden. Diese Stufenord­nung, die die Griechen wohl kannten, ohne aber aus ihr ein steifes Schema zu machen, wurde im Genesis-Buch des Alten Testaments planvoll und erbaulich erbaut und herrscht heute innerhalb der Welt­auslegung der Wissensmaften und trägt den Namen Entwicklungs­theorie. Der Mensm gilt als der Höhepunkt dieses Prozesses.

Mit dem letzten Gesmöpf des Baumeisters der Welt fängt die Geschichte an. Das vom Menschengeschlecht getragene Geschehen der Welt ist ursprünglim und anfänglich eine noch naturgebundene, pri­mitive "Vorgeschidlte", von der uns noch heute die sogenannten "Naturvölker" ein gewisses - aber ungewisses - Bild geben. Mit den oriemalisd1en und ostasiatischen Reichen und Völkern wird das Geschehnis zu einer "wirklichen" Geschichte: das Zweistromland,

Agypten, Indien, China, Palästina verwirklid1en den Obergang von der Natur zum Geist der Kultur. Die eigentliche Geschichte beginnt aber erst im Abendland, d. h. in Griechenland; hier erst taucht die Wahrheit des Geschickes auf. In Griechenland entfalten sich die Mächte der Sprache und des Denkens, der Dichtung und der Kunst, der Reli­gion und der Politik, ein einheitliches Ganzes bildend, das Grund­lage aller Bildung - auch der planetarischen - noch immer bleibt. Die Vorsokratiker, das Wesen der Physis denkend und den Logos zur Sprache bringend, Sokrates und Platon im Kampfe gegen die Sophi­sten die Herrschaft der über- und nichtsinnlichen Idee über das Sinn­liche begründend, Aristoteles, der Denker der Energie und der Seiend­

heit (oöal«), die drei aufgelösten Richtungen (Stoizismus, Epikurismus, Skeptizismus) und endlich die Begegnung des heidnischen Denkens mit dem religiösen Glauben bei Plotin und den Neuplatonikern (die das verstorbene Eine noch suchen), bilden die Hauptmomente und den inneren geistigen Gang der griechischen Gesd1ichte.

Griechenland geht zugrunde und Rom steigt empor - das weniger denkende als handelnde Rom; das realistische, republikanisd1e und imperialistische Rom mit seiner Republik und seinem Kaisertum, mit seinen geschichtemachenden Gesetzen. Griechenland und Rom voll­bringen die erste eigentliche weltgeschichtliche Leistung und begründen so die klassische Antike.

Der zweite große Schritt, von den Juden und den Christen voll­zogen, führt bis zur Reformation. Sein Höhepunkt ist das christliche Mittelalter. Das Alte Testament und die jüdismen Propheten, die Evangelien und das Neue Testament, die Kirchenväter, Augustin, die Mystik und die Scholastik begründen den tragenden Glauben dieser Epoche, bearbeiten und verfestigen den biblischen Offenbarungsglau­ben des zum Menschen gewordenen und sterbenden Gottes. Alles was ist, erscheint als Geschöpf des Schöpfers und untersteht dem Plan der Vorsehung. Alles Werdende ist ein Produkt des göttlichen actus purus, dem jede menschliche Handlung entsprechen soll.

Der entscheidende Schritt der zur planetarischen Epoche führenden Gesmichte ist aber der dritte: der neuzeitlich-europäische. Der moderne Mensch tritt auf den Plan, das Subjekt, das alle Objekte mit seinem Denken und Wissen, Handeln und Wirken beherrschen will. Diese dritte Epoche will eine Wiedergeburt, eine Renaissance sein und kann

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nicht sehr lange nur europäisch bleiben: sie bewegt sieb auf einer Bahn, die zur geplanten und verwirklichten, alle Teile der Erde um­fassenden Weltgeschichte führt. Ein unheimlicher Machttrieb treibt die Epoche des beginnenden Willens zur Macht. Descartes denkt das ego cogito, d. h. die res cogitans, als das objektive Subjekt, dem die Ob­jekte innerhalb der res extensa gegenüberstehen; er ist der Begrün­der der Logik der eingreifenden ratio. Pascal denkt die Vernunft

der Innerlichkeit, die raison des Herzens. Spinoza versucht die all­umfassende, natürlich-göttliche Substanz zu erfassen. Diese Substanz offenbare sich aber in zwei Attributen: Ausdehnung (Materie) und Denken (Geist); und seine Ethik ist mathematisch-geometrisch aufge­baut. Leibniz läßt sich von der Frage befragen: pourquoi il y a plutot

quelque chose que rien? und sieht die Antwort in der Richtung des

ens percipiens et appetens. Das Subjekt ist das ens des Seienden; seine Perzeption und sein Streben begründen die Weltordnung. Kant be­gründet metaphysisch-erkenntnistheoretisch die Macht des transzen­dentalen Subjektes, das sich der seienden Gegenstände (Objekte) be­mädnigt. Das Transzendentale der Gegenständlidtkeit (Objektivität)

und das Transzendentale der Subjektivität (der nicht vereinzelten

Ichheit) verhaften im Selben. Hege! schließt metaphysisch eine Epoche: der zur Natur und zur Menschengeschichte gewordene Geist verwirk­licht sich im absoluten Wissen, das die Wahrheit des Ganzen durch das absolute Selbstbewußtsein in der Form der absoluten Gewißheit voll­zieht. Marx leitet die Gegenbewegung ein: er macht aus den praktisch

w1d technisch handelnden und wirkenden Menschen das objektive Sub­jekt der gegenständlichen Wirklichkeit. Nietzsche zieht den Schluß:

diese Herrschaft des Willens zur Macht führt zum Morde Gottes, zum Zeitalter des Nihilismus, d. h. der Vernichtung des bisher tragenden übersinnlichen Sinnes. Wird der Obermensch den Willen zur Macht wahrhaftig übernehmen können, um zur planetarischen Erdherrschaft zu gelangen? Wird der das bisherige Menschentum übernehmende, aber auch aufgebende und überwindende Mensch innerhalb der plane­

tarischen Rotation der ewigen Wiederkunft des gleichen Willens zur �acht ja sagen können? Descartes und Pascal, Spinoza und Leib­

niz, Kant, Hegel, Marx und Nietzsche sind nicht irgendwelche tief­sinnigen Philosophen ; sie sind die Denker, die das Gegenwärtige

und das Zukünftige einleiten.

Wie soll aber die gegenwärtige Phase des abendländisch-euro­päischen und neuzeitlieb-modernen Geschehens genannt werden? Die zum Planetarischen führende Geschichte weiß nicht sehr gut, wie sie sich bezeichnen darf: erste Epod1e der tatsäd1lid1 verwirklich­ten und vereinigten Weltgeschichte? Atomzeitalter? Planetarische Epoche?

Der Mensch, sein "Sein" und sein geschichtliches Werden, werden

doch von einem ganzen geistes- oder geschichtswissenschaftliehen Heer in Angriff genommen. Kann dieses eroberte Wissen auf die dringen­

den Fragen eine Antwort geben? Der menschliche Leib und die menschlid1e Seele bilden den Gegenstand der Biologie und der Psy­chologie, während sie die Medizin und die Psychotherapie in Schutz nehmen. Die sogenannten Naturvölker werden von der Ethnologie durchstöbert. Die Wirtschaft, die Gesellschaft, die sozialen Gebilde und die Politik geben der Volkswirtschaft, der Soziologie und den Sozialwisse11schaften viel zu tun. Die Mächte, die sich im Gange des geschichtlichen Geschehens entfalten - Religion, Dichtung und Kunst -sind aud1 Gegenstände der adäquaten Geisteswissenschaften ge­

worden. Und endlich wird der gesamte geschichtliche Prozeß und alles, was in ihm und durch ihn zustande kommt, von der Geschichts­wissenschaft, d. h. der Historie, aufgenommen und geklärt.

] cdes Seiende - sei es natürlicher Art, sei es menschlich-geschicht­licher - findet so innerhalb eines totalen Planes und Planens seine naturwissenschaftliche und seine geschichtswissenschaftliehe Bearbei­tung und Einordnung. Jedem zum Gegenstand des Wissens gewor­denen Ding und jeder Sache entspricht eine wenigstens zwiefache Be­handlung : eine systematisch-wissenschaftliche (die die Sache erfassen will) und eine geschichtlich-historische (die ihre Entstehung und Ent­wicldung untersucht).

Die vornehmste Tat menschlichen Leistens, das Denken, wird seiner­seits von der Philosophie übernommen, und die Philosophie, als Meta­

physik, erforscht das Sein des Seienden im Ganzen - als Idee, Gott, Geist, Mensch, Materie, Energie, Gestell oder wie immer ausgelegt -, sagt auch ihr Wort dem Naturgeschehen gegenüber und versagt nicht, die Menschengeschichte zu denken versuchend. So gliedert sich dieses philosophiscl1 allumfassendeDenken ganz ordentlich. DieMetaphysik­die metaphysica generalis, die Ontologie - ist auf das Ganze, auf das "

Page 38: Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken

Seiende als Seiendes gerichtet. Die Logik ist die Rid1terin des Denkens,

und die Erkenntnistheorie bleibt ebenfalls von der ratio bestimmt.

Die Bestandteile einer entwickelten und aufgelösten metaphysica spe­

cialis befassen sich mit den regional-ontOlogischen Bereichen. Natur­philosophie, Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Ethik und li.sthe­

tik erschöpfen so die Natur und ihre Mächte, die Macht und die Ohn­

macht des geschichtlichen Menschen, die Tugend des Handeins und die

Schönheit der Kunstwerke. Die philosophisch-wissenschaftliche Ge­

schichte, d. h. Historie der Philosophie, erforscht endlich den histo­

rischen Gang des Philosophierens und seine Haltestellen.

Die Philosophie, d. h. das zur Philosophie gewordene (offene) Den­

ken, gliederte und planierte sich schon innerhalb der ersten philoso­

phischen Schule in "Logik", "Physik" und "Ethik". Mit der genialen

platonischen Schulphilosophie anfangend, durch die theologische Aus­

legung des biblisd1en Offenbarungsglaubens stark gefärbt und syste­

matisch vermittelt, führt diese Planung des dem praktischen Handeln

gegenüberstehenden theoretischen Denkens bis zu Hege!. Ein ontolo­

gisches Schema, in regional-ontologische Gebiete gegliedert und unter

der Mad1t methodelogischer Gesid1tspunkte stehend, umfaßt das Sein

des Seienden im Ganzen und die Bereiche der Totalität.

Der Logos des Ganzen, sein Sein und seine Wahrheit, die Dialektik

des Geschehens (als Idee, Gott, Geist oder Sinn und Richtung der sich

bewegenden energetischen Materie interpretiert), wird vom mensch­

lichen logischen Denken "wieder" aufgefaßt und gerät durch die

menschliche Spradle und das humane Bewußtsein zur Sprache, zum

Bewußtsein seiner selbst. Logik und Dialektik sollen so dem Logos

des Seins oder des Werdens entspredlen.

Das Reich der Natur, sein Ordnungssdlema, seine Entwicklung und

seine ganze Stufenleiter werden von der Physik ins Blickfeld ge­zogen. Nadldem der Logos oder der Geist alles erhellt hat, kann die

massive Natürlichkeit des �eienden von den gemäßen Wissenszweigen

und technischen Tätigkeiten in den Blick und in die Hand genommen

werden.

Mit dem Mensdlen verwandelt sim die Natur in etwas anderes. Mit

dem Menschen und mit dem Geiste der Mensdlengeschichte gelangt das

Ganze des Geschehens in die Stätte des Selbstbewußtseins. Diese Ver­

gewisserung trägt die Ethik und wird von ihr getragen. Das Menschen-

66

turn vollbringt einen totalen Plan, plant planmäßig und planiert, was

Widerstand leistet. Wir erreichen so das Ziel: das planetarisme Zeit­

alter des Erdballes, dieses irrenden Sternes.

Alles ist so redlt ordentlidl und klar, plan und platt. Es gibt Seien­

des. Die Metaphysik und das spekulative Denken erfragen das Sein

des Seienden, den lebendigen oder den toten Gott und enthüllen -

spiritualistisch oder materialistisch - den Kern von allem, was ist. Das

Sein des Seienden gilt als Logos des Geschehens, als allgemeiner und

totaler Plan, mit dem das menschliche Denken in Eintracht stehen soll.

Das Seiende erscheint zunädlst innerhalb der Natur, die irgendwie an­

fängt und zum Menschen übergeht: Naturwissenschaften eilen auf die

physikalische Natur zu und greifen in sie hinein. Die Geschichte der Natur - und Menschenkinder erfüllt den zweiten großen Ort der

Totalität. Die Geschidlte beginnt mit der Vorgeschidlte und findet

keine Ruhe, bis sie bei der vollbradlten planetarisdlen Weltgeschichte

ankommt. Im Verlaufe dieses Gesdlehens lernen die Menschen, zu

sprechen und zu denken, und es entfalten sidl die Mädlte der Reli­

gion, der Dicl1tw1g, der Kunst, der Politik, der Philosophie, der

Wissensdlaften und der Technik, die das Ganze und dessen Bestand­

teile zum Ausdruck bringen und ihrerseits zum Gegenstand ver­

schiedener Gesichtspunkte werden können.

Der Kreis smließt sich, und wir Heutigen erforschen das Sein des

Seienden, treiben Naturwissenschaft, besitzen eine allumfassende

historische Geschidltswissensdlaft, die unser ganzes Geschehen um­

faßt, während unser Denl�en alles adäquat und irgendwo am rich­

tigen Ort denkt. Dabei greift unser technisdles Handeln in alles hin­

ein, um es planmäßig und praktisd1 zu verändern. Die Gesdlichte

der Welt verwirklicht sim auf diese Weise einheitlich und total als

Weltgeschidlte, alle Menschen und Völker der Erde denken innerhalb

desselben Planes, treiben dasselbe und werden vom selben getrieben,

stehen unter demselben Schlag. Ein vielseitig-einseitiges Denken, eine

wirkende Wissenschaft und eine totale Technik erfassen den ganzen

Planeten und führen die vereinigte, d. h. die uniformierte Mensch­

heit, zur radikalen Beherrschung der Natur, zur Befriedigung aller

natürlichen (und sogar geistigen) Bedürfnisse und Triebe. Das kollek­

tive Menschentum stellt sich als der Plänemacher vor; es ist das ob­

jektive Subjekt, das alle gegenständlichen Objekte ergreift, um sie '-

Page 39: Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken

durch seinen, keine Grenzen kennenden, praktisch-tedlnischen Willen "wirklich" zu verwandeln.

Dieses totale und einheitlid1e Bild ergibt sich heute in allen Län­dern und allen Köpfen; seine Variationen gehören zu ihm. Juden und Christen, Positivisten und Idealisten, Bürger und Marxisten verfolgen dasselbe, ob sie es wissen oder nicht. überall wird alles nach diesem

Schema gelernt und gelehrt, gemacht und produziert. Derselbe Plan

wird auf der globalen Erdoberfläche verfolgt: technisch-theoretisch und

technisch-praktisch. Jedes Seiende - sei es ein Apfel, das Lächeln eines Kindes oder eine

Drehmaschine - wird technisdl-naturwissenschaftlich in den Blick ge­nommen, geschichtlich-historisch durmstudiert, praktism umgeformt.

