351

Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Kuhnl Geschichte Und Ideologie
Page 2: Kuhnl Geschichte Und Ideologie
Page 3: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Geschichte und Ideologie

Kritische Analyse bundesdeutscher Geschichtsbücher

Arbeitsgruppe Geschichtsbuchanalyse Marburg:Reinhard Assling, Jürgen Burger, Horst Hagemann,Michael Kern, Rainer Klebe, Reinhard Kühnl,Amélie Methner, Uwe Naumann, Gerhard Schäfer,Sylvia Schöningh, Gerd Wayand

Herausgegeben von Reinhard Kühnl

Überarbeitete zweite Auflage

Rowohlt

Page 4: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

rororo aktuell - Herausgegeben von Freimut Duve

ERSTAUSGABE

1 . - 2 5 . Tausend Juli 1973

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Juli 1 9 7 3© Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 2973Umschlagentwurf Werner Rebhuhn (Foto: Kai Greiser, Hamburg) Alle Rechte vorbehalten Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck/Schleswig Satz Baskerville IBM-Composer Reprosatz Herbert Kröger, Hamburg Printed in Germany ISBN 3 499 11656 1

26. -35 . Tausend September 1974

Page 5: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Inhalt

Einleitung von Reinhard Kühnl 7

Erstes Kapitel: Untersuchung der Geschichtsbücher 11

A. Die Französische Revolution 111. Ursachen der Revolution 12 2. Wirtschaftliche und politi-sche Ursachen der Französischen Revolution 32 3. Zweitei-lung der Revolution 36 Schlußbemerkung 51

B. Reformation und Bauernkrieg in Deutschland 52C. Die Arbeiterbewegung 62

l. Die historische Entstehung der Arbeiterklasse 64 2. Die«Soziale Frage» des 19. Jahrhunderts und ihre Ursachen 70 3.Erste Lösungsversuche der «Sozialen Frage» 75 4. Die Ent-stehung der Arbeiterorganisationen 76 5. Bismarck - mitZuckerbrot und Peitsche 80 6. Die «Lösung» der «SozialenFrage» von der Weimarer Republik bis zur BRD 82 7. Die«Soziale Frage» im «Bolschewismus» 86 8. Die Arbeiterbewe-gung als «Soziale Frage» - eine Reduktion der realen Geschich-te 88 9. Die «Soziale Frage» - heute wirklich gelöst? 90

D. Russische Oktoberrevolution und Novemberrevolutionin Deutschland 971. Oktoberrevolution 97 2. Novemberrevolution 107

E. Das Ende der Weimarer Republik 114F. Der Kalte Krieg 127

1. Der Ost-West-Konflikt 128 2. Die Entstehung der Volks-demokratien 135 3. Die Spaltung Deutschlands 136

G. Kolonialismus und Entkolonisierung - Imperialismus undDritte Welt 1411. Anspruch und Wirklichkeit 141 2. Der Kolonialismus 1443. Entkolonisierung - Dritte Welt 148

H. Die Darstellung des Wissenschaftlichen Sozialismus 1511. Die Bedeutung der Auseinandersetzung mit dem Marxismusfür das bürgerliche Denken 151 2. Ontologisierung 155 3.Anthropologisierung - Enthistorisierung 163 4. Personalisie-rung 171 5. Die «Widerlegung» des Marxismus in den Schul-büchern und ihre Funktion 178

Zweites Kapitel: Systematisierung 183

A. Ontologisierung / Anthropologisierung 184B. Verabsolutierung der Ideen 186C. Personalisierung 187D. Schichttheorie 194

Page 6: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

E. SozialpartnerschaftstheorieF. Totalitarismus-TheorieG. Manipulation durch Sprache

Drittes Kapitel: Zum Ideologiebegriff

Der StaatsfetischSchlußbemerkung

197203209

213

233244

Viertes Kapitel : Schule im Kapitalismus der BRD 246

A. Zur ökonomischen Funktion von Ausbildung und Bildungim Kapitalismus 2461. Die historische Entwicklung des Verhältnisses von Arbeits-prozeß und Qualifikationsstruktur der Ware Arbeitskraft 2472. Die Funktion des Staates für den Ausbildungssektor 249 3.Die Entwicklung der Hierarchie im Ausbildungssektor unterdem Aspekt des Widerspruchs von Bildung und Ausbildung 252

B. Gesellschaftlich-geschichtliche Voraussetzungen in der Entwick-lung des bürgerlich-kapitalistischen Schulwesens 254

C. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und die Veränderungder Qualifikationsstruktur der Ware Arbeitskraft 2581. Das Problem der Bewältigung des wissenschaftlich-techni-schen Fortschritts in der BRD 258 2. Widersprüchliche Ten-denzen in der Entwicklung der Qualifikationsstruktur des Ar-beitsvermögens 260 3. Zur Funktion von Bildungsökonomieund Unterrichts technologie 264

D. Geschichtsunterricht - Medium der Kontrolle und Steuerungideologisch-affirmativer Integrationsprozesse 2661. Zur Entwicklung bürgerlicher Geschichtswissenschaft seitdem 19. Jahrhundert 266 2. Der Vermittlungszusammenhangvon Geschichtswissenschaft und Geschichtsbuch 269 3. DieStellung des Geschichtsbuches im Geschichtsunterricht 272 4.Der Lehrer 273 5. Der Schüler 282

E. Zur Funktion des Geschichtsunterrichts 287

Fünftes Kapitel: Gesamtgesellschaftliche Voraussetzungeneines kritischen Geschichtsunterrichts 296

AnmerkungenAuswahlbibliographieA. SchulbücherB. Ausgewählte Literatur zu den behandelten ThemenDie Autoren

304345345347349

Page 7: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Einleitung

Im Geschichtsunterricht lernen die Schüler keineswegs nur, wie es — angeblich — gewesen ist. Sie erfahren hier zugleich, wie die vergange-nen Formen von Staat und Gesellschaft aufzufassen und welche Kon-sequenzen daraus für Individuen und soziale Klassen in der Gegenwartabzuleiten seien. Der Schüler erhält also ein — durch den historischenStoff vermitteltes — Orientierungsschema für die Gegenwart, das seinepolitischen Denk- und Verhaltensformen beeinflußt. Diese politischeKomponente des Geschichtsunterrichts existiert unabhängig davon,ob der Geschichtslehrer oder der Geschichtsbuchautor bewußt daraufabzielt oder nicht. Welches Geschichtsbild in unseren Schulen vermit-telt wird, ist also auch politisch bedeutsam. Gerade die deutsche Ver-gangenheit hat gelehrt, daß durch den Geschichtsunterricht autoritäreDenk- und Verhaltensformen begünstigt werden können, die es denHerrschenden erlauben, das Volk abhängig und unmündig zu haltenund für ihre Zwecke einzusetzen — bis hin zum Einsatz für ihre im-perialistischen Kriegsziele.

Schon von hier aus ist erkennbar, wie dringlich eine Analyse der Ge-schichtsbücher ist. Selbst wenn man berücksichtigt, daß insbesonderejüngere Geschichtslehrer auch andere Materialien in ihrem Unterrichtverwenden, kann davon ausgegangen werden, daß die Geschichts-bücher noch einen maßgeblichen Einfluß auf den Unterricht haben.Ich habe deshalb im Sommer-Semester 1972 am Fachbereich Gesell-schaftswissenschaften der Universität Marburg zusammen mit 90Studenten der Politikwissenschaft ein Seminar mit dieser Aufga-benstellung durchgeführt. In einer Arbeitsgruppe, die daraus hervor-ging, haben wir dieses Thema weiterverfolgt, die Materialien des Semi-nars aufgearbeitet und die Fragestellung erweitert. Das Resultat legenwir hier als Buch vor — in der Annahme, daß es für Schüler, Studentenund Geschichtslehrer, darüber hinaus aber für alle, die daran interes-siert sind, daß unsere Kinder im Geiste der Humanität und der Demo-kratie erzogen werden, eine Orientierungshilfe geben kann. Gemäß ei-nem Beschluß des Seminars wird das Honorar der ersten Auflage nachAbzug der Unkosten der Vietnam-Hilfe überwiesen. Was das für dieStudenten dieser Arbeitsgruppe, die größtenteils Stipendienempfängersind und also am Rande des Existenzminimums leben, bedeutet,braucht nicht näher ausgeführt zu werden. Die Solidarität der fort-schrittlichen Studenten mit dem um seine Freiheit kämpfenden viet-namesischen Volk drückt sich in vielen Formen aus; dies ist eine da-von.

Wir untersuchen im ersten Kapitel, wie die Geschichtsbücher, die fürunsere Epoche bestimmenden Ereignisse, Kräfte und Kämpfe darstel-len: Die bürgerliche Revolution mit der Großen Französischen Revo-lution als Schwerpunkt, die Arbeiterbewegung samt ihren theore-tischen Grundlagen und ihren politischen Konsequenzen und die Be-

7

Page 8: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

freiung der ehemaligen Kolonialvölker. Dabei wird die Darstellung derGeschichtsbücher sowohl auf ihre innere Stimmigkeit überprüft alsauch mit den historischen Tatsachen, dem wirklichen historischen Ge-schehen konfrontiert. Als „Modellfall", der besonders ausführlich un-tersucht wird, haben wir die Französische Revolution von 1789 ge-wählt, weil hier die Grundlagen für den parlamentarisch-rechtsstaat-lich verfaßten bürgerlichen Staat, der auch die politische Struktur derkapitalistischen Gesellschaften der Gegenwart noch bestimmt, gelegtworden sind; andererseits ist die historische Distanz genügend groß,um mit der Kritik am herrschenden Geschichtsbild nicht gleich Emo-tionen zu wecken, die aus aktuellen Konfrontationen resultieren. Indiesem Kapitel werden auch die wichtigsten Grundkategorien unsererKritik schon entwickelt, und zwar aus dem historischen Prozeß selbst.

Bei der Untersuchung der Geschichtsbücher zeigen sich Verzerrun-gen und Verfälschungen verschiedener Art, die sich bei näherer Be-trachtung als keineswegs zufällig erweisen: Es sind gewisse ideolo-gische Grundlinien erkennbar, die wir im zweiten Kapitel deutlicherherausarbeiten. Zugleich ist zu fragen, welche Funktion diese haben,d. h. welche politische Wirkung sie hervorrufen und wem sie nützen.Obgleich die verschiedenen Ideologeme unterschiedliche Argumenta-tionsreihen enthalten, ergänzen sie sich doch wechselseitig und fügensich tendenziell zu einer einheitlichen Ideologie zusammen. Ihre Kurz-formel lautet: So, wie es ist, so muß es bleiben; die Geschichte be-weist, daß es anders weder sein kann noch sein darf.

Dies führt zu der Frage nach den Ursachen dieser Geschichtsideolo-gie, der wir im dritten Kapitel nachgehen. Die naheliegende Ansicht,es handle sich dabei um die wissenschaftliche Unzulänglichkeit derGeschichtsbuchautoren oder um bewußte Manipulation, greift näm-lich zu kurz. Eine sozialwissenschaftlich befriedigende Erklärung liegterst dann vor, wenn diese Ideologie selbst aus der Gesellschaft herausabgeleitet wird, in der sie entstanden ist und gedeihen kann. Der Ideo-logiebegriff, wie ihn Marx entwickelt hat, bietet für eine solche Erklä-rung einen guten Ansatz. Dieses Kapitel ist, was den Abstraktionsgradbetrifft, das schwierigste.

Nach alledem ist die Frage unumgänglich, welche Funktion der Ge-schichtsunterricht in der gegenwärtigen Gesellschaft eigentlich hat.Das versucht das vierte Kapitel zu klären. Dabei mußte zunächst ein-mal die Funktion der Schule überhaupt bestimmt werden, bevor derGeschichtsunterricht in seinem Stellenwert innerhalb der Ausbildungdargestellt werden konnte.

Da der Schulunterricht im allgemeinen und die Geschichtsbücher imbesonderen sich — vom Standpunkt der Demokratie und der Selbstbe-stimmung des Menschen aus — als unbefriedigend erwiesen, ist nachden Möglichkeiten von Veränderung zu fragen. Damit befaßt sich dasletzte Kapitel. Dabei kam es uns nicht darauf an, der gegenwärtigenGesellschaft eine andere, die soziale Gerechtigkeit und Selbstbestim-mung optimal gewährleistet, abstrakt gegenüberzustellen, sondern in

8

Page 9: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

der gegenwärtigen Gesellschaft konkrete Ansatzpunkte, Möglichkeitenund Tendenzen für Veränderung aufzuzeigen. Daß eine solche politi-sche Praxis ohne eine klare Zielvorstellung orientierungslos bleibenmuß, ist allerdings — wie die Politik derer, die sich Pragmatiker nen-nen, tagtäglich beweist — selbstverständlich. Diese Zielvorstellung istfür die Autoren dieses Buches eine sozialistische Demokratie, d. h. ei-ne Gesellschaft, in der alle Mitglieder in geplanter Kooperation überalle gesellschaftlich bedeutsamen Fragen frei entscheiden, auch undvor allem im Bereich der Herstellung und Verteilung der gemeinsamproduzierten Güter.

Da in unserer Arbeitsgruppe fortschrittliche Studenten verschiede-ner Richtungen vertreten waren, kamen deren wissenschaftliche undpolitische Kontroversen auch während unserer Arbeit zur Geltung. Ineiner Reihe von Streitpunkten konnte nach längerer Diskussion Über-einstimmung erzielt werden; für andere konnten Formulierungen ge-funden werden, die sozusagen unterhalb der Streitebene verblieben.Nur die Kontroversen, bei denen weder das eine noch das anderemöglich war und auch eine Ausklammerung nicht in Betracht kam,wurde durch Mehrheitsvotum entschieden. In Hinsicht auf den Inhaltdes Buches handelt es sich also um eine wirkliche Kollektivarbeit. Inder sprachlichen Form allerdings weisen die verschiedenen Teile nochbeträchtliche Unterschiede auf; hier zielte die Überarbeitung nicht aufeine vollständige Angleichung.

Gegenstand der Untersuchung waren hauptsächlich Geschichtsbü-cher, die für die Mittel- und Oberstufe der Gymnasien verfaßt wurden.Zur Ergänzung wurden einerseits Didaktiken herangezogen, weildurch sie der Geschichtslehrer Anweisungen erhält, zu welchen Resul-taten sein Unterricht führen soll, und andererseits Geschichtsbücherder Hauptschule, der Unterstufe der Gymnasien und der Berufsschule,in denen die zentralen Geschichtsideologien in ziemlich plumperForm vorgetragen werden. Sie auf dieser Stufe aufzuzeigen, wärerecht leicht gewesen, hätte aber den Einwand zugelassen, daß dieSchüler in diesem Alter zu differenzierten Einsichten in das histo-rische Geschehen noch nicht in der Lage seien, daß dies dann in derOberstufe aber nachgeholt werde. Es kam uns deshalb darauf an,nachzuweisen, daß die Bücher, die das Geschichtsbild der Abiturien-ten bestimmen, zwar scheinbar objektiver und kritischer sind, inWahrheit aber die gleiche Ideologie in subtilerer Form vermitteln.

Auch bei der Auswahl der historischen Probleme haben wir alsSchwerpunkte nicht solche gewählt, bei denen Verzerrungen und Ver-fälschungen in den Geschichtsbüchern besonders evident sind, weil einganz unmittelbares Interesse am Werke ist, also Faschismus, KalterKrieg, DDR und UdSSR. Obgleich wir auch einige dieser Problememit einbezogen haben, kam es uns doch hauptsächlich auf den Nach-weis an, daß das herrschende Geschichtsbild insgesamt ideologischeZüge trägt, also auch die Darstellung scheinbar ferner liegender Proble-me wie Bauernkrieg oder Französische Revolution so beschaffen ist,

9

Page 10: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

daß damit beim Schüler unpolitische und tendenziell antidemokrati-sche und autoritäre Denkformen erzeugt werden.

Unterschiede zwischen den verschiedenen Geschichtsbüchern sinderkennbar, aber keineswegs so bedeutend, daß etwa von einem wirkli-chen Pluralismus der Lehrmeinungen die Rede sein könnte. Bis in die60er Jahre hinein war auch die Geschichtswissenschaft an den Hoch-schulen der BRD — wie im Kaiserreich, in der Weimarer Republik undin der Periode des Faschismus — geprägt von einer konservativen Ideo-logie und frei von gesellschaftskritischen Tendenzen. Seit der Studen-tenrebellion 1967/68 konnte hier jedoch die Kritik an der traditionel-len Geschichtswissenschaft nicht mehr unterdrückt werden, wennauch bisher nur wenige kritische Wissenschaftler auf Professorenstel-len gelangten; die freie Konkurrenz der Argumente bleibt auch hierein Ziel, das erst noch erkämpft werden muß. Bemerkenswert aber ist,daß von all diesen scharfen und fruchtbaren Kontroversen im Bereichvon Hochschule und Wissenschaft die Geschichtsbücher fast gänzlichfrei geblieben sind. Auch die neuesten dieser Bücher weisen nur weni-ge neue Aspekte auf, die überdies noch teilweise als Scheinkonzessio-nen zu erkennen sind.

Im Bereich einer ideologiekritisch verstandenen Analyse von Lehrin-halten bleibt noch vieles zu leisten. Das vorliegende Buch begreift sichals Versuch einer Ideologiekritik an konkretem Gegenstand und zu-gleich als eine Aufforderung an Lehrende und Lernende, Schulbücherkritischer als bisher zu betrachten, hinter den Ideologien die gesell-schaftlichen Interessen zu erkennen, die von der Unmündigkeit derMassen profitieren und praktische Schritte zu unternehmen, damit inunserer Gesellschaft Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit ver-wirklicht werden. Sicherlich ist dieses Buch in mancherlei Hinsichtverbesserungsbedürftig. Für kritische Hinweise sind wir deshalb jeder-mann dankbar.

Marburg, im Februar 1973 Reinhard Kühnl

Page 11: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Erstes KapitelUntersuchung der Geschichtsbücher

A. Die Französische Revolution

Die Französische Revolution ist die einzige Revolution, die in deröffentlichen Meinung dieses Landes mit dem Titel „groß" belegt, alsoals positiv und bedeutend bewertet wird. Dies hat seine Ursache frag-los darin, daß diese Revolution tatsächlich gewissermaßen den Grund-stein der bürgerlichen Gesellschaft in Europa gelegt und die Vorausset-zung für die bestehenden parlamentarischen Demokratien geschaffenhat. Dies wird auch in einigen Schulbüchern betont:

„Die Verfassung, die Erklärung der Menschenrechte und die Herstellung einermodernen Gesellschaftsordnung sind die eigentlichen Leistungen der Französi-schen Revolution." (Diesterweg VIII, S. 22)*)

„Die Bedeutung der Französischen Revolution liegt . . . in der neuen, der Zeitgemäßeren Gesellschaftsordnung, die sie geschaffen hat . . . Der Durchbruch zueiner neuen Zeit war erfolgt." (Schroedel/Schöningh IV, S. 82)

Aber bereits von diesen Zitaten aus Schulbüchern läßt sich eine ei-gentümliche Oberflächlichkeit der Betrachtung ablesen. Eine bürgerli-che Revolution, die durch den gewaltsamen Sturz der alten Feudal-ordnung die bürgerliche Gesellschaft ins Leben rief, erscheint hierganz abstrakt als „der Durchbruch zu einer neuen Zeit", als „Herstel-lung einer modernen Gesellschaftsordnung". Statt gesellschaftsanalyti-scher Begriffe (Feudalismus, bürgerliche Gesellschaft) werden inhalts-arme Worte wie „neu" und „modern" benutzt, Worte, die außerdemnoch suggerieren, daß eine grundlegende Umgestaltung (Aufhebungim Hegeischen Dreifachsinn: beseitigen, bewahren, auf ein höheres Ni-veau heben) des seither bestehenden gesellschaftlichen Systems völligauszuschließen ist: was modern, also zeitgemäß ist, braucht nichtmehr wesentlich verändert zu werden.

Die Darstellung der Französischen Revolution in den Schulbüchernist für uns also deshalb von besonderem Interesse, weil hier die bürger-liche Gesellschaft (in diesem Fall in ihren Schulbüchern) ihre eigenehistorische Genesis beschreibt. Die Analyse muß erweisen, inwieweitdie Schulbücher dieser historisch-gesellschaftlichen Dimension gerechtwerden.

* Die benutzten Schulbücher sind in der Auswahlbibliographie vollständig aufge-führt.

1 1

Page 12: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

1. Ursachen der Revolution

Geistesgeschichtliche Erklärung der Französischen Revolution: die Aufklärung

Alle Schulbücher weisen darauf hin, daß die ,geistige Welt' seit dem17. Jahrhundert, insbesondere im 18. Jahrhundert, ,in Bewegung ge-riet'.

„Diese erfaßte alle Bereiche des Lebens und setzte an die Stelle traditionellerVorurteile und Gewohnheiten neue Einsichten." (Schroedel/Schöningh III,S. 44)

Woher aber kommen diese Ideen? Warum treten sie gerade jetztauf? Jedem Leser dürfte sofort auffallen, daß die Schulbücher auf die-se sich unmittelbar aufdrängende Frage gar nicht eingerichtet sind.Wenn man sämtliche Schulbücher daraufhin durchforscht, ergebensich nur spärliche Ansätze einer Antwort: Die geistige Bewegung istauf zweierlei zurückzuführen:

1. auf die Auflösung mittelalterlicher Bindungen2. auf die neue Naturwissenschaft.

ad 1.Die neuen Ideen der Aufklärung, die sich in Begriffen wie ,Freiheit'und .Vernunft' manifestieren, seien Momente einer geistesgeschichtli-chen Entwicklung, die mit der Herauslösung aus den verkrustetenStrukturen des mittelalterlichen Weltbildes einsetzte. Am Anfangstand ein „Umbruch des Weltbildes" (Diesterweg VIII , S. 6 ) , die Auf-lösung der mittelalterlichen Ordo. Folgendes Zitat kann als repräsen-tativ gelten:

„Seit der Renaissance hatten sich die Menschen mehr und mehr aus den Bin-dungen gelöst, die sie im Mittelalter umschlossen; sie fühlten sich allmählichnicht mehr in einem Ordo geborgen, nicht mehr als Glied einer kirchlichen undständischen Gemeinschaft, sondern empfanden sich als ab-solute (von absolvere)Wesen. Die Folge davon war, daß die Ideen der autonomen Persönlichkeit undder Rechtsgleichheit im Abendland emporkamen. Sie standen in krassem Wider-spruch zur Gesellschaftsordnung, die noch weithin feudale Züge trug . . ." (KlettI, S. 160)

Der Ansatz eines gesellschaftlichen Bezuges, die Bemerkung näm-lich, daß sich, „die Menschen aus den Bindungen" lösten, „die sie imMittelalter umschlossen", bleibt in dieser Kürze eine nichtssagendeFloskel, wenn im Nachsatz nur noch von ,Gefühlen' und .Empfindun-gen' der Menschen die Rede ist: „sie fühlten sich allmählich nichtmehr in einem Ordo geborgen . . ., sondern empfanden sich als ab-so-lute . . . Wesen." Als „Folge" dieser psychischen Bewegung in denMenschen erscheinen die „Ideen", die dann näher beschrieben wer-den. Aus dem Widerspruch zwischen aufklärerischen Ideen und feudalgebliebener gesellschaftlicher Wirklichkeit sei „letzten Endes die Re-volution erwachsen". (Klett I, S. 163) Dieser Gedanke findet sich infast allen Schulbüchern.

12

Page 13: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

ad 2.Der wesentliche Anspruch der Aufklärung, die Welt mit Hilfe der Ver-nunft in den Griff zu bekommen, wird mit dem Aufschwung der Na-turwissenschaften in Verbindung gebracht:

„Die Naturwissenschaften, die während des Mittelalters am Rande des geisti-gen Lebens gestanden hatten, traten im 16. und 17. Jahrhundert mehr undmehr in seinen Mittelpunkt." (Schroedel/Schöningh IV, S. 2)

„Immer mehr Gelehrte beschäftigten sich mit der Erforschung der Natur."(Diesterweg V, S. 71)

So richtig beide Erklärungsversuche (1. u. 2.) sind, so wenig könnensie wirklich erklären. In beiden Fällen werden Beziehungen zu zeitlichvorhergehenden Entwicklungen benannt, die selbst wiederum erklärtwerden müßten. Die eingangs gestellte Frage (woher kommen die neu-en Ideen? ) ist tatsächlich nur zeitlich zurückverschoben. Sie müßtejetzt lauten: Wie ist jene Auflösung der mittelalterlichen Ordo zu er-klären? Hätte sie auch früher oder später oder gar nicht vonstattengehen können? Warum standen die Naturwissenschaften im Mittelal-ter „am Rande des geistigen Lebens", warum gewannen sie ausgerech-net seit dem 16. Jahrhundert rasch an Bedeutung?

Ein erneutes Durchforschen der Schulbücher erweist sich diesmal alsfruchtlos. Nirgendwo findet sich ein Hinweis auf die Entstehungsge-schichte der ,neuen' Vorstellungen, Methoden und Ideen. Man be-gnügt sich mit dem bloßen Feststellen ihres Vorhandenseins. Es wirdlediglich beschrieben (z. B. das ,Auftauchen' der Naturwissenschaftund des neuen Weltbildes), nicht erklärt (nämlich die gesellschaftliche Genesis dieser Phänomene).

