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politik 28 DFZ 3 · 2014 MIH sorgt in Wissenschaft und Praxis für Diskussionsbedarf Kreidezahn bleibt rätselhaft Wer meint, er würde in diesem Artikel endlich erfahren, was die Ursache für die Schmelzbildungs- störung Molare-Inzisive-Hypomineralisation (MIH) sei, der könnte enttäuscht sein. Die MIH oder: die „Kreidezähne“, wie man das Krankheitsbild nannte, bevor es vor etwa zehn Jahren auf wissenschaft- liche Füße gestellt wurde, bleibt rätselhaft. In der Wissenschaſt ist man sich nicht einig, was das Bröseln – meist des Sechsjahrmolaren – hervorruſt, und in deutschen Praxen ist die Verunsicherung groß: Wie gehe ich am Stuhl mit einem kleinen Patienten um, dessen Papi und Mami versichern, dass gut geputzt wurde, während der Zahnarzt abgeplatzten Zahnschmelz diagnostizieren muss? „Es gibt für jede Studie, die eine Ursache von MIH bele- gen möchte, eine gegenteilige Studie, die gegen diese Ursache spricht“, sagt Prof. Dr. Ulrich Schiffner, der am Universitätskli- nikum Hamburg-Eppendorf schwerpunktmäßig zu den e- men Zahn- und Zahnfleischerkrankungen sowie Kinderzahn- heilkunde arbeitet. Verbreitet, aber nicht immer gesehen Die MIH ist beileibe keine seltene Krankheit. Schiffner hält Zah- len einer Erhebung in den Städten München, Hamburg und Düs- seldorf für valide, nach denen knapp 15 Prozent aller Kinder zwischen zehn und zwölf Jahren von MIH betroffen sind. Eine Untersuchung aus Holland legt einen Anstieg der MIH-Fälle in den letzten Jahren nahe, doch Schiffner bleibt skeptisch: „Ich kann wirklich nicht sagen, ob es mehr Fälle gibt oder ob ledig- lich durch das Zuweiserverhalten die Aufmerksamkeit gestiegen ist“, so Schiffner. Weichmacher wirkt auf Rattenzähne Die Krankheit MIH ist deshalb so mysteriös, weil die Literatur ein riesiges Kaleidoskop von Ursachen nennt. Schwierigkeiten während der Geburt, Antibiotikagabe im Kleinkindalter oder Schwierigkeiten während der Schwangerschaſt werden ange- führt. Zuletzt wurde im Magazin Der Spiegel folgende ese auf- gestellt: „Vermutlich war schon der Fötus oder später das Baby Schadstoffen ausgesetzt, die bereits in geringen Mengen auf die schmelzbildenden Zellen einwirken und den Einbau von Kal- zium und Phosphat in den bleibenden Zähnen stören.“ Hintergrund für diese These ist eine amerikanische Stu- die an Ratten, bei der nachgewiesen werden konnte, dass der Weichmacher Bisphenol A die Mineralisation der Nagetierbei- ßer beeinträchtigt. Trinken aus Kunststofflaschen – der wahre Grund für den kaputten Zahn? Hört man sich dazu in der Zahn- ärzteschaſt um, erntet man dort ein eher müdes Lächeln. Zu oſt schien das Rätsel um die Krankheit bereits gelüſtet; zu oſt zeig- te eine Gegenstudie, dass ein monokausaler Erklärungszusam- menhang vielleicht nie hergestellt werden kann. Universitätsprofessor Schiffner schätzt die Zahl seiner MIH- Patienten auf zirka 100 in fünf Jahren: „Bei der Anamnese fiel mir schon öſter auf, dass Amoxicillin gegeben wurde“, sagt er. Einen eindeutigen Zusammenhang würde aber auch Schiffner niemals unterzeichenen: „Dann kann man fragen, ob nicht die eigentliche Krankheit, also beispielsweise schweres Fieber oder Kinderkrankheiten, Scharlach Auslöser waren und nicht das Antibiotikum!“ Karies ging zurück – MIH ist im Gespräch Auch der Zahnarzt Dr. Günter Arnolds, der unter anderem Rechtsgutachten anfertigt, hat sich eingehend mit dem ema MIH auseinandergesetzt. Während seiner Praxistätigkeit hat Arnolds lediglich drei kleine Patienten mit MIH auf dem Stuhl gehabt. Aus eigener Erfahrung kennt er aber das Gefühl, scheinbar schlecht gearbeitet zu haben, wenn die Füllung wieder aus dem Zahn fällt. Auch erzählt er von den Eltern, die mit Schuldgefühlen in der Praxis stehen, und wie man bestenfalls eine Seelenmassage durchführt, damit Vater und Mutter den kaputten Zahn nicht auf schlechte Ernährung oder mangelndes Zähneputzen beziehen: „Als Zahnmediziner zu sehen, dass nach einem gesunden Milch- © Africa Studio / fotolia.com

Kreidezahn bleibt rätselhaft

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MIH sorgt in Wissenschaft und Praxis für Diskussionsbedarf

Kreidezahn bleibt rätselhaftWer meint, er würde in diesem Artikel endlich erfahren, was die Ursache für die Schmelzbildungs-störung Molare-Inzisive-Hypomineralisation (MIH) sei, der könnte enttäuscht sein. Die MIH oder: die „Kreidezähne“, wie man das Krankheitsbild nannte, bevor es vor etwa zehn Jahren auf wissenschaft-liche Füße gestellt wurde, bleibt rätselhaft.