Jedes Seiende wird ebenfalls mythologism, religionsgesmichtlim und geistesgeschimtlich ausgelegt, und alle seine Erscheinungsformen inner­

halb der Mythologie, der Religion, der Dichtung und der bildenden

Kunst werden tüchtig zerlegt. Letzten Endes wird noch jedes Seiende als Wort, Begriff oder Zeichen von der Sprachwissenschaft, der Logik,

der Erkenntnistheorie und der Logistik ergriffen, während die Meta­physik mit ihrem spekulativen Denken sich bereitstellt, das Sein dieses

Seienden unermüdlich zu erfragen. Das alles gilt für jegliches Seiende, sei es ein Apfel, das Lächeln eines Kindes oder eine Drehmaschine.

Wir sind endlich und nach einer langen Geschichte in ein Zeitalter eingetreten, das das Seiende verallgemeinert hat, viel- u.nd allseitig erforscht und wirklich, d. h. technisch, umgestaltet. Dieses Zeitalter soll planetarisch heißen.

Ist so nicht alles in Ordnung, und diese Ordnung überhaupt, ist sie

nicht die planmäßig geplante, planierende planetarische Weltordnung? Zeigt sich noch irgendwo ei n Riß unter dem leuchtenden Sonneo­stern - der seit ein paar Jahrhunderten kein Planet mehr sein soll -und auf dem irdischen Irrstern, der seit der kopernikanischen \\'Tende zu einem Planeten geworden ist und in eine großartige Rotations­bewegung hineingerissen wit·d?

II

Warum soll aber dieses Zeitalter planetarisch heißen? Weil sein Planetenlauf ein wandelnd-wandernder ist, oder weil er ein irrender

ist? Weil sein Planen planetarisch ist, oder weil er im Laufe seiner

68

Planetenbahn das All planieren will? Weil seine Planmäßigkeit zur totalen Planierung führt und es trotzdem und deswegen ein Zeit­alter des zum erstenmal sich abzeichnenden Irrsternes als Irrsternes ist und bleibt? Weil alles auf die Planscheibe aufgespannt wird, deren wandelnde Rotation immer die gleichgültig gleiche bleibt? Oder

weil wir den letzten Plan dieses ganzen Gebildes und Gestells nicht ins Auge fassen können, um ihn zur Sprache zu bringen?

Für die Griechen beruht das Wesen des "Planetarischen" in einem irrenden Wandern; rrP.�w fut. 7tMy!;o�J.<XI, aor. pass. btMn:&t)v (lat. plango), ein echt homerisches Wort, heißt: schlagen und gesd1lagen und

getrieben werden, irren, plagen, ortlos herumwandern. Der Sinn des Odysseusabenteuers, und nicht nur dieses Abenteuers, ist in den ersten

Versen der Irrfahrt angedeutet: "Sage mir, Muse, die Taten des viel­gewanderten Mannes, I welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung, I vieler Menschen Städte gesehen und Sitten gelernt hat I und auf dem Meere so viel' u11nennbare Leiden erduldet, I seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft".

Die Menschen sind die vom Sein der Physis, vom Geschick, vom

Blitze Zeus, 7tM�6!Levot, Geschlagene11 und Getriebenen, und sie sind

fortdauernd in einem wandernden Irren, auf einer Irrfahrt. Sie sind

7tA6.'J'I)"tsr;; : sie sind die Irrenden. Die Sterblichen wandern und irren auf der Erde, die für die Griechen kein Irrstern ist. Sie irren aber nicht

hinsichtlich einer richtigen Wahrheit. Die ciP.i)�e1o: entbirgt sich durch

diese Fahrt, und die Menschen irren und wandern innerhalb der Lich­tung (der Unverborgenheit). "Die Drogetriebenheit des Menschen weg vom Geheimnis hin zum Gangbaren, fort von einem Gängigen, fort zum nächsten und vorbei am Geheimnis, ist das Irren. Der

Mensch irrt. Der Mensch geht nicht erst in die Irre. Er geht nur immer in der Irre . . . "1 Das Irren darf nicht als Unrichtigkeit, als Falsch­heit oder als Verirrung, als Abweichung verstanden werden: wir

"irren" ganz grob, wenn wir dies tun. "Nicht ein vereinzelter Fehler, sondern das Königtum (die Herrschaft) der Geschichte jener in sich verschworenen Verstrickungetl aller Weisen des Irrens ist der Irr­tum. [ . . . ] Die Irre, in der jeweils ein gesd1ichtlid1es Menschentum gehen muß, damit sein Gang irrig sei, fügt wesentlich mit die Offenheit des

1 Heidegger, >Vom Wesen der Wahrheit<, Frankfurt a. M. 1943, :t. Auflage " 1949> s. zz.

Page 40: Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken

Daseins."� Die griechischen Wörter 7tMI:;:c.>, bc:f.ti'(X&l)v, 7t:f.aC6!J.evo�.

rr:t.&vrrr�. ?t)..av'ijTa� nennen dieses Gesdl.ehnis des wandernden Irrens und bringen auch die Irre als BeirrUI1g ( 7tAciv·'l) zur Spradl.e; wir dür­fen sie aber nicht nach der Macht der Urteilskraft beurteile11. "Die Embergung des Seienden als eines soldl.en ist in sich zugleich die Ver­bergung des Seienden im Ganzen. Im Zugleich der Entbergung und Verbergung waltet die Irre. Die Verbergung des Verborgenen und die Irre gehören in das anfängliche Wesen der Wahrheit. "S

Für die Gried1en sind die Planeten, die Wandelsterne, die Irrsterne, die herumgetriebenen Sterne, die rrMv'I)Ts� (aoTep,�). Die Griechen haben weder erst am Sternengang das Wesen der Irre erfahren, noch haben sie es vom Menschlidten ins Kosmische übertragen. Die Grunderfahrung der Irre ersd1loß sich ihnen und blieb trotzdem ver­schlossen. Die Sonne selbst, der leuchtende und in die Unverborgen­heit führende Stern, ist für sie ein "Planet".

"(Gott) lenkt alles was kriecht mit dem Smlag. "4 Dieser göttliche Geißelschlag ( 7t/,'l)yfj) ist "der Blitz, der alles lenkt" .a Alles was auf der platten Ebene kriecht und herumwandert, wird getrieben, ge­

sdJlagen und gelenkt.G

Die Einheit des Alls des Seienden, die waltende Physis, birgt in sim die Wahrheit, die die Menschen in ihrem irrenden Wandern irrend entbergen, d. h. im Sprechen (im Logos), im Schaffen (in der Poiesis),

im Handeln (in der Praxis) hervorbringen. Dieses wandernde Irren der Sterblichen findet also innerhalb eines Ortes statt: Das Eins-Alles (das heraklitische �v ncino:) ist dieser wahre Ort.

Technik und Physis sind und bleiben innig verbunden für die Grie­chen, haben sogar einen gemeinsamen und einzigen Ursprung. Das

� >Vom Wesen der Wahrheit<, S. 23. 3 •Vom Wesen der Wahrheit<, S. 23. 4 Heraklit, Fragment 1 r. G Heraklit, Fragment 64. 6 Das Entscheidende in den Wörtern: 7tAIX�O>(schlagen), rr)..<iv·l)<; (irrend wan­

dernder),7tACXV�T7)�(Planet), planus (plan und platt) und plänus (herum­w:andernd) ist nicht ihr gemeinsamer, bzw. nicht gemeinsamer etymolo­gischer Ursprung. Mehrere sprad1wissenschaftliche Hypothesen versuchen d_iese Zusammenhä�ge zu erklären - sich dem Sinn nähernd ( 7tEA�c.>) und SIC:h entfernend. Dte Wortverschiedenheiten kann jedennann in den ent­sprechenden Wörterbüchern leicht feststellen; das Sinnbaft-Gemeinsame aber, das zur Sprache kommt und die Sache sprechen läßt, ist viel schwerer zu denken.

Rätsel ihrer Geburtsstätte bleibt jedoch ungelöst. Natürlimes Auf­treten und poetisches Hervorbringen, kosmisches Einbrechen und han­delndes Wirken (der Praxis) sind von einer Selbigkeit bestimmt, ob­wohl diese Selbigkeit rätselhaft bleibt und wir nicht einsehen können, wie, was später so heftig auseinandergetreten ist, ursprünglich sc innig vereinigt war.

Mit dem Auftreten des jüdism-mristlimen Offenbarungsglaubens erscheint das Seiende im Ganzen in einem anderen Glanz. Gott ist das Sein des Seienden, der absolute Pläneschmied, und der Plan der Vor­sehung umfaßt das totale Werden der \Velt: vom ersten Akt der crca­tio ex nihilo bis zur Apokalypse. Der Logos Gottes erzeugt planvoll die ganze Smöpfung - die Natur und den Mensmen -, und die sterb­lichen Sünder müssen, gegen die Natur planmäßig kämpfend, sim dem Plan der Vorsehung einordnen. Die mensd1lichen Gesmöpfe ent­wickeln demnach ihre Tätigkeit, um einen Plan zu vollbringen, und alles ersd1eint im Planspiegel des fundamentalen Glaubens. Der zum Mensd1en gewordene Gott zeigt dem Menschentum den einzigen Weg. Durm diesen Offenbarungsglauben - und seine Bewährung und Ver­steifung durdl. die Autorität der Kirche - wird alles, was "natürlid1", "materiell", "leiblich" und "sinn]im" vorliegt, zum Thema des Kamp­fes, dessen letztes Ziel das übersinnlime Reim bleibt. Der gottähn­liche - aber verfallene, sündige und schuldige - Mensch soll alles be­herrschen und durch sein Tun umwandeln: er ist der zweitgrößte Herr der Schöpfung; das Göttlid1-Schöpferische wird vom gottähnlid1en menschlidlen Schaffen übernommen.

Für uns neuzeittim-moderne Menschen ist der Erdball zu einem Irrstern geworden. Die Geschichte der Mensmheit entfaltet sich ein­heitlich auf der ganzen Erdkugel, umfaßt sie und den umgebenden Raum. Das menschlidl.e Planen planiert alles, was diesem Gesmick Widerstand leistet. Wir sind das erste planetarische Alter der Welt­zeit. Ein totaler Plan ergreift alles und treibt alle Triebe, während die Erde selbst zum Kampfplatz dieses Entwurfes wird. Planmäßig soll alles geschehen, um zur totalen und weltgesdlimtlic:hen Planierung zu führen. Alles wird durch die Tedlnik auf die Planscheibe aufge­spannt, deren Rotation sich mit der Rotation der Erdkugel decken will. Indem wir aber von jeder )!acht geschlagen und getrieben wer­

den, haben wir den Ort der E7�gung der Wahrheit "verloren". •

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Irren wir, sind wir beirrt, oder haben wir uns verirrt? Das griechische Wesen wuchs auf einem Boden und beseelte einen Ort; sein irrendes

Wandern fand innerhalb der Wahrheit des Seienden im Ganzen statt.

Das christliche Wesen befeuerte auch durch sein Irren einen wahren Ort. Dagegen haben wir nicht die Wahrheit. "Das Neue an unserer jetzigen Stellung zur Philosophie [und nicht nur zur Philosophie]

ist eine Überzeugung, die noch kein Zeitalter hatte: Daß wir die W ah,·heit nicht haben. Alle früheren Menschen ,hatten die Wahr­heit', selbst die Skeptiker. "7 Die Frage bleibt offen: vielleicht hat uns die Wahrheit. Jedenfalls hört die Wahrheit auf, einen Ort zu erhellen, und sie wird ins wandernde Irren hineingerissen; sie bleibt innerhalb

der Kreisbewegung des planetarischen Zeitraumes verborgen. Das Zeitalter, vor dem und in dem wir stehen (d. h. taumelnd um­

herwandern), das Alter der Weltzeit, das schon aufgebrodwt und

noch nicht wirklich angefangen hat, ist planetarisch: planend, planie­rend, alles was ist, auf die Planscheibe plangemäß bringend, einen totalen Plan vollbringend. Die Planwirtschaft und der hartnäckige ökonomische Kampf, der auch zur Planifikation führt, bilden nur eine sehr sichtbare Schicht und eine der wirkenden Kräfte dieser ganzheitlichen planierenden Planung; obwohl der wirtschaftliche Be­trieb zur Befriedigung aller Triebe und Bedürfnisse führen soll und als das Treibende angesehen wird (im Marxismus), bleibt er doch dem Machttrieb unterworfen.

In der objektiven Setzung der Subjektivität des Menschen (als res cogitans), im planenden Angreifen der Ganzheit der res extensa (der objektiven und bewirkten Wirklichkeit), in1 Einbruch der Perspektive und der Kombinatorik, im Wissenswillen und im Herrschaftswillen liegen die Wuruln dieses wurzellosen Zeitalters, welches das Gesdllck der Technik und des Nihilismus zu vollbringen versucht. Es "gibt" keinen Sinn mehr des Seins, das Sein wird zum irrend-wandernden Werden, und alles, was ist, wird Gegenstand der planvollen, plane­tarischen Technik, die heftig in diese Leere hineingreift. Das Gesdllck der Welt - d. h. der Offenheit des "werdenden" Seins - schlägt in die Weltgesd,ichte über, und die Welt - d. h. die Unweit - erscheint als eine Werkwelt, innerhalb deren für das eigentliche Plagen kein Raum übrig bleibt.

7 Nietzsche, \Y/. \YI. XI, S . .:t68.

Die Vernichtung der - nur übersinnlichen? - Wahrheit des Seins des werdenden Seienden im Ganzen, die "Verneinung" der sinnvollen Offenheit der Welt, der aktive Nihilismus, der nur sinnlich Seiendes auf die Planscheibe aufspannt, vollbringen eine enorme weltgeschicht­liche Leistung und Tat: die sie treibende Macht erobert das sichtbare

Ganze des irrenden Erdballes, vereinigt die Menschheit, entbirgt alles, was ist, indem sie es zum Gegenstand der plänemachenden Produkt­tion künstlich erhebt. Grundsätzlich Neues wird so erzeugt. Diese ge­samte Machenschaft, dieses schaffende Geschäft, besitzt aber weder eine Wahrheit noch einen Sinn, weder einen Ort noch eine Antwort auf die Fragen: Warum? Wohin? Wozu? Trotzdem und darum hört sie keineswegs auf und fährt immer weiter; die Weltkriege gehören wesentlich dazu, obwohl sie vielleicht die durchgeführte kämpfende Technik überflüssi g werden läßt.

Ob dieses planetarische Verfahren zur Weltkathastrophe, zur Welt­

vernichtung, zum Weltuntergang führen wird, ist keineswegs über­sehbar. Vielleicht ist der tiefste und letzte Grund alles Seienden, "am Ende" zu Grunde zu gehen. Vielleicht; leicht zu sagen; schwer zu denken. Weltvernichtung? Warum nicht? Warum nicht Nichts? könnte man auf die Frage des W amm mittels einer (abwesenden) Antwort erwidern. "Wir machen einen Versuch mit der Wahrheit/ Vielleicht geht die Menschheit dran zu Grunde! Wohlan!" schrieb und schrie bereits Nietzsche.s Die Frage, die sich dem philosophisch metaphy­sischen Denken von alters her stellt, die Frage ·d -ro ISv, die Frage, die Leibniz fragt: pourquoi il y a plutot qu.elque chose que rien?, das Sagen, das sich in Frage stellen läßt, indem es fragt: Warum ist über­haupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?,• das Sein selbst, das so fragwürdig wird - geht das alles und dessen Weltsein zugrunde? Findet der Satz vom Grund im Nichts seinen letzten Grund? Und soll dieses Nichts als Fülle oder als Leere vorausgedamt werden? Die sprechende Frage ist schon schwer zu hören; viel schwerer aber noch, das Wort der Antwort auszusprechen.