Bemerkungen zur historischen Genesis der bürgerlichen Aufklärung

Wesen des Feudalismus

Wie diese Genesis des ,neuen' Weltbildes darzustellen wäre, kann hiernur in einer knappen Skizze angedeutet werden: Der Begriff Mittelal-ter bezieht sich auf einen Zeitabschnitt von rund tausend Jahren — von 500 bis 1500 — und gibt, wie der jahrhundertealte Streit der Hi-storiker um den Anfangs- und Endtermin beweist, inhaltlich kaumetwas her. Ergiebiger ist der sozialhistorische Begriff Feudalismus. Darunter ist, entsprechend der Definition Werner Hofmanns1, ein„bodenvermitteltes Herrschaftsverhältnis" zu verstehen, das auf derAneignung gesellschaftlicher Mehrarbeit — also die Arbeit, die über dieErzeugung der unbedingt notwendigen Lebensbedingungen einer Ge-sellschaft hinausgeht2 — „kraft Herrengewalt am Boden" beruht: Dieunmittelbaren Produzenten, die Bauern, waren in dem Maße an ihreScholle gebunden wie sie von dem Grundherrn, dem ein Obereigen-tum am bewirtschafteten Boden zustand, persönlich abhingen. Inso-fern war die persönliche Abhängigkeit des Bauern von seinem Grund-

13

Page 14: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

herrn bzw. dessen Herrschaft durch den Boden vermittelt. Dieses Ver-hältnis stellt sich am deutlichsten in den Frondiensten dar: Der Bauerhatte einige Tage in der Woche auf dem Lande des Herrn (Fronhof,Salland) unentgeltlich Arbeit zu verrichten. Diese sogenannte Arbeits-rente wurde allmählich von der Produktenrente (Naturalabgaben) undschließlich von der Geldrente abgelöst. In allen diesen Fällen bleibtaber das Grundverhältnis des Feudalismus, die bodenvermittelte Herr-schaft des weltlichen und geistlichen Adels über mehr oder wenigerunfreie Produzenten (die Bauern) bestehen. Die feudale Gesellschaftwar eine Agrargesellschaft, d. h. der Lebensunterhalt der Gesellschaftwurde überwiegend oder ausschließlich durch agrarische Produkte be-stritten. Daher war die Produktionsweise durchweg reine Bedarfsdek-kungsproduktion. Die einzelnen Haushalte stellten alle notwendigenLebensmittel selbst her (auch Kleidung, Werkzeuge usw.). Da die überdie Befriedigung der unmittelbaren Lebensbedürfnise hinausgehendenErträge (Mehrprodukt) vom Grundherrn angeeignet wurden, fehltenAnreiz und Möglichkeit zum Tausch. Der feudale Produktions- undHerrschaftsverband stellte zunächst einen autarken und autonomenWirtschaftskreis dar. Die Produktionstechniken blieben wenig ent-wickelt, da kaum ein Anreiz zur Erhöhung der Produktion bestand.Deshalb ist der Feudalismus durch die einfache Reproduktion gekenn-zeichnet, d. h. die einfache Wiederholung des Produktionsprozesses(es wird immer wieder so viel produziert wie vorher auch), der sichauch über einen längeren Zeitraum kaum merklich ausweitete. DasFehlen wirtschaftlicher Kalkulation und Planung, die unentwickelteNaturbeherrschung, die lokale Begrenztheit sowie die relative Statikder Lebensformen hatte eben das zur Folge, was die Schulbücher un-abgeieitet mit „mittelalterlichen Bindungen" umschrieben: Neben demsich aus dem Leben im autarken Dorf-, Einzelhofs- und Fronhofsver-band unmittelbar ergebenden Kollektivismus3, der aus der Produk-tionsweise entspringenden Vorstellung einer festen Schicksalsgemein-schaft, seien zwei Grundelemente des feudalen Weltbildes genannt:

Traditionalismus: Der Traditionalismus machte das Wesen des ge-samten feudalen Weltbildes aus. Da sich ohnehin kaum etwas änderte,dominierte das Weltverständnis: es müsse so sein und bleiben, wie eswar. Man orientierte sich an der Vergangenheit. Was recht war, konnteman nicht beschließen, sondern nur ,finden': Das Recht war mit Tra-dition, Sippe, Brauch und althergebrachter Billigkeit identisch. Dasälteste Recht war zugleich das beste: „Denn das allerälteste Recht istauch das gottnächste, stärkste Rech t . " 4 Erst später, bei der Auflösungder feudalen Verhältnisse, insbesondere dann in der Aufklärung, solltesich zeigen, daß dieser Traditionalismus die denkbar beste Form dar-stellte, das Bestehende im Interesse des herrschenden Teils der Gesell-schaft als Gesetz zu heiligen.

Irrationalismus: Der Irrationalismus des feudalen Weltbildes war Aus-druck des geringen Entwicklungsstandes des Produktivkräfte (Anbau-methoden, Werkzeuge), d. h. der unentwickelten Form der Naturbe-

14

Page 15: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

herrschung. Die Anbetung von Bäumen, Steinen, Quellen usw. wartrotz der offiziellen Religion weit verbreitet. Aber auch diese Staatsre-ligion selbst konnte nur deshalb eine derartig umfassende Bedeutungfür das mittelalterliche Weltbild gewinnen, weil sie der feudalen Ge-sellschaft entsprach: die Vorstellung vom Menschen als sündiges Ge-schöpf Gottes, dem im diesseitigen Leben die erstrebte Gnade und Er-lösung nicht vergönnt sei, heiligte im nachhinein die politische Ohn-macht der ausgebeuteten Produzenten; wo das Feudalsystem mit sei-nen Zwangs- und Gewaltmitteln nur als Ausdruck der Sünde und desAbfalls von Gott gilt, ist Auflehnung des Teufels und Unzufriedenheitgottlos.5 Auch die Religion hatte also eindeutige Legitimationsfunk-tion: die Heiligsprechung des Feudalsystems. Ihre Institution, die Kir-che, war vollkommen in die gesellschaftliche Welt des Feudalismuseingegliedert (Kirche als Grundherr). Allgemeines Postulat war das Pri-mat des Glaubens vor dem Wissen: was wahr ist, kann man nicht er-kennen, sondern nur glauben. „Die engen Grenzen, die der Feudalis-mus mit der Hilfe der Kirche dem Denken und Wollen der Zeit setzte,erklären den Absolutismus des metaphysischen Systems, das im Ge-biet der Philosophie gegen alles Besondere und Individuelle ebensorücksichtslos war, wie das bestehende Gesellschaftssystem gegen alleFreiheit im eigenen Bereiche, und das im geistigen Kosmos die gleichenPrinzipien der Autorität und Hierarchie walten ließ, die in den gesell-schaftlichen Herrschaftsformen des Zeitalters zum Ausdruck ka-men." 6

Umwälzung der Feudalverhältnisse

Die Auflösung des Feudalismus war wirtschaftlich bedingt. Sie vollzogsich gewissermaßen als Austragung der der feudalistischen Gesell-schaftsformation immanenten Widersprüche: so waren die feudalenProduktionsverhältnisse einerseits durch die Zersplitterung der Pro-duktion in einzelne nahezu autarke (wirtschaftlich selbständige) Haus-wirtschaften charakterisiert — was die Entwicklung von Ware-Geld-Be-ziehungen behinderte (wenn jeder seinen Lebensunterhalt selbst er-zeugt, bedarf es keines Tausches, keines Marktes) —, so bedeutete aberandererseits die Zentralisation des vor allem agrarischen Mehrproduktsin den Händen der parasitären Feudalherren die Bedingung eines Wa-renverkehrs. Dieser Warenverkehr besaß zunächst nur die Form desFernhandels, also des Austausches zwischen verschiedenen Ländernund Landschaften (z. B. Handelsverkehr mit dem Orient) und war aufLuxusartikel beschränkt (die notwendigen Lebensmittel wurden ja aufden Fronhöfen selbst produziert). Auf dieser Stufe der Entwicklungpartizipierte also nur eine dünne Oberschicht, die großen Grundher-ren, an den Handelsbeziehungen. Deren Voraussetzung war wiederumdie Existenz eines agrarischen und zum Teil gewerblichen Mehrpro-dukts, das von dieser Klasse angeeignet wurde. Die durch die Fern-

15

Page 16: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

handelsangebote geweckten Bedürfnisse der herrschenden Oberschichtkonnten nur durch einen Zuwachs an Quantität bzw. Qualität diesesMehrprodukts befriedigt werden. Dieses Verlangen nach erhöhter Ar-beitsleistung der abhängigen Bauernschaft setzte eine Bewegung inGang, die die Feudalverhältnisse stark modifizierte bzw. tendenziellauflöste (nach einzelnen Ländern verschieden). Mit der Verbesserung der Arbeitsmittel (verstärkte Nutzung von Wasser-, Wind- und Tier-kraft; verbesserte Werkzeuge: insbesondere von eisernen Geräten wieSense, Dreschflegel, schwerem Wendepflug, Mühlen usw.), der Anbau-methoden (Dreifelderwirtschaft, verbesserte Düngung usw.) und Neu-landgewinnung (Rodung, Entsumpfung, Ostkolonisation usw.) gingdie Arbeitsteilung (Spezialisierung zunächst nach Grundherrschaften:landschaftlich bedingt, dann auch innerhalb der Grundherrschaftsver-bände: landwirtschaftlicher wie vor allem auch handwerklicher Art,bis zur Verselbständigung des Handwerks) einher. Beides bedingte sichwechselseitig und bildete die Grundlage des nun entstehenden innerenMarktes, wobei Fern- und Lokalmärkte sich wechselseitig fördertensowie auf den Prozeß der Arbeitsteilung (die sich auch räumlich in dasVerhältnis Stadt — Land auseinanderlegte) zurückwirkten. All dieseMomente sind wiederum Resultat und Antrieb der strukturellen Ver-änderung auf dem Lande wie der tendenziellen Auflösung des Fron-hofsystems und der Leibeigenschaft sowie der allmählichen Umwand-lung der Naturalabgaben in Geldrente bzw. Geldpacht. Im Zuge dieserEntwicklung wurden die Bauern in die Ware-Geld-Beziehungen einbe-zogen: sie verkauften ihr Mehrprodukt auf dem städtischen Markt.

Die hier skizzierte innere Umwälzung der Feudalverhältnisse war einlangwieriger und sehr allmählicher Prozeß, der schon vor der Jahrtau-sendwende einsetzte und sich über Jahrhunderte hinzog, ohne die demFeudalismus zugrunde liegenden Produktionsverhältnisse (Aneignungdes gesellschaftlichen Mehrprodukts kraft Herrengewalt am Boden),bereits zu beseitigen. Andererseits schälten sich mit der Entwicklungder gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die sich in den um sich greifen-den Ware-Geld-Beziehungen ausdrückte, Bedingungen heraus, die dieEntstehung einer ganz neuen, zukunftsträchtigen Produktionsweise er-möglichten. Die Erweiterung der Märkte schuf das gesellschaftlicheBedürfnis nach Massenproduktion, die wiederum die Verdrängung derhandwerklichen durch die kapitalistisch betriebene gewerbliche Produk-tion voraussetzte. Die kapitalistische Produktionsweise, die in einer zu-nächst noch unbedeutenden Zahl von Manufakturen innerhalb einerfeudalen Umwelt heranwuchs, stellte etwas qualitativ Neues gegenüberder feudalistischen Produktionsweise dar: Zweck der Produktion warnicht mehr vorwiegend die Sicherung des relativ feststehenden Eigen-bedarfs bzw. eines monopolisierten Lokalmarktes, die Gebrauchs-wertproduktion, sondern ausschließlich die Produktion für den Ver-kauf, die Tauschwert- oder Warenproduktion, die keine Grenzenkannte und deshalb auf die schließliche Beseitigung der Feudalverhält-nisse hinarbeiten mußte (darüber später).

16

Page 17: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Diese Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft im Schöße der al-ten Feudalgesellschaft war die Basis der Auflösung der ,mittelalterli-chen Bindungen'. Wie die entstehende Warenproduktion die feudalenProduktionsverhältnisse modifizierte und die Lebensverhältnisse dyna-misierte7 , so bewirkte sie auch die Zerstörung des alten Weltbildes.Auch hier können nur wenige Stichworte gegeben werden: Mit derAuflösung der selbständigen Wirtschaftseinheiten durch die Ware-Geld-Beziehungen geht die Auflösung des mittelalterlichen Kollekti-vismus, der Vorstellung einer festgefügten Schicksalsgemeinschaft, ein-her. Die Produktion für den anonymen Markt war privat (individuali-stisch; Freiheitsgedanke!) und dem Konkurrenzprinzip unterworfen.Sie bedurfte rationaler Kalkulation (Berechnung, Planung) und stän-diger Verbesserung der Produktionsmethoden. Hier entstand das Be-dürfnis nach Naturwissenschaft, nach Wissen überhaupt. Francis Baconsberühmte Feststellung: „Wissen ist Macht" ist eine eindeutige Absagean die Herrschaft des Glaubens und des Irrationalismus im Mittelalter.

Die in den Schulbüchern konstatierte ,neue Naturwissenschaft' istalso ein Moment der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Erstdurch die Umwälzung der Produktionsmethoden entstanden gesell-schaftliche Verhältnisse, in denen Mathematik und Naturwissenschaftallgemeine Bedeutung erlangen konnten: eine ausschließlich für denMarkt produzierende Großproduktion verlangt die weitgehendste Aus-nutzung nicht nur der menschlichen Arbeitskraft, sondern auch derNaturkräfte. Bereits vorliegende naturwissenschaftliche Erkenntnisse,die in der selbstgenügsamen Feudalwirtschaft ungenutzt blieben unddeshalb in den Gelehrtenstuben verstaubten (entsprechend gering wardie Bedeutung der Naturwissenschaft im Gegensatz etwa zur — speku-lativen — Theologie und Philosophie), wurden jetzt in Praxis umge-setzt. Die kapitalistische Warenproduktion machte die Indienstnahmeder Wissenschaft nicht nur möglich, sondern sie bedurfte ihrer als Vor-aussetzung ihrer eigenen Entfaltung. Theoretische Erkenntnisse (Na-turwissenschaft) und praktische Neuerungen förderten sich wechsel-seitig. Die durch die Erfindung des Buchdrucks (1450) ermöglichtemassenhafte Verbreitung der Produktionserfahrungen sowie neuerwissenschaftlicher Entdeckungen gab dieser Entwicklung einen zu-sätzlichen und kaum zu überschätzenden Antrieb. Die Verschmel-zung von mathematischer Naturwissenschaft und kapitalistischerGroßproduktion (,groß' gemessen an der Werkstatt des Zunfthand-werkers) ermöglichte nun die Lösung historisch entstandener prakti-scher Probleme, denen sich die Gesellschaft gegenübergestellt sah, dieaber mit dem herkömmlichen Handwerk nicht bewältigt werdenkonnten: Nun konnten neue Befestigungsanlagen gebaut werden, dieauch den durch die Erfindung des Schießpulvers gestiegenen Anforde-rungen genügten, und man machte sich an den durch die Ausweitungdes Handels notwendig gewordenen Bau von Brücken, Kanälen, größe-ren und schnelleren Schiffen — mit der Entwicklung der Handelsschif-fahrt hängen die Erfindung und Verbesserung des Kompasses und des

17

Page 18: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Fernglases sowie die Ausbreitung der Astronomie unmittelbar zusam-men — usw.

Die der Naturwissenschaft zugrunde liegende Annahme, daß dieWelt der Natur deshalb mathematisch-rational erfaßbar sei, weil es inihr vernünftig zugehe, wurde zur Grundlage auch der rationalistischenPhilosophie. Descartes, der ,Vater des Rationalismus', war nicht zufäl-lig Mathematiker und Verehrer Galileis. Der Rationalismus leitet seineSchlüsse aus unmittelbar einleuchtenden Axiomen ab, verfährt also de-duktiv. Descartes betrachtet die Axiome als angeborene Ideen, d. h.von unmittelbarer, vom Wahrnehmungsbereich unabhängiger Evidenz.Durch Schlüsse aus diesen könne der Mensch sichere Erkenntnis ge-winnen. Die Sinneserfahrungen seien trügerisch, weil durch die Eigen-art der menschlichen Sinne bestimmt. Die menschliche Denkkraft, dieVernunft, wird einerseits als eine außerhalb der Materie existierendegeistige Substanz begriffen, andererseits aber auch als Instrument zurErkenntnis der objektiven Welt. Rationale Erkenntnis ist aber nur vonetwas möglich, in dem bereits Ratio steckt, die man nur noch heraus-holen muß. Nicht der Wissenschaftler macht aus einem wüsten Chaosdie Welt, sondern diese ist immer schon vernünftig gegliedert.

Der vor allem auf die Natur gerichtete mathematische Rationalis-mus gewinnt, auf die feudale Gesellschaft angewandt, eine gesell-schaftskritische Note, da er in ihr die der Natur innewohnende Ver-nünftigkeit vermissen muß. Vernünftig ist für ihn eine Gesellschaft, diedem natürlichen Menschen adäquat ist. Der natürliche Mensch ist dasAxiom, aus dem jeder Staat deduktiv ableitbar sein muß, soll er vordem Richterstuhl der Vernunft bestehen. Die Naturrechtstheorie istder auf die Gesellschaft angewandte Rationalismus. So machte sichHobbes „ausdrücklich Galileis Methode zu eigen und wandte sie nach-her auf seine Staatskonzeption an". 8

Gesellschaftliche Inhalte der AufklärungAllgemeine Grundbedingungen der bürgerlichen Revolution

Allen Schulbüchern gemeinsam ist die weitgehende Gleichsetzung vonAufklärung und ,Vernunftdenken':

„Die Aufklärung glaubte (!) an die weltdurchdringende und weltverwandelndeKraft der Vernunft." (Diesterweg II, S. 90)

So richtig diese Feststellung in ihrer Pauschalität auch ist, so wenigsagt sie inhaltlich aus. Was heißt hier Vernunft? Wessen Vernunft istgemeint? Oder gibt es eine Vernunft schlechthin? Die Verwendungdes Vernunftbegriffs in den Schulbüchern läßt darauf schließen, daßdie Schulbuchautoren den unhistorischen Vernunftbegriff der Auf-klärung unkritisch übernehmen, da sie die oben gestellten Fragen inkeiner Weise berühren. In Wirklichkeit kann von der Existenz einerabsoluten Vernunft — die von den Aufklärungsphilosophen gewisser-maßen vom Himmel heruntergeholt wurde9 — nicht die Rede sein.

18

Page 19: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Jede Gesellschaftsformation hat ihren eigenen Begriff von Vernunft.Es hat niemals eine herrschende Klasse gegeben, die ihre eigene Herr-schaft als unvernünftig hingestellt hätte. Wenn die Aufklärung das feu-dale Weltbild vor den ,Richterstuhl der Vernunft' stellte und aburteil-te, dann machte sich die bürgerliche Vernunft zum Richter über diefeudale Vernunft . 1 0

Wie sah diese bürgerliche Vernunft der Aufklärung aus? Worin be-stand ihr bürgerlicher Charakter?

Das Axiom, auf dem die rationalistische Naturrechtstheorie ruhte,der natürliche Mensch, war nichts anderes als der bürgerliche Privatei-gentümer. (Unter Privateigentum ist hier im Unterschied zu persönli-chem Eigentum — Eigenheim, Lebensmittel, Gebrauchsgegenstände — ein zum Zweck ständiger Vermehrung eingesetzter Vermögensbe-stand, also: Erwerbsvermögen1 1 , zu verstehen, z. B. Mietwohnung,verpachtetes Land usw. —; eine besondere Form des Privateigentumsist das kapitalistische Eigentum: Besitz von Fabrikanlagen usw.) Inihm fand die Vernunft ihre Grenze. Alles, was dem Privateigentümernützte, war vernünftig. Freiheit galt als vernünftig, soweit es die Frei-heit für das Privateigentum war. Gleichheit galt als vernünftig, soweites sich um die juristische und politische Gleichheit aller Privateigen-tümer handelte.

Diese Ideale wurden zur Parole der Französischen Revolution; siewerden im Zusammenhang mit der Darstellung Rousseaus und der Ja-kobiner in den Schulbüchern noch kritisch zu untersuchen sein.

In gewisser Weise haben die Schulbuchautoren durchaus recht,wenn sie die Französische Revolution aus dem Widerspruch zwischenaufklärerischen Ideen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit erklären,doch bleibt diese Aussage für sie ohne Folgen, weil sie den Inhalt die-ser Ideen nicht analysieren. Hinter dem verbalen Pathos des Rufs nachFreiheit stand ein sozialer, ein ökonomischer Inhalt: Freiheit als Be-freiung des bürgerlichen Unternehmers, des Bourgeois, von den seinewirtschaftliche Entfaltung hemmenden Schranken der feudalen Ge-sellschaftsordnung — Befreiung z. B. von dem feudalen Zollsystem,das lediglich die finanziellen Bedürfnisse des feudalabsolutistischenHofes und der oberen Stände (Klerus und Adel) befriedigte, durch dieAufsplitterung des Landes und die hohen Abgaben aber den Binnen-handel und die Produktion schwer schädigten; Befreiung auch von denhohen Steuern, die den ganzen Dritten Stand schwer belasteten und denGewinn der bürgerlichen Unternehmer einerseits direkt reduzierten,andererseits die Ausweitung der Produktion erschwerten, weil dieKaufkraft der Bevölkerung durch die Verbrauchssteuern wesentlicheingeschränkt war; Befreiung von den stadtbeherrschenden Zünften,die notwendige Betriebsvergrößerungen, die Verbesserung der Pro-duktionsmethoden, technische Neuerungen usw. behinderten und denAbsatz für bestimmte Gebiete monopolisierten; Befreiung der privatenManufakturen von der lästigen staatlichen Reglementierung.1 2

Die Weiterentwicklung der Produktion, nach der ein gesellschaft-

19

Page 20: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

liches Bedürfnis bestand, wurde also durch die gesellschaftlichen Ver-hältnisse, die nach wie vor wesentlich auf Naturalwirtschaft abge-stimmt und durch bodenvermittelte persönliche Herrschaftsbezie-hungen (die sich in Privilegien darstellten) gekennzeichnet waren, aufimmer augenfälligere Weise behindert. Die wirtschaftlichen Potenzen,die Produktivkräfte (Produktionsmethoden, Produktionsmittel) stan-den im Widerspruch zu der Möglichkeit ihrer gesellschaftlichen Reali-sierung: die feudale Gesellschaft, ihre Produktions- und Eigentumsver-hältnisse, waren zu Fesseln des Fortschritts geworden, zu Fesseln derProduktivkräfte.

Die mittelalterliche Zunft als Beispiel für den historischen Funktions-wandel von Produktionsverhältnissen

Wie die feudalen Produktionsverhältnisse, die ursprünglich dieEntwicklung der Produktivkräfte gefördert hatten, allmählich zu Fes-seln ihrer Weiterentwicklung wurden, sei am Beispiel der Zünfte ver-deutlicht. Die Zunftordnung ist die dem Feudalismus entsprechendeOrganisationsform des Handwerks. Ihre Hauptfunktion war, das zuunterbinden, was die kapitalistische Gesellschaft (und nur diese!) we-sentlich kennzeichnet: die Konkurrenz. Der Ausschaltung der Kon-kurrenz dienten die Festsetzung der Preise und der Betriebsgröße, dasVerbot der Werbung und das Verbot eines möglicherweise konkur-renzfähigen ländlichen Handwerks im Einzugsbereich des Zunfthand-werks 1 3 . Diese Einschränkung der Konkurrenz war zu dieser Zeit( I L —13. J h . ) deshalb notwendig, weil eine gewerbliche Produktionfür den anonymen Markt mit seinen Preis- und Nachfrageschwankun-gen bei dem damaligen Stand der Produktivkräfte, d. h. der geringenSpezialisierung und der primitiven Werkzeuge, über kurz oder lang denRuin vieler Handwerker zur Folge gehabt hätte. Im ,Treibhausklima'der Zunftordnung, die den Absatz regelte, konnte sich das Handwerkdagegen zu einer nie dagewesenen Blüte entwickeln. Unter diesemSchutz vor den ,Gefahren des Marktes ' 1 4 konnte sich der städtischeHandwerker von seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit lösen, auf einbestimmtes Handwerk konzentrieren und immer weiter spezialisieren.

Etwa seit dem 16. Jahrhundert kam diese Entwicklung zu einemStillstand, da die Weiterentwicklung der mittlerweile stark spezialisier-ten Produktion einen Kapitalaufwand erforderlich machte, der die Po-tenzen des zünftigen Kleinhandwerks überstieg. Da die Zünfte Be-triebsvergrößerungen, die Anstellung einer größeren Zahl von Gesellenusw. (s. o.) untersagte, entstanden die ersten Manufakturen außerhalbder von Zünften beherrschten Städte. Aus dem einstigen Geburtshel-fer des städtischen Handwerks war eine Zwangsjacke für den wirt-schaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt geworden." Ein ähn-licher Umschlag vollzog sich nur auf einer höheren Stufe, auch bei derEntwicklung der Manufakturen. Hier trat der feudalabsolutistische

20

Page 21: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Staat durch Vergabe von Exklusivprivilegien (sogenannten Monopo-len), Produktions- und Absatzregulierungen usw. als Geburtshelferauf, bis er dann bei einer bestimmten Entwicklungsstufe der Produk-tivkräfte zum Hemmnis des weiteren Fortschritts wurde. 1 6

Der Widerspruch zwischen den vorwärts drängenden Potenzen undden in der politischen und gesellschaftlichen Struktur begründetenHemmnissen machte eine Umwälzung des ohnehin zerrütteten Feudal-systems (so war die Finanzkrise des französischen Absolutismus vorAusbruch der Revolution nur ein Symptom) notwendig. Träger dieserUmwälzung mußte eben jene Klasse sein, die gewissermaßen als Per-sonifizierung der neuen Potenzen gelten konnte: das Bürgertum, ins-besondere die Manufakturbourgeoisie. In diesem Sinne war die Fran-zösische Revolution eine bürgerliche Revolution. Sie resultierte nichtaus dem Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Realität und derIdeenwelt der Aufklärung, wie sie von den Schulbuchautoren verstan-den und dargestellt wird, sondern aus dem Widerspruch zwischen derfeudalen Gesellschaft und den in Ideen wie Freiheit usw. gekleidetenökonomischen Interessen des Bürgertums (in gewisser Weise auch derfeudalabhängigen Bauern), allgemeiner und in marxistischen Katego-rien ausgedrückt: aus dem Widerspruch zwischen der Entwicklung derProduktivkräfte und den zu Fesseln gewordenen feudalen Produk-tionsverhältnissen. Dieser Widerspruch erscheint auf ideeller Ebene alsWiderspruch zwischen dem emanzipatorischen Anspruch des Bürger-tums (und der anderen unterdrückten Klassen) und dem reaktionär ge-wordenen feudalen Weltbild. Diese zunächst auf ideeller Ebene ausge-fochtene Kontroverse mußte schließlich in der politischen Revolutionentschieden werden, die alle feudalen Relikte hinwegfegte.

Wir hatten oben bereits angeschnitten, daß die geistige Offensive desBürgertums, die Aufklärung, wesentlich dadurch gekennzeichnet war,daß sie den ,natürlichen Menschen' mit dem bürgerlichen Privateigen-tümer identifizierte. Sie projizierte also unbewußt das bürgerliche In-dividuum der sich herausbildenden kapitalistischen Gesellschaft zu-rück in einen fiktiven ursprünglichen Naturzustand (womit der Kapita-lismus hinterrücks zum natürlichen Zustand verklärt wäre). Dies ließesich sehr leicht im einzelnen beweisen. Als Beispiele seien erwähnt:die verblüffende Ähnlichkeit der Hobbesschen Konzeption des ,Kamp-fes aller gegen alle' im Naturzustand mit dem Konkurrenzkampf inder bürgerlichen Gesellschaft 1 7 , die Lockesche Konstruktion des Staa-tes aus einem Gesellschaftsvertrag zwischen Privateigentümern zurSicherung ihres Eigentums 1 8 und die Painesche Identifizierung der na-türlichen Rechte des Menschen mit den Gesetzen des Warenver-kehrs. 1 9

Die gesellschaftskritische Note der Naturrechtskonzeption (und da-mit der gesamten Aufklärung) liegt also allgemein darin, daß die beste-hende feudale Gesellschaft am Bilde des privat produzierenden und alsGleicher auf dem Markt Waren tauschenden bürgerlichen Privateigen-tümers (insbesondere des kapitalistischen Eigentümers) gemessen und

21

Page 22: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

verurteilt wird. Ihr ,Richterstuhl der Vernunft' ist demnach im wahr-sten Sinne des Wortes der Standpunkt des Bürgertums (s. o.). Seit sei-nen Anfängen ist bürgerliches Denken dadurch gekennzeichnet, daß — wie Karl Marx einmal über John Locke bemerkte — es den bürgerli-chen Verstand zum menschlichen Normalverstand schlechthin stilisier-te.

Der ,Umbruch des Weltbildes', den alle Schulbücher konstatierenund zur Voraussetzung der Französischen Revolution erklären, wirdalso getragen von der im Schöße der alten Feudalgesellschaft heran-wachsenden bürgerlichen Gesellschaft. Die Aufklärung ist nicht ab-strakt zu verstehen als eine bestimmte Epoche in der Ideengeschichteder allmählich zur Vernunft kommenden Menschheit (so verstand siesich selbst!), sondern als das Selbstverständnis des revolutionärenBürgertums, als die Bewegung, in der die aufsteigende Bourgeoisie ihresich vollziehende ökonomische Emanzipation gegenüber der Feudalge-sellschaft geistigen Ausdruck verlieh und gewissermaßen die Theorieihrer politischen und ökonomischen Emanzipation ausformte: dieTheorie der bürgerlichen Revolution. In der Aufklärung formuliertedas Bürgertum sein Klasseninteresse notwendigerweise als allgemeinesMenschheitsinteresse gegenüber dem bornierten feudalen Partikularis-mus, vertrat die Nation gegenüber dem feudalen Standesbewußtsein.