In der Wissenscha� ist man sich nicht einig, was das Bröseln – meist des Sechsjahrmolaren – hervorru�, und in deutschen Praxen ist die Verunsicherung groß: Wie gehe ich am Stuhl mit einem kleinen Patienten um, dessen Papi und Mami versichern, dass gut geputzt wurde, während der Zahnarzt abgeplatzten Zahnschmelz diagnostizieren muss?

„Es gibt für jede Studie, die eine Ursache von MIH bele-gen möchte, eine gegenteilige Studie, die gegen diese Ursache spricht“, sagt Prof. Dr. Ulrich Schi�ner, der am Universitätskli-nikum Hamburg-Eppendorf schwerpunktmäßig zu den �e-men Zahn- und Zahn�eischerkrankungen sowie Kinderzahn-heilkunde arbeitet.

Verbreitet, aber nicht immer gesehenDie MIH ist beileibe keine seltene Krankheit. Schi�ner hält Zah-len einer Erhebung in den Städten München, Hamburg und Düs-seldorf für valide, nach denen knapp 15 Prozent aller Kinder zwischen zehn und zwölf Jahren von MIH betro�en sind. Eine Untersuchung aus Holland legt einen Anstieg der MIH-Fälle in den letzten Jahren nahe, doch Schi�ner bleibt skeptisch: „Ich kann wirklich nicht sagen, ob es mehr Fälle gibt oder ob ledig-lich durch das Zuweiserverhalten die Aufmerksamkeit gestiegen ist“, so Schi�ner.

Weichmacher wirkt auf RattenzähneDie Krankheit MIH ist deshalb so mysteriös, weil die Literatur ein riesiges Kaleidoskop von Ursachen nennt. Schwierigkeiten während der Geburt, Antibiotikagabe im Kleinkindalter oder Schwierigkeiten während der Schwangerscha� werden ange-führt. Zuletzt wurde im Magazin Der Spiegel folgende �ese auf-gestellt: „Vermutlich war schon der Fötus oder später das Baby Schadsto�en ausgesetzt, die bereits in geringen Mengen auf die

schmelzbildenden Zellen einwirken und den Einbau von Kal-zium und Phosphat in den bleibenden Zähnen stören.“

Hintergrund für diese These ist eine amerikanische Stu-die an Ratten, bei der nachgewiesen werden konnte, dass der Weichmacher Bisphenol A die Mineralisation der Nagetierbei-ßer beeinträchtigt. Trinken aus Kunststo�aschen – der wahre Grund für den kaputten Zahn? Hört man sich dazu in der Zahn-ärztescha� um, erntet man dort ein eher müdes Lächeln. Zu o� schien das Rätsel um die Krankheit bereits gelü�et; zu o� zeig-te eine Gegenstudie, dass ein monokausaler Erklärungszusam-menhang vielleicht nie hergestellt werden kann.

Universitätsprofessor Schi�ner schätzt die Zahl seiner MIH-Patienten auf zirka 100 in fünf Jahren: „Bei der Anamnese �el mir schon ö�er auf, dass Amoxicillin gegeben wurde“, sagt er. Einen eindeutigen Zusammenhang würde aber auch Schi�ner niemals unterzeichenen: „Dann kann man fragen, ob nicht die eigentliche Krankheit, also beispielsweise schweres Fieber oder Kinderkrankheiten, Scharlach Auslöser waren und nicht das Antibiotikum!“

Karies ging zurück – MIH ist im GesprächAuch der Zahnarzt Dr. Günter Arnolds, der unter anderem Rechtsgutachten anfertigt, hat sich eingehend mit dem �ema MIH auseinandergesetzt. Während seiner Praxistätigkeit hat Arnolds lediglich drei kleine Patienten mit MIH auf dem Stuhl gehabt. Aus eigener Erfahrung kennt er aber das Gefühl, scheinbar schlecht gearbeitet zu haben, wenn die Füllung wieder aus dem Zahn fällt. Auch erzählt er von den Eltern, die mit Schuldgefühlen in der Praxis stehen, und wie man bestenfalls eine Seelenmassage durchführt, damit Vater und Mutter den kaputten Zahn nicht auf schlechte Ernährung oder mangelndes Zähneputzen beziehen: „Als Zahnmediziner zu sehen, dass nach einem gesunden Milch-