Die Geschichte des neuzeitlich-europäischen Denkens, das sid1 hauptsächlich in der Metaphysik, d. h. in der Philosophie, abspielt,

8 \YI. W. XII, S. 307. 9 Heidegger >Einführung in die Metaphysik<, Tübingen 1953, S. 1, und ,

>Was ist Metaphysik?<, Frankfurt a. M., 5. Auflage 1949, S. 2.0.

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hilft sie uns wenigstens den Weg zu finden? Das Geschehnis des abendländisch-modernen und zum planetarischen Zeitalter führenden Denkens, beleuchtet es den Planetenlauf und woher empfängt es sein Licht? Können wir beruhigt und beirrt seinen Weg weitergehen? Dieses Denken vollzieht jedenfalls nidtt vielerlei und verschiedene Schritte. Die Macht des Denkens entfaltet sich in wenigen und streng konzentrierten Schritteu, die zur Verwirklichuug der Metaphysik, zum "Philosophisch-Werdeu der Welt" als "Weltlich-Werden der Philosophie" fi.ihren, angenommen, daß jene Verwirklichung zugleich ihr Verlust ist.

Descartes vollzieht den ersten entscheidenden Schritt: er setzt das Subjekt, das denkende und handelnde ego, die res cogitans; dieses Subjekt soll durch seine Vorstellung und sein wirkendes Wissen die ganze Wirklichkeit der res extensa beherrschen, um sie rational zu be­nützen. Physik und Metaphysik waren - seitdem sie zur Sprache kamen - auf seltsame Weise innig verbunden. Die Metaphysik fängt jetzt an, in der Physik ihre Vollendung zu finden, und das kann ge­schehen, weil die Physik der Metaphysik entstammt, und die Meta­physik von der "Physik" stark geprägt worden ist. jetzt schlägt

die Physik - Metaphysik - Physik in die Technik über. Das mensch­liche Subjekt, das sich mittels der Ratio der Objekte bemächtigen will, ist selber objektiv, d. h. als Gegenstand gesetZt und auf den Weg geführt. Kam geht denselben Weg: er setzt das transzendentale Id1 und ver­sucht es zu fundieren. Dies denkende und handelnde Ich konstituiert die Gegenstände als Gegenstände der Erfahrung, d. h. als Objekte. Das Transzendentale der Gegenständlichkeit umfaßt die transzenden­tale Subjektivität und wird. zugleich vo11 ihr fundiert. Transzenden­tales Subjekt und transzendentales Objekt sind auf einander hinge� wiesen und wurzeln im Selben.

Hege! will den Sinn des ganzen Weges erhellen : er deutet den tota­len dialektischen Entwicklungsprozeß des Geistes, der vom Logos (Gottes) zum stumpfen Reich der Natur und zum Geiste der Men­schengeschichte führt, und dieser Gang des Ganzen wird am Ende vom Subjekt, vom Selbstbewußtsein, vom absoluten Wissen erfaßt. Die Wahrheit, die so zustande kommt, ist die Wahrheit des Ganzen ­"das Wahre ist das Ganze" -, und die Dialektik des denkenden Sub-

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jekts bringt die Dialektik, d. h. die Bewegung des werdenden Seins zur Sprache, als Dialektik der realen und objektiven Wirklichkeit selbst. Vielmehr sind Idee und Realität dasselbe.

Bei Hegel geht etwas zu Ende ; allerdings wissen wir noch nicht genau, was sich bei ihm vollendet und eine neue Zukunft vorbereitet.lO

Das gesetzte objektive Subjekt-das Menschensein-, das alle Objekte (das Ganze des Seienden als den Gegenstand) beherrschen und durch seine Vorstellung, seinen wirkenden Willen und seine produktive Arbeit praktisch verwandeln will, einmal auf den Weg gesetzt, fängt an zu laufen. Die folgende Strecke des Weges wird vo"in handelnden und verallgemeinerten objektiven Subjekt durchlaufen. Marx will die Hegeische Dialektik auf die Füße stellen - es handelt sich ja darum, schneller und immer sdmeller laufen zu können; die Produktivkräfte der Technik sind diejenige Macht, die sidl am schnellsten entwickelt und entwickeln wird, und sie verliert nidlt den wirklichen Boden, den

ro Anfang und Ende, Aufgang und Untergang, Gewesenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges, Altes und Neues, Tradition und Revolution verstellen sich gegenseitig, verstecken sich unter- und hintereinander. Jede dieser Mächte enthält i n gewisser Weise die "Gegenseite", setzt sie voraus, wird durch sie "erklärt." Sie drehen sich im Kreis. Wo und wie fängt etwas an, hört etwas auf, findet sein oder ein Ende, wo und wie entsteht etwas an­deres? Was verwandelt sich und wie entsteht Neues? Die Obergänge lassen sich schwer erkennen. Marx sagt ganz nüchtern von den Anfängen der neuen Gesellschaft: "eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eigenen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht; die also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Mutter· malen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie kommt. • (>Kritik des Gothaer Programms< (1875), Berlin 1946, I, 3.) Zugleich aber will er- wie wir noch sehen werden - an eine ganz neue Zukunft glauben: denn "der Kommunismus unterscheidet sich von allen bisherigen Bewegungen". Heidegger behauptet, daß das jetzige Zeitalter "nid1ts Neues beginnt, sondern nur das Alte, schon Vorgezeichnete der Neuzeit in sein .i\ußer­stes vollendet." (>Unterwegs zur Sprache<, Pfullingen 1959, S. 165.) Zu­gleidl aber stellt er die Frage: "Sind wir die Spätlinge, die wTr sind? Aber sind wir zugleich auch die Vorzeitigen der Frühe eines ganz anderen Weltalters, das unsere heutigen Vorstellungen von der Geschichte hinter sich gelassen bat?" (>Holzwege<, S. 300- r.) Wir sind immer eher im Zwischenspiel als im Spiel selber. Vergleiche dazu: >Vers la pensee planetaire. Le devenir-pensee du monde et le devenir-monde de Ia pensee<, Collection >Arguments<, Editions de Minuit, Paris 1964, hauptsächlich den Schlußtext: L'interlude.

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sie unter den Füßen hat. Der technisch handelnde Mensm wird dem­gemäß in die Würde des gegenständlichen ego erhoben, und die Arbeit wird die ausgezeimnete Weise der die Wirklichkeit bewirkenden Tätigkeit. "Das Große an der Hegeismen Phänomenologie lmd ihrem Endresultate -der Dialektik, der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip - ist also, einmal daß Hege! die Selbsterzeugung des Mensmen als einen Prozcß faßt, die Vergegenständlimung als Entgegenständlimung, als Entäußerung, und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegen­ständlichen Mensmen, wahren, wei l wirklichen Menschen, als Resul­tat seiner eigenen Arbeit begreift", smreibt der junge Marx.11 Marx übt aber an der Hegeischen Auffassung der Arbeit scharfe Kritik: bei Hegel bleibt die Arbeit eine Tat des Geistes - denkt Marx; bei ihm ist sie dagegen die gegenständliche Bearbeitung eines objektiven Materials, vom menschlichen Subjekt vollzogen. Das Wesen der Wirk­lichkeit (Realität) besteht in der objektiven Bewirkung durch die han­delnde Wirkungskraft.

Der technisch aktive Mensdt ist hier nicht der individuelle Mensch. Das ego wird vergesellsdtaftlicht und verallgemeinert. Durm das revo­lutionäre Aufheben des Individuellen und des Privaten soll die Menschheit selbst zum objektiven Subjekt werden und sich alles - als Objekt unterwerfen. Marx erklärt den Krieg dem philosophischen Denken, dem dichterischen und künstlerischem Schaffen, dem religiö­sen Glauben und der staatsgründenden Tat .. Dies alles wird als Ideo­logie, als idealistischer und spiritualistischer Oberbau, als entfremdetes theoretisches Leisten, als Sublimierung der Tragik des wirklichen Seins tmd Gesmehens erklärt. Gefordert wird die volle Anerkennung des natürlichen, d. h. des gesellsdtaftlichen Wesens des Mensmen (Subjekt der objektiven Geschichte}, die Anerkennung und die totale Verwirk­lid:JUng seiner gegenständlichen Wesenskräfte. Die Entfremdung und Entäußerung, innerhalb deren sich die ganze bisherige Menschenge­schichte entwickelt hat - und hauptsächlich die neuzeitlich-euro­päische -, sollen aufgehoben werden durm die totale und geplante Entfesselung (Befreiung) der Produktivkräfte, durm die Verwirkli­chung der Möglichkeiten der Technik. Alles, was ist,wird zum Mate-

11 >Nationalökonomie und Philosophie<, S. 1.69.

rial der Arbeit, und das kollektive, soziale und sozialistische Mensdten­tum ist das gegenständliche Subjekt dieser gegenständlichen und abso-1 uten technisch-produktiven Praxis, die immer wieder neue Objekte her­vorbringt. "Daß der Kommunismus eine höchst praktische Bewegung ist, die praktische Zwecke mit praktischen Mitteln verfolgt und die sich höchstens in Deutschland, den dcutsd1en Philosophen gegenüber, einen Augenblick auf ,das Wesen' einlassen kann", das hat Marx ganz klar ausgesprochen.12 Das wirkende Wesen des Kommunismus, der Kampf, den die Technik gegen jede Naturwüchsigkeit zu führen hat, wurde von Marx selbst definiert. "Der Kornmunismus untersmeidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurch, daß er die Grundlage aller bisherigen Produktions- und Verkehrsverhältnisse umwälzt und alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Gesdtöpfe der bisherigen Menschen behandelt, ihrer Naturwüchsig­keit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft. Seine Einrichtung ist daher wesentlich ökonomisch . . . " 13 Das Zentrum des Marxschen Denkens und der Aktion, die aus ihm hervorgegangen ist, besteht in dieser Verallgemeinerung des ego, in der Setzung der menschlid1en Gesellschaft als Ort und Subjekt des geschichtlichen Wer­dens. Diese menschliebe Gesellschaft ist sowohl ein Produkt der Tech­nik wie auch das technisch-produzierende Subjekt selbst. Die Technik (als Arbeit, materielle Produktion, praktisches Hervorbringen, wirk­liches Erzeugen) ist die Macht, die die Natur in Geschid1te verwandelt hat, und bildet die irmerste Triebfeder der Weltgeschichte, die erst im planetarischen Zeitalter z.ur verwirklichten Weltgeschichte werden kann. Der durchgeführte Naturalismus-Humanismus-Kommunismus geht vom Menschen und seinen natürlim-gesellschaft!imen Trieben und Bedürfnissen aus, hebt jede Naturwüchsigkeit auf und ist allein fähig, die gegenständlichen Produktivkräfte völlig und planmäßig zu entwickeln. Im Erfassen der planetarischen Technik, der Weltgeschidtte als Werkgeschichte und des Weltseins als Werksein liegt die treibende Wahrheit und die Bewegungskraft des Marxismus. Ausgangspunkt und Resultat sollen sich decken; denn: "Ebenso sind aber sowohl das Material der Arbeit, als der Mensdt als Subjekt, wie Resultat so Aus-

12 >Die deutsche Ideologie<, S. 1.18. t3 >Die deutsche Ideologie<, S. 70- 7I.

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gangspunkt der Bewegung." 1• Alles erscheint im künstlichen Licht der

Technik: "die Geschichte der Indt�strie und das gewordene gegen­ständliche Dasein der Industrie, [ist] das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte."' 1�

Das setzende und gesetzte Wesen des Menschen beruht in jener unruhigen "Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte, deren Aktion

daher auch eine gegenständlid?e sein muß. Das gegenständliche

Wesen wirkt gegenständlid1 und es würde nicht gegenständlid1 wir­ken, wenn nicht das Gegenständlid!e in seiner Wesensbestimmung läge.

Es sdlafft, setzt nur Gegenstände, weil es durch Gegenstände gesetzt

ist . . . "'16 Aber bisher und auf Grund der unentwickelten Ted!nik ist für das Menschenwesen wahr, daß "seine Lebensäußerung seine

Lebensentäußerung ist, seine . Verwirklichung seine Entwirklichung, eine fremde Wirklichkeit ist. "17 Dies soll zum ersten Male aufhören

wahr zu sein in der Epodle der gründlidl durdlgeführten planetari­

schen Technik. In der tedlnisd1-produktiven Praxis werden alle Rät­

sel, Mysterien und theoretischen Probleme ihre endgültige Lösung fin­

den: "Alles gesellsdlaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle

Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden

ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Be­greifen dieser Praxis. "'t8 Alles wird durdl die Produktion, die mate­

rielle, sinnliche, wirkende, wirkliche objektive und gegenständliche

Praxis bestimmt: "Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissen­schaft, Kunst etc. sind nur besondere Weisen der Produktion und

fallen unter ihr allgemeines Gesetz. "10 Die Produktion ist diejenige Macht, die Subjekt und Objekt in den­

selben Kreis einschließt: "Die Produktion produziert daher nicht nur

einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand. "2o Subjektivität und Objektivität treten so auf einen

neuen Plan. Die erste wird kollektiviert und verallgemeinert als

14 >Nationalökonomie und Philosophie•, S . .2}7· 15 >Nationalökonomie und Philosophie•, S. 243. 1• >Nationalökonomie und Philosophie•, S . .273. 17 >Nationalökonomie und Philosophie•, S .. 2J9· 18 >Thesen über Feuerbach•, 8. 10 •Nationalökonomie und Philosophie<, S. 236. !O •Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie< (1 857), in: >Zur Kritik

der politischen ökonomiec, Berlin 1.95 I, S . .247.

gegenständliche Subjektivität; die zweite "aufgelöst", indem sie ein immer neu werdendes Produkt der Produktion wird; sie ist keine

stehende Objektivität, sondern eine werdende Gegenständlichkeit, die alles Reale ständig umformt.

Die entfesselte und total verwirklichte planetarisdle Tedlnik macht

die Dichtung und die Kunst (die Techne) überflüssig: "Ist Achilles möglich mit Pulver und Blei? Oder überhaupt die Iliade mit der

Druckpresse oder gar Druckmaschine? Hört das Singen und Sagen

und die Muse mit dem Preßbengel nicht notwendig auf . . . . ?"!1 Der

Trieb der Produktion ist die treibende Kraft; seine konsequente Durd!führung mad!t alles überflüssig, was sich als Ideologie, Oberbau, Illusion, Mystik, Romantik und spekulatives Denken in der "soge­nannten Weltgeschichte" entwickelt und verwickelt hat. Die Mensdl­

heit wird endlidl wirkend und wirklich über das Seiende im Ganzen

ihre Herrschaft ausüben, ohne vom Produkt ihrer Arbeit entfrem­det zu sein.