Dieses spezifische Charakteristikum der Aufklärung, nämlich Selbst-verständnis des Bürgertums zu sein (ohne daß dieses sich allerdingsdessen bewußt war: sie glaubte, das allgemeine Menschheitsinteresse zuvertreten), kommt in keinem der Schulbücher zum Ausdruck. Sobleibt dem Leser auch völlig unverständlich, wieso die Aufklärer aus-gerechnet in den Niederlanden, England und Frankreich (in dieserReihenfolge) zu Hause waren und nicht etwa in Italien, dem Mutter-land der Renaissance, in Spanien, Griechenland oder Rußland. KeinWort davon, daß der aufklärerische Geist dort geboren wurde, wo diekapitalistische Produktionsweise sich am ungehindertsten entfaltenkonnte (und damit das Selbstbewußtsein des Bürgertums): In den Nie-derlanden und England, den Ländern nämlich, in denen die bürgerli-che Revolution sich bereits ein Jahrhundert vor der Französischen Re-volution vol lzog. 2 0 Kein Wort davon, daß die Theorie eines kündba-ren Gesellschaftsvertrages von den bürgerlichen Hugenotten ausging(Althusius) usw.

Ihrem eigenen Selbstverständnis nach war die Aufklärung eine gei-stige Bewegung, die die überkommenen gesellschaftlichen Verhältnisseund das ihnen entsprechende sie stabilisierende und legitimierendeWeltbild an der — freischwebenden — menschlichen Vernunft maßund als überlebt entlarvte. Die Aufklärer waren mit Kant davon über-zeugt, daß sich die Vernunft im Zuge der Aufklärung der Menschendurchsetzen und diese aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeitheraustreten könnten in eine freie Gesellschaft. Eine politische odersoziale Revolution wurde von der Mehrheit der Aufklärer nicht insAuge gefaßt. Paradoxerweise wurde die dem bürgerlichen Klassenin-

22

Page 23: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

teresse dienende Revolution dann ausgerechnet von jenen Gesell-schaftsschichten getragen, die von den meisten Aufklärern herablas-send als der Aufklärung gar nicht zugängliche dümmliche Volksschich-ten angesehen worden waren: den Bauern, Handwerkern und Arbei-tern . 2 1

Die Schulbuchautoren vernachlässigen den sozialen Inhalt der Auf-klärung und verabsolutieren ihre Erscheinungsform. Sie beurteilen diefrühbürgerliche Ideologie also nach dem, was sie sich selbst dünkt.Wirklicher Wissenschaft aber muß es darum gehen, eben diese ideellenErscheinungsformen als Erscheinungsformen bestimmter gesellschaft-licher Verhältnisse zu begreifen:

„In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unter-scheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu kon-statierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingun-gen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oderphilosophischen . . . Formen, worin sich die Menschen dieses Konflik-tes bewußt werden, und ihn ausfechten. Sowenig man das, was einIndividuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebenso-wenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußt-sein beurteilen, sondern muß vielmehr dieses Bewußtsein aus den Wi-dersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konfliktzwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhält-nissen erklären." 2 2

Voltaire und Rousseau oder Wie die Freiheit die Gleichheit erschlägt

Als die Vertreter der französischen Aufklärung erscheinen in nahezuallen Schulbüchern Voltaire, Montesquieu als „Gemäßigte" auf der ei-nen, Rousseau als „Radikaler" auf der anderen Seite. In ,Zeiten undMenschen 3' (Schroedel/Schöningh IV) stehen Voltaire und Montes-quieu unter der Überschrift „Freiheit", Rousseau unter „Gleichheit".

In einem Schulbuch war es Voltaire ganz allein, „der die Aufklärungim Kampf gegen die Kirche in dem katholischen Frankreich durch-setzte". Seinen besonderen Gaben ist es offenbar zu verdanken, daßsich der Antiklerikalismus schließlich in der Revolution entladen hat:

„Durch seinen sprühenden Geist, den Glanz seiner Sprache und seinen sarka-stischen Witz beeinflußte er das Geistesleben des 18. Jahrhunderts tief und ver-breitete in weiten Kreisen die Feindschaft gegen die Kirche, die sich in der Fran-zösischen Revolution entlud." (Diesterweg VIII, S. 7)

„Durch seine zersetzende Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen rüttelteer an den Grundlagen des alten Staates." (Klett I, S. 162)

Geschichte wird nach diesen Schulbüchern offenbar von einzelnengroßen Männern, unter ihnen Philosophen (also reinen Theoretikern!)über die Bühne gebracht — eine unsinnige Vorstellung, die längst in dieMottenkiste der Geschichte gehörte. Würde man das Schulbuch beimWort nehmen, dann müßte man glauben, daß die Kirchenfeindschaftgroßer Teile der französischen Bevölkerung in jener Zeit allein dem

23

Page 24: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

„sarkastischen Witz" eines Voltaire geschuldet war. In Wirklichkeitfand Voltaires „sprühender Geist" nur deshalb überall Anklang, weiler eine allgemein verbreitete Aversion gegen die Kirche nun auch lite-rarisch aussprach (und dadurch allerdings das Selbstbewußtsein derunterdrückten Schichten stärkte). Die Aversion gegenüber einer Insti-tution, die in Gestalt des hohen Klerus (Erzbischöfe, Bischöfe, Äbteund Domherren) die den Bauern abgepreßten Naturalabgaben (Kir-chenzehnt, außerdem zusätzliche Abgaben auf den 10 % des Landesausmachenden Kirchenbesitz) am Hof verpraßten 2 3 , einer Institutionferner, die die feudale Gesellschaft auch noch mit dem Heiligenscheinkirchlicher Weihe ausstattete, ergab sich aus ihrer realen Ausbeutungs-und Unterdrückungsfunktion und bedurfte wohl kaum noch der Er-weckung durch die Feder eines Philosophen. Genauso nichtssagendbzw. falsch ist das andere Schulbuchzitat, wonach Voltaire an denGrundlagen des alten Staates gerüttelt habe. Wie Hartig, Scheider undMeitzel jüngst nachgewiesen haben, ist Voltaire als Vertreter „jenergroßbürgerlichen Fraktion" zu begreifen, „die hofft, die bürgerlichenInteressen im Kompromiß mit der feudalen Klasse unter der Schirm-herrschaft der Monarchie durchzusetzen" 2 4 . Voltaires Kritik richtetesich nicht gegen die Feudalrechte, sondern lediglich gegen feudaleMißbräuche. „Voltaire blieb sein Leben lang befangen von der Vor-stellung, die Politik der Fürsten beeinflussen zu müssen, um sie ver-nünftig zu lenken. Er hat es immer verstanden, aus den Mißbräuchen,die er kritisierte, Profit zu schlagen, als Pazifist an der Heeresversor-gung zu verdienen, als Fürsprecher für die Schwarzen dennoch ausdem Sklavenhandel zu profitieren; er hat dazu beigetragen, die Monar-chie zu verklären." 2 5 Wenn diesem Zitat also zu entnehmen ist, daßVoltaire eine recht zwielichtige Erscheinung war, wenn man sich fer-ner der bekannten Voltaireschen Verachtung der Volksmassen erin-nert, die der Aufklärung gar nicht wert seien — „Für das Gesindel istder dümmste Himmel und die dümmste Erde gerade r e c h t " 2 6 —, dannfällt ein bezeichnendes Licht auf die positive Bewertung Voltaires un-ter dem Titel „Freiheit" auf der einen und die Ablehnung der Rous-seauschen Gleichheitsidee auf der anderen Seite durch die Schulbü-cher. Ein Voltaire, der die unteren Gesellschaftsschichten verächtlichals „Gesindel" abtut und die Aufklärung nur dem oberen Teil der ge-sellschaftlichen Stufenleiter vorbehalten wissen möchte, kann unterFreiheit nur die Freiheit eben dieser Oberschichten verstehen. 2 7

Voltaires Freiheitsbegriff meint wie der fast aller Aufklärungsphilo-sophen die freie Verwendung des bürgerlichen Privateigentums, insbe-sondere des kapitalistischen Eigentums an den Produktionsmitteln.Eben dies beruht aber auf der Mehrarbeit von Menschen, denen diese bürgerliche Freiheit gerade nicht vergönnt ist, weil sie auf Grund der existierenden Ungleichheit nur noch über die Freiheit verfügen, ihr einziges Eigentum, ihr Arbeitsvermögen, zu verkaufen. Die Freiheitder Kapitalbesitzer setzt die Existenz der Lohnabhängigen voraus.Wenn die Schulbuchautoren hervorheben, daß „die Gleichheit die

24

Page 25: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Freiheit erschlagen" (Schroedel/Schöningh IV, S. 47) könne, dannsprechen sie die Wahrheit aus, daß die Freiheit der Bourgeoisie die Un-gleichheit zur Voraussetzung hat. Voltaire war sich dessen sehr wohlbewußt. Im Artikel „Eigentum" des „Philosophischen Wörterbuchs"erklärt er: „Man braucht Leute, die nur ihre Arme und guten Willenbesitzen . . . Sie werden frei sein, ihre Arbeit dem zu verkaufen, deram meisten bezahlt. Diese Freiheit soll für sie Eigentum se in . " 2 8 Vol-taire nennt damit das Grundverhältnis der kapitalistischen Gesell-schaft beim Namen: Die Freiheit der Kapitalisten, Profite zu machen,beruht auf der ,Freiheit' des Arbeiters, seine Arbeitskraft (Voltairesagt falsch: „Arbeit") „dem zu verkaufen, der am meisten bezahlt".

Diese Freiheit der Arbeiter, die man bestenfalls im ironischen Sinneals „Freiheit" bezeichnen kann, beruht wiederum auf dem Frei-seinder Arbeit von den objektiven Bedingungen ihrer Verwirklichung.Während noch die feudale Produktionsweise durch die Einheit von Ar-beit und Produkt, d. h. dem Besitz der Produzenten an ihren Produk-tionsmitteln gekennzeichnet war, so ist die historische Voraussetzungder kapitalistischen Produktionsweise die Trennung der Arbeit vonihrem eigenen Produkt, d. h. die Enteignung der Produzenten und ihreUnterwerfung unter das Kapi ta l . 2 9 Der in fast allen Schulbüchern er-wähnte Abbé Sieyès, der Verfasser der berühmten Flugschrift „Was istder Dritte Stand? " (Januar 1789) , verkündete am 7. September 1789vor der Nationalversammlung die Trennung der Menschheit in eineMinderheit von Besitzern der Arbeits- und Lebensmittel und eine„Mehrzahl" von Besitzern allein der Arbeitskraft als Gesetz der neuenbürgerlichen Gesellschaft: „Wir sind . . . gezwungen, in der Mehrzahlder Menschen nichts als Arbeitsmaschinen zu sehen ." 3 0 Es wird ausder Formulierung deutlich, daß hier ein Vertreter jener erwähntenMinderheit spricht: es ist der Standpunkt der Bourgeoisie — einer Min-derheit, deren Freiheit gerade darin besteht, die Opfer der sozialenUngleichheit, die „freien Arbeiter" als Arbeitsmaschinen zu benutzen.

Die Schulbuchautoren, die den Vorrang der Freiheit gegenüber derGleichheit betonen, vertreten somit — wie Voltaire, Sieyes und diemeisten Aufklärer — den Standpunkt der Bourgeoisie, der identisch istmit dem Standpunkt des Kapitals. Von diesem Standpunkt aus ergibtsich zwangsläufig eine Ablehnung Rousseaus, Marats, Robespierres,Marxens, Lenins usw., kurz — all derer, die Freiheit nur auf der Grund-lage sozialer Gleichheit zu denken vermochten. Von diesem Stand-punkt aus ergibt sich nicht weniger zwangsläufig die Diffamierungrevolutionärer Massenaktionen, die sich zum Ziel gesetzt haben, daszweite Prinzip der Französischen Revolution, die Gleichheit, gesell-schaftlich zu verwirklichen, nachdem das Bürgertum nicht einmal sei-ne politische Verwirklichung schaffte: Die nachrevolutionäre Verfas-sung von 1795 band das Wahlrecht genauso an den Besitz, wie es alleliberalen Verfassungen anderenorts vorher und nachher getan ha-b e n . 3 1 Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts kam — wie sichschon in der Französischen Revolution zeigte — nur auf massiven

25

Page 26: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Druck der Arbeiterschaft zustande: „Im lebhaften Gegensatz zu derentwickeltsten Idee der Aufklärung ist die Praxis des bürgerlichen Par-lamentarismus, sich selbst überlassen, niemals zur Demokratie vorge-stoßen; der Parlamentarismus sollte begrenzt bleiben auf die Interes-sengruppen des Bürgertums. Die Parlamente Englands und Frankreichswaren, bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, reine Honoratiorenver-sammlungen. Jede Erweiterung des Wahlrechts über das Bürgertumhinaus ist im Kampf der arbeitenden Klasse den Herrschenden abge-rungen worden — von der machtvollen Chartistenbewegung im Eng-land der dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts bis hinzum Kampf gegen das Drei-Klassen-Wahlrecht in Preußen." 3 2

Die Schulbuchautoren von heute — also zu einer Zeit, in der einegewisse von der Arbeiterschaft erkämpfte Demokratisierung der Ge-sellschaft, insbesondere der politischen Sphäre realisiert ist (z. B. allge-meines Wahlrecht) — vollziehen genau dieselbe Identifizierung desbürgerlichen Privateigentümers mit dem Menschen schlechthin wieihre ideologischen Väter vor und in der bürgerlichen Revolution. Dem-entsprechend wird die Verfassung von 1791 positiver als die demokra-tischere von 1793 (die das allgemeine Wahlrecht verwirklichte) beur-teilt. Die auf den Druck der sansculottischen Massenbewegung hin vonden Jakobinern erarbeitete Verfassung von 1 793, die die bürgerlichenSchranken mit der Verkündung des allgemeinen Wahlrechts bereitsdurchbrach, wird als ,radikal' abgewertet:

„Unter dem Druck des Kampfes um Sein und Nichtsein (!) schritt die Revolu-tion von ihren liberalen Anfängen zur radikalen Demokratie, d. h. die Freiheitwurde der Gleichheit untergeordnet." (Klett I, S. 171)

„Die Gleichheit war jetzt Grundlage der Verfassung; die Freiheit, 1791 Mittel-punkt der Verfassung, trat dagegen zurück." (Schroedel/Schöningh IV, S. 80)

Das Privateigentum und die mit ihm gesetzte Ungleichheit steht fürdiese Autoren ganz offensichtlich höher als das demokratische Prin-zip. Während die Gleichsetzung des bürgerlichen Privateigentümers mitdem Menschen schlechthin im frühbürgerlichen Kampf gegen denStändestaat des Feudalismus noch eine progressive Funktion besaß, istihre heutige Wiederaufnahme offen reaktionär.

Wie sich diese reaktionär gewordene bürgerliche Ideologie in denSchulbüchern durchsetzt, sei kurz an der Darstellung Rousseaus exem-plifiziert. Rousseau erscheint in allen Schulbüchern als radikaler De-mokrat, wobei meistens seine Radikalität besonders betont und in Zu-sammenhang mit Begriffen wie ,Diktatur' oder ,Totalitarismus' ge-bracht wird.

„Gestützt auf Rousseaus Lehre konnte die Gleichheit die Freiheit erschlagen.Aus der Demokratie konnte eine Diktatur werden." (Schroedel/Schöningh IV,S. 47)

„Daß zwischen den Forderungen nach politischer Gleichheit und Freiheit eintiefer Gegensatz besteht, ist oft übersehen worden, namentlich unter dem Ein-druck der historischen Tatsache, daß politische Freiheit im Kampf gegen Stan-desprivilegien, also auch zugunsten von Gleichheit, erfochten werden mußte.

26

Page 27: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Rousseau hat den Weg der radikalen Demokratie in den egalitären Totalitarismusvorgezeichnet." 3 3

Zweimal die gleiche Argumentation. Der Unterschied ist rein forma-ler Art: Das zweite Zitat stammt aus einem Zeitungsaufsatz des inbürgerlichen Kreisen renommierten Soziologen Helmut Schelsky.Bürgerliche Wissenschaft und bürgerliches Schulbuch reichen sich dieHände. Mit entwaffnender Offenheit spricht Schelsky von einem Ge-gensatz zwischen politischer Gleichheit und Freiheit. Selbst im Be-reich der politischen Mitsprache — geschweige denn im gesellschaftli-chen Bereich, etwa im Betrieb, Schule usw. — hält er Gleichheit fürein Übel, das bedauerlicherweise im Kampf gegen die Feudalordnungmit abgefallen sei! Im folgenden erklärt Schelsky dann auch unum-wunden: „da ein Ubermaß an Demokratie in die Diktatur um-sch läg t " 3 4 , bedeute „Politisierung" der Bevölkerung immer „Irratio-nalisierung".3 5 Und „ein bestimmter Prozentsatz an freiwilligenNichtWählern in einem hochzivilisierten Lande (ist) ein Anzeichen po-litischer Stabilität" und deshalb einer Weckung politischen Engage-ments in der Bevölkerung vorzuziehen.3 6 Eine solche Argumentation,die die Politik an die dafür angeblich zuständigen Fachleute verweist,ist zentrales Moment auch der meisten Schulbücher und ein weitereswichtiges Zeichen für die Demokratiefeindlichkeit bürgerlicher Ideolo-gie. Tatsächlich kann bürgerliche Wissenschaft auf Grund ihrer forma-len und unhistorischen Betrachtungsweise allerdings auch gar nicht zuanderen Schlußfolgerungen gelangen. Ihre Ergebnisse sind immerschon durch die Methode ihrer Findung vorstrukturiert. Dies geht un-mittelbar aus der Analyse der Behandlung Rousseaus im Schulbuchhervor. Welche Bedeutung ihr beigemessen wird, zeigt eine besonderssymptomatische Stelle einer Mittelstufendidaktik:

„Die Einführung der Schüler in die Auffassungen Rousseaus erscheint auf die-ser Klassenstufe etwas schwierig, dennoch dürfte sie aber als Vorbereitung desVerständnisses mancher Züge des Jakobinertums, des Nationalsozialismus, desKommunismus und der heutigen APO wie vieler jugendlicher Rebellion notwen-dig sein." (Schroedel/Schöningh, VII, S. 47)

Man muß diese Worte ganz sorgfältig lesen. Hier manifestiert sicheine totale Geschichtslosigkeit. Wie es der in der heutigen bürgerlichenGeschichts- und Gesellschaftswissenschaft in hohen Ehren gehalteneMax Weber dank seiner bewußt formalen Betrachtungsweise fertig-brachte, Perikles, Jesus, Napoleon und Hitler ohne Anstrengung unterden Idealtypus „charismatische Herrschaft" zu subsumieren, soschreckt die bürgerliche Wissenschaft auch heute nicht davor zurück,Robespierre, Lenin und Hitler unter Abstraktion von ihrer völlig ver-schiedenen historisch-gesellschaftlichen Bedingtheit und Funktion inden Topf der Geschichte des Immergleichen zu werfen — in diesem Falldes immergleichen Totalitarismus. Die Lehre soll sein: eine radikaleTheorie (Rousseau, Marx) führt unweigerlich zum totalitären Staat(Jakobinerherrschaft, Sowjetunion usw.). Da auch noch der gar nichtradikale (radikal = die Gesellschaft an der Wurzel, radix, packend = re-

27

Page 28: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

volutionär) Nationalsozialismus mit hinzugenommen wird, bezeugtnur die absolute Begriffslosigkeit der Autoren. Bezeichnenderweisefindet sich eben diese Theorie auch in dem von Wissenschaftlern desOtto-Suhr-Instituts an der Freien Universität Berlin verfaßten Arbeits-buch zur Sozialkunde „Politik im 20. Jahrhunder t " 3 7 , in dem esheißt:

„Auf Rousseaus Lehre von der volonté générale konnten sich daher alle Ty-rannen (!) berufen, die behaupteten, im Namen des unfehlbaren Volkswillens zuhandeln: Robespierre, Lenin, Stalin, Hitler."

Es erübrigt sich fast, darauf hinzuweisen, daß weder Lenin, Stalinnoch Hitler sich auf Rousseau beriefen. Und auch „die APO" hat kei-neswegs den alten Rousseau zu ihrem Ahnherrn erkoren. Warum kon-struieren die Autoren dann dennoch diesen Zusammenhang?

Das liegt, kurz gesagt, an dem der bürgerlichen Ideologie immanen-ten Absolutheitsanspruch, d. h. an ihrem Axiom, daß die bürgerlicheGesellschaft die dem Menschen adäquate sei. Alles, was die bürgerlicheGesellschaft als Ganze kritisiert, ist von vornherein verwerflich. Dererste in ihren Augen ernstzunehmende Denker, der in bestimmtenPunkten über die bürgerliche Gesellschaft hinausdachte, war — Rous-seau . 3 8 Wirklich radikal neu war bei Rousseau die Auffassung, daßder Mensch in der bürgerlichen Gesellschaft seiner wahren Natur ent-fremdet sei. Der Egoismus des bürgerlichen Individuums, den Hobbesnoch zu dem Wesensmerkmal des Menschen erklärte („homo hominilupus"), den spätere Naturrechtler wie Locke illusorisch im bürgerli-chen Staat aufgehoben wissen wollten, wird von Rousseau als mit dem Eigentum historisch entstanden aufgefaßt:

„Der erste, der ein Stück Land umzäunte und auf den Einfall kamzu sagen, dies gehört mir, und einfältige Leute antraf, die es ihmglaubten, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft.Welche Verbrechen, wie viele Kriege, Morde und Greuel, wieviel Elendhätten dem menschlichen Geschlecht erspart bleiben können, wenn ei-ner die Pfähle eingerissen, den Graben zugeschüttet und seinen Mit-menschen zugerufen hätte: ,Glaubt diesem Betrüger nicht!' Ihr seidverloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte euch allen, der Boden aberniemandem gehör t ! " 3 9 In dieser berühmten Stelle aus dem Traktat„Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter denMenschen" kritisiert Rousseau zusammen mit dem feudalen Grundbe-sitz zugleich auch schon das bürgerliche Privateigentum an Grund undB o d e n . 4 0 Im Contrat Sociale wendet sich Rousseau explizit gegen denGrundtatbestand der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die infol-ge der Trennung von den Produktionsmitteln entstandene Notwendig-keit für die Produzenten, ihre Arbeitskraft an die Produktionsmittel-besitzer zu verkaufen: „Kein Staatsbürger (darf) so reich werden, umsich einen anderen kaufen zu können, noch so arm sein, um sich ver-kaufen zu müssen." 4 1 Rousseaus Sensibilität gegenüber Widersprü-chen des kaum entwickelten Kapitalismus ließ ihn von einem repu-blikanischen Kleinstaat von Kleinbauern und Kleinhandwerkern träu-

28

Page 29: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

men, wo weder kapitalistische Konkurrenz noch größere Eigentums-unterschiede existieren. 4 2

Auf dieser Vorstellung einer formellen wie substantiellen Gleichheit(Gleichheit vor dem Gesetz bzw. wirtschaftliche Gleichheit) gründetseine Konzeption der volonté générale, des allgemeinen Willens. Damithatte Rousseau den Schleier der rein formellen (juristischen) Gleich-heit, die allen bürgerlichen Naturrechtlern genügte, zerrissen — derGleichheitsruf der Französischen Revolution hatte ja von Anfang aneinen bürgerlich begrenzten Inhalt: formales staatsbürgerliches Rechtals Gleichheit aller Individuen vor dem Gesetz, das primär der Erhal-tung des bürgerlichen Eigentumsinteresses zu dienen ha t t e . 4 3 DieseTendenz der Rousseauschen Theorie, über das unmittelbare Klassenin-teresse der Bourgeoisie hinauszugehen, machte sie geeignet als Theorieder Jakobiner, die sich auf die kleinbürgerlich-frühproletarische Mas-senbewegung der Sansculotten (Handwerksmeister, Gesellen, kleineLadenbesitzer sowie Lohnarbeiter in steigender Zahl) stützten. Die be-sondere historische Rolle der Jakobinerdiktatur liegt gerade in derAmbivalenz von bürgerlichem Klasseninhalt der Revolution einerseitsund sansculottischer Massenbasis andererseits. Mit anderen Worten:die eigentümliche Rolle Robespierres in der 2. Phase der Revolution,die ihn zuerst erhob und dann stürzte, war seine Gratwanderung amRande der bürgerlichen Gesellschaft. Obwohl er gemäß dem Klassenin-teresse der Bourgeoisie die Institution des individuellen Eigentums niein Frage stellte, stand er doch mit seiner (Rousseau entliehenen) For-derung nach Umverteilung des Eigentums bereits mit einem Fuß au-ßerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Mit diesem Fuß stützte er sichauf die Pariser Massen, die Sansculotten, die ihrerseits — als Vor- oderFrühform des Proletariats — tendenziell auch über den bloßen Aus-gleich ökonomischer Besitzverhältnisse hinausstrebten. Bevor dieseTendenzen zum Durchbruch kommen konnten, gelang der Bour-geoisie der Sturz des Jakobiner tums. 4 4 Von all dem erfahren wir inden Geschichtsbüchern nichts. Kein Wort von Rousseaus differenzier-ter Einstellung zum Privateigentum im allgemeinen und zum kapitali-stischen Eigentum im besonderen, kein Wort auch von der an die Gren-zen der bürgerlichen Gesellschaft stoßenden Massenbewegung derSansculotten und der skizzierten Rolle des Jakobinertums.

Die Kritik der Schulbuchautoren an Rousseau bezieht sich nur im-plizit auf dessen Vorbehalte gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft.Die Auseinandersetzung wird auf eine abstrakte Ebene verlagert.

„Rousseau, der das Recht des natürlichen Menschen gegen die entartete (!)Zivilisation proklamierte, entfesselte (!) eine Gefühlsströmung (!), die alleSchichten (!) mit einem sentimentalen Glauben (!) an die Güte des natürlichenMenschen erfüllte." (Klett I, S. 163)

Hier ist exemplarisch vorgeführt, wie man mit einem Theoretikerumgehen muß, wenn man ihn „erledigen" will. Zugleich gibt diesesZitat schon einen Vorgeschmack vom Umgang der Geschichtsbuchau-toren mit Marx, Lenin und anderen sozialistischen Theoretikern.

29

Page 30: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Wir lassen hier einmal beiseite, daß diese Darstellung Rousseaus hi-storisch falsch ist und beschränken uns auf eine ideologiekritische Ana-lyse: Rousseau wird hier mit einer Handbewegung als potentieller Ge-sprächspartner disqualifiziert. Als Grund dafür wird sein ,sentimenta-ler Glaube an die Güte des natürlichen Menschen' angeführt. Auch inanderen Schulbüchern findet sich diese Argumentation: Rousseau istdeshalb ein gefährlicher Spinner, weil er davon ausgeht, daß alle Men-schen von Natur aus gut seien. Die bereits zitierte Didaktik spricht esdirekt aus: es geht darum, den Schülern klarzumachen, „daß es zum Wesen des Menschen gehöre, zunächst an sich zu denken"(Schroedel/Schöningh VII , S. 47 — Hervorhebung von uns). Um dieganze Infamie der ideologischen Ausrichtung der Schüler — man kannes auch Einübung in den Antikommunismus nennen — mittels derSchulbücher zu demonstrieren, sei hier weiter zitiert:

„Um die Schüler bewußt in Verlegenheit zu bringen (!), kann man die Frageaufwerfen, ob daran (also am .menschlichen' Egoismus) nicht eine falsche Erzie-hung, bestimmte ,unglückliche' Verhältnisse, die soziale Lage, die Klassengegen-sätze (!) etc. schuld sein könnten . . . " (Schroedel/Schöningh VII, S. 47)

Schon die Art der angebotenen ,Alternativen' nehmen die Beant-wortung der Frage bereits vorweg. Die Schüler werden in ihrer Verle-genheit auf den unwandelbaren egoistischen Menschen zurückgreifenmüssen, womit sie ,von sich aus' dorthin gelangt sind, wohin man siehaben wollte. Daß der empirisch feststellbare Egoismus der Menschennotwendiger Ausdruck des in der warenproduzierenden Gesellschafterheischten privaten Erwerbsstrebens sein könnte, wird wohlweislichgar nicht zur Diskussion gestellt.