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zahngebiss auf einmal als erster Zahn des bleibenden Gebisses ein total kaputtes Ding au�aucht – das ist schon hart!“, sagt Arnolds. Der Zahnarzt sieht Nachholbedarf in den Praxen, was die Krank-heit MIH angeht: „Es ist ja nicht ganz klar, ob MIH jetzt nur mehr im Gespräch ist oder ob es auch absolut mehr Fälle gibt. Karies ist Gott sei Dank bei kleinen Kindern und Jugendlichen durch Prophylaxe und allgemein bessere Mundhygiene massiv zurück-gegangen, aber mit MIH sind die Kollegen o� überfordert: Wer möchte schon gerne zugeben, nicht das richtige �erapiekonzept in der Tasche zu haben?“, gibt Arnolds zu bedenken.

Frage um die richtige TherapieAuch Schi�ner sieht Schulungsbedarf: „Anhand der Fragen bei Fortbildungsveranstaltungen merken wir, dass es unter den Kol-legen Unsicherheiten gibt.“ Bei der Deutschen Gesellscha� für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) gibt es indes keine Leitlinie für die �erapie von MIH. Bei leichten Fällen tut es die Kunststo�füllung; bei schweren Fällen rät Schi�ner zur Versor-gung mit einer Stahlkrone und geht weiter: „Es ist zu überlegen, einen schwer betro�enen Zahn nicht gleich zu entfernen. Das ist ein schwerer Schritt, aber auch die Krone hält nicht ewig.“ Ein Ende bei MIH sieht Schi�ner nicht, gerade im Bereich der Ver-sorgungsforschung werde sich aus seiner Sicht noch einiges tun müssen.

Die Minerealisierungsstörung regt zu Hypothesen an. Arnolds hat indes zurückgerechnet und versucht nachzuvollziehen, was zur eingeschränkten Zahnschmelzbildung führen könnte. Sei-ne Gedanken führen in den Mutterleib, wenn gegen Ende der Schwangerscha� die Zahnkrone des Sechsjahrmolaren anfängt, sich im Kiefer zu bilden: „Es muss irgendetwas sein, was sich um die Geburt herum zuträgt“, überlegt Arnolds und hält seine �e-se „Geburtstrauma durch Kaiserschnitt“ zwar nicht für belegt, aber zumindest für plausibel.

Darauf angesprochen, sagt Schi�ner mit deutlichem Zweifel: „Auch der Kaiserschnitt wird in manchen Studien angeführt, aber es gibt genug Argumente, die dagegen sprechen.“

Eva Britsch

Wissen oder NichtwissenWissenscha� scha� Wissen. Dieser Anspruch steckt schon im Wortstamm und ist Anspruch jedes Vollblutwissenscha�lers. In den Elfenbeinturm der Wissenssuche werden jedes Jahr Milliarden von Steuergeldern gepustet. In kaum einem ande-ren Land der Welt haben Wissenssuche und der Anspruch, Welt und Universum zu verstehen, einen so großen Stellen-wert wie in Deutschland.

Im Land von Kepler und zur Hausen gilt Wissen als Macht, Erkenntnisgewinn als erstrebenswertes Lebensziel. Auch im Ausland wird nicht selten der „Wissenscha�sstand-ort“ Deutschland gerühmt. Und im Inland �oskeln Politi-ker von der Leuchtturmfunktion der Spitzenleistungen in den Laboren.

Also alles prima? Schaut man auf die Krankheit MIH, wird klar, wie schwierig es ist, Wissen in die Praxis zu überführen. Studien zu dieser Krankheit, �esen zum Ursprung und Ent-

stehung sind aus dem Bauchgefühl schnell gemacht. Sachlich korrekt ist es von jedem Wissenscha�ler, auf die Spannbreite des aktuellen Forschungsstands hinzuweisen.

Doch diese Di�erenzierungsmöglichkeiten sind dem Zahn-arzt in der Praxis meist nicht gegeben. Hier sind die Zahn-mediziner verunsicherten Eltern ausgesetzt, die sich nicht selten selbst die Schuld am kranken Zahn geben. Wenn der Puster das blanke Zahnbein irritiert und der kleine Patient zurückzuckt, ist viel psychologisches Geschick gefordert, um die Behandlung zur allgemeinen Zufriedenheit auszuführen. Au�lären und Erklärung sind gefragt.

Damit das aber gelingt und sich deutsche Zahnärzte in ihren Praxen nicht allein gelassen fühlen, ist das richtig, was vieler-orten immer wieder postuliert wird: Der Austausch zwischen Wissenscha� und Praxis muss befördert werden.

Eva Britsch

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