Weder die übersinnlichen Ideen noch Gott werden dem menschlid1en

produktiven Tun im Wege stehen. "Der Kommunismus beginnt so­

gleidl (Owen) mit dem Atheismus'?!! und er führt zur empirisdlen

Verwirklidlung der entfremdeten und metaphysischen \Yiabrheit der Philosophie. ,. \Yias inneres Lidlt war, wird zur verzehrenden Flamme,

die sich nach außen wendet. So ergibt sidJ die Konsequenz, daß das Philosophisdl-Werden der \Yielt zugleich ein Weltlich-Werden der

Philosophie, daß ihre Verwirklichung zugleich ihr Verlust, daß, was

sie nach außen bekämpft, ihr eigener innerer Mangel ist . . . . "23 Die

revolutionäre Aufhebung der Entfremdung des Menschen, die Revo­

lution, revolutioniert "gegen die bisherige ,Lebensproduktion' selbst,

die ,Gesamttätigkeit', worauf sie basierte" .24 Marx sieht aber auch ein, obwohl er vor dieser Einsicht nicht stehen bleibt, daß das radikal Neue nid1t unbelastet bleiben kann; denn: "Die Aufhebung der Selbstentfremdung macht denselben Weg, wie die Selbstentfremdung."2G

Die Revolution bildet einen Kreis.

21 •Einleicung zur Kritik der politischen Ökonomie•, S. 16.9. �!>Nationalökonomie und Philosophie•, S. 237. 23 •Aus der Doktordissenationc in: >Frühscbriften•, S. r7. 2� ·Die demsd1e Ideologie<, S. 36. �� •Nationalökonomie und Philosophie<, S. 131.

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Page 45: Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken

Durd1 dieses Denken hindurd1 wird das All des Seienden auf die Totalität der gegenständlichen, sinnlimen� produktiven Praxis der menschlichen objektiven Subjekte zurückgeführt und reduziert. Die Welt wird zu einer Werkwelt: es handelt sich darum, "die sinnliebe Welt als die gesamte lebendige sinnliebe Tätigkeit der sie ausmadlen­den Individuen aufzufassen" .20

Das übersinnlidle (das Ideelle, das Ideale, das Transzendentale, das Metaphysische, das Geistige), das über (�) das Sinnliche (das Reale, das Empirisme, das Wirküme, das Physische, das Materielle) waltet, wird so umgekehrt, auf die Füsse gestellt, und alles soll infol­gedessen als ein Produkt der sinnlichen (woher soll sie aber audl sinn­voll sein?) produktiven Arbeit auf die Planscheibe aufgespannt wer­den. Das Reich der Quantität, der Zahl, des rechnenden und planenden Verstandes soll einen unerhörten Reichtum praktism erzeugen. Die Metaphysik smlägt in die soziale Physik um. Die wirkende "Subjek­tivität" und die bewirkte Gegenständlichkeit, d. h. die objektive, ver­gegenständlidlte Wirklimkeit, werden zum Selben. Das Subjekt ist das Subjekt eines Objektes und das Objekt ist das Objekt eines Subjektes;

"beide" werden vom selben Trieb gejagt. Das von Marx Gesagte und Gedad1te verwirklicht sim tatsämüm

auf der ganzen Oberfläche der Erdkugel, sei es in staatskapitalistisdler, sei es in staatssozialistischer Form. Beide Gestaltungen bewegen sidl daher auf demselben Weg. Wie tief diese Aktion geht, das können wir noch nidlt wissen.

Dieselbe emporkommende Welt erfaßt Nietzsche als Unweit. Er denkt den Willen zur Macht, der den ganzen Erdenring umkreist und sim das All erringen will. Der Zeitraum des Willens zur Macht ist der Spielraum des Nihilismus, d. h. des gestorbenen, weil getöteten Gottes. Der "tolle Mensch", d. h. der ver-rückte, der ortlose "plane­tarische" Mensch, greift ins Wort: "Wohin ist Gott? rief er, ich wiU es euch sagen! Wir haben ihn getötet - ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken! Wer gab uns den Schwamm, u m den ganzen Horizont wegzuwismen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sidl nun? Wohin be-

ze >Die deutsche Ideologie<, S. 42..

8o

wegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwäh­rend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nimts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter gewor­den? Kommt nicht immerfort die Namt und mehr Nadlt? Müssen nicht Laternen am Vormittag angezündet werden? Hören wir noch

nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? - auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn ge­tötet. "27

.Wird ein künftiges Mensmensein, wird der über- und untergehende "Übermensch" die Herrsmaft über den ganzen Planeten zu überneh­men wissen, es können und wollen? Wird das Menschenwesen des

"Caesars mit der Seele Christi" zu der ewigen Wiederkunft des glei­chen Willens zur Macht ja zu sagen vermögen? Werden die den bis­herigen Menschen übernehmenden, aber auch aufhebenden neuen Men­

sdlen diesem Sein (des Seienden im Ganzen), dem Sein, das durm das Werden hindurdl ist und wird, entspremend hörig sein? Diese Fragen, falls sie überhaupt so massiv gestellt werden dürfen, können nur offen bleiben. Der Bereich der Auslegungen und die Kombinatorik der Aus­legungen und Verbindungen der Auslegungen scheinen immer mehr über den Tex:t zu herrschen. Nietzsche wußte schon davon etwas: nämlidl wie jeder Text unter die Interpretationen "verschwindet".

An jene Fragen schließt sich der Denkversuch Heideggers an. "Mit Nietzsmes Metaphysik ist die Philosophie vollendet. Das will sagen: sie hat den Umkreis der vorgezeidlneten Möglichkeiten abgesdlritten. Die vollendete Metaphysik, die der Grund der planetarischen Denk­weise ist, gibt das Gerüst für eine vermutlich lange dauernde Ord­nung der Erde. Die Ordnung bedarf der Philosophie nidlt mehr, weil sie ihr schon zugrunde liegt. Aber mit dem Ende der Philosophie ist nicht auch smon das Denken am Ende, sondern im Übergang zu einem anderen Anfang", konnten wir in den >Vorträgen und Aufsätzen<2S

lesen. Was wir aber keinesfalls verkennen dürfen, ist die Art und Weise dieser Vollendung des Endes, die Wahrheit der Verendung;

u •Die fröhliche Wissenschaft< ,Nr. rzs. !8 >Überwindung der Metaphysik<, S. 83.

Sr

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denn: "Die Verendung dauert länger als die bisherige Geschichte der Metaphysik. "29

Heidegger versucht das die Philosophie - d. h. die Metaphysik -überwindende Denken einzuleiten. Sein vorläufiges und scheiterndes Denken erfragt den Unterschied, der inmitten - intra - des Seins als Sein und des Seienden im Ganzen waltet. Und dieses Denken entfaltet sich im Zeitalter der beginnenden planetarischen Technik und betrifft den Menschen, der "zum arbeitenden Tier fest-gestellt wird". Die "Technik" (als vollendete Metaphysik) umfaßt "alle Bezirke des Seienden, die jeweils das Ganze des Seienden zurüsten: die vergegen­ständlichte Natur, die betriebene Kultur, die gemachte Politik und die übergebauten Ideale. ,Die Technik' meint hier also nicht die ge­sonderten Bezirke der maschinenhaften Erzeugung und Zurüstung."30 Weder zur Vergangenheit zurück.zukehren versuchend noch in der Gegenwart verhaften bleibend, weder pessimistisch noch optimistisch ist der offene Weg, der durch die Technik hindurch in die Zukunft führt.

III

Das Planetarische bestimmt nicht nur ein bestimmtes Zeitalter, eine Epoche der Weltgeschichte, eine Phas� der Entwicklung, einen Kultur­kreis oder eine Zivilisationsstufe. Planetarisch ist das Geschehen, das das Sein des Seienden im Ganzen in die Geschichte der Menschenwesen ankommen läßt. Planetarisch ist der Lauf und der Stand der wan­dernd-irrenden Wahrheit der Welt, innerhalb deren die Sterblichen als Pläneschmiede aufkommen, vergehen und wiederkehren. Die Ebene des Geschehens steht unter dem Schlage dessen, was sich alles erobert, alles, was in die Rotationsbewegung eingezogen ist. Der Plan ist jener Kampfplatz und Entwurfsbereich dessen; was kein Pläne­macher - sei es ein göttlicher, sei es ein menschlicher - planmäßig und planierend verwirklichen kann.

Der Grund des Plans der Offenheit des Weltseins läßt sich keines­wegs wie der Plan einer einfachen Zeichnung oder eines flachen Bildes ins Auge fassen. Mehrdeutiges und Rätselvolles verbirgt sich hinter

2e >Vorträge und Aufsätze<: >Überwindung der Metaphysik<, S. 71. 30 >Vorträge und Aufsätze<: >Überwindung der Metaphysik<, S. So.

den Linien der Zeichnung und den Farben des Bildes. · Es sind die Pläne, die den Menschen fassen und ergreifen, und der Mensch tritt nur auf den Plan, wenn er vom planetarischen Schlage getrieben ist. Seine Heimat ist unheimlich, weil sie ein Irrstern ist, und weil der Erdring nicht der einzige Ring ist: er ist sicherlich ein Ring, der alles, was ist, umkreist, aber er bleibt in einem viel mächtigeren Ringen ein­gekreist.

Der Ort des Menschenseins ist der Planet. Kann der Mensch diesen Ort harmonisch-planetarisch bewohnen und in diesem wandernden Zeitraum seinen Ort und seine Stunde finden? Das Licht, das von einem nicht irrenden Stern gespendet wird, kann es in seiner Lichtung und in seinem Glanze Alles, was Eins ist, erscheinen lassen und den Erdstern, der selbst keine Lichtquelle ist, erhellen, befeuern und erwärmen?

Plan und glatt, eben und platt erscheint alles was ist und gemacht wird in der aufbrechenden planetarischen Epoche; das planend, planie­rende, planmäßige, planetarische Tun und Schaffen - von heute und morgen - macht sich die ganze Erde untertan: die Technik wird zum Schlage, der alles in Bewegung setzt. Durch die Technik hindurch ent­faltet sich das weltgeschichtliche "Wesen" der Geschichte der Welt und das planetarische Walten des Seins des werdenden Seienden im Gan­zen. Dieses Wesen erscheint aber als Unwesen und waltet nihilistisch. Die Sprache, das Denken und das Dichten (der Logos und die Poiesis),

das schaffende Hervorbringen und das handelnde Tun (die Poiesis

und die Praxis), die zu einer Technik (Techne) gewordene Kunst (Techne) und die Arbeit überhaupt als Erzeugung Yon Erga bringen keinen Sinn mehr zum Vorschein. Die Wahrheit, der Sinn des Seins, bleibt aus. Das übersinnliche wurde heruntergesetzt, das Sinnliche auf die Planscheibe hinaufgeschoben, und alles wird zu einem Produkt einer ungeheuren Produktion; keineswegs kann aber die rationelle und künstliche Sinngebung und Zielsetzung wahrhaftig das Sinnlose und Ziellose überwinden. Dieses Planen und Schaffen, diese Beschäfti­gung und dieses Geschäft, dieses Treiben und dieser totale Betrieb, diese Mobilmachung, Mechanisierung und Machenschaft (der Macht) bedingt den fortdauernden und fonschreitenden Verbrauch aller pro­duzierten nützlichen Gegenstände - des Seienden überhaupt. Das Brauchbare und Nutzbare wird verbraucht und vernützt in immer

Page 47: Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken

schnellerem Tempo. Das ist in Ordnung und macht die noch dauer­hafte planetarische Ordnung aus.

Zeus lenkte mit dem Blitze alles was ist. Das erhellende und ver­nichtende Geschidc des Blit�es eröffnet nicht mehr den Horizont des Eins-Alles. "Das Ganze des Seienden steuert der Blitz" sagte Heraklit,St vom göttlichen Blitze sprechend. Zeus ist zum Jupiter ge­worden und der Jupiter zu einem Planeten. Die getriebenen und ge­schlagenen, aber keineswegs gelenkten Sterblichen können nicht mehr

vom göttlichen Sein, vom 6:hov, vom Heil, sagen: "Eins, das allein Weise, läßt sich nicht und läßt sich doch mit dem Namen des Zeos benennen" ;32 sie wollen sich selber als Träger des planetarischen Wil­lens zur Macht, des Willens zum Willen.

Ares lenkt nicht mehr geheiligte Kämpfe. Der heraklitische Polemos ("Vater des Seienden im Ganzen") ist der planetarische Kriegszustand geworden und hat nur noch die bloße Erdherrschaft als zielloses Ziel. Unter dem planetarischen Sternengang bleibt das Ringen um das Ganze der sichtbaren Erde und des gemessenen Zeitraumes im leeren Nichts verstrick,t. Der Friede ist ebenso heillos wie der Krieg, und vielleicht hat der Mad1twille auch den kriegerischen Mut ver­loren und kann sich nur in einem kriegerischen Friedenszustand abspielen.

Aphrodite, als Venus, ist zu einem Planeten geworden. Eros hat sich in die Liebe verwandelt, und die Liebe ist zu einer Sache der Vor­stellung und des Machens geworden. Sie wird von der Einbildungs­kraft genährt, als Handlung und als Reproduktion vollzogen. Marx erfaßte das "Mitsein", griechisch genannt cruvouc:rio:, schon ,.tech­nisch" ; er erblidcte es vom Standpunkt der Teilung der Arbeit; der "Teilung der Arbeit, die ursprünglich nichts war als die Teilung der Arbeit im Geschlechtsakt."aa Die künftige technische Produktion von "Menschen"-Kindern ist nicht mehr so weit entfernt; die Reproduk­tion des menschlichen Geschlechts wird auf die totale Produktion zu­rückgeführt werden. Eine planende künstliche Zeugung von "ver­nünftigen Lebewesen" würde nur noch einer der vielen Sduitte der zur Technik übergegangenen PhJ'Sis sein.

31 Fragment 64. 31 Fragment Jl·

33 >Die deutsche Ideologie<, S. 28.

Nachdem aber die ganze Leere planmäßig erfüllt sein wird, nach­dem die gan-t: e Oberfläche der Erdrinde (und die Unterschicht der Muttererde) wie auch die sie umgebende Luft und das Meer plange­mäß und technisch verarbeitet sein werden, nachdem die Elementar­kräfte - die der kleinsten Kleine und die der größten Größe - frei­gesetzt, d. h. "beherrscht" sein werden, was dann? Nachdem sich der ganze Sinn dieses "un-sinnigen" Treibens planetarisch verwirklicht, im Norden wie im Süden, im Westen wie im Osten, wird wieder ein Sinn einbrechen nach dem Einsturz, wenn nicht gar Schiffbruch dieser zukünftigen Welt?

Nach der Abschaffung jeden Sinnes und nach dem sinnlich techni­schen Aufbau der planetarischen Werkwelt, wird sich die Offenheit des Sinnes, die wandernd-irrende Wahrheit des Seins des Seienden im Ganzen (falls das alles noch immer so heißen wird und diese Namen erfordert) offenbaren? Nachdem das planetarische Menschentum vom nihilistischen-sinnlosen und totalen Geschäft und vom ziellosen prak­tischen Schöpfungstrieb bis zur Erschöpfung geplagt sein wird, werden Heimweh und Fernweh einander entspred1en können?