Kurzes Fazit: Die bürgerliche Theorie kennt offensichtlich nur zweiMöglichkeiten, die Denkweisen der Menschen zu erklären: entwederleitet sie sie ideengeschichtlich her, womit das Problem nicht gelöst,sondern lediglich verschoben wird, oder aber sie werden als mit demMenschen ,gegeben' betrachtet: egoistisches und individualistischesDenken ist danach der menschlichen Natur als unabänderliches Merk-mal immanent.

Damit wäre erneut ein Strukturprinzip bürgerlicher Ideologie be-nannt, auf das wir schon an mehreren Stellen stießen: die Hypostasie-rung des bürgerlichen Privateigentümers zum Menschen schlechthin(Anthropologisierung). Sie muß notwendig zur Ablehnung aller Eman-zipationsbewegungen der unteren Gesellschaftsschichten führen — ei-ner Ablehnung wirklicher Demokratie, die mit der berühmten Argu-mentation, die Gleichheit erschlage die Freiheit, ideologisch abgesi-chert wird.

Aus diesem Zusammenhang ergibt sich dann wiederum die Uminter-pretation Rousseaus, des Philosophen der Volkssouveränität, in einenPhilosophen des Totalitarismus. Die Begründung klingt zunächst ganzüberzeugend: Rousseaus Konzeption der volonté générale widerspre-che dem liberalen Prinzip der Gewaltenteilung (Montesquieu) und seideshalb besonders verdammenswert, denn die Ablehnung der Gewal-

30

Page 31: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

tenteilung führe unweigerlich zur totalitären Einparteienherrschaft.4 5

Die Fragwürdigkeit dieser Argumentation liegt in der Fragwürdigkeitihres wissenschaftlichen Vorgehens. Diese liegt in der von Anfang angesetzten Beschränkung auf die politische Ebene, der Abstraktion vonden sozialen Inhalten. In dem Buch: „Politik im 20. Jahrhundert"heißt es:

„Machtstreuung, d. h. Verteilung der politischen Macht auf mehrere selbstän-dige Machtträger, ist die Voraussetzung für die Beschränkung und Kontrolle derMacht und damit für gesicherte Freiheit. Gibt es nur einen einzigen Machtträger,so ist die Gesellschaft seiner Willkür hilflos ausgeliefert. Gibt es dagegen mehrereselbständige Machtträger, so ist es möglich, ein System von gegenseitigen Hem-mungen und Kontrollen einzurichten und Machtmißbrauch zu verhindern."46

Dies klingt recht einleuchtend und ist es auf dieser Ebene auch. Sieschließt aber eine Voraussetzung ein, die gar nicht mehr reflektiertwird: das System einander begrenzender, kontrollierender und korri-gierender Einrichtungen hat einen Interessenausgleich zum Ziel, d. h.es ist nur dann sinnvoll, wenn die Interessen ausgleichbar sind. EinInteressenausgleich ist aber immer nur innerhalb einer Klasse, also hierinnerhalb des Bürgertums denkbar, nicht aber etwa zwischen Kapital-eignern und Lohnarbeitern, da deren Verhältnis auf einem Wider-spruch beruht (einen Widerspruch aber kann man nicht ausgleichen,sondern nur aufheben). Er drückt sich — wie schon gezeigt — beispiels-weise darin aus, daß die Freiheit der einen auf der Unfreiheit der an-deren gründet, daß das Kapital-Eigentum der einen die Eigentumslo-sigkeit der anderen zur Bedingung hat, daß der Reichtum der einenauf der relativen — auf den Reichtum bezogen — Armut (nicht nurmaterieller, sondern auch geistiger Art) der anderen fußt. Hier bestehtalso kein bloßer Interessenunterschied, sondern ein Interessengegen-satz (präziser: -widerspruch). Dies ist übrigens vielen frühbürgerlichenStaatstheoretikern durchaus bewußt gewesen, sahen sie doch denHauptzweck des Staates im Schutz des Eigentums. 4 7 Die Nichteigen-tümer waren aus dem Staatsleben von vornherein ausgeschlossen. Diebürgerliche Gesellschaft schuf sich ihren bürgerlichen Staat. „So bleibtauch der moderne Verfassungsstaat seinem Inhalt nach von Anfang anpolitischer Exponent sozialer Teilgewalt"48, also der Herrschaft nureines Teiles der Gesellschaft: des Bürgertums. Die Gewaltenteilungenthüllt sich damit als Machtstreuung innerhalb bürgerlicher Institu-tionen, d. h. innerhalb der herrschenden Klasse. Mit der Gewaltentei-lungstheorie verhält es sich also genauso wie mit der Vorstellung, dieFreiheit habe Vorrang gegenüber der Gleichheit: sie beruht auf derHypostasierung des bürgerlichen Privateigentümers zum Menschenschlechthin. Von daher ist festzustellen, „daß die formale Aufteilungder Macht auf verschiedene Instanzen wenig fruchtet, wenn diese In-stanzen von jenen sozialen Kräften beherrscht werden, die Demokra-tie als Bedrohung ihrer gesellschaftlichen Privilegien betrachten. Daßder bürgerliche Rechtsstaat in seiner Geschichte vielfach zu autoritä-ren oder faschistischen Herrschaftssystemen übergeleitet wurde,

31

Page 32: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

spricht hier eine deutliche Sprache. Ihrem politischen und sozialen In-halt nach bedeutet Gewaltenteilung, daß Exekutive und Judikativedem Volkswillen weitgehend entzogen, daß Demokratie und Volks-souveränität auf einen relativ engen Bereich beschränkt werden. Inden meisten bürgerlichen Demokratien der Gegenwart, die alle aufdem Prinzip der Gewaltenteilung beruhen, ist es deshalb bis heutenicht gelungen, Militär, Verwaltung und Justiz einer wirksamen Kon-trolle der demokratischen Öffentlichkeit zu unterwerfen." 4 9

Der Vorwurf der Schulbuchautoren gegen Rousseau fällt auf sieselbst zurück. Die Konzeption der volonté générale durchbricht be-reits den begrenzten Klasseninhalt von Freiheit und Gleichheit, wie siedie Französische Revolution ins Leben rief: Freiheit der Kapitalbesit-zer auf Ausbeutung der Lohnabhängigen; bloße Gleichheit aller Wa-renbesitzer ,vor dem Gesetz', die den „riesigen Rest sonstiger Un-gleichheit" nicht zuzudecken vermochte . 5 0 Rousseau, der als Voraus-setzung der volonté générale auch eine ökonomische Gleichheit derMenschen ansah, war sich sehr wohl darüber im klaren, daß — wieBloch sagt — „die Unterschiede von arm und reich . . . durch formal-juristische . . . Gleichheit nicht verfälscht werden" können: „Sofernund solange also Freiheit nicht aufs engste mit Gleichheit verknüpftist, bleibt sie Ch imäre" 5 1 .

2. Wirtschaftliche und politische Ursachen der FranzösischenRevolution

Die primäre Ursache der Revolution, der Widerspruch zwischen denvom Bürgertum repräsentierten ökonomischen Potenzen und der Feu-dalordnung, die deren Entfaltung (Freiheit!) hemmte, wird in keinemSchulbuch deutlich dargestellt. Statt dessen werden neben den .neuenIdeen' als Ursachen

1. der Widerspruch zwischen der wirtschaftlichen und der politi-schen Macht des ,Bürgertums' und

2. die Wirtschaftskriseangeführt. Das Ganze ist durchweg so kurz gehalten, daß es demSchüler völlig unmöglich ist, die Genesis sowie die wechselseitige Be-ziehung dieser Phänomene zu begreifen oder sie gar in den gesell-schaftlichen Gesamtzusammenhang einzuordnen.

ad 1 „Obwohl der Fortschritt in Handel und Industrie fast ausschließlich der Tatkraft(!) des Bürgertums zu verdanken war, verweigerten die adligen Stände dem Drit-ten Stand sein entsprechendes politisches Mitbestimmungsrecht." (DiesterwegII, S. 126)

„Die wesentliche Ursache der Französischen Revolution lag darin, daß dasfranzösische Bürgertum politisch mündig wurde." (Diesterweg VIII, S. 19)

„Der Dritte Stand, die Masse der Franzosen, war politisch einflußlos."(Schroedel/Schöningh IV, S. 70)

„Bürger und Bauern (hatten) im Staat nichts zu sagen." (Diesterweg V, S. 80)

32

Page 33: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Da die Schulbuchautoren keinen Begriff des Feudalismus besitzen,können sie auch nicht erklären, wieso einem wirtschaftlich immerstärker werdenden Bürgertum die entsprechende politische Macht ver-sagt blieb. Der Widerspruch zwischen einer im Schöße des Feudalis-mus heranwachsenden bürgerlichen Gesellschaft (bzw. des kapitalisti-schen Wirtschaftssystems) und der Feudalordnung selbst, dieser objek-tive Widerspruch wird von den Autoren entsprechend der herrschen-den Vorstellung von den Geschichte machenden Persönlichkeiten indie subjektive Sphäre verlagert: „Der schwache König war unfähig, ir-gendwelche Maßnahmen zügig zu ergreifen." (Schroedel/SchöninghIV, S. 70) ; er „schwankte und zögerte" (Diesterweg V, S. 8 2 ) . „Dasabsolute Königtum ist am Ende seiner Kraft und Weisheit." (Diester-weg V, S. 80)

„So bahnte das absolute Königtum wider Willen der Revolution den Weg."(Klett I, S. 161)

Als entscheidende revolutionäre Triebkraft erscheint hier also „dasabsolute Königtum", da es, unfähig, den Wandel der Zeit zu erfassen,an der überkommenen Gesellschaftsordnung festhält. Nach unsererAnalyse der Aufklärungsideen müßte deutlich werden, daß auch diese,Erklärung' der Revolution gar nichts erklärt, da die Frage unbeant-wortet bleibt, wodurch diese offenkundige Befangenheit des König-tums ihrerseits bedingt war und warum überhaupt die althergebrachtePolitik sich nun plötzlich als überholt erwies.

„Doch die Nachfolger Ludwigs XIV. vollendeten das Werk Richelieus, Maza-rins und Colberts nicht. Dadurch behielt der absolute Staat zu viele Reste desAlthergebrachten und trug den Keim der Zersetzung in sich. Die aufbauendenKräfte des französischen Absolutismus ließen nach." (Klett I, S. 161)

Diese in den Schulbüchern unbegriffenen Phänomene sind Ausdruckeiner historischen Entwicklung, in der der feudalabsolutistische Staatdurch seine merkantilistische Wirtschaftspolitik das Bürgertum aufpäp-pelte, bis es ihm schließlich über den Kopf zu wachsen begann. Die abso-lute Monarchie war die Staatsform, mit der die Feudalklasse versuch-te, unter gewissen Zugeständnissen gegenüber der unaufhaltsam umsich greifenden Warenproduktion (mit anderen Worten: des Bürger-tums) ihre eigenen Privilegien zu erhalten. Dies ging so lange ohneschwerwiegende Erschütterungen vonstatten, solange das BürgertumAbsatz für seine ständig steigende Produktion fand. Um die Mitte des18. J h . wurde aber in Frankreich deutlich, daß die Grenzen der gesell-schaftlichen Kaufkraft erreicht waren. Der Grund lag im Feudalsy-stem selbst. Die feudale Aneignung des landwirtschaftlichen Mehrpro-dukts behinderte die Ausweitung der bäuerlichen Produktion. Die ge-ringe Produktionssteigerung in der Landwirtschaft mußte bei wach-sender industrieller Produktion und zunehmender Bevölkerungszahlzu einer Verteuerung der Nahrungsmittel führen. Die Nahrungsmittel-krise hatte eine Absatzkrise für Manufakturwaren zur Folge: „So wur-de nicht nur das Einkommen der Parzellenbauern durch feudale An-eignung geschmälert, sondern auch das der städtischen Massen in Ge-

33

Page 34: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

werbe, Handwerk und Manufakturindustrie, die einen steigenden Teilihres Einkommens buchstäblich für Brot . . . ausgeben mußten. Da-durch wurden die Ausgaben für Manufakturwaren eingeschränkt, dieManufakturunternehmer durch die ständig schwelende Nahrungsmit-telkrise direkt betroffen, da ihre Waren keinen Absatz fanden." 5 2 Diekapitalistische Warenproduktion war an die Grenzen der Feudalord-nung gestoßen; der Widerspruch zwischen der kapitalistischen Produk-tionsweise und den feudalen gesellschaftlichen Verhältnissen trat of-fen in Erscheinung. 5 3

Die Schulbuchautoren können den Anachronismus des Feudalsy-stems zwar konstatieren, aber nicht erklären:

„Adel und Geistlichkeit hatten ihre geschichtliche und sittliche Berechtigungverloren, . . . Aus begründeten Rechten waren Vorrechte geworden." (Klett I, S.161)

Moralische Urteile können freilich die Kausalanalyse nicht ersetzen.Oder:

„Die Verwirrung in der französischen Gesellschaft trieb einer gewaltsamenEntladung entgegen." (Schroedel/Schöningh IV, S. 70)

„Die tiefen sozialen Spannungen entluden sich mit elementarer Gewalt."(Diesterweg VIII, S. 20)

Unbegriffene Geschichte wird zum Schauplatz rational nicht mehrfaßbarer Naturgewalten mystifiziert.

Verständlich ist eine derartige, so merkwürdige Assoziationenweckende Geschichtsdarstellung allerdings schon. Tatsächlich erschiendie plötzlich hervorbrechende Wirtschaftskrise — die ihrerseits wieder-um die Revolution auslöste — damals den Betroffenen wie ein Natur-ereignis. Tatsächlich vollzog sich der Zusammenbruch der Feudalord-nung quasi naturwüchsig, ungeplant, über die Köpfe der Beteiligtenhinweg, obwohl sie die Revolution schließlich selbst machten.

Die Absatzkrise hielt dem Bürgertum die Notwendigkeit des Kamp-fes gegen die alte Gesellschaftsordnung, gegen das Ancien regime vorAugen. Aber sie stand nicht allein: die Teuerung der Nahrungsmitteltraf den Großteil der städtischen Bevölkerung; vor allem die Lohnar-beiter wurden schwer getroffen. In den Jahren 1 726 bis 1 789 stiegendie Preise um 62 Prozent, die Löhne dagegen nur um knapp 26 Pro-zen t . 5 4 Hinzu kam als Massenerscheinung ein neues Phänomen, dasder in die Zunftorganisation eingebundene Handwerksgeselle nichtkannte: die Arbeitslosigkeit. 5 5 Diese städtischen Massen entpupptensich — vor allem in Paris — im Verlauf der Revolution als ,Motor derRevolution'. Der zentrale Punkt aber, an dem sich die bürgerliche Re-volution in Frankreich entschied, war wohl das Bündnis des Bürger-tums mit den Bauern . 5 6 Die Landbevölkerung, die in ihrer Mehrzahlaus Kleinbauern (Parzellenbauern) bestand, stellte von Anfang an dasentscheidende antifeudalistische Potential, waren sie es doch, die vonden infolge der Staatsverschuldung ständig steigenden Feudallasten(Geldzins, Kirchzehnt als Naturalabgabe, Frondienste) am unmittel-barsten betroffen wurden 5 7 — was sie in einer Zeit als besonders

34

Page 35: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

schmerzlich empfinden mußten, in der eine sich entwickelnde Indu-strie die Bedürfnisse der Menschen erheblich ansteigen ließ. Ihre Lageverschlechterte sich in den letzten Jahren vor der Revolution erheb-l i c h . 5 8

Da die Industrie in Frankreich noch nicht so weit entwickelt war,um nach einer Revolution massenhaft bäuerliche Arbeitskräfte zu ver-schlingen, konnten die Bauern in der Revolution tatsächlich großen-teils ihre eigenen Interessen mitverwirklichen. Es war diese weitgehen-de antifeudalistische Interessenidentität des gesamten Dritten Standes,d. h. von etwa 98 Prozent der französischen Bevölkerung, die derbürgerlichen Revolution einen so ,schlagenden Erfolg' bescherte.

ad 2: Die Wirtschaftskrise erscheint in den meisten Schulbüchern als Finanz-krise des absolutistischen Regimes einerseits und als Ernährungskriseals Folge von Mißernten (und Feudallasten) andererseits (DiesterwegV, S. 80/Diesterweg II, S. 126/Klett I, S. 162 usw.). Die soeben aufge-zeigten Zusammenhänge fallen völlig unter den Tisch. Es ist zwarnicht zu leugnen, daß sowohl die Mißernten, die die gesamtwirtschaft-liche Krise noch verschärften, wie insbesondere auch die finanziellenSchwierigkeiten der Monarchie, die teilweise auf die verschwende-rische Lebensweise am Hof, vor allem aber auf die aus dem amerika-nischen Krieg entstandenen Schulden zurückzuführen waren, die allge-meine Krise des Feudalsystems weiter zuspitzten; aber dies sind nurMomente einer gesamtgesellschaftlichen Tendenz, die aus vereinzeltenMängeln nicht zu erklären ist. Der französische Historiker Mathiezschrieb in seinem Werk über die Französische Revolution: „Das Elend,das manchmal Unruhen hervorbringt, kann keine großen sozialen Um-wälzungen verursachen. Diese entstehen immer infolge des erschütter-ten Gleichgewichts der Klassen." 5 9 Die in den Schulbüchern weit ver-breitete These, die Revolution sei nur deshalb ,hereingebrochen', weildie Regierung unfähig war, energischere Reformen durchzuführen, er-weist sich nach dem Gesagten als richtig und falsch zugleich. Richtigist, daß die absolute Monarchie die Revolution nicht durch ihre Re-gierungsmaßnahmen hat verhindern können. Falsch ist die impliziteoder explizite Behauptung, die Revolution hätte durch energische Re-formpolitik des Königs verhindert werden können . 6 0 Eine solche An-nahme reißt die absolute Monarchie Ludwigs XVI . aus dem histori-schen Kontext heraus und tut so, als handle es sich bei ihr um eineneutrale, über den gesellschaftlichen Kämpfen schwebende Instanz,die nach freier Vernunft und Willkür Entscheidungen fällt. Solche frei-schwebenden Instanzen oder Persönlichkeiten weist die menschlicheGeschichte jedoch nicht auf. Die absolutistische Monarchie des18. Jahrhunderts in Frankreich war die Staatsform des Spätfeudalis-mus, d. h. eines Feudalsystems, in dessen Schöße sich die bürgerlicheGesellschaft zu entwickeln begann. Die subjektive Unfähigkeit desKönigs ist nur die Erscheinungsweise der gesellschaftlich bedingten

35

Page 36: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Unmöglichkeit aus, Maßnahmen durchzusetzen, die die Krise behobenhätten, ohne gleichzeitige Privilegien und Gewinne seiner eigenenKlasse (der geistlichen und weltlichen Grundherrschaft) substantiellanzutasten. Da eine herrschende Klasse das Feld nicht freiwillig zuräumen pflegt, stand der revolutionäre Kampf des Bürgertums sozu-sagen auf der Tagesordnung. Die Wirtschaftskrise war die unmittelbare Ursache der Revolut ion 6 1 , die finanziellen Schwierigkeiten der Mon-archie brachten schließlich die gesellschaftlichen Widersprüche zumAusbruch. 6 2 Schließlich hat sich die bürgerliche Revolution in allenentwickelten europäischen Ländern durchgesetzt und überall die ab-solute Monarchie hinweggefegt, gleichgültig, ob der Monarch dummoder klug, reformwillig oder störrisch war, zuletzt in Österreich undDeutschland. Wenn trotz alledem in einer Didaktik sogar als „Unter-richtsziel" die Erkenntnis formuliert wird, daß die revolutionäre Lageerst „infolge der Unfähigkeit des absolutistischen Systems zu einemSieg des Dritten Standes führte" (Schroedel/Schöningh VII , S. 6 5 ) ,dann ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, daß es sich hierum gezielte Manipulation handelt: es soll den Schülern suggeriert wer-den, daß revolutionäre, von den Volksmassen getragene gesellschaftli-che Veränderungen, 1. von Übel und 2. bei einer „anständigen" Regie-rung auch in jedem Fall überflüssig seien.

Es wird sich im Verlauf der weiteren Analyse herausstellen, daß die-ser Verdacht begründet ist.

3. Zweitei lung der Revolution

Die Unfähigkeit der Schulbücher, die Revolution als Klassenkonfliktzu begreifen, gibt auch ihrer Darstellung des Revolutionsverlaufs eineeigentümliche Note, die den wirklichen Geschehnissen kaum gerechtwerden kann. Die Revolution erscheint als die lediglich politische Aus-einandersetzung zwischen Vertretern der Stände, bzw. der Kampf der politischen Anschauungen dieser Ständevertreter:

„Man fürchtete oder hoffte, diese Versammlung (die Ständeversammlung,d. Verf.) werde eine Staatsordnung nach dem Gedanken der Aufklärung schaf-fen." (Diesterweg II, S. 127)

Die Etablierung der Herrschaft des Bürgertums im Zuge der Revolu-tion erscheint als bloße Verwirklichung von Ideen:

„Der Gedanke der Volkssouveränität hatte einen Sieg . . . errungen." (Klett I,S. 164)

Da, wie gezeigt, die „Gedanken" der Aufklärung in den Schulbü-chern nicht in ihrer historischen und gesellschaftlichen Bedingtheit be-griffen werden, muß der Sieg dieser Ideen offenbar in ihrer eigenenQualität begründet sein: sie waren so gut, so vernünftig, daß sie vieleGebildete des Landes, unabhängig von ihrer „Standeszugehörigkeit",ergriffen.

„Unter allen Gebildeten aller drei Stände bewog die Aufklärung viele zurKritik am ancien régime." (Schroedel/Schöningh IV, S. 70)

36

Page 37: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

In der dazugehörigen Didaktik wird der schließliche „Sieg der Revo-lution" in diesem Sinne explizit auf die Tatsache zurückgeführt, daßdie oberen Stände von „den Aufklärungsideen" angekränkelt wurden:

„Ihre Selbstsicherheit war durch die Beschäftigung mit den Aufklärungsideenempfindlich gestört." (Schroedel/Schöningh VII, S. 66)

Nachdem auf diese Weise die Klassengegensätze durch den Kampfder Ideen ersetzt worden sind, kann auch die Revolution (als Austra-gung eines Klassengegensatzes) zur Staatsreform verdünnt werden:

„Von Änderungen, Reformen erhoffte man alles. An Revolution, Umsturzdachten die wenigsten." (Schroedel/Schöningh IV, S. 70)

Mirabeau, „ein Freund der Aufklärung" (Diesterweg II, S. 128), „wollte eineechte Staatsreform durchsetzen, aber die Revolution verhindern." (DiesterwegV, S. 82)

Man muß den nächsten, fett gedruckten Satz, dazulesen:„Die Massen stehen auf." (ibid.)Hier entscheidet sich die Frage von Reform und Revolution:„Während man (d. h. die freischwebenden ,Gebildeten', d. Verf.) in Versailles

über die neue Verfassung verhandelte . . . stürmten die revolutionären Massenauf ein Gerücht hin mit Piken und Flinten die Bastille." (Klett I, S. 165)

Der mit so anschaulichen Worten sinnfällig gemachte Unterschiedzwischen einer „echten Reform" des Staates, die angeblich von dengebildeten Politikern der Nationalversammlung vorangetrieben wurde,und dem Umsturz, der Revolution, die von den unruhigen, unvernünf-tigen und gewalttätigen Volksmassen ausgelöst und getragen wurde,findet sich in fast allen Büchern in nahezu identischen Formulie-rungen:

„Während in Versailles die Nationalversammlung tagte ... wuchs in Paris undim ganzen Land die Unruhe." (Schroedel/Schöningh IV, S. 73)

„Während die Nationalversammlung beriet, wurden sowohl die Bauern alsauch das Proletariat in den Städten, besonders in Paris, immer unruhiger." (Die-sterweg VIII, S. 20)

Das Volk „lähmte die Tätigkeit der Behörden von Paris und zerstörte . . . dieBastille", (ibid.)

„Das Geschrei des Volkes auf der Straße drang immer wieder in den Sitzungs-saal der Nationalversammlung, die im Herbst 1789 nach Paris übergesiedelt war.Die schwierigen Beratungen einer Verfassung konnten nicht in Ruhe stattfin-den." (Diesterweg II, S. 132)

Im zuletzt zitierten Buch ist der Gegensatz von Reform und Revolu-tion auf einen — fettgedruckten — Nenner gebracht:

„Die Nationalversammlung unter dem Druck der Straße." (ibid.)Die Vertreter der Vernunft und des Sachverstands, d. h. der Reform

sowie der „Ordnung", geraten schließlich in den Strudel einer chaoti-schen Massenbewegung. Diese Art der Geschichtsdarstellung hat denBoden der Wissenschaft offensichtlich verlassen und steht eindeutigim Dienste der Propaganda von Ruhe und Ordnung. Ein Buch desKlett-Verlages schießt in diesem Zusammenhang wieder den Vogel ab:

„Sechs Wochen Anarchie genügten, um die gesamte Verwaltung des Staateszusammenbrechen zu lassen, es gab keine Autorität mehr." (Klett I, S. 165)

Hier ist die Position ganz deutlich, die letztlich alle Schulbücher

37

Page 38: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

kennzeichnet: Die Revolution wird so lange positiv bewertet, solangesie auf die Beratungen und Beschlüsse einer ordnungsgemäß gewählten staatlichen Körperschaft beschränkt ist; revolutionäre Volksmassenwerden von Anfang an als unvernünftig, gewalttätig und als den ord-nungsgemäßen Ablauf störend denunziert. Als Reizwörter fungieren Be-griffe wie „Straße", „radikal", „Massen" und das im Gegensatz zu„Reform" gesetzte Wort „Revolution". Insbesondere bei dem zuletztgenannten, dem Revolutionsbegriff, verrät sich die Widersprüchlich-keit bürgerlicher Geschichtsschreibung. Einerseits ist sie gezwungen,die bürgerliche Revolution, also quasi die Geburtsstunde „unserer"parlamentarischen Demokratie, positiv zu bewerten, andererseits hatsie ein Interesse daran, den revolutionären Charakter der Entstehungder bürgerlichen Gesellschaft zu verbergen, da mit dessen Akzeptie-rung logisch die Möglichkeit einer revolutionären Aufhebung auch die-ser bürgerlichen Gesellschaft gesetzt ist — was sie nun wiederum nichtakzeptieren kann. Es ist der Widerspruch zwischen der Tatsache, daßdie bürgerliche Gesellschaft nicht durch Reformen, sondern durch ei-ne Revolution entstand, und der Verunglimpfung all derer, die auchheute von Revolution reden und dabei die Umwälzung der bürgerli-chen Gesellschaft meinen. Die Erkenntnis, daß es unlogisch wäre,zwar die revolutionäre Aufhebung des Feudalismus zu feiern, die revo-lutionäre Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft jedoch vorab alsdes Teufels zu verurteilen, führt zu einem paradoxen Ergebnis: derDenunzierung der Genesis einer Gesellschaft, die man gleichzeitig ab-solut setzt. Dies geschieht dadurch, daß man die Revolution zweiteilt. In den Schulbüchern stellt sich das wie folgt dar:

Die Französische Revolution erscheint deshalb als historisch not-wendig und bedeutend, weil sie den Grundstein zum heutigen demo-kratischen Rechtsstaat legte.