Heraklits Logos, dessen Spuren zwn planetarischen Denken füh­ren, erfaßte einmal die Seinswelt der Weltzeit als "Spiel". Er ist der erste - abendländische- Denker, der das wagte. Zweieinhalb Jahrtau­sende später, in der Spätzeit einer verendenden Epoche und in der Frühzeit einer neu aufbrechenden, deutet Nietzsche auf die höhere Be­deutung des weder sinnvollen noch un-sinnigen Weltspiels. Heraklit und Nietzsche sind die einzigen Denker, die es wagten, das Sein des Werdens auf das Spielbrett zu setzen. Der überwundene planetarische

Nihilismus wird vielleicht übermorgen ihre Stimme neu wieder hören können. Heraklit sagte nämlich: "Die Weltzeit ist ein spielendes Kind - ein Kind beim Brettspiel: das Königtum eines Kindes. "34

Und Nietzsche läßt den "tollen" Menschen fragen, nachdem er de.u Mord Gottes ausgesprochen hat: �Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher be­saß, es ist unter unsern Messern verblutet - wer wischt das Blut von

uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühne­feiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen?"35 Dieses

M Fragment 52· 33 >Die fröhliche Wissenschaft<, Nr. 12 5. '

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heilig-profane Spiel, kann es die "Welt" selbst sein, die Welt des überwundenen Gottes und Menschen? "Um den Helden herum wird alles zur Tragödie, um den Halbgott herum alles zum Satyrspiel; und um Gott herum wird alles - wie? vielleicht zur ,Welt'?"3G

Nachdem das All des Seienden, die Totalität, das Sein der werden­den Welt, den Sinn seiner Offenheit "verloren" hat, nachdem sich das Sinn-lose der planetarischen Technik sinngemäß und planvoll völlig verwirklicht und gründlich erschöpft hat, könnte vielleicht das Eins­Alles (das � n-rna:) selbst, das Ö)..ov als das Heil, befeuernd Wesen

und die Wahrheit des Seins als Spiel ihre harmonisch-kämpfende Macht entfalten. Ein heilig-profanes Spiel kann vielleicht die nicht "seiende" Offenheit des Seins des Seienden im Ganzen, den Horizont der Rotationsbewegung der Welt, den Unterschied selbst des vom seien­

den Werden Unterschiedenen, die niemals geschlossene und niemals totale Totalität, sogar die Planetenbahn, ins Spiel setzen - ein furcht­

bar ernstes Weltspiel, von dem die Sterblichen spielend ins Spiel ge­rissen werden. Das harmonisch-planetarische Wesen des Weltseins

würde so im Spielraum der "Zeit ohne Ziel" weder als Tragödie nodl als Komödie, aber als .,offene Welt" erscheinen.

34 >Jenseits von Gut und Döse<, Nr. 150.

86

ZWöLF LüCKENHAFTE THESEN Z U M PROBLEM DER REVOLUTIONi\.REN PRAXIS

Der Marxismus und die Marxismen, die sich zunehmend mit anderen Elementen verbinden - christlichen, bürgerlichen, positivistischen,

szientistischen, psycho-analytiscllen, phänomenologischen, existentia­listischen, strukturalistischen -, können noch dazu beitragen, gewisse theoretische Forschungen anzuregen, ohne aber in den hochindustria­lisierten Gesellschaften einen entscheidenden Anstoß zur revolutio­nären Praxis zu geben, wie diese nach dem Marxschen und marxisti­schen Schema angestrebt wird. Marxismus und Marxismen vollbringen eine mäßig produktive und fragenstellende Arbeit, integrieren sich in die Theorie und Praxis ihrer Gesellschaft, leben deren Leben und Tod.

li

Die hochindustrialisierte Gesellschaft verwandelt sich allmählich in eine "kapitalistisch-sozialistische" Gesellschaft, in Bewegung gesetzt durch die immer weiterschreitende vereinheitlichende Tethnik.

III

In de11 technisch rückständigen Ländern, wo der Marxismus nicht ohne Verwirrung mit anderen Elementen verschmolzen ist - religiösen,

ethnischen, nationalistiscllen, ideologischen -, spielt er nocll die Rolle des Hebels einer gewissen revolutionären Veränderung, die diese Län­

der ebenso auf einen kapitalistisch-sozialistischen und techno-büro­kratischen Zustand hinführt, zu der planmäßigen und planetarischen

Gesellschaft.

Page 49: Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken

IV

Die soziologischen Untersuchungen, die sich marxistisch nennen oder marxistisch sein wollen, verlieren zunehmend ihre Eigenständigkeit, vermischen sich mit anderen Forschungsarten und laufen auf eine Ver­flachung hinaus. Das theoretische Ganze des Marxismus in seiner Spe­zifität und als Totalität hat aufgehört zu bestehen, während der theo­retische Marxismus aufgehoben wird, in dem er sich verallgemeinert, in abgeschwächter und inoffensiver Form. Er ist von der Welle des teigigen Progressismus übernommen worden.

V

Die marxistische Analyse ist vor ihren eigenen Möglichkeiten zurück­gewichen - ebenso in den kapitalistischen Ländern wie in denen, die sich des Sozialismus rühmen. Der Marxismus stellt sich selbst nicht

genug in Frage und fragt nicht radikal. •

VI

Die berühmte Veränderung der Welt findet dennoch statt, nach einem gemischten und unreinen S<hema. Die Entwürfe der Verändcrer, der Reformatoren und "Revolutionäre" sind selbst verwandelt in und dur<h die geschichtliche Bewegung, die nur unter Mißverständnissen und Kompromissen verläuft.

VII

Die sozialistischen Bewegungen sind gescheitert, weil jede radikale Ab­sicht "scheitert", da sie sich durd1 Annähentogen verwirklidu. Ihr Ent- · wurf selbst war zu ideologisch und abstrakt, dachte nicht in die Tiefe und verkannte seinen Ursprung, sein Verfahren und sein Ziel. Da er zu utopisch war, mußte er der Probe der Plattheit unterliegen; da er selbst zu platt war, konnte er die Utopie nicht aufrechterhalten als eine infantile und eschatologische Hoffnung. Von Anfang an blieb der revolutionäre und sozialistische Entwurf von dem, was er zu negieren beanspruchte, bestimmt.

&8

VIII

Der sogenannte sozialistische Block - der schon weitgehend polyzen­trisch ist - scheint diejenigen, die offene Marxisten und Sozialisten, demokratische und liberale Kommunisten sein wollen, zu verletzen. Sie sind unfähig, das Spiel der sozialen Realitäten zu verstehen, die Rolle der Gewalt, der Unterdrückung und des Staates. Sie über- oder unterschätzen, was gesagt und getan wird, ohne so recht zu wissen, wie es zu deuten ist.

IX

Die hochindustrialisierten Gesellschaften gehen auf einen kapitali­stischen Sozialismus des Staates zu, erhalten die Herrschaft, die Macht und die Ausbeutung auf immer vermitteltere Arten bei und lassen uns dunkel sehen, daß die vollständige Selbstverwaltung der vergesell­schafteten Gesellschaft, die Aufhebung der Herrschaft, ein Mythos ist. In ihrem Prozeß der Kollektivierung und Universaüsation sozialisiert die bürgerliche Gesellschaft den Individualismus, umgreift und neutra­lisiert alle Angriffe, integriert schlecht und recht jede Kritik, entmannt und anerkennt die partiellen Revolten, indem sie die Unterscheidung

des Wahren und Falschen, der Freiheit und der Un-Freiheit aufhebt.

X

Die Linke kann nur an der geschichtlichen Komödie der bürokratischen Verstaatlichung teilnehmen; ihre eigenen Aufgaben vermischen sieb mit den allgemeinen Aufgaben, die zugleich Einzel· und Allgemein­interessen ausdrücken. Nimmt sie eine :w negative Stellung ein, be­wirkt sie nichts; eine zu positive, verleibt sie sich dem System ein. Folgt sie dem Mittelweg, trägt sie zur herrschenden Mittelmäßigkeit bei. Die Antagonismen und Widersprüche der Gesellschaft zu verschär­fen, scheint der Linken nicht zugefallen zu sein, weil die Gesamt· situation Widersprüche und Antagonismen verdaut und gleichzeitig deren Träger. Die Proteste der Linken bleiben wirkungslos und leer; sie erhalten lebendig die Stimme eines gewissen Anspruchs, aber dieser Anspruch bleibt ungenau.

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XI

Das Proletariat der technisch entwickelten Länder integriert sich klein­bürgerlich in den allgemeinen Gang; sein Sein und sein Bewußtsein lösen sich in dem Prozeß auf, der auf den allgemeinen Wohlstand zielt. Der Motor dieses Prozesses, ob kapitalistisch oder sozialistisch, bleibt der Profit. überspitze Krisen sind nicht vorauszusehen, und die revo­lutionäre Praxis der "fortgeschrittenen" Länder ist nicht vollbracht von den Theoretikern und Professionellen einer Revolution, die nicht kommt. Sie erscheint nicht einmal möglich, und der Klassenkampf -außerordendich abgestumpft - hat nicht mehr die Revolution als Horizont. Die Praktiken von Reform und Modernisierung gehen ohne Glanz vor sich. Die "unterentwickelten" Länder werden bald die Er­rungenschaften der bürgerlichen französischen Revolution erreidtt haben; der Marxismus ist das Instrument ihrer Emanzipation und ihrer Industrialisierung.

XII

Die Marxsche und marxistische Theorie und ihre praktische Perspek­tive bleiben gefangen zwischen dem Am boß derpolitischen Philosophie Hegels und dem, was sie ausdrückt, und dem Hammer der nihilisti­schen Diagnose Nietzsche (vom Appell an den Geist · und von aller Romantik befreit). Während das planetarische Zeitalter seine Irrfahrt

fortsetzt, zur Sprache zu kommen versucht und seine Schauspieler verwechselt. Die Negativität verbirgt sich im. Moment nicht schlecht.

E I N GESPRäCH ÜBER WISSENSCHAFT

Mit dem klassischen Philologen Jean Bollack geführt

B. -Auffallend ist heute die gemeinsame Besorgnis un1 die Bedrohung der Wissenschaft, die mit der Ausweitung und Vervollkommnung der technischen Methoden verbunden ist. Die Ermittlung des Stoffs voll­zieht sich in Grenzen, die über die Kräfte des einzelnen Forschers reichen, in Arbeitsgruppen und durch Apparate, statistis<he Erfassung und mengenmäßige Überprüfung. Zwar vermag si<h keiner innerhalb seines Gebietes dieser positiven Bereicherung zu entziehen, und trotzdem fühlt jeder, daß sein Wissensgebiet sich der Ubersehbarkeit und damit seinem eigenen Gesichtskreis entzieht; somit erklärt sich eine andere, nicht minder auffallende Bestrebung, nämlich die Einheit der Wissen­schaft oder gar mehrerer getrennter Wissenschaften wiederzufinden, ihnen ein gemeinsames Ziel zu setzen. Sprach nicht der Geograph von einer Verschmelzung der Geographie mit der Geschichte und der Soziologie, und Levi-Strauss, der zu seiner wichtigsten Leistung, der Besdueibung der Verwandtschaftssysteme, Methoden der strukturellen Sprachwissenschaft auf die Völkerkunde angewandt hat, glaubt er nicht, eine allgemeine Theorie der Funktionen des menschlichen Gei­stes schon voraussehen zu können?

A. - Ja. Zugleich aber wird die wissenschaftliche Forschung zu einer Art durchgeführter Technik.

B.- Ich verstehe Ihr "aber" nicht. Die Technik schien mir doch eben eines der beiden Hauptmerkmale zu sein, die ich nannte.

A. - Die Technik wird aber so immer noch zu eng verstanden. Die Wissenschaften können sich der Technik nicht bemächtigen, weil die Technik ihre Triebfeder, ihre leitende Kraft bildet. Man versteht all­gemein die Technik als ein Resultat der Wissenschaft. Ist sie nicht eher ihr innerster Beweggrund? Nicht nur die Forschung der Wissenschaft vollzieht sid1 in technischer Weise, sondern der Bereich selbst und die "

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Zielsetzung jeder Wissenschaft werden durdt die Tedmik - die wissen­smaftliche - bestimmt. Die Ethnologie durchforsd1t temnisch ihren Gegenstand: die sogenannten primitiven Völker kommen durch ihre tedmisme Sprache zur Sprache.

B.- Das ist schon richtig. Die ganze Weltgeschidtte wird für die Historiker zur Wirtsdtaftsgeschichte. Produkt und Austausch beherr­schen jetzt auch die Feudalzeit - man denke an die öfters hervor­

gehobene Bedeutung der Untersuchungen von Mare Bloch über die

Feudalgesellschaft -, ja sogar die Antike, und andererseits werden zu den Promotoren der Geschichte jetzt die obskuren, schattenhaften Mensdten befördert, wie sie blaß und unscheinbar aus der historischen Statistik und Archivforschung schemenartig auferstehen, ein sonder­bares Jüngstes Gericht, keine Könige, noch Herren, noch Päpste und Kardinäle, sondern die zahllose Sdtar der "Landbevölkerung", des

"Stadtbürgertums", Markt und Anonymität. A . - Was kommt heute nid.tt auf den Markt? Selbst das Selt­

same wird zur Ware. Die Zeit spiegelt sich in der Geschichte selbst wieder.

B.- Insofern ist die Forschung vom Zeitgeist betroffen, bevor sie zur

Methode wird. Im gebe auch zu, daß der Wunsd1 nach Zusammen­

fassung selbst nod.t im Bereim der Technik liegt: Levi-Strauss spricht ja von einer Theorie des fonctionnement des mensd.tlichen Geistes: Maschine und Automation noch in der letzten Theorie. Und die sciences humaines, wie man jetzt in Frankreim in der organisierten For­

schung die Geisteswissenschaften nennt, sind gewiß stets Wissenschaf­ten der Menschen und nie für den Mensdten. Wie verhält sich der Mensch, wie funktioniert sein Geist? - so wird gefragt. Und doch, meine ich, lebt, wie es gerade aus dieser übersid.tt hervorgehen konnte, in Frankreich die Idee oder wenigstens die Sehnsucht nach einer noch humanen, das ist übersdtaubaren und gleidlzeitig zweckbestimmten Forschung fort. Die Frage nach Gegenstand und Methode wird stets

neu aufgeworfen. Gerade in der Bestimmung dieses Zwecks scheint mir die ganze Problematik zu haften. Da dieser Zweck nur marginal mehr ein be-sd.taulicher ist (in der Tradition der artes liberales), t·eid.tt er nicht notwendigerweise in das Handeln, ja in das Geschid" der

Völker hinein? Es ist in dieser Hinsid.tt bezeichnend, daß von vielen Referenten die Wissensdlaft als Aktion, als weiterführende Tätigkeit,

die Forschung als Mitvollzug des Gesamtgeschehens betrad.ttet wird.

Besonders auffallend ist dies in der Wirtschaftsforsdlung, wo reaktio­

näre Interessen gleichzeitig die wissensd.taftlime Erfassung und die ökonomische Gesundung beeinträchtigen können.