„Die Verfassung, die Erklärung der Menschenrechte und die Herstellung einermodernen Gesellschaftsordnung sind die eigentlichen Leistungen der Französi-schen Revolution." (Diesterweg VIII, S. 22)

Bezeichnenderweise steht diese Bilanz der Revolution an der Stelle,wo die Verfassung von 1791 erläutert wird. Die eigentliche Revolu-tion hat demnach bereits mit der Konstituierung der Nationalver-sammlung gesiegt (vgl. auch Schroedel/Schöningh IV, S. 82) und fin-det dann in der Verfassung von 1791 ihren krönenden Abschluß.Dann lassen die Schulbücher eine neue Phase der Revolution begin-nen, die durchweg in viel trüberem Licht erscheint als die helle Zeitder gemäßigten Mirabeau und Montesquieu. Im Grunde habe sich eineradikalere, vor allem von den Volksmassen bestimmte Strömung seitBeginn nicht verhindern lassen, wenn in der ersten Phase die skepti-schen und weitblickenden Führer des Dritten Standes auch noch dieOberhand behalten konnten. Diese Zweiteilung der Revolution — diegleichermaßen eine chronologische (zwei Phasen), eine soziologische(Gegensatz Elite/Masse) wie auch eine ideologische (Montesquieu/Rousseau = Rationalismus/Irrationalismus) Zweiteilung ist — wird

38

Page 39: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

in allen Schulbüchern deutlich, in einem Buch sogar bildlich veran-schaulicht (Schroedel/Schöningh IV, S. 7 2 / 7 3 ) .

Der Kommentar der dazugehörigen Didaktik lautet:„An Hand der beiden zeitgenössischen Gemälde auf den S. 72 und 73

könnten einerseits der revolutionäre Schwung, von dem die Vertreter desDritten Standes unter Führung Mirabeaus, andererseits die stark emotional be-stimmte Haltung der Menge bei ihrem Marsch auf die Bastille sinnfällig gemachtwerden." (Schroedel/Schöningh VII, S. 67, Hervorhebung von uns)

In diesem Zitat wird „revolutionär" in positivem Sinne gebraucht,gleichzeitig aber auf die Beschlußfassungen der gebildeten Volksver-treter beschränkt. Geschichte wird demnach nur in dieser Sphäre der Entscheidungen der gemäßigten, weil sachkundigen Politiker „ge-macht". Die „stark emotional bestimmten" Aktionen der „Menge" er-halten dabei einen völlig überflüssigen und außerdem störenden Cha-rakter (im übrigen ist aus dem Vergleich der beiden Gemälde eher dasumgekehrte Verhältnis herauszulesen: leidenschaftliches und patheti-sches Gebaren der Volksvertreter im Ballhaussaal — Abwesenheit jegli-cher Emotionalität der in Marschordnung heranrückenden Massen).Geschichte wird nach einem festen Beurteilungsschema zurechtgebo-gen. So heißt es in der zitierten Didaktik weiter:

„In kritischer (!) Beurteilung des Sturms auf die Bastille könnten die Schülerfeststellen: Der Sturm auf die Bastille war eine Folge des Ballhausschwurs, durchden die Vertreter des Dritten Standes sich verpflichtet hatten, den königlichenAnordnungen im Interesse ihres Standes zu trotzen; . . . ohne ihn wäre nicht ein-mal der Marsch auf die Bastille möglich gewesen." (Schroedel/Schöningh VII,S. 67)

Ein kurzer Blick auf die tatsächlichen Geschehnisse genügt, um einederartige Verabsolutierung der politischen Entscheidungssphäre demVerdikt der Geschichtsklitterung zu überantworten. Die politisch undideologisch treibende Kraft der Revolution des Großbürgertums warrein zahlenmäßig (etwa 8 Prozent der Bevölkerung) viel zu schwach,um derartig tiefgehende soziale Veränderungen durchzusetzen. Diesbestätigt am sinnfälligsten die Tatsache, daß erst ein allgemeiner Auf-stand der Bauern notwendig war, damit die Nationalversammlung inder vielgerühmten und bestaunten „Nacht der Entsagungen" vom4. /5 . August 1789 auch nur die Abschaffung der Frondienste be-schloß. In den Schulbüchern sieht auch dies ganz anders aus: Die „frei-willige" (Klett I, S. 165) Aufgabe gewisser feudaler „Vorrechte" — Geschichte vollzieht sich eben nur in der staatlich-rechtlichen Sphäre!— von seiten der Vertreter der beiden Stände wird zur Zerschlagungdes Feudalsystems hochstilisiert.

„In der Nachtsitzung vom 4./5. August 1789 wurden alle Vorrechte des Adelsabgeschafft. Als Folge der Bauernbefreiung verlor die feudale Gesellschaft ihreGrundlage." (Schroedel/Schöningh II, S. 22)

„Die Menschen sind gleich. Was in Jahrhunderten an Rechten und Gewohnhei-ten entstanden war, hier wurde es in einer Nacht beseitigt." (Diesterweg V, S.83)

39

Page 40: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

„Damit war in einer Nacht die ständisch gegliederte und gestufte Gesellschaftdurch den Entschluß der Privilegierten selbst beseitigt worden." (Diesterweg II,S. 132, Hervorhebung von uns)

„So wurde der Feudalismus abgeschafft. Mirabeau sprach erschrocken von ei-ner Bartholomäusnacht des Eigentums." (Klett I, S. 165)

Derartige Behauptungen erweisen sich angesichts des wirklichen Ge-schichtsablaufs als dreiste Verdrehungen: in Wirklichkeit vollzog jeneNachtsitzung nur das offiziell, d. h. juristisch nach, was durch die Mas-senaufstände im ganzen Lande faktisch bereits vollzogen war.

Der englische Historiker Hobsbawn schreibt:„Drei Wochen nach dem 14. Jul i lagen die Sozialstruktur des fran-

zösischen Feudalismus auf dem flachen Land und der Staatsapparatdes königlichen Frankreich in Scherben . . . Die Bourgeoisie und dieAristokratie fügten sich sofort in das Unabänderliche." 6 3 Im übrigenverzichteten die Grundherren in dieser Nachtsitzung nicht auf die feu-dalen Abgaben, die den Feudalismus gerade wesentlich ausmachen.Seine offizielle Todesstunde schlug erst 1793, also mitten in der inden Schulbüchern so geschmähten ,radikalen Phase' der Revolu-tion . . .

Genauso wie die Nachtsitzung ohne einen allgemeinen Aufstand, sowar auch der zur eigentlichen Revolution hochstilisierte Ballhaus-schwur ohne vorhergehende Massenaktionen nicht zu denken. Unmit-telbarer Anlaß der Revolution war der allgemeine Brotaufruhr in ganzFrankreich, der 1788 begann und zunehmend eine politische Rich-tung bekam. 6 4

Allein im bereits erwähnten Oberstufenbuch von Schroedel/Schö-ningh wird der Zusammenhang von Massenaktionen und bürgerlicherRevolution angesprochen:

„Die Revolution entsprang also nicht nur aus dem Protest des Dritten Standesgegen die Privilegien des Adels und der Geistlichkeit, sondern entwickelte undradikalisierte sich auch aus dem Hunger jener städtischen und ländlichen Massen,die diesen um so härter empfanden, als der Lebensstandard unter Ludwig XV.verhältnismäßig hoch gewesen war. Während die höheren Stände kaum betroffenwaren, hatten Wirtschaftskrise und Bevölkerungsanstieg die niederen mit vollerWucht getroffen." (Schroedel/Schöningh II, S. 22)

Es handelt sich um die beiden Seiten derselben Sache: die Krise desFeudalsystems, Ausdruck des Widerspruchs zwischen Produktivkräf-ten und der weiterhin vorherrschenden feudalen Produktionsverhält-nisse, äußerte sich zugleich als Ernährungskrise auf Seiten der Volks-massen und Absatzkrise auf Seiten des Bürgertums. Die Vereinigungbeider Seiten zum revolutionären Kampf gegen das Ancien régimemachte den Sieg der bürgerlichen Gesellschaft erst möglich:

„Der Dritte Stand . . . konnte diesen Erfolg erreichen, nicht weil erdie Ansichten einer gebildeten und kämpferischen Minderheit aus-drückte, sondern weil er sich auf weit mächtigere Kräfte stützen konn-te: auf die arbeitenden Massen der Städte, besonders in Paris, und . . .auf die revolutionierende Bauernschaft ." 6 5 So war weder der Ball-hausschwur der „eigentlich revolutionäre Akt", noch war der Sturm

40

Page 41: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

auf die Bastilie dessen Folge. Im Gegenteil: Der Ballhausschwur warnur möglich auf Grund allgemeiner Unruhen im ganzen Land, und erwäre vollends wirkungslos geblieben, wenn die Pariser Massen nichtdurch revolutionäre Aktionen wie den Sturm auf die Bastille die Kon-terrevolution verhindert hätten. Da der Fall der Bastille zur Initialzün-dung des bereits erwähnten allgemeinen Bauernaufstandes wurde, derdie Feudalordnung wirklich in ihren Grundfesten erschütterte (es wa-ren also die revolutionären Bauern, nicht der sprühende Geist einesVoltaire, s. o.), wäre eher noch der Sturm auf die Bastille mit seinerungeheuren Symbolfunktion — und nicht der Ballhausschwur der Ab-geordneten! — zum ,eigentlich revolutionären Akt' zu erklären (wennman schon bestimmte Einzelmomente eines gesellschaftlichen Prozes-ses herausheben will). Übrigens wurde dies auch von der Weltöffent-lichkeit der damaligen Zeit so verstanden.6 6

Nachdem die Schulbuchautoren auf diese Weise von den wirklichenVorgängen Abschied genommen haben, schreitet die Geschichtsklit-terung bis zum Ende der Revolution fort. Hier sei nur das Wesentlicheangesprochen.

Als repräsentativ für die Darstellung der Französischen Revolutionin den Schulbüchern kann der folgende Satz des Klett-Buches „Grund-riß der Geschichte" gelten:

„Von Anfang an spielte sich die Revolution in zwei verschiedenen Gesell-schaftsschichten, sozusagen auf zwei verschiedenen Bühnen ab: auf der oberen,politischen rangen jetzt König, Adel und Dritter Stand um die Verfassung (Con-stitution), auf der unteren regierten die Masseninstinkte. Die Vorgänge auf derunteren Bühne trieben die Revolution immer weiter vorwärts und radikalisiertensie." (Klett I, S. 165)

Hier ist die alle Schulbuchgeschichte durchziehende Dichotomievon Elite und Masse gewissermaßen auf den Begriff gebracht. Die Ge-sellschaft wird in zwei Teile zerschnitten, von denen der obere, dieEbene der hohen Politik, von hinsichtlich Sachkenntnis und Moral inder Regel hochstehenden Persönlichkeiten bestimmt wird, währendunten die mehr oder weniger gelenkten, von Natur aus irrationalenund chaotischen Massen brodeln. Nach diesem ganz offensichtlichhierarchisch-autoritären Gesellschaftsbild wird in den meisten Schul-büchern Geschichte umgemodelt. Die Verachtung des Volkes und allerdemokratischen Prinzipien verbindet sich mit einer maßlosen Uber-schätzung der Philosophen und Agitatoren. Die Massen selbst — soformuliert der konservative Psychologe und Kulturpessimist Le Bon inseiner „Psychologie der Massen" — sind von Natur träge und konserva-tiv, dafür aber „leichtgläubig" und „beeinflußbar":

„Bisher wurden die Zivilisationen stets nur von einer kleinen intel-lektuellen Aristokratie geschaffen und geleitet, niemals von den Mas-sen. Die Massen haben nur Kraft zur Zerstörung. Ihre Herrschaft be-deutet stets eine Phase der Barbare i . " 6 7

Dieser Theorie entsprechend werden die Massen in den Schulbü-chern entweder von positiv bewerteten Staatsmännern zur Erhaltungdes jeweils Bestehenden geführt oder von radikalen Demagogen zu

41

Page 42: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Umsturz und Zerstörung verführt. In Revolutionen, die nun einmalvon Massen getragen werden, ist stets das Letztere der Fall.

„In den Straßen von Paris aber (nach dem Ballhausschwur, d. Verf.) gerietendie Massen immer mehr unter den Einfluß radikaler Revolutionäre." (Schroe-del/Schöningh IV, S. 73)

Die Didaktik von Schroedel/Schöningh formuliert es sogar als Un-terrichtsziel:

„Die Schüler sollen erkennen, wie sich unter dem Einfluß jakobinischer Dem-agogen die Massen des städtischen Kleinbürgertums und der Arbeiterschaft radi-kalisierten . . . " (Schroedel/Schöningh VII, S. 69/70)

Die Schüler sollen aber nicht nur hinsichtlich der Französischen Re-volution etwas ,erkennen', sondern sie sollen ja auch und vor allemaus der Geschichte lernen. D. h. für diesen Fall: sie sollen lernen, daßdie Volksmassen von Natur leichtgläubig sind und dazu neigen, sichvon Demagogen und ,Fanatikern' aufwiegeln zu lassen (Klett I, S.167) , instinkthaft und gewalttätig zu handeln und deshalb zur Teil-nahme am politischen Geschehen absolut ungeeignet sind. Sie sollenferner lernen, daß diese Volksmassen allzu leicht radikalen Tendenzenanheimfallen, die unweigerlich in eine egalitäre Demokratie (Gleich-heit erschlägt Freiheit) führen, die ihrerseits im Totalitarismus endet.Wer dem Schüler auf diese Weise suggeriert, Geschichte werde von ,de-nen da oben' gemacht, von den Politikern, die etwas davon verstehen,und das sei auch gut so, wer also Geschichte nach solchen autoritärenBildungszielen zurechtstutzt, muß sich dem Vorwurf aussetzen, Teilan jener Manipulation zu haben, die die Menschen unmündig und ab-hängig hält. Eine Geschichtsschreibung, die a priori die Schlechtigkeitder Masse postuliert und zugleich nach der Ordnung verlangt, die dieseim Zaum hält, ist selbst ein Mittel der Verführung und antidemokra-tisch.

Auch das hinsichtlich der Darstellung der Französischen Revolutionnoch brauchbarste Schulbuch, der bereits erwähnte Oberstufenbandvon Schroedel/Schöningh, kann einer abwertenden Beurteilung derrevolutionären Volksmassen nicht entraten: die Massen werden zumbloßen Instrument ihrer Führer degradiert:

„Diese Pariser Entwicklung .. entsprach den Vorstellungen der radikalen Ja-kobiner, deren bürgerliche Führungselite (Robespierre, Marat, Danton) mit denrevolutionären Sansculotten (Handwerksmeister und deren Gesellen, abhängigeArbeiter waren anfangs nur schwach, später stärker vertreten) gemeinsame Sachemachten (Terminologie! d. Verf.) und als Bergpartei (nach ihrem Sitz in der ge-setzgebenden Versammlung) die Girondisten an Radikalität übertrumpften (Ter-minologie, d. Verf.). Seit Januar 1791 benutzten die erfahrenen Kader der Jako-biner die Massen als Motor der Revolution." (Schroedel/Schöningh II, S. 24 — Hervorhebung von uns)

Derartige Formulierungen erscheinen vor allem in einem eigentümli-chen Licht, wenn man bedenkt, daß die Autoren dieses Bandes sich ananderer Stelle explizit auf die wissenschaftliche Autorität des französi-schen Historikers A. Soboul berufen, der — genauso wie andere For-scher — gerade nachgewiesen hat, daß eben nicht „erfahrene Kader

42

Page 43: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

der Jakobiner die Massen als Motor der Revolution benutzten", son-dern im Gegenteil solche Bestrebungen scheiterten und stets ein klas-senspezifisch bedingter Trennstrich zwischen bürgerlich-jakobinischerFührung und sansculottischer Volksbewegung bestehenblieb. „Darausentstehen die spezifischen Fragestellungen und Konflikte der Franzö-sischen Revolution, die als Folge des sozialen Gegensatzes zwischender Bourgeoisie (selbst der montagnardischen) und dem sansculotti-schen Volk anzusehen s ind ." 6 8 Wissenschaftliche Ergebnisse werdenin den Schulbüchern offenbar in dem Moment beiseite geschoben, wosie bestimmte ideologische Schranken übersteigen. Man braucht dabeigar nicht unbedingt anzunehmen, die Schulbuchautoren hätten solcheGeschichtsklitterung immer ganz bewußt durchgeführt. Die Annahme,daß die Volksmassen der Französischen Revolution durch Ideologenverführt wurden, ergibt sich ganz konsequent aus der schon hervorge-hobenen Unfähigkeit bürgerlicher Wissenschaft, die Revolution alsKlassenauseinandersetzung zu begreifen. So muß ihr natürlich auchentgehen, daß die Pariser Sansculotten auf Grund ihrer sozialen Lage ein revolutionäres Potential darstellten, das bereits den bürgerlichenKlasseninhalt der Revolution tendenziell sprengte.

Das Großbürgertum hatte bereits mit der ersten Phase der Revolu-tion seine Interessen weitgehend verwirklicht. So hatte die verfas-sungsgebende Versammlung die Ständeordnung beseitigt, die erbli-chen Adelsprädikate aufgehoben, die Zünfte und die staatliche Regle-mentierung der Manufakturen abgeschafft, die Binnenzölle beseitigtu. a. m. Aber die Volksmehrheit hatte nur geringe konkrete Vorteilevon all diesen Reformen. 6 9 Das Wahlrecht blieb auf die eigentumsbe-sitzenden „aktiven" Bürger beschränkt, und die Volksgesellschaften(Société populaires, später: Société sectionaires — die Sektion), diepolitische Organisation der Sansculotten, sollten zu selten einberufe-nen Wählerversammlungen degradiert werden. Der Abgeordnete Robes-pierre hatte von Anfang an diese Unterdrückung der demokratischenVolksbewegung bekämpft und ihr das Programm der radikalen Demo-kratie entgegengehalten: ständige Kontrolle über die gesetzgebendeKörperschaft und direkte demokratische Aktion von Seiten des Vol-kes. Der Wille der Volksmehrheit sei jeder parlamentarischen Mehrheitoder Minderheit übergeordnet. 7 0 Die demokratische Bewegung setztesich nach heftigen Kämpfen schließlich durch: im Juli 1792 erklärtensich die Sektionen für permanent. Sie konnten gegenüber der aus Zen-suswahlen hervorgegangenen gesetzgebenden Versammlung mit eini-gem Recht die wirkliche Legitimation durch das Volk für sich in An-spruch nehmen.

Die durch die Einführung der freien Marktwirtschaft hervorgerufe-nen höheren Schwankungen der Lebensmittelpreise spornten die revo-lutionäre Aktivität vor allem der Pariser Volksmassen immer wiedera n . 7 1 Diese bedurften keineswegs irgendwelcher jakobinischer Einflü-sterer, um einen Zusammenhang zwischen ihrer wirtschaftlichen Lageund der großbürgerlichen Regierung zu entdecken. Allerdings wurden

43

Page 44: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

ihre politischen wie wirtschaftlichen Interessen (allgemeines Wahl-recht, Festsetzung von ermäßigten Zwangspreisen durch das Volk)von den Jakobinern vertreten. In den Schulbüchern wird die Sachlageerwartungsgemäß auf den Kopf gestellt:

„Die radikalen Klubs bearbeiteten das Volk gegen die Monarchie." (Diester-weg VIII, S. 22; vgl. Schroedel/Schöningh IV, S. 76)

„Mit dem Umbau des französischen Staates schien die Revolution beendet zusein." Aber es kam anders. Es traten Männer auf den Plan wie „Danton, Robes-pierre und Marat . . . , die als leidenschaftliche Redner das Volk lenkten undihre politischen Gegner mit aufgehetzten Massen schreckten." (Diesterweg V,S. 86)

Die Frage, wieso solche Männer mit solchen Ideen überhaupt beiden Volksmassen wirken konnten, wird mit der Überredungskunst derRedner erklärt. Auf diese Weise werden die Wurzeln der Revolutionvon den realen Bedürfnissen und Interessen der Massen abgelöst undhinter die Hirnrinde einzelner Demagogen verpflanzt; gleichzeitig wer-den die Massen nach bewährtem Schema zu interessen- und willenlo-sem Werkzeug gewitzter Ideologen degradiert.

Eine derartig geschichtslose Geschichtsschreibung muß vollendsaußerstande sein, ein so diffiziles Problem wie die Jakobinerdiktaturzu begreifen. Hier machen wieder Männer (Robespierre) und Ideen(Rousseau) Geschichte. Alles, was sich ihnen entgegenstellt, wird nie-dergewalzt. Gesellschaft findet nicht mehr statt. Es herrscht nur nochdie sich überschlagende Idee, die über Leichen geht. Bei dieser Thema-tik finden sich die bisher aufgezeigten Ideologeme, die in die Ge-schichtsdarstellung eingegangenen Bestandteile bürgerlicher Ideologie,in besonders konzentrierter Form. Diffamierung der Massen, die Stili-sierung der radikalen Demokraten zu brutalen Unterdrückern undMördern, Personalisierung, Ideen als Motor der Geschichte, Gleich-heit, die die Freiheit erschlägt, Psychologisierung usw. Einige Beispielemögen genügen:

„Robespierre war überzeugt, daß die revolutionären Ideale nur durch Gewaltzum Sieg geführt werden könnten. Dabei wollten er und seine Gesinnungsgenos-sen alles vernichten, was ihren Ideen widersprach." (Diesterweg II, S. 139 — Her-vorhebung von uns)

„Es gab in ihren Augen nicht länger verschiedene politische Meinungen, son-dern nur noch eine richtige und eine falsche Gesinnung. Die falsche Gesinnung bekämpfte Robespierre mit der Guillotine." (Schroedel/Schöningh IV, S. 81 — Hervorhebung von uns)

Schon die Begrifflichkeit erweckt den Eindruck, als habe die Dikta-tur des einzelnen Robespierre dazu gedient, seine subjektive Meinunggegenüber anderen Meinungen mit Gewalt durchzusetzen; ja selbst dieGewalt sei lediglich ein Produkt der Robespierreschen „Überzeu-gung". Ein außerhalb der Gesellschaft stehender Robespierre formtedie Gesellschaft nach seiner privaten, abwegigen Meinung. Hier wirddie o. a. Psychologisierung gesellschaftlicher Konflikte auf die Spitzegetrieben. Reale Interessengegensätze bestimmter gesellschaftlicherGruppen, Schichten oder Klassen werden zu subjektiven Meinungenvon Einzelindividuen atomisiert. Ein Verständnis der sozialen Bedingt-

44

Page 45: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

heit und Funktion der Jakobinerdiktatur ist bei einer derartigen Ge-schichtsbetrachtung natürlich von vornherein ausgeschlossen.

Im folgenden soll stellvertretend für alle Schulbücher die Behand-lung der ,Jakobinerherrschaft" in der Didaktik des Schroedel/Schö-ningh Verlages etwas genauer beleuchtet werden. Wir wählen die Di-daktik, weil hier die Intention der Schulbuchautoren ausgesprochen ist, die in den Schulbüchern immer nur zwischen den Zeilen steht.

Die Autoren der Didaktik verstehen die Jakobinerdiktatur als eineForm des Totali tarismus 7 2 , und setzen folgende Schwerpunkte:

1. Dem Lehrer wird der „wichtige Versuch" empfohlen, „Schülerneinsichtig zu machen, auf welche Weise das Bestreben, eine Ideologiezu verwirklichen, zu totaler Herrschaft mit der Konsequenz der physi-schen Vernichtung des Gegners führen kann" (Schroedel/SchöninghVII, S. 72) .

Kritik: Hier wird noch einmal deutlich ausgesprochen, was die ge-samte Geschichtsdarstellung der Schulbücher kennzeichnet: das Her-auslösen von Ideen aus ihrem historisch-gesellschaftlichen Zusammen-hang und die damit verbundene Überschätzung der Ideen als ge-schichtswirksame Mächte. Wir haben an einigen Parolen der Aufklä-rung (Vernunft, Freiheit u. a.) darzulegen versucht, daß die Ideen derMenschen immer die Ideen konkreter, in einem historisch-gesellschaft-lichen Zusammenhang stehender Menschen sind und von diesem sozia-len Inhalt nicht losgelöst werden können. Es stellte sich bei der Un-tersuchung heraus, daß diese sozialen Inhalte stets an soziale Interes-sen, und das heißt zugleich: an soziale Klassen gebunden waren (Frei-heit = Freiheit für das Bürgertum, s. o.). Demnach ist es niemals in derGeschichte darum gegangen, Ideen — so wie sie in den Schulbüchernauftauchen, abstrakt gefaßt — zu verwirklichen, sondern als sozialenInhalt, als Interesse. Das Bürgertum kämpfte in der Französischen Re-volution nicht um Freiheit schlechthin, um Freiheit als abstrakte Idee,sondern es kämpfte um die Freiheit von feudaler Behinderung ihrerwirtschaftlichen und politischen Entfaltung. Die Behauptung der Di-daktik, das Bestreben, eine Ideologie zu verwirklichen, könne zu tota-ler Herrschaft führen, ist demnach oberflächlich und unwissenschaft-lich, da die Art der Durchsetzung eines bestimmten Klasseninteressesnicht von irgendwelchen subjektiven Vorstellungen abhängt, sondernvon den jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Umständen des Kamp-fes.2. „Man würde noch einmal davon ausgehen, daß Rousseau glaubte, wissen-

schaftlich beweisen zu können, daß die volonte generale immer gerecht,gut und vernünftig sei (Kriterium der Ideologie: sie gibt vor, Wissenschaft zusein) . . . Die wichtigste Tugend ist die Gerechtigkeit im Sinne der totalenGleichheit; ihr gleichgesetzt ist die absolute Identifikation des eigenen Willensmit dem Volkswillen, wie die Jakobiner ihn verstanden. Wer dies nicht will, ver-sündigt sich gegen das Volk und ist als Schädling zu vernichten." (S. 72/73)

Kritik: Die Autoren zielen hier offenbar auf den Absolutheitsan-spruch ab, der sich ihrer Meinung nach stets mit einer Ideologie ver-bindet: Der Ideologe behauptet von sich, die Wahrheit gepachtet zu

45

Page 46: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

haben. So wird der Jakobinerterror schließlich aus dem Absolutheits-anspruch Robespierres erklärt: „Die falsche Gesinnung bekämpfte Ro-besspierre mit der Guillotine" — heißt es in dem dazugehörigen Schul-buch (Schroedel/Schöningh IV, S. 80 ) . Eine derartige „Erklärung" istzwar in sich durchaus schlüssig, muß sich aber den Vorwurf gefallenlassen, historisch-gesellschaftliche Konflikte zu psychologisieren. Aufdiese Weise können reale Interessenkonflikte natürlich leicht hinweg-geredet werden. Deshalb ist die Psychologisierung ein weit verbreitetesMittel der Herrschenden, den gesellschaftlichen Status quo vor Verän-derungen zu bewahren. Adorno konstatiert (auf die BRD bezogen):

„Nach der Phrase, es käme allein auf den Menschen an, schieben siealles den Menschen zu, was an den Verhältnissen liegt, wodurch dannwieder die Verhältnisse unbehelligt b le iben ." 7 3 Im übrigen bleibt dieFeststellung der Didaktik, die „wichtigste Tugend" sei nach Robes-pierre „die Gerechtigkeit im Sinne der totalen Gleichheit" rein for-mal und für den unvorbereiteten Leser unverständlich. Was heißt hier„totale Gleichheit"? Zunächst einmal muß dazu bemerkt werden,daß dieser Begriff weder bei Rousseau noch bei Robespierre auf-taucht. Sie sprechen stets nur von Gleichheit. Mit seiner Forderungnach Gerechtigkeit und Gleichheit ging es Robespierre darum, „dasungeheure Mißverhältnis der Vermögen" auszugleichen, „ehrlichePrinzipien des Eigentumsrechtes" aufzustellen.7 4 Hier wird wiederdeutlich, daß dasselbe Wort, dieselbe Idee ganz unterschiedliche Inhal-te haben kann: Während das Großbürgertum unter Gleichheit lediglichdie juristische Gleichheit verstand und diese Forderung gegen die Pri-vilegien der Aristokratie wandte, verstand Robespierre unter Gleich-heit bereits volle politische Gleichheit (Abschaffung des Wahlzensususw.) und relative Eigentumsgleichheit; die Jakobiner und Sansculot-ten setzten ,Gleichheit' als Kampfbegriff auch gegen das Großbürger-tum ein.

Genauso verhält es sich mit der ,Freiheit'. Das Großbürgertum ver-stand darunter wirtschaftliche und politische Freiheit für sich selbst;auch diese Forderung richtete sich gegen das Feudalsystem. Ro-bespierre, die Jakobiner und die Sansculotten forderten die Freiheitfür jeden Bürger, unabhängig von seinem Besitz; und sie gingen nocheinen Schritt weiter: sie fragten nicht nur ,Freiheit für wen? ' sie frag-ten bereits ,Freiheit wozu? ' und antworteten: Freiheit zur politischenSelbstbestimmung des Volkes. Robespierre sprach es aus (1791) : „Esist von entscheidender Wichtigkeit für die Freiheit, daß die Unab-hängigkeit bestehe, über die Handlungen der gesetzgebenden Körper-schaft eine vernünftige Zensur auszuüben. Die Nationalversammlungselbst ist dem Allgemeinwillen unterworfen und wenn sie ihm wider-spricht, kann die Versammlung nicht länger bes tehen." 7 5 Ro-bespierres Begriff der Freiheit, die erst für das gesamte Volk zu ver-wirklichen sei, sprengte — wie Frank Deppe zu Recht hervorhebt — den Begriff der Revolution als einer bloß politischen Verfassungsum-wälzung, wie er von der Mehrheit der Nationalversammlung bis dahin

46

Page 47: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

verstanden worden war . 7 6 So hieß es in einem Bericht, der dem Ver-fassungsausschuß der Nationalversammlung im September 1791 vorge-legt wurde: „Es gibt keine Autoritäten außer denen, die das Volkdelegierte; es dürfen keinerlei Aktionen stattfinden, außer den Aktio-nen der mit öffentlichen Ämtern bekleideten Beauftragten des Vol-k e s . " 7 7

Dieses Verbot außerparlamentarischer Aktivitäten, das sich gegendie Volksgesellschaften der Pariser Stadtsektion richtete, mutet ge-radezu aktuell an. Tatsächlich spricht es genau das aus, was die Schul-bücher meinen. Indem die Autoren die Forderungen der Jakobinernach Verwirklichung von Demokratie (=Volksherrschaft) mit Begrif-fen wie „totale Gleichheit", „Ideologie" und „radikal" zu diffamierensuchen, legen sie ein deutliches Zeugnis ab von ihrem eigenen Demo-kratieverständnis bzw. dem, was sie den Schülern anempfehlen. Damitweben sie weiter an dem Gesellschaftsbild mit, das Demokratie als dieHerrschaft der Eliten mißversteht und all jene als radikal denunziert,die die Verfassung (Grundgesetz) beim Wort nehmen. „Demokratiehat nicht derart sich eingebürgert, daß sie die Menschen wirklichals ihre eigene Sache erfahren, sich selbst als Subjekte der politischenProzesse wissen." 7 8 Von dem der Schulbuchgeschichtsschreibungzugrunde liegenden Demokratieverständnis aus muß die Diktatur derJakobiner natürlich ein willkommener Anlaß sein, mit ihr zugleichauch die radikale Demokratie zu verdammen; denn augenscheinlichhaben gerade diejenigen, die immer die demokratische Volksbewegungbeschworen (die volonté generale), schließlich die Diktatur errichtet,die sich dann anmaßte, den Volkswillen zu kennen. So heißt es in derDidaktik weiter:

„Wer ,Volksfeind' war, bestimmten jene, die sich mit der ,volonté générale'auf Grund höherer Erkenntnisse in Übereinstimmung wußten (Hinweis: ,DiePartei hat immer recht' als Grundsatz des Bolschewismus und Nationalismus);eine solche Auffassung mußte zu einem Willkürregiment führen." (S. 73)

Ganz abgesehen von den geschichtslosen „Hinweisen" (von denen esin der Didaktik nur so wimmelt), die auf der bewährten Methode be-ruhen, bestimmte Erscheinungsformen von ihrem sozialen Inhalt ab-zuziehen, diese aus dem historischen Zusammenhang herauszuklaubenund dann an heutigen Zuständen zu messen, 7 9 ist diese Behauptunghistorisch falsch. In Wirklichkeit hatten sich die Jakobiner vor der Er-richtung der Diktatur — wie bereits erwähnt — stets für die Demokra-tie der Volksmassen eingesetzt (Unterstützung der Volksgesellschaf-ten), vor allem im Kampf gegen die durch und durch großbürgerlicheVerfassung von 1791 und gegen die Girondisten, die diese verteidig-ten. Daß die Jakobiner jemals den Anspruch erhoben hätten, „aufGrund höherer Erkenntnisse" den Volkswillen zu kennen, ist von denSchulbuchautoren zum Zweck der Diffamierung frei erfunden. Nochim Jul i 1793 erließ der Konvent ein Dekret mit folgendem Wortlaut:, , J e d e Behörde, jede Einzelperson, die sich erlauben sollte, ganz gleichunter welchem Vorwand, die Volksgesellschaften bei der Abhaltung

47

Page 48: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

ihrer Versammlungen zu stören und sie durch irgendwelche Mittel auf-zulösen, wird des Anschlags auf die Freiheit für schuldig erklärt unddementsprechend bestraft werden." 8 0

Einen Monat vorher hatten die Jakobiner die „konsequenteste, de-mokratisch-republikanische Verfassung, welche die Revolution hervor-gebracht h a t " 8 1 , vollendet. Sollte das alles nur Tarnung gewesen sein,um dann um so eifriger die Diktatur zu errichten, die „alles vernichte-te, was ihren Ideen widersprach"? (Diesterweg II, S. 139) In Wirklich-keit bestand ein offener Widerspruch zwischen den „Idealen" der Ja -kobiner und ihrer terroristischen Praxis. „Der Zwang der Dinge führtuns vielleicht zu Resultaten, die wir selbst nicht erwartet h a b e n " 8 2 ,sagte der Jakobiner Saint-Just im Frühjahr 1794 und spielte damit zwei-fellos auf die diktatorischen und terroristischen Praktiken der Revolu-tionsregierung an. Der „Zwang der Dinge" lag vor allem in der die Re-volution gefährdenden Extremsituation, in der sich das soeben vomFeudalismus befreite Frankreich in jenen Kriegsjahren befand. Die in-nere und äußere Bedrohung der Republik hatte derartige Maßnahmenund damit die Suspendierung der demokratischen Verfassung notwen-dig gemacht — und nicht etwa die Philosophie Rousseaus, die nunplötzlich vom Himmel herabstieg und zur schlechten Realität sichmauserte. Die folgenden nüchternen Zeilen Hobsbawns klingen wie ei-ne Anmerkung zu der bluttriefenden Darstellung der Schulbücher. „DieKonservativen haben eine dauerhafte Vorstellung vom Terror der Dik-tatur und dem entfesselten hysterischen Blutdurst geprägt. Aber nachden Maßstäben des 20. Jahrhunderts und auch verglichen mit denkonservativen Repressionen sozialer Revolutionen, etwa den Massa-kern, die auf die Pariser Kommune von 1871 folgten, war die Zahl derOpfer verhältnismäßig gering: 17 000 offizielle Hinrichtungen in14 Monaten. Revolutionäre — vor allem französische Revolutionäre — sahen im Jahr II die erste Volksrepublik, ein Vorbild für alle kommen-de Auflehnung. Für alle war dies eine Zeit, die nicht nach den Maßstä-ben des menschlichen Alltags zu beurteilen ist. Und das ist wahr. Fürden soliden Franzosen aus dem Mittelstand, der hinter diesem Terrorstand (es war also nicht nur Robespierre allein, der das Fallbeil gegenAndersdenkende schwang! — d. Verf.), war dieser jedoch weder pa-thologisch noch apokalyptisch, sondern in erster Linie die einzig prak-tische Methode, sein Land zu retten. Dies gelang der jakobinischenRepublik in der Tat, und ihre Leistung war übermenschlich. Im Ju-ni 1793 befanden sich 60 der 80 Departments im Aufstand gegen Pa-ris; die Armeen der deutschen Fürsten drangen von Norden und Ostenein; die Briten griffen im Süden und Westen an — das Land war hilflosund bankrott. Vierzehn Monate später befand sich ganz Frankreichunter der Herrschaft einer zentralen Regierung, die fremden Heerestanden wieder jenseits der Grenzen, die französischen Armeen hattenBelgien besetzt und eröffneten die zwanzigjährige Epoche beinahe un-unterbrochener französischer Triumphe . . . für die Mehrheit des Na-tionalkonvents, der im Grunde die Kontrolle über die Ereignisse

48

Page 49: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

während dieser ganzen heroischen Periode behielt, war die Wahl ein-fach: entweder der Terror mit allen Mängeln und aller Grausamkeit,die er vom bürgerlichen Standpunkt aus gesehen haben mochte, oderdie Vernichtung der Revolution, die Zersetzung des Nationalstaatsund wohl auch — wie das Beispiel Polens zeigte — das Ende der staat-lichen Ex i s t enz . " 8 3

Die Jakobinerdiktatur entsprach in dieser Hinsicht in vollem Sinnedem Klasseninteresse der Bourgeoisie: „Auch vom engsten Klassen-standpunkt aus gesehen, hingen die Aussichten der Bourgeoisie vomBestehen eines geeinten, starken, zentralisierten Staates a b . " 8 4 DiePolitik der Revolutionsregierung war eine Gratwanderung zwischenden Interessen des Großbürgertums und den der sansculottischen Mas-sen. Dies war zugleich ihr Dilemma und ihre Tragödie. In dem Mo-ment, wo sie sich ihrer sansculottischen Massenbasis entfremdete,mußte sie stürzen. Zunächst ließen sich die Jakobiner durch massivenDruck der Volksbewegung zum Gesetz über das Allgemeine Maximum(19. 9. 1793) bewegen, das die Lebensmittelpreise festsetzte und eineLohnerhöhung best immte. 8 5 Der revolutionäre Terror — es gabdurchaus auch einen konterrevolutionären! — wurde vor allem gegenSpekulanten, Aufkäufer und alle jene angewandt, die das Gesetz überdas Maximum verletzten und die Versorgung der Städte und der Ar-mee störten; er richtet sich nicht — wie die Schulbücher demagogischsuggerieren — gegen alle, deren Nase dem allmächtigen Robespierrenicht paßte. Bald offenbarte sich die Interessengebundenheit der jako-binischen Politik an das Großbürgertum. Anfang 1794 ging sie gegendie frühsozialistischen Hebertisten vor, deren Einfluß bei den sanscu-lottischen Massen (vor allem den Lohnarbeitern) stark war, und lok-kerte das System der Überwachung und des Terrors auf wirtschaft-lichem Gebiet, um dem Handel Auftrieb zu geben und damit die zu-verlässige Unterstützung des Großbürgertums zu gewinnen:

„Nun änderte die Revolutionsregierung ihre Haltung: Am 22. Märzfielen die Hebertisten, die die Commune von Paris beherrscht hatten,unter die Guillotine; kurz danach wurden die Revolutionsarmeen auf-gelöst, die Kommissare zur Bekämpfung des Wuchers abgeschafft unddie Volksgesellschaften der Sektionen praktisch verboten. Ein neuesMaximum für die Lebensmittel erschien: Es setzte höhere Preise festund konnte nur ,die Kaufleute, nicht das Volk begünstigen' . . . DieserUmschwung ging zu Lasten der Arbeiter und der kleinen Verbrau-c h e r . " 8 6

Indem die Jakobinerdiktatur die autonome demokratische Massen-bewegung der Sansculotten unterdrückte und eine Wirtschaftspolitikzugunsten der Großerzeuger und Besitzenden und auf Kosten der Ar-men und der Kleinverbraucher einschlug, entfremdete sie sich ihrer ei-genen Massenbasis. Rüde schildert diese eigentümliche Lage der Revo-lutionsregierung wie folgt:

„Die Revolutionsregierung des Jahres II, die mit Hilfe der Sanscu-lotten zur Macht gekommen war, hing, . . . wenn sie sich behaupten

49

Page 50: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

und den patriotischen Krieg siegreich zu Ende führen wollte, ebenso-sehr von einem Teil des Großbürgertums ab, dessen Vertreter zwarmeist still, aber um so zahlreicher im ,Sumpf' des Konvents saßen. DerWohlfahrtsausschuß — sein robespierristischer Kern — hat also diesesBündnis nicht aufgeben können, um sich ganz auf die Sansculotten zustützen. Noch viel weniger hätte er sich zum Verfechter der Sonder-interessen der Lohnarbeiter machen können, die zwar in Paris sehrzahlreich, auf dem Lande und in den meisten Provinzstädten jedoch ineiner geringfügigen Minderheit waren. Als es darauf ankam, gab auchder robespierristische Flügel des Ausschusses unter dem Druck derBourgeoisie nach und opferte die Interessen der Arbeiter, die Interes-sen eines großen Teils der Sansculotten. Diese Entscheidung, aus derparadoxen Situation geboren, in der sich der Ausschuß befand, retteteihn nicht vor dem Untergang: seine Führer erwartete das Scha fo t t . " 8 7

Diese gesellschaftlichen Widersprüche, Konflikte und Kämpfe, d. h.alle Inhalte, um die es wirklich ging, werden in den Schulbüchernvöllig ignoriert. In ihnen erscheint Geschichte — wie das bereits zitier-te Bild veranschaulicht — als ein politisches Schauspiel zwischen Ein-zelcharakteren. Als interessanteste Bühnenfigur der Revolution wirdüberall Robespierre angesehen, der zum Inbegriff des Ideologen her-ausgeputzt wird, einem Mann, der für seine Ideologie über Leichengeht. Einige Beispiele:

„Man hat Maximilien de Robespierre den merkwürdigsten Diktator der Ge-schichte genannt. Stärker als der Drang nach Macht war ihm der Glaube an seineIdeen." (Diesterweg VIII, S. 25)

„Kein Menschenopfer war ihm zu hoch, um dieses erträumte Ziel zu errei-chen." (Schroedel/Schöningh IV, S. 81)

„Er war bedürfnislos, linkisch, fanatisch, ein überspannter Advokat, im Grun-de ein kleiner Mann (läßt sich etwas Verächtlicheres denken als ,im Grunde einkleiner Mann' zu sein? — d. Verf.), ein blinder Anhänger des Republikanis-mus . . . " (Klett I, S. 172)

Durch eine derartige Verlegung des Wesens der revolutionären Dik-tatur von 1794 in die Psyche eines Individuums (der oberen Bühne)entledigt man sich gleichzeitig der Mühsal, die gesellschaftlichen Be-dingungen zu analysieren. Was sich unterhalb der politischen Bühneabspielt, also das, was die obere als ihre Erscheinungsseite erst hervor-bringt, ist für die Autoren dieser Bücher weitgehend irrelevant undwird höchstens sporadisch und durchweg herablassend („Straße",„Lärm", „Anarchie", „Masseninstinkte") behandelt. Zusammenhängezwischen den beiden Bühnen werden niemals deutlich. Als Quintes-senz dieses Abschnitts zur Darstellung der Französischen Revolutionin den Schulbüchern sei das hier besonders symptomatische Zitatnoch einmal dargeboten:

„Von Anfang an spielte sich die Revolution in zwei verschiedenen Gesell-schaftsschichten, sozusagen auf zwei verschiedenen Bühnen ab: auf der oberen,politischen, rangen jetzt König, Adel und Dritter Stand um die Verfassung, aufder unteren regierten die Masseninstinkte." (Klett I, S. 165)

50

Page 51: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Schlußbemerkung

Die Analyse hat gezeigt, daß die Schulbücher der anfangs von uns an-gesprochenen historisch-gesellschaftlichen Dimension der Französi-schen Revolution nicht gerecht werden. Die Verabsolutierung von Ideen läßt die Revolution vor allem als mehr oder weniger gelungeneVerwirklichung der Aufklärungsideale erscheinen.

Die Personalisierung reduziert gesellschaftliche Konflikte auf denMeinungsstreit führender Männer.

Die alle Schulbücher kennzeichnende Begriffslosigkeit (formale Be-trachtungsweise, Gleichsetzung des bürgerlichen Individuums mit demMenschen schlechthin = Anthropologisierung) verhindert den Einblickin gesellschaftliche Widersprüche und Interessen. Allgemein ist dieDarstellung gekennzeichnet durch Vernachlässigung von gesellschaftli-chen Zusammenhängen, d. h. durch den Verlust der gesellschaftlichenTotalität, also dem Verlust der Einsicht, daß Wirtschaft, Staat, Ideenusw. „nicht für sich bestehende, sich selbst genügende Gegebenhei-ten . . . sind, sondern dialektische Funktionselemente innerhalb einund derselben Sache, nämlich innerhalb der jeweiligen gesellschaftli-chen Totalität darstellen, wobei das Phänomen der Entwicklung derProduktivkräfte und Produktionsverhältnisse die Rolle des primären,alle Einzelerscheinungen innerhalb der Totalität vereinheitlichenden,Anfang' (im logischen wie im sachlichen Sinne) ausmachen, von demaus sich erst das Wesen und der historische Charakter der Totalitätund damit alle in ihr auftretenden Erscheinungen erklären und verste-hen lassen." 8 8

Dies drückt sich in der formalen Behandlung der Ideen und Denk-methoden aus, die sowohl ihre historische Formbestimmtheit wieauch ihren sozialen Inhalt außer acht läßt. Es schlägt sich außerdemnieder in der Aufspaltung der Gesellschaft in zwei Bühnen (Dichoto-mie Elite-Masse), von denen die untere durchweg mit Verachtung be-handelt wird.

Durch die offensichtlich undemokratische Verunglimpfung jeglicherpolitischer Aktivität des Volkes, soll der Schüler dahin gebracht wer-den, die Politik den dafür zuständigen Politikern zu überlassen, alsojede eigene Initiative — sei es durch kritische Gedanken oder durchpolitisches Handeln — zu unterlassen. Die Maxime des alten Obrig-keitsstaates „Es ziemt Euch, stets das Maul zu halten" wird durch dieGeschichtsbücher weiterverfolgt — in sehr verfeinerter Form, aber inder Sache konsequent. Schließlich wird der revolutionäre Charakterder Genesis der bürgerlichen Gesellschaft aus dem Geschichtsbild ge-tilgt: dem Schüler soll verborgen bleiben, daß die gegenwärtige Gesell-schaft durch das Eingreifen der Volksmassen selbst erkämpft wurde,damit er nicht auf den Gedanken kommen kann, diese Volksmassenkönnten auch heute ihr Geschick in die eigenen Hände nehmen.

51

Page 52: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

B. Reformation und Bauernkrieg in Deutschland

Georg Lukács hat einmal gesagt, die Tragödie des deutschen Volkesbestehe darin, daß es in der modern-bürgerlichen Entwicklung zu spätgekommen s e i . 8 9 Damit ist der Wesenszug der deutschen Sonderent-wicklung 9 0 benannt. Sie ist gekennzeichnet durch starke politischeund damit wirtschaftliche Zersplitterung, die bis ins 19. Jahrhunderteine nationale Entwicklung — wie sie sich etwa in England und Frank-reich schon Jahrhunderte vorher unter der absolutistischen Monarchievollziehen konnte — verhinderte. Diese Zersplitterung hatte die jahr-hundertelange Schwäche des deutschen Bürgertums zur Folge. Ausdiesem Grunde kam die deutsche bürgerliche Revolution erst im19. Jahrhundert, zu einem Zeitpunkt also, wo sich bereits ein neuerKlassengegensatz herausgebildet hatte: der zwischen Bourgeoisie undArbeiterklasse. Das Bürgertum schreckte zurück und ließ seine Revolu-tion scheitern. Dieses ständige Zuspätkommen Deutschlands (d. h.hier: des deutschen Bürgertums) hat seinen Ursprung vor allem in derVerlagerung der großen Handelswege von Mitteleuropa an die an denAtlantik angrenzenden Staaten (seit dem 15. Jahrhundert), die aus derEntdeckung Amerikas und des Seeweges nach Indien resultierte undden Transit durch Deutschland vernichtete. Dies „versetzte der deut-schen Wirtschaft einen schweren Schlag und ließ die deutschen Städtestagnieren. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges warfen diedeutsche Wirtschaft nochmals zurück, so daß das Bürgertum schwachblieb und sich gegenüber dem Feudaladel nicht als selbständige politi-sche Kraft formieren konnte. Sowohl Folge wie verstärkendes Ele-ment dieser sozialökonomischen und politischen Rückständigkeit wardie Zersplitterung des Reiches in eine Fülle von Kleinstaaten, die mitdem Westfälischen Frieden 1648 gleichsam völkerrechtliche Weihe er-hielt — während sich andere europäische Völker wie Frankreich undEngland zu Beginn der Neuzeit als Nationen konstituierten, mit Hilfeder absoluten Monarchie ein einheitliches nationales Territorium her-stellten und die Entfaltung von Handel und Gewerbe damit wesentlichbeschleunigten." 9 1

Wie später die 48er Revolution, so zielten auch die Kämpfe der Bau-ern und der mit ihnen verbündeten Schichten (vor allem des kleinenund mittleren Bürgertums) in der ersten Hälfte des 16. Jahrhundertsauf die Errichtung eines einheitlichen deutschen Nationalstaates ab.Vor allem wegen dieser Perspektive — die ganz im Sinne der vomBürgertum getragenen ökonomischen Potenzen lag — wird der Bauern-krieg von sozialistischen Historikern als „frühbürgerliche Revolution"bezeichnet — eine wohl etwas überspitzte Formulierung, da ein revolu-tionäres Bürgertum (Manufakturbourgeoisie) zu dieser Zeit inDeutschland kaum vorhanden war. Das entwickeltere Handelsbürger-tum war wirtschaftlich eng mit dem Feudaladel verbunden und des-halb überwiegend konservativ. Auch das städtische Zunftbürgertumkonnte kein Interesse an einer revolutionären Umgestaltung der gesell-

52

Page 53: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

schaftlichen Verhältnisse haben. Lediglich die Handwerksgesellen, diedurch die Zünfte daran gehindert wurden, Handwerksmeister zu wer-den, und deren Stellung sich immer mehr der eines Lohnarbeiters an-glich, bildeten neben den Bauern ein antifeudalistisches Potential.Hinzu kamen vor allem Knechte, Heimarbeiter und Bergleute. DerAufstand dieser Schichten, die unter dem Feudalsystem am stärkstenzu leiden hatten, mußte schließlich an der finanziellen und militäri-schen Übermacht der wirtschaftlich und politisch Mächtigen (ein-schließlich des Großbürgertums) sowie an der mangelnden eigenen Or-ganisiertheit (Zersplitterung!) scheitern.

Die dem Bauernkrieg vorangehende Reformation war eine durchund durch bürgerliche Geistesbewegung und trug alle Kennzeichendeutsch-bürgerlicher Halbheit. Sie konnte nur deshalb den Anstoßzum antifeudalen Kampf der Bauern und armen Gewerbetreibendenwerden, weil sie sich — wenn auch vorwiegend nur mit theoretischen(theologischen) Argumenten — gegen den Hauptträger der feudalenUnterdrückung, die katholische Papstkirche, wandte.

Ein Vergleich zwischen dem Calvinismus, der reformatorischen Be-wegung in den fortgeschritteneren westeuropäischen Ländern, und derdeutschen Reformation, dem Luthertum, macht den unterschied-lichen Entwicklungsstand dieser Länder deutlich. Da weitere Ausfüh-rungen den Rahmen dieses Buches sprengen würden, seien hier nur ei-nige zusammenfassende Bemerkungen zweier großer Historiker derbürgerlichen Gesellschaft zitiert. Georg Lukács schreibt in dem Kapi-tel über die „Eigentümlichkeiten der Entwicklung Deutschlands" inseinem Werk „Die Zerstörung der Vernunft":

„Überhaupt ist es für Deutschlands damalige Lage bezeichnend, daßdie religiös-ideologische Strömung des Übergangs des Mittelalters zurNeuzeit gerade hier das stärkste Übergewicht über den weltlichenHumanismus gewinnt, und zwar — und dies ist außerordentlich wich-tig — in ihrer sozial rückständigsten Form. Denn es ist nicht nur fürMarxisten, sondern seit Max Weber und Troeltsch auch für die bürger-liche Soziologie fast ein Gemeinplatz, daß die Entstehung der Refor-mationsbewegung mit der des Kapitalismus aufs engste verknüpft ist.Ihre wesentliche, calvinistische Form wurde jedoch zum Banner derersten großen bürgerlichen Revolutionen in Holland und England, zurherrschenden Ideologie der ersten Periode des kapitalistischen Auf-schwungs, während das in Deutschland ausschlaggebend gewordeneLuthertum die Unterwerfung unter den Kleinstaatsabsolutismus reli-giös verklärte und einen geistigen Hintergrund, eine moralische Unter-lage für die wirtschaftliche, soziale und kulturelle RückständigkeitDeutschlands abgab . " 9 2

Leo Kofler arbeitet in seiner „Geschichte der bürgerlichen Gesell-schaft" die spezifische ,Halbheit' des Luthertums als Pendant des un-entwickelten Zustands der deutschen Verhältnisse deutlich heraus:„Dem Bürgertum kommt Luthers Auffassung zwar in manchem entge-gen, etwa wenn er mit der mittelalterlichen Vorstellung von der Ver-

53

Page 54: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

werflichkeit des Erwerbstriebes bricht und die berufliche Arbeit alsmenschliche Pflicht und gottgefälliges Werk erklärt. Aber von der indi-vidualistischen Handelsfreiheit des ungehemmt sich auslebenden Re-naissancebürgers Italiens erweist sich bei näherem Zusehen diese Auf-fassung ebenso weit entfernt wie vom calvinistischen Radikalismus dersubjektiven Bewährung durch beruflichen Erfolg. Es ist im Grunde einSichzufriedengeben mit der Ordnung, wie sie ist, mit ihrer ständischenSchichtung und der Fesselung des Individuums an seinen Platz, mitaller Anerkennung der überkommenen Obrigkeit. So sagt Luther aus-drücklich, daß der Leibeigene dem Herrn gehört ,wie ein Stück Viehoder eine andere H a b e ' . " 9 3

„Im Luthertum ist die Idee der passiven Unterordnung unter denGlauben allein, also nicht die Bewährung durch den individuellenKampf, sondern gläubige Resignation, nicht die Neugestaltung, son-dern Anpassung an die gegebenen ständischen Zustände das leitendeMotiv, das ihn zum Determinismus hinführt. Im Calvinismus ist es derneue kräftige, manufakturelle Individualismus, der aus der vorherbe-stimmenden, gleichzeitig willensbindenden wie den Willen anfeuern-den Gottgewolltheit des wirtschaftlichen Erfolges den Grund derÜberlegenheit des bürgerlichen Individualismus über den feudal-adeli-gen, aber auch bereits über den bloß humanistisch-ästhetisch durchge-bildeten Menschen ableitet. Luther ,befeuerte durch sein ganzes We-sen mehr den Glauben als den Willen, während Calvins Persönlichkeitseine Anhänger zur Tätigkeit r e i z t e ' . " 9 4

„Die Halbheiten, bei denen Luther stehenbleibt, werden durchausals den Bedürfnissen angemessen empfunden. Nur das untere Volkmißversteht Luther und schlägt die Trommel des längst fälligen Auf-ruhrs, dessen kräftigstes Kind der Bauernkrieg i s t . " 9 5

Das Scheitern des großen Bauernaufstandes besiegelte die weitereEntwicklung Deutschlands. An die Stelle der rein feudalen Zerstücke-lung (Vorherrschaft des mittleren und niederen Adels) trat ein .mo-dernisierter Feudalismus': die kleinen Fürsten, die Sieger und Nutz-nießer der Kämpfe, stabilisierten die Zerrissenheit Deutschlands 9 6

und damit die feudale Struktur auf lange Zeit.Diese Gesichtspunkte der Bedeutung von Reformation und Bauern-

krieg werden in den Schulbuchdarstellungen jedoch kaum angespro-chen.