A. - Sie schreiten im gleimen Tempo wie die heutige Wissenschaft. B. - Gar nicht. Id.t sage sogar stets dasselbe.

A. - Das Selbe trägt aber versdtiedene Namen. Sie sprachen öfters

von Forschung. Das scheint mir ein sehr wichtiger Punkt zu sein. Die Wissenschaft wird heute zur Forsd.tung. Es gibt keine runden, orga­

nisd.t geförderten und gegliederten Einzelwissenschaften mehr. Es gibt keine klassische Physik. Das wissen wir alle. Es fängt aber schon an,

aud.t keine Psychologie, keine Soziologie und keine einheitliche Ge­schichtsauffassung zu geben. Es gibt hauptsächlich Forschung; ständig erneuerte Forsmung, die weniger wissen will, als forschen und be­

wirken. Deswegen heißen auch alle wissenschaftlichen Institute For­schungsinstitute; deswegen hat sich das Bild des Wissensd.taftlers und

des Gelehrten radikal verändert. Die Philosophen selbst werden als Forscher bezeid.tnet und als sold.te vom Staat bezahlt. In der For­

schungst.ätigkeit liegt aber die ständig vorwärtstreibende Macht der Ted.tnik. Der Mensch als Subjekt und die Gegenstände als Objekte der Forschung übersd.treiten die für die klassisd.te Wissenschaft gel­tende Subjekt-Objekt-Spaltung und geraten in einen neuen, anschei­

nend einfältigen, wenn auch vieldimensionalen Bereich.

B.- Es scheint mir aus all den Sendungen hervorzugehen, wie sehr die Wissenschaften ihres nationalen Charakters verlustig gehen. Sta­

tistik bleibt Statistik, ob sie das römische Kaiserreim oder Bantu­

stämme e1faßt, ob sie in Kiew oder in Paris betrieben wird. Und doch habe id.t vorhin auf die noch für Frankreich bezeichnende Tendenz hingewiesen, die Wissenschaft als human und im besten Sinn utilitär zu verstehen, was nicht mit der absoluten Wirkung identisdt ist, und viel­leidtt ist diese Reflexion über den Nutzen das beste Gegengift gegen

die anonyme und dem menschlichen Eingriff sich entziehende Wirk­samkeit. Was des weiteren sehr positiv bewertet werden kann, scheint

mir doch die überragende Rolle zu sein, die immer nodt einzelnen

Individuen zuk<;>mmt. Kehren nid.tt einige Namen in verschieden­stem Zusammenhang wieder? Sind sie nur die Vorkämpfer der radi-

kalen Effizienz? •

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A . - Die auf den ganzen Erdball sich erstreckende technisch-wissen­schaftliche Forschung bewahn>noch in jedem\Land ihren eigenen Charak­ter. Die französische Forschung will sich noch humanistisch verstehen. Vielleicht ist aber die neuzeitlich-planetarische Forschung - die fran­zösische inbegriffen - weder natürlich noch unnatürlich, weder human noch inhuman, weder zweckmäßig noch zwecklos. Das Grandiose in der heutigen Wissenschaft ist gerade die

. Oberwindung dieser Tren­

nungen. Das ganze Geschäft kann als sinnlos erscheinen, aber es ist es nicht. Es ist auch keineswegs sinnvoll. Es "ist", indem es sich ständig auflöst, fixiert und aufhebt und den Erdball in Bewegung setzt. Die Sehnsucht, von der Sie sprechen, mehr noch als eine Sehnsucht nach dem Menschlichen, scheint mir eine Sehnsucht nach dem Poetischen zu sein. Auf dem Wege der so problematischen Anthropologie begegnet nicht Foucault eben der Dichtung?

B.- Sie heben mit Recht die Diktion dieses Textes hervor und stel­len gleichzeitig das Problem der Sprache. Die meisten Beiträge zeich­nen sich durch eine Klarheit im Aufbau und eine Gewandtheit im Ausdruck aus, die noch immer Vorzüge der französischen Geistesart sind. Doch merkt man auch ihnen eine gewisse Verlegenheit an. Die akademische Sprache, Ausdrucksmittel der gelehrten Gesellschaften, klingt veraltet, und das Material ist auffallend häufig technischen Funktionen entnommen, "l'en fonction de" drückt den Grund aus, als ob die Festste1lung eine mehr funktionalistische als bloß positivistische Resonanz erhalten sollte. Ist dies eine Etappe nur auf den Wege der chiffrierten, beschränkt mitteilbaren Aussage?

A . - Der funktionalistische Sprachgebrauch verbindet sich in merk­würdiger Weise mit der romanischen clarte. Mandlmal scheint das Ge­sagte so klar zu sein, daß man es nicht mehr produktiv verstehen kann. Ich muß es offen gestehen: wenn man heute von der Soziologie spricht, weiß ich nicht, ob man von der fast musealen Soziologie des 19. Jahrhunderts spricht, von der heutigen so verworrenen Problematik oder von einer Forschungsrichtung, die die schulmäßige Soziologie überwindet. Die Klarheit und Nüchternheit der Exposition verhindern auch oft das Inerscheinungtreten tieferer Wirklichkeits- und Denkbe­wegungen. Die sogenannten philosophische Reflexion über ein Thema ist nicht notwendigerweise mit einem forschend-schöpferischen Denken verbunden.

94

B. -Es ging ja in dieser Sendereihe um Forschungsberichte und erst in zweiter Linie um eigenständige Ergründung.

A. - Sollte aber nicht der Bericht selbst ein forschender sein? Warum haben heute so viele Forscher Angst vor dem Vorwurf der Unwissen­schaftlichkeit?

B.- Ich würde sagen: man kennt die Grenzen dieser Wissenschaft­lichkeit nicht mehr genau, und man engt sich darum mehr ein, als man eigentlich möchte, oder flüchtet sich eben in die reine Entsprechung des technischen Vorgangs, in die chiffrierte Aussage, wie sie sich ja auch in den humanistischen Disziplinen einnistet.

A.- Jedes neu auftretende Wissen - denken wir an Marx, denken wir an Freud - wurde vom akademischen Wissen als willkürlich ge­brandmarkt. Vielleicht gibt es keine Grenzen zwischen der Wissen­schaft und der fragenden Forschung, wenn beide echt sind. Die Gren­zen lassen sich nur zwischen dem erstarrten und dem offenen Wissen ziehen.

B. - Einverstanden. Ist jedoch die vorhin erwähnte Wissensdlaft­lichkeit, das Kriterium akademischer Leistung, identisch mit dem, was Sie das "erstarrte Wissen" nennen?

A. - Der größte Teil der akademischen Leistungen findet innerhalb eines schon festgelegten Bereichs statt. Die akademische ForsdlUng wird irgendwie von außen her zur Eröffnung ihrer Horizonte gezwungen.

B.- Läßt sich eine in Ihrem Sinne offene Scholastik überhaupt den­ken? Muß nicht die ererbte Norm - wie sie etwa in Frankreich noch weiter tradiert wird - neben dem Einbruch stehen? Es ist ja bezeich­nend, daß die meisten geistigen Wirkungen europäischen Rangs in Paris - und dies seit dem I 8. Jahrhundert - außerhalb der Schulen entstanden sind. Bergsou war nie an der Sorbonne, und Sartre hat überhaupt keinen Lehrstuhl. Auch die Studenten führen ein doppeltes Leben zwischen den bedrückenden Verpflichtungen der Universität (und den unzähligen Prüfungen) und ihrer zweiten, freien und gleich­sam "gegenwärtigen" Existenz. So erklärt sich übrigens die oft von außen so zwiespältig anmutende Bildung der französischen Intellektu­ellen (und bezeichnenderweise nicht: Akademiker; der Unterschied ist bedeutsam); sie verkörpern oft gleichzeitig Tradition und revolutio­näre Gesinnung. Dies scheint mir auch in den Fällen, wo die Diskre­panz nicht mehr ertragen wird, ein Grund zu sein für die Anziehung,

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Page 53: Kostas Axelos, Einführung in ein künftiges Denken

die der orthodoxe Marxismus noch immer auszuüben vermag. Dies

alles im klarsten Gegensatz zu Deutschland, wo die Universität das

geistige Leben noch sammelt, wenn auch nicht erfüllt.

A. -Eine offene Scholastik gibt es nicht. Sobald aber die Scholastik -

oder alle gegenwärtigen Arten der Neuscholastik (jeder Richtung) -als

solche erfahren wird, dient sie dazu, gewaltig überwunden zu werden.

Der bedeutende Physiker Louis de Broglie erzählte einmal, daß nach

der ersten Etappe seines Schulstudiums seine Lehrer zu ihm sagten, er

habe keine Begabung für die physikalische Forschung. Aus diesem Zweikampf (Tradition und gewaltsames überwinden) entstand jedoch

die neue Physik. Eine neue Gefahr aber besteht: daß das Errungene

wieder zum schulmäßig Gleichgültigen abgesetzt wird. So studiert

man heute in allen Universitäten als Forschungsgegenstand, ohne die

Sache genügend mitzuvollziehen, das dichterische Denken von Andr� Breton zum Beispiel, der als Stifter des Surrealismus sehr unzurei­

chend charakterisiert wird, oder - in Deutschland - Hölderlin, der

zu einer Figur der allzu gelehrten Literaturgeschichte und - Wissen­

schaft geworden ist.

B.- Das ist ein altes und allgemeines Geschick. Heraklits Denken schon wurde zum Heraklitismus und Platon zum Platonismus. Ein

Geschick, das nur der organisierte Betrieb und die verallgemeinerte

Kuriosität ins Absurde führten. Keine Gemeinschaft hat sich je der epigonale1t Erstarrung entziehen können. Nur leben heute auch

keine normativen Dogmen mehr fort in der Universität, was vielleicht neu ist und positiv bewertet werden kann. Vielleicht sind wir aus

dem alten, sich wiederholenden Zyklus von Schöpfung und Kodifi­

zierung herausgetreten, und das Offene, von dem Sie sprechen, ist

wohl auch keine radikal neue Gründung mehr wie Themas von

Aquins Gebäude von der mittelalterlichen Scholastik oder Descartes'

Methode von dem Cartesianismus. Broglie, den Sie nannten, hat sich

ins Ungewisse begeben. Er kann kein Schulstifter sein, wie heroisch

sein Versuch einer Systematisierung auch erscheinen mag. Und auch

Einstein nidtt. A. - Gewiß schwimmt der heutige Forscher in einem anderen Fluß.

Es wurde schon genug betont, daß man das physiologische Experiment

vom lebendigen experimentatcur nicht trennen kann noch soll. Die

Subjekt-Objekt-Spaltung ist hier auf dem Wege zu ihrer "Oberwin-

dung". Das menschliche Subjekt als das Subjekt und die ·Gegenstände

der Forschung (die sogenannten Objekte) werden zugleich aufgehoben

und lassen den Platz frei für die Erscheinung eines neuen Inhalts.

Nun wiederhole ich die Frage: in welchem Zusammenhang steht diese

Bemühung mit der Poesie? Bleiben trockene Wissenschaft und feu­

rige Dichtung dennoch geschieden, sogar unvereinbar?

B.- So kommen wir also zu gewissen poetisch gehaltenen Beiträgen

zurück. A. - Wichtiger ist dennoch die sprechende Dichtung selbst.

B. - Foucault bekennt sich ja zu Rene Chars funkelnder Dichtung

herakliteischen Flugs, und doch handelt er als Anthropologe von

Teilhards urgeschichtlichen Hypothesen und L�vi-Strauss' Struk­

turen der Verwandtschaftssysteme als Formen der Mitteilung. Der

dichterische Ausdruck soll gleidtsam den Sinn der Theorien auf­

zeigen. "Von Anbeginn an, wie er sehr schön sagt, ist der Mensch

dem Sinn geweiht", er lebt in "jenem unheimlichen Oberschwang der

stets vervielfachten, stets untereinander als Symbole wirkenden Zei­

chen, je1ter Zeichen, die sich gegenseiti g belauern und einander ant­

worten in einer Sprache, die den selben Wortschatz besitzt wie die

Stille der Nächte."

A.- Wie merkwürdig klingt jede Aussage über die Stimme der Stille.

B.- Alles bleibt unausgedrückt und wird gleichzeitig zur Mitteilung

und Korrespondenz. Manche suchen in der Soziologie eine Bestimmung

der Werte, den Sinn der Bezeichnung, eine signification als Bedeutung

und Bezeichnung. Andere gehen einen Schritt weiter; die Sprache wird

ihnen zur sinnergründenden Besinnung. Sie allein vermag gewisse Be­

züge aufzudecken. Die Definition des Menschen als homo loquens er­hält einen neuen Sinn: er steht vor dem Geflecht der Symbolbeziehun­

gen. So wie in der technisierten Aufzeichnung die Chiffre in ihrer

Sprachlosigkeit verstummt, so legt die poetische Diktion Ziffern frei,

die ihre Entzifferung in sid1 selbst enthalten. Der Mensch ist Chiffre und er entziffert zugleich die Ziffern der Welt. Die Entzweiung von

logischem Denken und Phantasie löst sich auf, und zwar in einer viel­

fältigeren Logik. Der Unterschied zwischen primärer und sekundärer

Wirklichkeit schwindet dahin. So kehrt die gegenwärtige (oder künf­

ti ge?) Sprad1e der Ergründung zur ursprünglichen Aussage der Vor-

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Zielsetzung jeder Wissenschaft werden durch die Technik - die wissen­schaftliche - bestimmt. Die Ethnologie durchforscht technisch ihren Gegenstand: die sogenannten primitiven Völker kommen durch ihre technische Sprache zur Sprache.

B. - Das ist schon richtig. Die ganze Weltgeschichte wird für die

Historiker zur Wirtschaftsgeschichte. Produkt und Austausch beherr­schen jetzt auch die Feudalzeit - man denke an die öfters hervor­gehobene Bedeutung der Untersuchungen von Mare Blod1 über die

Feudalgesellschaft -, ja sogar die Antike, und andererseits werden zu

den Promotoren der Geschichte jetzt die obskuren, schattenhaften Menschen befördert, wie sie blaß und unscheinbar aus der historischen Statistik und Archivforschung schemenartig auferstehen, ein sonder­bares Jüngstes Gericht, keine Könige, noch Herren, noch Päpste und Kardinäle, sondern die zahllose Schar der "Landbevölkerung", des "Stadtbürgertums", Markt und Anonymität.

A.- Was kommt heute nicht auf den Markt? Selbst das Selt­same wird zur Ware. Die Zeit spiegelt sich in der Geschichte selbst wieder.

B.- Insofern ist die ForsdlUng vom Zeitgeist betroffen, bevor sie zur

Methode wird. Ich gebe auch zu, daß der \'Vunsch nach Zusammen­fassung selbst noch im Bereich der Technik liegt. Levi-Strauss spricht ja von einer Theorie des fonctionnement des menschlichen Geistes: Maschine und Automation noch in der letzten Theorie. Und die sciences humaines, wie man jetzt in Frankreich in der organisierten For­

schung die Geisteswissenschaften nennt, sind gewiß stets Wissenschaf­ten der Menschen und nie für den Mensd1en. Wie verhält sich der Mensch, wie funktioniert sein Geist? - so wird gefragt. Und doch, meine idl, lebt, wie es gerade aus dieser übersidlt hervorgehen konnte,

in Frankreich die Idee oder wenigstens die Sehnsudlt nach einer noch humanen, das ist überschaubaren und ·gleichzeitig zweckbestimmten

ForsdlUng fort. Die Frage nach Gegenstand und Methode wird stets neu aufgeworfen. Gerade in der Bestimmung dieses Zwecks scheint

mir die ganze Problematik zu haften. Da dieser Zweck nur marginal mehr ein be-schaulid1er ist (in der Tradition der artes liberales), reimt er nicht notwendigerweise in das Handeln, ja in das Geschick, der Völker hineilt? Es ist in dieser Hinsicht bezeichnend, daß von vielen

Referenten die Wissenschaft als Aktion, als weiterführende Tätigkeit,

die Forschung als Mitvollzug des Gesamtgeschehens betrachtet wird.

Besonders auffallend ist dies in der Winschaftsforschung, wo reaktio­

näre Interessen gleichzeitig die wissenschaftliche Erfassung und die ökonomische Gesundung beeinträchtigen können.

A . - Sie schreiten im gleidlen Tempo wie die he�tige Wissenschaft.

B. - Gar nicht. Ich sage sogar stets dasselbe. A. - Das Selbe trägt aber verschiedene Namen. Sie sprachen öfters

von Forschung. Das scheint mir ein sehr wichtiger Punkt zu sein. Die Wissenschaft wird heute zur Forschung. Es gibt keine runden, orga­

nisch geförderten und gegliederten Einzelwissenschaften mehr. Es gibt

keine klassische Physik. Das wissen wir alle. Es fängt aber schon an, auch keine Psychologie, keine Soziologie und keine einheitliche Ge­

schidltsauffassung zu geben. Es gibt hauptsächlich Forschung; ständig erneuerte Forschung, die weniger wissen will, als forschen und be­

wirken. Deswegen heißen auch alle wissenschaftlichen Institute For­schungsinstitute; deswegen hat sich das Bild des Wissenschaftlers und

des Gelehrten radikal verändert. Die Philosophen selbst werden als

Forscher bezeichnet und als solche vom Staat bezahlt. In der For­schungstätigkeit liegt aber die ständig vorwärtstreibende Macht der

Technik. Der Mensch als Subjekt und die Gegenstände als Objekte

der Forsdlung überschreiten die für die klassische Wissenschaft gel­tende Subjekt-Objekt-Spaltung und geraten in einen neuen, anschei­nend einfältigen, wenn auch vieldimensionalen Bereich.

B.- Es scheint mir aus alt den Sendungen hervorzugehen, wie sehr

die Wissenschaften ihres nationalen Charakters verlustig gehen. Sta­tistik bleibt Statistik, ob sie das römische Kaiserreich oder Bantu­

stämme erfaßt, ob sie in Kiew oder in Paris betrieben wird. Und doch

habe ich vorhin auf die nodl für Frankreich bezeichnende TendeJtZ hingewiesen, die Wissenschaft als human und im besten Sinn utilitär zu verstehen, was nicht mit der absoluten Wirkung identisch ist, und viel­leicht ist diese Reflexion über den Nutzen das beste Gegengift gegen

die anonyme und dem menschlichen Eingriff sich entziehende Wirk­samkeit. Was des weiteren sehr positiv bewertet werden kann, scheint

mir dodl die überragende Rolle zu sein, die immer noch einzelnen Individuen zukommt. Kehren nicht einige Namen in verschieden­

stem Zusammenhang wieder? Sind sie nur die Vorkämpfer der radi-kalen Effizienz? \

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A . - Die auf den ganzen Erdball sich erstreckende technisch-wissen­schaftliche Forschung bewahrt1J.1och in jedem>Land ihren eigenen Charak­ter. Die französische Forschung will sich noch humanistisch verstehen. Vielleicht ist aber die neuzeitlich-planetarische Forschung - die fran­zösische inbegriffen - weder natürlich noch unnatürlich, weder human noch inhuman, weder zweckmäßig noch zwecklos. Das Grandiose in der heutigen Wissenschaft ist gerade die Oberwindung dieser Tren­nungen. Das ganze Gesc11äft kann als sinnlos erscheinen, aber es ist es nicht. Es ist auch keineswegs sinnvoll. Es "ist", indem es sich ständig auflöst, fixiert und aufhebt und den Erdball in Bewegung setzt. Die Sehnsucht, von der Sie sprechen, mehr noch als eine Sehnsucht nach dem Menschlichen, scheint mir eine Sehnsucht nach dem Poetischen zu sein. Auf dem Wege der so problematischen Anthropologie begegnet nicht Foucault eben der Dichtung?

B.- Sie heben mit Recht die Diktion dieses Textes hervor und stel­len gleichzeitig das Problem der Sprache. Die meisten Beiträge zeich­nen sich durch eine Klarheit im Aufbau und eine Gewandtheit im Ausdruck aus, die noch immer Vorzüge der französischen Geistesart sind. Doch merkt man auch ihnen eine gewisse Verlegenheit an. Die akademische Sprache, Ausdrucksmittel der gelehrten Gesellschaften, klingt veraltet, und das Material ist auffallend häufig technischen Funktionen entnommen, ,.l'en fonction de" drückt den Grund aus, als ob die Feststellung eine mehr funktionalistische als bloß positivistische Resonanz erhalten sollte. Ist dies eine Etappe nur auf den Wege der chiffrierten, beschränkt mitteilbaren Aussage?

A . - Der funktionalistische Sprachgebrauch verbindet sid1 in merk­würdiger Weise mit der romanischen clarte. Manchmal scheint das Ge­sagte so klar zu sein, daß man es nicht mehr produktiv verstehen kann. Ich muß es offen gestehen: wenn man heute von der Soziologie spricht, weiß ich nicht, ob man von der fast musealen Soziologie de� 19. Jahrhunderts spricht, von der heutigen so verworrenen Problematik oder von einer Forschungsrichtung, die die schulmäßige Soziologie überwindet. Die Klarheit und Nüchternheit der Exposition verhindern auch oft das Irrerscheinungtreten tieferer Wirklichkeits- und Denkbe­wegungen. Die sogenannten philosophische Reflexion über ein Thema ist nicht notwendigerweise mit einem forschend-schöpferischen Denken verbunden.

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B. - Es ging ja in dieser Sendereihe um Forschungsberichte und erst in zweiter Linie um eigenständige Ergründung.

A. - Sollte aber nicht der Bericht selbst ein forschender sein? Warum haben heute so viele Forscher Angst vor dem Vorwurf der Unwissen­schaftlichkeit?

B.- Ich würde sagen: man kennt die Grenzen dieser Wissenschaft­lichkeit nicht mehr genau, und man engt sich darum mehr ein, als man eigentlich möchte, oder flüchtet sich eben in die reine Entsprechung des technischen Vorgangs, in die chiffrierte Aussage, wie sie sich ja auch in den humanistischen Disziplinen einnistet.

A. - Jedes neu auftretende Wissen - denken wir an Marx, denken wir an Freud - wurde vom akademischen Wissen als willkürlich ge­brandmarkt. Vielleicht gibt es keine Grenzen zwischen der Wissen­schaft und der fragenden Forschung, wenn beide echt sind. Die Gren­zen lassen sich nur zwischen dem erstarrten und dem offenen Wissen ziehen.

B.- Einverstanden. Ist jedoch die vorhin erwähnte Wissenschaft­lichkeit, das Kriterium akademischer Leistung, identisch mit dem, was Sie das ,.erstarrte Wissen" nennen?

A. - Der größte Teil der akademischen Leistungen findet innerhalb eines schon festgelegten Bereichs statt. Die akademische Forschung wird irgendwie von außen her zur Eröffnung ihrer Horizonte gezwungen.

B. - Läßt sich eine in Ihrem Sinne offene Scholastik überhaupt den­ken? Muß nicht die ererbte Norm - wie sie etwa in Frankreich noch weiter tradiert wird - neben dem Einbruch stehen? Es ist ja bezeich­nend, daß die meisten geistigen Wirkungen europäischen Rangs in Paris - und dies seit dem r8. Jahrhundert - außerhalb der Schulen entstanden sind. Bergsen war nie an der Sorbonne, und Sartre hat überhaupt keinen Lehrstuhl. Auch die Studenten führen ein doppeltes Leben zwischen den bedrückenden Verpflichtungen der Universität (und den unzähligen Prüfungen) und ihrer zweiten, freien und gleich­sam "gegenwärtigen" Existenz. So erklärt sich übrigens die oft von außen so zwiespältig anmutende Bildung der französischen Intellektu­ellen (und bezeichnenderweise nicht: Akademiker; der Unterschied ist bedeutsam); sie verkörpern oft gleichzeitig Tradition und revolutio­näre Gesinnung. Dies scheint mir auch in den Fällen, wo die Diskre­panz nicht mehr ertragen wird, ein Grund zu sein für die Anziehung,

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die der orthodoxe Marxismus noch immer auszuüben vermag. Dies alles im klarsten Gegensatz zu Deutschland, wo die Universität das geistige Leben noch sammelt, wenn auch nicht erfüllt.

A.- Ei,;e offene Scholastik gibt es nicht. Sobald aber die Scholastik ­oder alle gegenwärtigen Arten der Neuscholastik (jeder Richtung) -als solche erfahren wird, dient sie dazu, gewaltig überwunden zu werden. Der bedeutende Physiker Louis de Broglie erzählte einmal, daß nach der ersten Etappe seines Schulstudiums seine Lehrer zu ihm sagten, er habe keine Begabung für die physikalische Forschung. Aus diesem Zweikampf (Tradition und gewaltsames überwinden) entstand jedoch die neue Physik. Eine neue Gefahr aber besteht: daß das Errungene wieder zum schulmäßig Gleichgültigen abgesetzt wird. So studiert man heute in allen Universitäten als Forschungsgegenstand, ohne die Sache genügend mitzuvollziehen, das dichterische Denken von Andre Breton zum Beispiel, der als Stifter des Surrealismus sehr unzurei­chend charakterisiert wird, oder - in Deutschland - Hölderlin, der zu einer Figur der allzu gelehrten Literaturgesdlichte und - Wissen­schaft geworden ist.

B.- Das ist ein altes und allgemeines Geschick. Heraklits Denken schon wurde zum Heraklitismus und Platon zum Platonismus. Ein Geschick, das nur der organisierte Betrieb und die verallgemeinerte Kuriosität ins Absurde führten. Keine Gemeinschaft hat sich je der epigonalen Erstarrung entziehen können. Nur leben heute auch keine nonnativen Dogmen mehr fort in der Universität, was vielleicht neu ist und positiv bewertet werden kann. Vielleicht sind wir aus dem alten, sich wiederholenden Zyklus von Schöpfung und Kodifi­zierung herausgetreten, und das Offene, von dem Sie sprechen, ist wohl auch keine radikal neue Gründung mehr wie Thomas von Aquins Gebäude von der mittelalterlichen Scholastik oder Descartes' Methode von dem Cartesianismus. Broglie, den Sie nannten, hat sich ins Ungewisse begeben. Er kann kein Schulstifter sein, wie heroisch sein Versuch einer Systematisierung auch erscheinen mag. Und auch Einstein nicht.

A. - Gewiß schwimmt der heutige Forscher in einem anderen Fluß. Es wurde schon genug betont, daß man das physiologische Experiment vom lebendigen experimentateur nicht trennen kann noch soll. Die Subjekt-Objekt-Spaltung ist hier auf dem Wege zu ihrer "überwin-

dung". Das menschliche Subjekt als das Subjekt und die Gegenstände der Forschung (die sogenannten Objekte) werden zugleich aufgehoben und lassen den Platz frei für die Erscheinung eines neuen Inhalts. Nun wiederhole ich die Frage: in welchem Zusammenhang steht diese Bemühung mit der Poesie? Bleiben trockene Wissenschaft und feu­rige Dichtung dennoch geschieden, sogar unvereinbar?

B.- So kommen wir also zu gewissen poetisch gehaltenen Beiträgen zurück.

A.- Wicbtiger ist dennoch die sprechende Dichtung selbst. B . - Foucault bekennt sich ja zu Rene Chars funkelnder Dichtung

herakliteischen Flugs, und doch handelt er als Anthropologe von Teilhards urgeschichtlichen Hypothesen und Levi-Strauss' Struk­turen der Verwandtschaftssysteme als Formen der Mitteilung. Der dichterische Ausdruck soll gleichsam den Sinn der Theorien auf­zeigen. "Von Anbeginn an, wie er sehr schön sagt, ist der Mensch dem Sinn geweiht", er lebt in »jenem unheimlichen Oberschwang der stets vervielfachten, stets untereinander als Symbole wirkenden Zei­chen, jener Zeichen, die sich gegenseitig belauern und einander ant­worten in einer Sprache, die den selben Wortschatz besitzt wie die Stille der Nächte."

A. - Wie merkwürdig klingt jede Aussage über die Stimme der Stille.

B. - Alles bleibt unausgedrückt und wird gleichzeitig zur Mitteilung und Korrespondenz. Manche suchen in der Soziologie eine Bestimmung der Werte, den Sinn der Bezeichnung, eine signification als Bedeutung und Bezeichnung. Andere gehen einen Schritt weiter; die Sprache wird ihnen zur sinnergründenden Besinnung. Sie allein vermag gewisse Be­züge aufzudecken. Die Definition des Menschen als homo loquens er­hält einen neuen Sinn: er steht vor dem Geflecht der Symbolbeziehun­gen. So wie in der technisierten Aufzeichnung die Chiffre in ihrer Sprachlosigkeit verstummt, so legt die poetische Diktion Ziffern frei, die ihre Entzifferung in sich selbst enthalten. Der Mensd1 ist Chiffre und er entziffert zugleich die Ziffern der Welt. Die Entzweiung von logischem Denken und Phantasie löst sich auf, und zwar in einer viel­fähigeren Logik. Der Unterschied zwischen primärer und sekundärer Wirklichkeit schwindet dahin. So kehrt die gegenwärtige (oder künf­tige?) Sprache der Ergründung zur ursprünglichen Aussage der Vor-

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sokraciker zurück, in der bei Heraklit, dem Dunklen, Rätsel und Licht und bei Empedokles Preisung und Weisung nicht geschieden waren. Und noch bei dem das Akademische begründenden Platon ergänzen sid! Mythos und Logos. In einer sold!en ursprünglid!en Entspred!ung hat der von Ihnen vorhin erwähnte Andre Breton, der unemwegte Wahrer des Befreienden, in der Nachfolge Freuds die magische Kultur und die Wirklichkeit der sekundären Realitäten an ihre legitime Stelle gesetzt. In seinen, wie man sagt, materialistischen Theorien des "ob­jektiven Zufalls" liegt der geometrische Ort der entscheidenden Koin­zidenzen, der, wie er selbst betont, mit Hegels souveräner Methode

zusammenfällt. A. - Das ist wichtig. Natürlich versteht Breton die Hegeische Dia-

lektik in einer offenen Weise. 8. - Die entbundene Vorstellungskraft wird "wissenschaftlich" als

Ausströmung der im Reiche des Traumes und des uneingeschränkten Geistes prüfbaren Kräfte. Die menschliche Notwendigkeit wird zur natürlichen Notwendigkeit, und so treffen sich im "objektiven Zu­fall" Wissenschaft und Dichtung.