Ein bezeichnendes Beispiel ideologischer Geschichtsschreibung bie-tet folgende Einleitung des Reformationskapitels in einem Buch desKlett-Verlages:

„Seit dem 13. Jahrhundert zerfiel nach und nach die christlich-abendländische Ordnung, die jedem Menschen seinen festen Platz zuwies. Zuerst wurde die Ein-heit der germanisch-romanischen Völker abgelöst durch die Vielheit nationalerStaaten, deren Wesen Macht war, und die deshalb widereinander um die größereMacht stritten. Dann begann sich der Staatsbegriff zu ändern: Der Staat wurdenicht mehr als göttliche Einrichtung verstanden, sondern als das Ergebnis einesVertrages zur Förderung des gemeinsamen Nutzens'. Der Feudalismus, der dasRückgrat der Gesellschaftsordnung gebildet hatte, verlor allmählich an Bedeu-

54

Page 55: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

tung. An die Stelle des Treueverhältnisses trat immer mehr das Untertanenver-hältnis, bei dem grundsätzlich dem Herrscher alle Befehlsgewalt zustand. Da-durch wurden die sittlichen Grundlagen, auf denen die Vorrechte der gehobenenStände beruhten, erschüttert. In der breiten Masse des Volkes wurden die erstenStimmen laut, die bezweifelten, daß ihre mindere Rechtsstellung in einer gottge-wollten Ordnung begründet sei.

In derselben Zeit stieß der einzelne Mensch in geistiger Autonomie vor. DasIndividuum suchte eigene Wege des Denkens und setzte sich eigene Ziele. Dasführte äußerlich zur Erweiterung des Weltbildes. Menschen und Staaten Europasbrachen auf, sich die Länder der Erde Untertan zu machen. Der Staatsmann undder Kaufmann lernten, in Räumen von früher nie geahnter Ausdehnung zu den-ken. Aber der denkende Mensch machte auch vor dem Glauben nicht halt. Nochgelang es der Kirche, den neuen Geist in ihr System einzuschmelzen, noch wur-den ihre Lehren nicht verworfen, sondern nur von einzelnen Denkern umgedeu-tet. So war der gemeinsame Glaube das letzte Band, das die abendländische Menschheit zusammenhielt. Erst als auch dieses Band zerriß, als das unruhige Individuum aus eigener Verantwortung eine neue Ordnung seines Verhältnisseszu Gott suchte, war das Mittelalter endgültig vorüber.

Noch einmal fiel seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts Deutschland eineführende Stellung in der politischen und geistigen Entwicklung der abendländi-schen Geschichte zu. Das Haus Habsburg sucht durch die Zusammenfassung sei-ner Besitzungen die weltliche Universalmonarchie zu erneuern. Es geriet dadurchfür Jahrhunderte in einen Kampf an zwei Fronten, gegen Frankreich und gegendie Türkei. Zugleich aber entstand aus dem innerlichen Erlebnis eines unbekann-ten Mönches eine religiöse Bewegung, die zunächst in Deutschland, dann aberauch in den anderen Ländern Mittel- und Westeuropas die kirchliche Einheit auf-löste und damit für das gesamte geistige Leben dieser Völker einen neuen Aus-gangspunkt schuf, von dem aus mit tiefem Ernst um die Wahrheit gerungen wur-de. Dieses Ringen um die Verwirklichung neuer politischer und geistiger Gedan-ken, verflocht sich zu einer geschichtlichen Entwicklung, in deren Mittelpunktin der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Persönlichkeit Kaiser Karls V.stand." (Klett III, S. 178 — Hervorhebungen von uns)

Der Anfang des Zitats klingt recht unverdächtig. Die drei Begriffe„christlich", „abendländisch" und „Ordnung" haben bei allen, die fürdie Erhaltung des politischen Status quo eintreten, einen guten Klang.Wenn wir davon absehen, was in der Geschichte im Namen dieser Be-griffe schon alles geschehen ist, und nur vom Begriff ausgehen, wärewohl kein Anlaß zur Sorge. Die positiven Assoziationen, die mit demBegriff als solchem verbunden sind, führen hier zu einer entsprechen-den Beurteilung des realgeschichtlichen Gegenstands. So wird verhin-dert, daß die „christlich-abendländische Ordnung" als das erkanntwird, was sie real war: Herrschaft des feudalen Adels und Klerus überBauern, Plebejer und — teilweise — Zunftbürgertum. Die Verwendungdes Begriffes „Ordnung" zur Beschreibung eines konkreten gesell-schaftlichen Zustandes dient — wie immer — dazu, die Unterdrückungund Ausplünderung der großen Mehrheit des Volkes durch die Minder-heit — in diesem Falle die Eigentümer des Bodens, des wichtigstenProduktionsmittels — zu verdecken.

In der politischen Situation zur Zeit der Reformation war nun diekatholische Kirche mit ihrem Zentrum in Rom als größter Grundei-

55

Page 56: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

gentümer in einer so mächtigen Position, daß dadurch auch die weltli-chen Feudalherren in ihren Interessen entscheidend beeinträchtigt wa-ren. Auch Luther hatte Kenntnis von diesen politisch-ökonomischenVerhältnissen, wie seine Kritik in der Schrift ,,An den christlichenAdel deutscher Nation" beweist: „Wie kommen wir Deutschen dazu,daß wir solch Räuberei, Schinderei unserer Güter von dem Papst lei-den müssen." 9 7

Die Auflösung der alten Herrschaftsordnung durch eine neue wirdvon den Geschichtsbüchern negativ gefaßt: sie „zerfällt". Dies ist umso mehr zu bedauern, als sie jedem einen „festen Platz" zuwies und sovor den Gefahren eigenen Denkens und autonomer Selbstbestimmungbewahrt wird. Dazu paßt die Verklärung von Herrschaftsbeziehungenzum „Treueverhältnis" — eine Methode, die bis hin zum Faschismusund der Theorie von der Sozialpartnerschaft ihre herrschaftsverschlei-ernde und damit herrschaftsstabilisierende Kraft bewiesen hat. Worumes beim mittelalterlichen Treuebegriff wirklich ging, wird unterschla-gen: „Der Herr einer Sache, eines Stückes Grund und Boden, übtSchutz und Schirm, er hat ,dominium quod protectinem'; so ist derGrundherr nicht einfach ein Grundeigentümer oder Grundbesitzer,sondern ganz buchstäblich und wörtlich ein Grundherr." 9 8 „Grund-herrschaft ist in erster Linie Verfügungsrecht, Herrschaft über Grundund B o d e n " 9 9 — und damit natürlich auch über die, die den Bodenbearbeiten und von ihm leben.

Im folgenden Satz lernt der Schüler, daß „Vorrechte" durch „sittli-che Grundlagen" gerechtfertigt sein können, und gleich anschließend,daß es nicht gut ist, wenn das kritische Denken nicht bestimmte Gren-zen respektiert, nämlich die des Glaubens: „Aber der denkendeMensch machte auch vor dem Glauben nicht halt . . . "

Dann folgt die unvermeidliche Personalisierung, d. h. die Reduzie-rung der Geschichte auf das Wirken großer Persönlichkeiten: Das„innerliche Erlebnis eines unbekannten Mönches" soll eine Massenbe-wegung wie die Reformation hervorgerufen haben. Da müssen offen-sichtlich überirdische Kräfte am Werk gewesen sein — es sei denn, manwürde annehmen, daß Luther nur das artikulierte, was den Vorstellun-gen und Bedürfnissen der Massen entsprach und daß eben darauf seineWirkung beruhte. Dann würde die Bedeutung des „innerlichen Erleb-nisses" freilich erheblich schrumpfen, und außerdem müßten die neu-en Vorstellungen und Bedürfnisse der Massen ihrerseits erklärt wer-den.

Diese Personalisierung bestimmt auch die Darstellung der anderenSchulbücher. Eines redet von der ,,Reformation Martin Luthers"(Klett I, S. 53 ) , und in einem anderen Geschichtsbuch tritt die über-wältigende Größe des Reformators schon in den Kapitelüberschriftenin Erscheinung:

„Luthers Elternhaus und Schule" — „Luther tritt ins Kloster ein" — „Luthergewinnt eine neue Auffassung von der Kirche" — „Luther schlägt die Thesenan" — „Kardinal Kajetan verhört Luther" — „Luther wird gebannt" — „Luther

56

Page 57: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

auf dem Reichstag zu Worms" — „Luther wird geächtet" — „Luther übersetztdie Bibel" (Schroedel/Schöningh III, S. 142-150).

In den Geschichtsbüchern, die keine extreme Personalisierung auf-weisen, bleibt es bei einer rein geistesgeschichtlichen Erklärung derReformation:

„Ihre Wirkung (der Reformation, die Verfasser) ist ohne die Bereitschaft dergeistig-unbefriedigten Menschen nach Reform der Kirche nicht hinreichend zuerklären." (Schroedel/Schöningh I, S. 112, Hervorhebung von uns).

Daß das geistige Bedürfnis (was immer es sei) eine wesentliche Ur-sache in den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen hatte, warLuther — im Unterschied zu den Geschichtsbuchautoren — offenbardurchaus klar, wie das Lutherzitat belegt. Auch Vertreter der bürgerli-chen Geschichtswissenschaft erkennen mittlerweile den sozial-ökono-mischen Faktoren der Reformation eine maßgebliche Rolle zu. Hinterdiesem Diskussionsstand bleiben die Schulbücher weit zurück, wennsie die Reformation als bloß religiöse Erscheinung deuten. Der be-kannte bundesrepublikanische Historiker Nipperdey schreibt: „DieKurve der sozialen Konflikte steigt an: Es kommt seit 1476, seit derBewegung um den Pfeifer von Nikiashausen, zu einer Reihe von Mas-senbewegungen und Aufstandsversuchen, wie den Bundschuh amOberrhein und den armen Konrad in Württemberg. . . . In den Städtennehmen die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen poli-tisch-sozialen Gruppen, zwischen Zünften und Patriziat . . . zu. DieProteste gegen die großen Kapital- und Handelsgesellschaften, etwadie Fugger, und die Konflikte um ihre Praktiken gewinnen an Bedeu-tung. Fürsten, Ritter, Bürger und Bauern stehen so in vielfältig sichüberschneidenden Gegensätzen zueinander ." 1 0 0

Er räumt auch ein, „daß die sozialen und politischen Beziehungender einzelnen Gruppen der Gesellschaft, der Mächte und Herrschafts-institutionen und auch die kirchlichen Verhältnisse wesentlich von derzunehmenden Bedeutung des Geldes und seiner revolutionierendenMacht mitbestimmt w e r d e n . " 1 0 1

Was nun die Ursachen des deutschen Bauernkrieges von 1524—1526betrifft, so finden sich in den Schulbüchern hauptsächlich zwei Erklä-rungen. 1: Die Ausbeutung und Unterdrückung der Bauern war sehrgroß, und deshalb brach eine Art Hungerrevolte aus; 2. ihre wirt-schaftliche Lage war nicht schlecht, doch sie führten einen Kampf um„soziale Gerechtigkeit":

„Es gärte schon lange unter den deutschen Bauern. Sie litten neben den Rit-tern und kleinen Bürgern am stärksten unter der Entwertung des Geldes und derlandwirtschaftlichen Produkte." (Diesterweg IV, S. 188)

„Die Bauern trugen hart genug daran, daß sie ihren Grundherren dienstbar wa-ren ... Auf den Dörfern tauchten fürstliche Amtmänner auf und begannen un-gewohnte Steuern und Zölle zu verlangen." (Klett IV, S. 20)

„Die Lage der Bauern war um 1500 nicht mehr so schlecht wie früher. Manchehatten in nahe gelegenen Städten feste Abnehmer für ihre Erzeugnisse undbrachten es deshalb zu einem bescheidenen Wohlstand. Dennoch wurden sie von

5 7

Page 58: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Rittern und Bürgern wegen ihres niederen Standes und ihrer Unbildung mißach-tet." (Schroedel/Schönningh III, S. 151)

„Den stärksten Widerhall fanden Luthers Gedanken bei den Bauern. Sie sahenin der Lehre von dem allgemeinen Priestertum der Gläubigen und von der Frei-heit des Christenmenschen die Bestätigung ihres alten Kampfes für soziale Ge-rechtigkeit und Menschenwürde." (Klett I, S. 57)

Diese Begründungen enthalten zweifellos richtige Elemente, dochkönnen sie nicht erklären, warum gerade in dieser Periode der Bauern-krieg ausbricht: Hungeraufstände hatte es nämlich in den Jahrhunder-ten davor auch schon gegeben. Zu bedenken ist, daß die soziale Lageder Bauern im Deutschland des 16. Jahrhunderts nicht nur in jederRegion, sondern auch innerhalb jedes Bezirks sehr unterschiedlichw a r . 1 0 2 So war die Leibeigenschaft in vielen Ländern zu dieser Zeitbereits aufgehoben. Die Lage der Bauern hatte sich vor allem dort ver-schlechtert, wo die Märkte ihren Einfluß geltend machten. Es kamjetzt nicht mehr — wie früher — darauf an, daß der Boden möglichstviele Menschen ernährte; jetzt, mit der Entwicklung des Marktes, wa-ren die Grundherren daran interessiert, mit möglichst wenig Leutenauf wenig Land die höchsten Erträge zu erzielen, um diese dort umzu-setzen. Das hatte auch die Vertreibung der Bauern von ihrem Pacht-land zur Folge, die Entwicklung der sogenannten zweiten Leibeigen-schaft: „Denn aller Schutz und Schirm tendiert zur Ausnutzung derHerrenrechte, zur Steigerung der Herrengewalt . . . der Herr versuchtenun, die unter seinem Schutz und seiner Gebotsgewalt stehenden Bau-ern zu bewegen, ihm ihr Eigengut zu übertragen und von ihm gegenZins zur Leihe zu nehmen, er versuchte die Stellung seiner Grundhol-den anzugleichen, das Besitzrecht zu verschlechtern, die Leistung zusteigern, endlich das Eigentum an der Person des Holden zu erwerben,ihn zu seinem Leibeigenen zu machen." 1 0 3

So trafen zu Beginn des 16. Jahrhunderts verschiedene Faktoren zu-sammen, die sowohl die Reformation wie den Bauernkrieg auslösten.Doch dieser Zusammenhang zwischen der religiösen und der sozialenRebellion wird von den Schulbuchautoren nicht gesehen oder als einMißverständnis der Bauern aufgefaßt:

„Luthers religiöse Anschauungen wurden von vielen mißverstanden. Deshalbbrachen Unruhen aus . . ." (Schroedel/Schöningh II, S. 154)

Das Mißverständnis bestand allenfalls darin, daß die Bauern Lutherbeim Wort nahmen und seine Lehre „von der Freiheit eines Christen-menschen" konkret auffaßten. Das aber lag weder im Sinne Luthersnoch liegt es im Sinne der Schulbücher. Diese lassen in den meistenFällen keinen Zweifel daran, auf welcher Seite sie in diesem Bauern-krieg stehen: auf der Seite der Sieger:

„Die Sache der Reformation wurde durch den Bauernkrieg schwer geschä-digt." (Klett III, S. 183)

„Als ihre blutigen Ausschreitungen zunahmen, rief Luther . . . zum Kampf,wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern' auf. Luther unter-stützte die Landesherren gegen die drohende gesellschaftliche Revolution."(Schroedel/Schöningh I, S. 114)

58

Page 59: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Im letzten Zitat wird immerhin klar, welche Rolle Luther in diesemKrieg spielte. Sie beschränkte sich keineswegs auf innere Erlebnisseund Bibelübersetzungen im stillen Kämmerlein; Luther und seine reli-giöse Lehre fungierten vielmehr als politische Waffe im Interesse derFürsten. Aufschlußreich ist sowohl der Raum als auch die Bewertung,die Luther, der Verbündete der Fürsten, gegenüber Thomas Müntzer,dem Vertreter der Bauern und Plebejer, erhält:

„Luther konnte nicht lange auf der Wartburg bleiben. Kaum war das WormserEdikt bekanntgeworden, so brach in Erfurt der ,Pfaffensturm' los, der sich inwüsten Plünderungen der geistlichen Stifter austobte. Gefährlicher wurden dieBilderstürmer in Wittenberg, da sie die ganze bisherige Ordnung des Gottesdien-stes und jeden Schmuck in der Kirche verwarfen. Noch weiter gingen die,Zwickauer Propheten', aus Zwickau vertriebene Handwerker. Unter dem Ein-fluß des Volkspredigers Thomas Müntzer lehnten sie auch die Autorität der Bi-bel ab . . . Luther befürchtete mit Recht, daß diese Ausschreitungen seinemKampf um die Erneuerung der Kirche zur Last gelegt würden. So verließ er ohneWissen und gegen den Willen seines Kurfürsten seinen Zufluchtsort und kehrtenach Wittenberg zurück. Hier stellte er in wenigen Tagen durch seine Predigtendie Ordnung wieder her." (Klett I, S. 56)

Während Thomas Müntzer als der Verantwortliche für die „Aus-schreitungen" erscheint, der nicht davor zurückschreckt, „auch dieAutorität der Bibel" anzufechten, wird Luther als Ordnungsfaktor ge-wertet. Die Tatsache der Parteigängerschaft Luthers für die Unter-drücker wird im Klett-Schulbuch zwar angedeutet, aber als bloß sub-jektive Meinung des „niederen" Volkes abgewertet:

„ . . . seine (Luthers, die Verfasser) Anhänger im niederen Volk sahen in ihmeinen Parteigänger der Herren und wurden irre an ihm." (Klett I, S. 57)

Besonders deutlich wird die Einseitigkeit der Schulbücher bei derDarstellung des Bauernkrieges als Massenbewegung:

„Sengen, Brennen, Grausamkeiten und Blutvergießen kennzeichneten seinenWeg (des Bauernkrieges, d. Verf.)." (Klett I, S. 57)

„Der Bauernaufstand war die erste große Massenerhebung der deutschen Ge-schichte. Und doch brach er schnell und ruhmlos zusammen. Den wohlbewaff-neten, geübten und einheitlich geführten Heeren, welche die Fürsten im Som-mer 1525 ins Feld führten, konnten die ungeordneten bäuerlichen Haufen nichtwiderstehen." (Diesterweg I, S. 197)

„Sie (die Bauern, d. Verf.) zerstörten Burgen und Schlösser . . . und verwüste-ten Klöster. Auch kam es zu einzelnen Bluttaten, so in dem schwäbischenStädtchen Weinsberg, wo die Bauern den Grafen von Helfenstein und 17 Adeligedurch die Spießgasse trieben." (Diesterweg I, S. 197)

In Diesterweg I und IV werden die Massenmorde an über100 000 Bauern durch die Fürstenheere angeführt, aber der Zusam-menhang zwischen den Gewalttaten der Bauern und denen der Für-sten bleibt unklar. Dem Schüler wird die Ansicht nahegelegt, daß100 000 Bauern nicht umgebracht worden wären, wenn sie nichtselbst zuvor zu den Waffen gegriffen hätten. Die Tatsache, daß dieBauern zu den Waffen griffen, um sich gegen die unerträglich gewor-dene tagtägliche Ausbeutung zu wehren, geht auf diese Weise verloren.Die feudale Ausbeutung und Unterdrückung, die ansatzweise auch in

59

Page 60: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

den Schulbüchern dargestellt wird, berechtigte die Bauern nach Mei-nung Luthers und der Autoren allenfalls zum Kampf um maßvolle Re-formen. Die Unterdrückung des Leibeigenen, Hörigen oder Fronbau-ern durch seinen Herrn erscheint nicht als elementare Gewalt. Ge-walt, die böse und unberechtigt ist und deshalb entsprechend bestraftwird, beginnt im Urteil der Schulbücher immer erst dort, wo die Un-terdrückten zur Waffe greifen. Wer könnte den Respekt der Autorenvor den „wohlbewaffneten, geübten und einheitlich geführten Hee-ren" der Fürsten und die Verachtung der „ungeordneten bäuerlichenHaufen" übersehen? Hier drückt sich eine Parteinahme gegen jedenVolksaufstand und für dessen Niederwerfung durch jede staatliche Ge-walt aus. Die aktuelle Nutzanwendung ist evident: Von Lateinamerikaund Vietnam bis zur Rebellion der Farbigen in den USA.

Im konkreten Fall hat diese Parteinahme allerdings auch inhaltlicheGründe, wie folgendes Zitat zeigt:

„Thomas Müntzer verkündete in Thüringen ein kommunistisches Gottesreich."(Klett I, S. 57)

Der Autor verläßt sich auf das in der Bundesrepublik herrschendeantikommunistische Bewußtsein und projiziert es zurück in die Ge-schichte. Diese muß dem Schüler dann als ein ständiger Kampf gegenden Kommunismus erscheinen. So wird einerseits die gegenwärtigeForm der Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismusin die Geschichte hineininterpretiert, andererseits die Geschichte be-nutzt, um die Tradition der Verteidigung der bestehenden Ordnung zubelegen. Das Zusammenfügen von Kommunismus und Gott läßtMüntzer darüber hinaus als Wirrkopf erscheinen, dessen Ziele einernäheren Betrachtung nicht wert sind.

In Wirklichkeit knüpfte Müntzer an das Urchristentum an und ent-wickelte daraus konsequent seine Lehre von der wirklichen Freiheitdes Menschen — nicht bloß, wie bei Luther, der „inneren", die mitäußerer Sklaverei durchaus vereinbar ist. Ernst Bloch schreibt:„Müntzer . . . hieß die Bauern das Ihre zusammenlegen, er sprengte diekurzen Träume von Demokratie und Kaisertum, selbst Nationalismuswar ihm fremd, an die Stelle des mystischen Volkskaisers trat völligChristus, mystische Weltrepublik, Theokratie und Tieferes, er postu-lierte vollkommene Gütergemeinschaft, urchristliches Wesen, Beseiti-gung aller und jeder Obrigkeit, Zurückrückung des Gesetzes auf Mora-lität und Christbereitung." 1 0 4

Das äußerste, was einige Geschichtsbücher in Übereinstimmung mitLuther konzedieren, ist, daß die Forderungen der Bauern berechtigtwaren. Dafür kämpfen durften sie allerdings nicht. Vermutlich hättensie an ihre Unterdrücker eine Petition einreichen sollen:

„Auf Martin Luther und seine Lehre hatten sich die Bauern berufen. Er fandihre Forderungen gerecht. Er ermahnte sie nur, von Gewalttaten abzusehen unddas Evangelium nicht zu mißbrauchen." (Klett IV, S. 23)

Wie die politischen Fronten verliefen, bleibt unklar, so daß demSchüler unbegreiflich bleibt, worum es eigentlich ging. Es werden zwar

60

Page 61: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

neben Papst, Kaiser und Landesfürsten noch der Adel und die Geist-lichkeit benannt, aber die Rolle der Zunftbürger, der Bergleute undPlebejer bleibt unerwähnt. So kann der Schüler nicht erkennen, daß inden einzelnen Phasen die Front quer durch die einzelnen Stände ver-lief, daß der hohe Klerus, die reichen Bürger und die Mehrheit desAdels auf der Seite der Fürsten standen, während die einfachen Pasto-ren, die nicht im Stadtrat repräsentierten Bürger und ein Teil der Ade-ligen zu den Bauern hielten.1 0 5

Die von Michael Gaismair entworfene Landesordnung, die bereitsein umfassendes und konkretes antifeudales Programm für die Errich-tung einer bäuerlich-bergmännischen Volksrepublik e n t h i e l t 1 0 6 undso dem Schüler eine Vorstellung vermitteln könnte, wofür die Auf-ständischen eigentlich kämpften, wird überhaupt nicht erwähnt. Diesstimmt mit der Berichterstattung unserer Massenmedien über aktuelleAufstandsbewegungen überein und erweist sich damit als zentralesMotiv in der Formung der „öffentlichen Meinung".

Die Darstellung von Reformation und Bauernkrieg in unseren Schul-büchern ist immer noch durch die deutsche Geschichtswissenschaftder Vorkriegszeit geprägt . 1 0 7 Nach dem Krieg gewann die ökumeni-sche Geschichtsschreibung an E i n f l u ß . 1 0 8 In der Bundesrepublik giltdas Buch von G. F r a n z 1 0 9 , der die Geschichte des Bauernkrieges1933 für die politischen Ziele des Faschismus zurechtstutzte, unverän-dert als Standardwerk. Dort kann man nach wie vor lesen: „Die hun-derttausend Toten gaben zudem ähnlich wie in Zeiten der Pest oderim Jahrhundert der Kolonisation den Zurückbleibenden größeren Le-bensraum."1 1 0

Erst die Bemühungen der DDR-Geschichtswissenschaft, Reforma-tion und Bauernkrieg als revolutionäre Etappe auf dem Weg zur Her-ausbildung eines deutschen Nationalstaates und der Befreiung von feu-dalen, kirchlichen und obrigkeitsstaatlichen Zwängen zu erweisen, ver-anlaßte die Historiker der BRD ab 1967, sich mit der Theorie derfrühbürgerlichen Revolution auseinanderzusetzen.1 1 1

In dieser Auseinandersetzung dient der westdeutschen Geschichts-schreibung die Hervorhebung der Reformation einerseits und die Ab-wertung der bäuerlich-plebejischen Massenbewegung andererseits zurFestigung des herrschenden Geschichtsbildes. Die Reformation läßtsich bejahen, denn sie richtet ihre Kritik nicht grundsätzlich gegen dieherrschenden Feudalklassen, sondern nur gegen das außerhalbDeutschlands gelegene Zentrum des klerikalen Feudalismus, und siekann auf einen bloß religiösen, ideengeschichtlichen Vorgang redu-ziert werden, der zudem noch als das Werk der Persönlichkeit Luthersdargestellt werden kann. Nicht um soziale Interessen ging es also, son-dern um Geistiges. Der Bauernkrieg dagegen richtete sich konkret ge-gen das herrschende Feudalsystem, in einem allgemeineren Sinne abergegen soziale Privilegien der Herrschenden und also auch gegen dasPrivateigentum, auf dem diese beruhen. Deshalb wird er in der Ge-schichtswissenschaft und noch stärker in den Schulbüchern verzerrt

Page 62: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

und verfälscht. Auch an diesem Beispiel soll der Schüler seine Lektionlernen: Wenn die Volksmassen selber handeln, so kann das Ende nurschrecklich sein.