A.- Wie und wo fällt heute die Entscheidung? Was ist Zufall und was ist Geschick? Der Zweikampf zwischen Denken und Logik, Natur und Physik, Seele und Psychologie, gesdlichtlid!em Menschentum und Soziologie ist noch keineswegs entfacht. Der Mensch als ein Zei­chen, mit dem die Welt spielt, erscheint im technischen Zeitalter als eine Zahl. Das red!nende Forschen und das funktionalistische Wissen spielen mit immer größeren Zahlen. Dichten und Denken warten auf die Stunde ihrer Begegnung. Hege! unterschied schon das räsonnie­rende Denken vom spekulativen Denken. In den philosophischen Seminaren wird dieser Unterschied selbst mit den Mitteln des räson­nierenden Denkens erörtert. Bis jetzt haben wir von Denkern und von Dichtern, von Forschern und von Wissenschaftlern gesprochen. Geben wir auch einem bildenden Künstler das Wort.

8. - Idl ahne sd!on: Sie wollen uns einen der im grellen Lichte der plastischen Betrachtungen gereiften Sprudle des Malers Braque vor Augen führen, den nämlich, wo er sagt, daß Denken und Räsonnieren zweierlei sind: Penser et raisonner font deux. Für den Maler denkt auch der plastische Blick und der dichterische Sinn.

A . -Es ist kein Zufall, daß der weitschauende Blick innerhalb einer

immer mehr strukturierten, funktionellen und automatisierten Welt­a

_uslegung seinen "freien• Bereich zu durchschauen versudlt. Struktu­

nerung, Funktionalisierung, Automatisierung sind die treibenden planetarischen Parolen im Westen wie im Osten, im Norden wie im Süden. Das dieser Weltsituation entsprechende Denken kann aber auch alle partikularen Dimensionen transzendieren, indem es die in der Vielfalt verborgene Einheit erfährt und z.u Worte bringt. Diese neue St�enge des D�nkens wird wahrscheinlich jede kodifizierte, sogar kodi­fizterbare Logik notwendig überschreiten.

B. - Insofern würde die tedmisierte und gar automatisierte Chiffre dasselbe erreichen wie die vorhin geschilderte poetisch erfassende Dik­tion. So wie in der strukturell gewordenen Sprachwissenschaft kein Wort und kein Wortfeld mehr für sich steht, sondern die Gesamtheit der

.. Bez.eichnungen erst durch das Spiel der Beziehungen seinen Sinn

erhalt, so deutet auch das von Levi-Strauss für äußerst begrenzte Ge­sellschaften ausgearbeitete System auf ein ungeahntes, unerfaßbares, wohl nur maschinell sich abzeichnendes Spiel der umfassenderen Gruppen. So werden seine sd!on komplizierten Schemen zur Konstel­lation auf dem Lichtbrett aufleuchtender Punkte im Bereid!e des Un­übersehbare� (wenn auch durch die Maschine Simtbaren) und die Struktur wtrd zur Automation. So fällt auf die anfangs geäußerte Bemerkung, daß die Ethnologie unsere eigene Bedrängnis entwirft, ein neues Licht.

A. - Das schon irgendwie in der Gegenwart aufbrechende künf­tige Den�en wird es auch wagen, alle wissenschaftlichen Errungen­sdlaften _m Frage zu stellen. Die Sprache fällt keineswegs mit der Sprachw1ssenschaft zusammen, und auf die großen Fragen gibt es nur fr�gen�e

) An�or�en. Gera�en wir in �en Bereich jener "Stille der

Nächte · Odex bnd!t das Ltcht - und dte Sprache - eiues neuen Ster­nenganges an?

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NACHWORT

Der hier gewagte Denkversuch wagt sim im Weltspiel zu orientieren, um das Weltspiel "selber" zur Sprache zu bringen und zu spielen. Ein­heitlid1 und auf das Ganze weisend, kann so ein Versuch sich nur frag­mentarisch und lückenhaft entfalten. Versmiedene Sprachweisen müssen versucht werden: wissensmaftliche, dichterische und den­kerische - systematische und aphoristisd1e -, geschichtliche und histo­rische. Alle diese Weisungen kö1men nur unvollkommen vollzogen werden. Ob wir es wollen und mögen oder nicht. Mit und ohne Er­

folg. In das planetarisme Zeitalter einzutreten ist und bleibt unsere Aufgabe. Vorwärts und rückwärts smreitend. "Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt", sagte einmal Niet:z;sche. Ahnen wir schon, daß solche Gedanken, die Welt lenkend und noch mehr: von ihr gelenkt, vor unseren Türen stehen?

Das mythisch - oder mythologisch - Vorgeschichtliche, Primitive und Archaische stellt uns ein Rätsel. Das Morgenländische, das Orien­talische und das Asiatische stehen noch fragbar, furchtbar und frudlt­bar hinter uns, hinter "unserem" Abendland. Das Griechisme und das umgestaltend-gestaltende Römische stehen nom vor uns, befragen uns und werden von uns befragt. Das Jüdisch-Christliche verbreitet sich und verstirbt :z;ugleich als die letzte und endgültige, vollendete Religion, die vom Laizismus, Humanismus und Sozialismus übernommen wird. Das Europäisch-Neuzeitliche, das Moderne, bleibt am Werk, univer­salisiert sich und verbleibt ein Verhängnis. Das Planetarisd1e über­stürmt uns.

Seit je als Menschliche überstürmt, versuchen wir alles zu ordnen, und entwerfen logisch-ontologische und ontisme Schemen und Er­fahrungsbereiche. Das Logische bildet nicht nur eine Propädeutik des Spred1ens und Denkens. In seiner Gestalt wächst und verkümmert das

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Onto-theo-logische, d. h. das Philosophisch-Metaphysische: es will das Sein erfahren. Immer erscheint aber das Sein als etwas Seiendes -Gott, Universum, Mensch -, und so lassen das Theologische, das Kos­mologische, das Anthropologische die Fragen des Göttlichen, des

Natürlichen, des Menschlichen entstehen und fallen. Das Ethische, das Politische, das Poetische und Künstlerisd1e kommen noch dazu, während das fast allumgreifeende Technische einer Technologie bedarf.

Jeder Kreis umkreist die anderen und wird von ihnen umkreist. Gott (der göttliche Logos), die Natur (die kosmische Ordnung), der Mensch (Anfangspunkt, Mittelpunkt oder Endpunkt) drehen sich im Kreis. Jede dieser drei Mächte kann den Anfang bilden und sich im Aus­gang erkennen lassen. Göttlicher Logos (und "logisd1er" Gott), kos­misdJe Natur und denkend-handelnder Memch sind die drei ein:z;igen Gedanken über die das Menschentum :z;u verfügen scheint, um Sein und Dasein, Alles und Nichts hart und ungefähr zu erfahren. Die ge­schichtlichen Epochen und die verschiedenen theorecisd1en und prak­tischen Dimensionen haben sie ausgearbeitet. Sie bleiben dennoch un­gedacht. Jede dieser "drei" Mächte erscheint als das Geheimnis, das sich zu den anderen hinentwickelt. Selbst wenn man sie zusammenfaßt, sie einschließt in einen sich drehenden Kreis oder sie als den Kreis selber

versteht, versagen sie. Anfang und Ende vermischen sich unklar. Der griechische und jüdisch-christliche, hegelsche, evolutionistische oder marxistische Dreischritt wird das Hinken nicht los. Geht es vom gött­lichen oder dialektischen Logos oder vom "logischen" Gott, zur

Natur über, und von da aus zur Menschengeschichte, die alles erzeugt, erfragt und erkennt? Usw . . . Das implizit oder explizit herrschende Denkschema ist zu flam.

In der und als Weltgeschimte, die kosmische Natur und menschlime Geschichte in einem Ring und Ringen umfaßt, obwohl jede dieser -beiden? -Mächte die andere urngreift, entfalten sichGlauben und Han­deln, Spre<hen und Denken, Arbeiten, Lieben, Kämpfen und Sterben - mit einem problematisdlen Wort gedeutet, Spielen. Mythen und Religion, Dichtung und Kunst, Politik, Philosophie, Wissenschaft und Technik - technisierte Natur- und Geistes-Wissenschaften - sind deren

Verfestigungen w1d Institutionen. Von der Familie, durch andere kon­zentrische und festgelegte Institutionen und ekzcntrische und kombi­natorische Spiele hindurch, bis hin zum künftigen Weltstaat verfestigt '

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sid1 so, was Leben genarult wird. Die Schwere und die Leere der Insti­

tutionen haben wir noch immer nicht erfahren, und ihre Vergangen­

heit-Gegenwart-Zukunft auch nicht bedacht.

Was - oder wer - wird aber ins Spiel der Bewegung - der Zeit, der Irre - gebracht? Wer, oder was, oder welche werden innerhalb des Zeit-Spiel-Raums Mensch-und-Welt aufs Spiel gesetzt? Hinsichtlich

welchen Ursprungs und welcher Zukunft? Ein Geflecht von konver­

genten Fragen und produktiv-aufnehmenden, wiederholenden und

problematischen Oberwindungen zwingt uns zu "neuen" Denkver­

suchen und Welterfahruogen. Es geht um dringende Fragestellungen, selbst da wo die Fragen selber und die Antworten hinfällig werden. Es geht um ein radikaleres Verständnis von Wahrheit und Wirklich­

keit-triumphierende und untergehende Konstellationen, die der Irre

entsprechen. Es geht um die Oberwindung der Metaphysik, die Aufhebung des

Grundes und des Sinnes, zugleich auch des Nihilismus, der Sein,

Grund und Sinn und sich selber nichtet. Es geht um die Oberwindung

der Subjektivität und der Objektivität. Es geht um das Ende der

Geschichte und des herkömmlichen Menschen. Diese Fragen könne11

beitragen zur Offenheit des Spiels und zu neuen Verschließungen. Wen aber geht heute noch das Denken an, und wie werden Welt­

spiel und konstituierte Welten erfahren? Welche Einzelnen, welche

Völker und welche Weltgeschid1te weichen dem Wagnis nirut aus?

Welche Sterne gehen unter, welche Sternbilder gehen schiolmerod auf? Die zwei modernen Spitzen der abendländisru-europäischen Welt,

Frankreim und Deutschland, denken und leben sie? Das Denken -wenn es so etwas überhaupt gibt - ist, seit Descartes und Pascal, kein

französisches Problem. Deutschland, in seinem Heimweh nach Grie­

chenland, hat es aufgenommen. Aber das Leben, was man so Leben

nennt, rätselhaft und massiv, scheint keine deutsche Wirklichkeit zu sein. Hyperion schreibt an Bellarmin, nachdem er enttäuscht Grie­

chenland verlassen hat und unter die Deutschen kommt: "ich kann

kein Volk mir denken, daß zerrißner wäre, wie die Deutschen. Hand­

werker siehst du, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen,

Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen -

ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glie­

der zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebens-

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blut im Sande zerrinnt?" Bleibt Deutschland das Spiel .versagt? Doch welches Spiel? "Deine Deutschen aber bleiben gerne beim Notwendig­sten, und darum ist bei ihnen auch so viele Stümperarbeit und so wenig Freies, Echterfreuliches."

Ober Frankreich und Deutschland steht Europa, weder seiend noch nicht-seiend, stehen seine zwei Zweige, Amerika und Rußland hinein-. . . ) ge

.nssen m emen gemeinsamen planetarischen Verschmelzungsprozeß.

Dteser sel.be Prozeß läuft audt durch alle anderen Weltteile. Also,

Weltgesduchte über alles? "Steht" in ihr und "über" ihr das Welt­spiel, das dem künftigen planetarischen Denken offen steht? Durch die Weltgeschichte hindurch, beunruhigend und befeuerud, auflösend und zerschlagend, weitet das Spiel. Es trägt und verspielt mehrere Namen und Handlungen. Versammelt alles, spielend, die Welt? Alles erscheint und zerbricht innerhalb des Spiels Welt-und-Mensch. "Ist" das Spiel nur eines der Rätsel der Welt, oder "ist" die Welt nur eine Gestalt des Spiels?

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ANMERKUNGEN

MARX UNO HE1DEGGER., Wegweiser eines künftigen Denkens. Der größte Teil dieses Textes wurde in einer zweistündigen Gastvorlesung am 12. Juli 1957 im Auditorium Maximum der Freien Universität Ber!in· vorgetragen - am 13. Juli wurde im Philosophischen Seminar ein Colloquium über das Vorgetragene abgehalten - und am ll· Januar 1966 in der Neuen Aula der Universität Tübingen wiederholt.

THESEN ÜBER MARX. Zur Kritik der Philosophie, der politischen öko1Jomie und der Politik. Zuerst veröffentlicht in >Die Neue Rundschau•, Frankfurt a. Main, Heft 2., I 96 I. Eine französische Fassung erschien in der Zeitschrift >Arguments<, Paris, Nr. 7, 1958, und wurde im Buch >Vers la pensee planetaire. Le devenir-pen­see du monde et le devenir-monde de la pensee< (Collection >Arguments•, Paris, Editions de Minuit, 1964) aufgenommen.

Aus DER ERFAHRUNG DER WELT. Ober Heidegger. Unveröffentlicht.

DAs PLANETARISCHE. Weltgeschichte der Technik. Vortrag, gehalten den 13. Juni 1956 in der Kantgesellschaft Berlin. Er wurde am 2.1. Juni 1957 an der Universität Freiburg i. Br. im Rahmen des Studium Generale und am 2.2. Juni im Fürstabt-Gerbert-Haus für die Stu­denten des HochschulsanatOriums St. Blasien (im Schwarzwald) wiederholt. Jemals waren gewisse Teile nicht vorgetragen worden.

ZWÖLF LÜCKENHAFTE THESEN ZUM PROBLEM DER REVOLUTIONÄREN PRAXIS. Zuerst veröffentlicht in der Tübinger Studenten-Zeitschrift >Notizen<, No­vember 1965.

EIN GESPRÄCH ÜBER WISSENSCHAFT.

Abschlußgespräch, mit dem klassischen Philologen Jean Bollack geführt, im wissenschaftlichen Nachtprogramm des Senders Freies Berlin am 6. August 1957, nach einer Sendereihe über "Probleme und Leistungen moderner fran­zösischer Wissenschaft". Der Kernforscher Delcroix, der Physiologe Cahn, der Geograph Roncayolo, der Ethnologe Uvi-Strauss, der Wirtschaftsfor­scher Sauvy, die Philosophen anthropologischer Richtung Ricoeur und Foucault hatten von ihrer Arbeit, ihren Erfolgen und ihren Zweifel..; ge­sprochen.

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Professor Kostas Axelos (geh. 1924 in Athen) lehrt philosophische Propädeutik an der Sorbonne in Paris.

Zuvor - von 1950 bis 1957 - arbeitete er am Centre National de Ia Recherche Scientiiique (Abteilung Philosophie).

Neben seiner Lehrtätigkeit war er eine Zeitlang Herausgeber der Z�itschrift >Arguments< und ist heute noch als Herausgeber der gleichnamigen Buchreihe bei den Editions de Minuit tätig.

Von Kostas Axelos ist in französischer Sprache erschienen: Die Trilogie >Le deploiement de l'errance<: r. Heraclite et Ia philosophie (I 962) 2. Marx penseur de Ia technique (1961; 2. Auf!. 1963) 3· Vers Ia pensee pla111haire (1964)

Außerdem übersetzte er Werke von Heidegger und Lukacs ins Französische. \ ' �� ! t ( � � . ' CU ;>.� . ·r�

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K O S TA S A X E L O S

Einführung in ein künftiges Denken

VberMarx

und Heidegger

Ni�meyer Verlag Tübingen