C. Die Arbeiterbewegung

Im Laufe der Französischen Revolution zeichneten sich keimhaftKlassengegensätze ab, die zu lösen sie gar nicht ausgezogen war. Diebürgerliche Revolution wurde von Bevölkerungsschichten getragenund vorangetrieben (vor allem den Sansculotten), deren Interesse überdie Zerschlagung der Feudalordnung bereits eindeutig hinausging undsich tendenziell gegen die gerade etablierte bürgerliche Gesellschafts-ordnung richtete. Das entstehende Proletariat mußte den dreifachenRuf der Revolution, „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", in ganz an-derem, d. h. viel umfassenderen (substanzielleren) Sinne verstehen alsvon den bürgerlichen Revolutionstheoretikern ursprünglich intendiertwar, denn deren Anspruch, die ganze Menschheit zu vertreten, standim Widerspruch zum real erfahrbaren partikularen Herrschaftsinter-esse des Bürgertums.

Das emanzipatorische Menschheitspathos, mit dem die Revolutionanhob, erwies sich sehr schnell als heroische Illusion: das Wahlrechtwurde 1795 wie schon 1791 an den Besitz gebunden; die Demokratieblieb auf die hohe politische Sphäre beschränkt: die demokratischenVolksgesellschaften wurden unterdrückt, die Gründung von Arbeiter-organisationen (Gewerkschaften) verboten1 1 2 usw.

Hier wird der durch und durch bürgerliche Charakter der Revolu-tion deutlich: er schlägt sich nieder in ihrer Halbheit, d. h. ihrer Be-schränkung auf die politische Sphäre. Im Gegensatz zu einer wirkli-chen Revolution, die die ganze Gesellschaft ergreift, führte die politi-sche Revolution (Umwälzung der Staatsform, Abschaffung der Vor-rechte) nicht zur Emanzipation des ganzen Volkes, sondern nur zurBefreiung einer besonderen Klasse: der Klasse der Privateigentümer,insbesondere der Kapitaleigner.

Der andere, ständig wachsende Teil der Gesellschaft, die Arbeiter-schaft, kann nun mit einigem Recht die andere Hälfte der Revolutionfordern: die politische Emanzipation der Eigentümer in eine gesell-schaftliche Emanzipation vom Eigentum weiterzuführen; die be-schränkt-politische Gleichheit („vor dem Gesetz") zur sozialen Gleich-heit zu erweitern. Der Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlich-keit ist noch unabgegolten; der beste Teil dieses Dreigestirns ist ,nochnicht heraus': „Die bürgerliche Revolution war zweifellos an den mei-sten Punkten mehr bürgerlich als Revolution, aber sie hat nicht nur — als Abschaffung der Klassenprivilegien — ein gewaltiges Stück Auf-räumarbeit geschafft, sie hat eben auch jenes Versprechen und jenenutopisch-konkreten Gehalt eines Versprechens in sich, an das die wirk-

62

Page 63: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

liche Revolution sich halten k a n n . " 1 1 3 Die Voraussetzung seiner Ein-lösung und die Aufgabe dieser Revolution ist die Abschaffung der Klassen selbst.

In diesem Sinne hat die Arbeiterbewegung das Erbe der unvollende-ten Revolution angetreten. Ihr erster großer Repräsentant war Babeuf,der sich am Ende der Französischen Revolution für die Verwirkli-chung der „wahren Gleichheit" durch die Gemeinschaft aller Güterund Arbeiten und die Wiederherstellung der politischen Demokratienach dem Vorbild der Verfassung von 1793 einsetzte: „Die Französi-sche Revolution ist nur der Vorbote einer anderen, noch viel größe-ren, viel feierlichen Revolution, die die letzte sein w i r d . " 1 1 4

Die Primitivität seiner Theorie und der Verschwörungscharakter sei-ner Aktion entsprachen der Unentwickeltheit der damaligen Arbeiter-bewegung: Die junge Arbeiterklasse („Klasse an sich") war erst geradedabei, sich als „Klasse für sich", als bewußte Klasse zu konstituieren.Babeuf und seine Anhänger mußten scheitern.

Wenn wir uns im folgenden der Darstellung der Arbeiterbewegungin den Schulbüchern zuwenden, dann vor allem deshalb, weil sich inihr jene Emanzipationsbewegung fortsetzt, die in der bürgerlichen Re-volution mit der Zerschlagung der Feudalordnung und der Errichtungeines bürgerlichen Staates zum Stillstand gekommen war. Interesseund Aufgabe der Arbeiterbewegung war es, die heroischen Illusionender Französischen Revolution in eine konkrete historische Perspek-tive umzuwandeln.

Die deutsche wie die internationale Arbeiterbewegung1 1 5 habensich im 19. Jahrhundert organisiert, um Freiheit und Gleichheit fürdie Arbeiterklasse zu erkämpfen und so die Klassengesellschaft über-haupt abzuschaffen. Ihre bloße Existenz war also schon potentielleNegation und politische Bedrohung der kapitalistischen Eigentums-und Gesellschaftsverfassung.

Allein aus der Tatsache, daß diese Arbeiterbewegung auch in derGegenwart noch besteht, ist zu erkennen, daß ihre Ziele noch nichtrealisiert sind (was ein Blick auf die Ungleichheit der Vermögens- undEinkommensverteilung und der Lebenschancen überhaupt bestätigt).Damit aber sind die in der BRD herrschenden Ideologien von der„Wohlstandsgesellschaft" (nach der das Hauptproblem heute nicht dieBeseitigung von Armut und Ungleichheit, sondern die Regulierungvon gesellschaftlichem Überfluß ist), von der „nivellierten Mittel-standsgesellschaft" (die behauptet, es gäbe keine wesentlichen sozia-len Unterschiede mehr) und der „Sozialpartnerschaft" (die Lohnab-hängige und Unternehmer als gleichberechtigte Partner betrachtet)grundlegend in Frage gestellt — und damit auch die Grundlagen dieserGesellschaft selbst. Die Schulbücher sind hier also mit dem zentralenKonflikt unserer Gesellschaft konfrontiert, dem zwischen Lohnarbeitund Kapital.

63

Page 64: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

1. Die historische Entstehung der Arbeiterklasse

Um Inhalt und Ziel der Arbeiterbewegung beurteilen zu können, ist eserforderlich, wenigstens kurz darzulegen, wie sich die Arbeiterklassemit der Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise gebildethat.

Die Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise und der Ar-beiterklasse stellt sich in den Schulbüchern durchweg dar als reinquantitative Umwälzung der Produktionsweise: an die Stelle derKleinproduktion des Mittelalters und der frühen Neuzeit tritt im18. Jahrhundert, vor allem im Zuge der industriellen Revolution, all-mählich und dann zügig voranschreitend, die fabrikmäßige Massenpro-duktion. Die kapitalistische Produktionsweise unterscheidet sich vonder feudalistischen demnach nur in der Größenordnung: Großproduk-tion mit Maschinen statt Kleinproduktion, die auf Handarbeit beruht.Auch die Arbeiterklasse tritt nur als Quantität in Erscheinung: Arbei-ter werden massenhaft in großen Betrieben zusammengefaßt und wieArbeitstiere behandelt; ihr Elend ist groß (quantitativ). Den Schul-buchautoren entgeht die historische Formbestimmtheit dieser Umwäl-zung (und damit auch des Elends der Arbeiter). Sie können deshalbnicht erklären, wieso die Entstehung von Massenproduktion mit sovielElend der Produzenten verbunden war und warum sich plötzlich zwei„neue Klassen" gegenüberstanden: Lohnarbeiter und Kapitalisten.

Eine bezeichnende Fehlinterpretation stellt die Identifizierung derindustriellen Revolution mit dem Kapitalismus dar:

„Seit der industriellen Revolution waren in England zwei neue Klassen ent-standen: Arbeiter und Unternehmer." (Schroedel/Schöningh IV, S. 125, desgl.in Klett V, S. 47, Klett VIII, S. 37, Diesterweg VIII, S. 16, Schroedel III, S. 46,u. a.)

Hier wird die Entstehung des Kapitalismus — und damit der zweiHauptklassen: Lohnarbeiter und Kapitalisten — zeitlich gleichgesetztmit der industriellen Revolution, und damit der Anschein erweckt, alsob Industrialisierung notwendig zur Entstehung einer Arbeiter- undeiner Kapitalistenklasse führen müsse, als ob der Industrialisierungs-prozeß immer ein kapitalistischer sein müsse. Aber erstens hatte sichdie kapitalistische Produktionsweise schon viel früher in der alten, feu-dalistischen Gesellschaft herausgebildet; das Vorhandensein von Kapi-tal und freien Lohnarbeitern bildete die historisch notwendige Vor-aussetzung des Industrialisierungsprozesses und war nicht etwa diebloße Folge desselben. Zweitens aber ist zu betonen, daß Industriali-sierung (etwa in den Entwicklungsländern) sich auch in nicht-kapitali-stischer Form vollziehen kann. Diese Abstraktion der Schulbuchauto-ren von den qualitativen Veränderungen, die die Entstehung der kapi-talistischen Produktionsweise gegenüber der feudalistischen beinhalte-te, führt sie zu historisch falschen Aussagen. Das Schulbuchzitat — „Seit der industriellen Revolution waren in England zwei neue Klas-sen entstanden: Arbeiter und Unternehmer" — müßte richtig lauten:

64

Page 65: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

,Mit der kapitalistischen Produktionsweise waren zwei neue Klassenentstanden: Lohnarbeiter und Kapitalisten. Mit der industriellen Re-volution, d. h. dem Einsetzen der maschinellen Produktion in großemMaßstab, und dem daraus resultierenden verbilligten Massenangebotvon Waren begann die kapitalistische Produktionsweise die ganze Ge-sellschaft zu ergreifen.' Die industrielle Revolution stellte also nichtden Beginn der kapitalistischen Produktionsweise und damit der bei-den neuen Klassen dar, sondern lediglich ihre zweite Phase, ihre Ent-faltung auf einer höheren Stufe: der fabrikmäßigen, maschinellen Pro-duktion.

Die Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise, die sichpunktuell schon Jahrhunderte vorher inmitten feudaler Verhältnissevollzog und zunächst in der Errichtung von Manufakturbetrieben re-sultierte, stellte eine qualitative Veränderung der Produktionsweisedar: sie war gegenüber der feudalistischen Produktionsweise etwasvöllig Neues. Diese Umwälzung, die eine Umwälzung der historischen Formbestimmtheit der Arbeit ist, also der Auseinandersetzung derMenschen mit der Natur, stellt sich dar als Entstehung einer aus-schließlich auf den Tauschwert gerichteten Produktion: sie beinhaltetdie Verwandlung der Arbeitskraft in Ware und die Verwandlung der Produktionsmittel in Kapital.

Schon im Feudalismus wurden in gewissem Maße Waren produziertund auf dem Markt getauscht, nur war die Warenform hier noch nicht— wie im Kapitalismus — die allgemeine Form des Produkts. Sie erfaß-te durchweg nur den Überschuß, sie ergriff noch nicht die Produktionals ganze. Der Bauer im Feudalismus erzeugte zunächst seine eigenenLebensmittel; nur das Mehrprodukt konnte auf dem Markt verkauftwerden (wobei ihm der Erlös dann großenteils von seinem Feudal-herrn genommen wurde).

Die vorkapitalistischen Verhältnisse sind generell dadurch gekenn-zeichnet, daß die Tauschwertproduktion die Gebrauchswertproduk-tion zu ihrer Voraussetzung hatte: die Subsistenz, der Lebensunter-halt, war mehr abhängig vom unmittelbaren Gebrauch als vom Ver-kauf des Produkts. Wenn dies beim feudalen Bauern unmittelbar ein-sichtig ist, so trifft es auch noch für den zünftigen Handwerker in dermittelalterlichen Stadt zu: auch er produziert — hier allerdings schondurch das Geld vermittelt — für den Gebrauch, noch nicht für den„Handel im G r o ß e n " 1 1 6 , noch nicht für einen unbegrenzten, anony-men Markt (dies verhinderte gerade die Zunftorganisation, siehe Ab-schnitt Französische Revolution):

„Bei dem städtischen Handwerk, obgleich es wesentlich auf Aus-tausch beruht und Schöpfung von Tauschwerten, ist der unmittelbare,der Hauptzweck dieser Produktion Subsistenz als Handwerker, alsoHandwerksmeister, also Gebrauchswert; nicht Bereicherung, nichtTauschwert als Tauschwert."117

Die historische Formbestimmtheit der Arbeit im Feudalismus waralso die — mehr oder weniger durch Geld vermittelte — Produktion für

65

Page 66: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

den Gebrauch: konkrete, nützliche Arbeit (unmittelbar); als solchesetzte sie die Einheit von Arbeit und Arbeitsmittel, von Arbeit undArbeitsprodukt voraus: Boden- bzw. Rohstoffe und Werkzeuge befan-den sich ebenso im Besitz der Produzenten wie der produzierte Gegen-stand selbst. Demgegenüber setzt die den Kapitalismus bestimmendereine Tauschwertproduktion die Trennung der Produktionsmittel(und damit des Arbeitsprodukts) von den Produzenten voraus. Wie istes dazu gekommen?

Im Abschnitt über die Französische Revolution (vgl. S. 11 ff) wurdegezeigt, wie der von außen kommende und anfangs nur auf den Uber-schuß beschränkte Tauschwert setzende Verkehr (in Gestalt des Han-delskapitals) allmählich immer mehr die Produktion ergriff. Zunächstblieb die gesellschaftliche Arbeit jedoch in Kleinproduktion zersplit-tert. Dennoch bildete sich mit der einfachen Warenproduktion bereitseine Grundbedingung für die Entstehung der kapitalistischen Gesell-schaftsformation heraus: die gesellschaftliche Arbeitsteilung. Warenproduziert man nicht für sich selbst, sondern für andere. Dies setzt einSystem gesellschaftlicher Arbeitsteilung voraus, in dem private Produ-zenten Arbeit für andere, also gesellschaftliche Arbeit verrichten. Inder feudalen Gesellschaft war diese Gesellschaftlichkeit der Arbeitfreilich nur rudimentär entwickelt. Immerhin setzte die Entstehungvon ausschließlich Tauschwerte produzierenden Manufakturen einengewissen Stand gesellschaftlicher Arbeitsteilung voraus, um ihre Warenüberhaupt absetzen zu können.

Eine weitere Vorbedingung für die Errichtung eines kapitalistischenUnternehmens ist die Anhäufung von Geld in den Händen von Unter-nehmern, das ausreicht, um den Ankauf der notwendigen Produk-tionsbedingungen (Großwerkstatt, Rohstoffe usw.) zu ermöglichen.Dieses Geld existierte im Feudalismus nur in Form von Wucher- oderHandelskapital, also Geldkapital, das nicht Resultat von Lohnarbeitwar, sondern auf dem Wege des ungleichen Tausches (Übervorteilung,Raub) angeeignet w u r d e . 1 1 8

Vor allem Anhäufung von Handelskapital im Zuge des Kolonialis-mus spielte für die Entstehung der kapitalistischen Produktionsweiseeine wichtige Rolle. Durch Ausplünderung der Kolonien, Sklavenhan-del usw. geschaffene Geldkapitalien konnten theoretisch in Produk-tionskapital verwandelt werden, d. h. zum Kauf von Produktionsin-strumenten, Fabrikanlagen, Rohstoffen (und Arbeitskräften!) usw.dienen. Damit war eine unmittelbare Vorbedingung der kapitalisti-schen Produktionsweise gegeben: die Verwandlung der Produktions-mittel in Kapital war theoretisch möglich.

„Es unterliegt keinem Zweifel . . . , daß im 16. und im 17. Jahrhun-dert die großen Revolutionen, die mit den geographischen Entdeckun-gen im Handel vorgingen und die Entwicklung des Kaufmannskapitalsrasch steigerten, ein Hauptmoment bilden in der Förderung des Über-gangs der feudalen Produktionsweise in die kapitalistische. Die plötzli-che Ausdehnung des Weltmarkts, die Vervielfältigung der umlaufen-

66

Page 67: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

den Waren, der Wetteifer unter den europäischen Nationen, sich derasiatischen Produkte und der amerikanischen Schätze zu bemächtigen,das Kolonialsystem, trugen wesentlich bei zur Sprengung der feudalenSchranken der Produkt ion ." 1 1 9

Ob das Geldkapital allerdings eine neue Produktionsweise zu schaf-fen vermag, die nur noch für den „Handel im Großen" produziert, obalso der Kaufmann sich der Produktion unmittelbar bemächtigenkann, hängt von einem ganz anderen gesellschaftlichen Vorgang ab:der Trennung der unmittelbaren Produzenten von ihren Produktions-mitteln und ihrer Befreiung von feudalen Abhängigkeitsverhältnissen.

Der Handelskapitalist hat es immer nur mit der Zirkulation der Wa-ren, der Vermittlung der Tauschwerte — die sich im Geld manifestie-ren — zu tun. Ihre Produktion ist seiner Tätigkeit vorausgesetzt, siegeht ihn nichts mehr an. Wenn er sein angehäuftes Geldkapital nun inProduktionskapital umwandelt, so ergreift der im Geld materialisierteTauschwert die Produktion, macht sie zur Tauschwertproduktion.Diese ist aber nur dann sinnvoll für den Kapitalisten, wenn die neuproduzierten Tauschwerte größer sind als die Summe des vorgeschos-senen Geldes. Dazu sind jedoch Arbeiter nötig, die erstens mit Pro-duktionsmitteln arbeiten und Produkte erzeugen, die ihnen nicht ge-hören (sondern dem Kapitalisten) und sich zweitens gefallen lassen,daß der von ihnen geschaffene zusätzliche Wert vom Kapitalisten an-geeignet wird.

Zu 1: Die Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmittelnund Erzeugnissen — eine Trennung, die dem Arbeitsprozeß vorausge-setzt ist — kennzeichnet nur die kapitalistische Produktionsweise. Feudalabhängiger Bauer wie Zunfthandwerker waren Besitzer ihrerArbeitsbedingungen und ihres Arbeitsprodukts. Die kapitalistischeGroßproduktion bedurfte einer ständig wachsenden Zahl freier Arbei-ter, die bereitstanden, ihre Arbeitskraft gegen Lohn zu verkaufen. Ar-beiter, die über ihr Arbeitsvermögen in dieser Weise frei verfügenkonnten — um sie dann allerdings der Verfügungsgewalt der Kapitalbe-sitzer gegen Geld zu überlassen —, konnte es in einer Gesellschaftnicht geben, die durch persönliche Herrschafts- und Knechtschaftsver-hältnisse und der Gebundenheit der Produzenten an ihre zersplittertenProduktionsbedingungen gekennzeichnet war. Die Entstehung der ka-pitalistischen Produktionsweise mußte also einhergehen mit der Frei-setzung der unmittelbaren Produzenten, d. h. ihrer „Befreiung" vonKnechtschaftsbeziehungen einerseits und den Produktionsmitteln an-dererseits: ein Großteil der Bauern wurde von profithungrigen Grund-herren enteignet und von ihrem Lande verjagt. Diese Entwicklungvollzog sich grundsätzlich in allen Ländern, in denen sich der Kapita-lismus herausbildete.

In England, wo sie gewissermaßen in klassischer Form ablief, setztesie bereits im 15. Jahrhundert ein. Den Anstoß gab hier insbesonderedas Aufblühen der flandrischen Wollmanufakturen. Das damit verbun-

67

Page 68: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

dene Ansteigen der Wollpreise ließ den englischen Grundherren dieSchafzucht vorteilhafter als die Bodenbestellung erscheinen. Die nunüberflüssig gewordenen feudalabhängigen Bauern und Knechte wurdenvon ihrem Lande vertrieben und der Großgrundbesitz durch Einhe-gungen von Gemeindeland zusätzlich erweitert. Die gewaltsam ruinier-ten und ausgeraubten Bauern bildeten ein Heer von Besitzlosen, dieauf der Suche nach Arbeit und Lebensmittel die Wege und StädteEnglands übervölkerten. Diese vogelfreien Proleten stellten schließlichdas Arbeitskräftereservoir für die neu entstehenden Manufakturen dar.Hinzu kamen die im Konkurrenzkampf mit den Manufakturen ruinier-ten Handwerker, denen nun ebenfalls nichts anderes übrigblieb, alsihre Arbeitskraft an einen Kapitalisten zu verkaufen.

„Auf einem gewissen Höhegrad bringt sie (die feudale Gesellschaft,d. Verf.) die materiellen Mittel ihrer eigenen Vernichtung zur Welt.Von diesem Augenblick regen sich Kräfte und Leidenschaften im Ge-sellschaftsschoße, welche sich von ihr gefesselt fühlen. Sie muß ver-nichtet werden, sie wird vernichtet. Ihre Vernichtung, die Verwand-lung der individuellen und zersplitterten Produktionsmittel in gesell-schaftlich konzentrierte, daher des zwerghaften Eigentums vieler indas massenhafte Eigentum weniger, daher die Expropriation (Enteig-nung, d. Verf.) der großen Volksmassen von Grund und Boden undLebensmittel und Arbeitsinstrumenten, diese furchtbare und schwieri-ge Expropriation der Volksmasse bildet die Vorgeschichte des Kapi-tals . . . Das selbst erarbeitete, sozusagen auf Verwachsung des einzel-nen, unabhängigen Arbeitsindividuums mit seinen Arbeitsbedingungenberuhende Privateigentum wird verdrängt durch das kapitalistischePrivateigentum, welches auf Exploitation (Ausbeutung, d. Verf.)fremder, aber formell freier Arbeit b e r u h t . " 1 2 0 „Geld und Ware sindnicht von vornherein Kapital, sowenig wie Produktions- und Lebens-mittel. Sie bedürfen der Verwandlung in Kapital. Diese Verwandlungselbst aber kann nur unter bestimmten Umständen vorgehn, die sichdahin zusammenspitzen: Zweierlei sehr verschiedne Sorten von Wa-renbesitzern müssen sich gegenüber in Kontakt treten, einerseitsEigner von Geld, Produktions- und Lebensmitteln, denen es gilt, dievon ihnen geeignete Wertsumme zu verwerten durch Ankauf fremderArbeitskraft; andererseits freie Arbeiter, Verkäufer der eigenen Ar-beitskraft und daher Verkäufer von Arbeit. Freie Arbeiter in demDoppelsinn, daß weder sie selbst unmittelbar zu den Produktionsmit-teln gehören, wie Sklaven, Leibeigne usw., noch auch die Produktions-mittel ihnen gehören, wie beim selbstwirtschaftenden Bauer usw., siedavon vielmehr frei, los und ledig sind. Mit dieser Polarisation desWarenmarkts sind die Grundbedingungen der kapitalistischen Produk-tion gegeben. Das Kapitalverhältnis setzt die Scheidung zwischen denArbeitern und dem Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen derArbeit voraus. Sobald die kapitalistische Produktion einmal auf eignenFüßen steht, erhält sie nicht nur jene Scheidung, sondern reproduziertsie auf stets wachsender Stufenleiter. Der Prozeß, der das Kapitalver-

68

Page 69: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

hältnis schafft, kann also nichts andres sein, als der Scheidungsprozeßdes Arbeiters vom Eigentum an seinen Arbeitsbedingungen, ein Pro-zeß, der einerseits die gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsmit-tel in Kapital verwandelt, andererseits die unmittelbaren Produzentenin Lohnarbe i te r . " 1 2 1

Zu 2: Weil der Arbeiter nicht Eigentümer der Produktionsmittel ist,kann er auch nicht Eigentümer seiner Arbeit und des Produkts seinerArbeit sein. Er ist nur Eigentümer seiner Arbeitskraft — und eben die-se verkauft er dem Kapitalisten, gegen Lohn, den er zur Erhaltung sei-ner Existenz braucht. Dieser Austausch zwischen Arbeitskraft undLohn, der im Arbeitsvertrag besiegelt wird, ist ein Austausch vonÄquivalenten: der Lohn entspricht dem Wert der Ware Arbeitskraft,d. h. ihren Reproduktionskosten, die identisch sind mit den gesell-schaftlich bestimmten Unterhaltskosten des Arbeiters.

Der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft besteht aber nun darin,mehr Wert hervorzubringen, als sie selbst besitzt. Der Arbeiter produ-ziert mehr Wert als er in Form des Lohnes zurückerhält. Hierin liegtgerade der Sinn des Produktionsprozesses für den Kapitalisten. DerMehrwert, also die Differenz zwischen dem vom Arbeiter geschaffe-nen Wert und dem Wert der zum Leben notwendigen Güter und Lei-stungen wird vom Kapitalisten unentgeltlich angeeignet. Hinter demÄquivalententausch (Arbeitskraft — Lohn) vollzieht sich die Aneig-nung der Mehrarbeit: der Austausch in Gleichheit konstituiert einAusbeutungsverhältnis! Der Mehrwert wird im Verkauf der Waren rea-lisiert in Form von mehr Geld. „In einer Gebrauchswerte erzeugendenGesellschaft wird das gesellschaftliche Mehrprodukt, das sich eine be-sitzende Klasse aneignet, in direkter Weise angeeignet, sei es in derForm von (Fron-)Arbeit, sei es in der Form von Gütern (Grundrente,Tribut). In einer Waren produzierenden Gesellschaft eignet sich diebesitzende Klasse das gesellschaftliche Mehrprodukt in indirekter Wei-se an, in der Form des Geldes, also durch den Verkauf von Waren, vonderen Erlös die Unterhaltskosten der Arbeit und die restlichen Pro-duktionskosten abgehen . " 1 2 2

Diese neue Form privater Aneignung gesellschaftlicher Mehrarbeiterzeugt permanent den Interessenwiderspruch zwischen Lohnarbei-tern und Kapitalisten: der Kapitalist hat ein objektives — die Konkur-renz zwingt ihn dazu — Interesse an der Erhöhung der Mehrarbeit, derArbeiter an ihrer Verringerung, da eine Erhöhung der Mehrarbeit fürihn relativen Lohnschwund bedeutet. Einfacher gesagt: der Kapitaliststrebt nach Ausweitung der unbezahlten Arbeit, der Arbeiter nachAusweitung der bezahlten Arbeit.

Dieser Interessenantagonismus nimmt in der Geschichte verschiede-ne Erscheinungsformen an: unmenschliche Ausplünderung der Arbei-ter in der ersten Phase der Industrialisierung, Maschinenstürmerei,Koalitionsverbote für Arbeiter, Zensuswahlrecht, Arbeitslosigkeit,Streiks, Kampf um den 10-Stunden-Tag, faschistische Diktatur usw.

69

Page 70: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Die Schulbuchautoren machen ihren Begriff von „Arbeiterklasse"nur am Unterschied von Arm und Reich, politischer Ohnmacht undpolitischem Einfluß fest. Sie begreifen das große materielle Elend derArbeiter in der ersten Phase der Industrialisierung nicht als notwendi-ges Moment der frühkapitalistischen Entwicklung, das in anderen For-men bis heute weiterlebt, sondern interpretieren es als vermeidbareBegleiterscheinung der Industrialisierung, zusammengefaßt unter demTitel „Die Soziale Frage".

2. Die „Soziale Frage" des 19 . Jahrhunderts und ihre Ursachen

Die sozialen Folgen der industriellen Revolution (so die Terminologieder Schulbücher; wie im vorigen Abschnitt gezeigt wurde, müßte esrichtiger heißen: die sozialen Aspekte der kapitalistischen Produk-tionsweise) werden in allen Schulbüchern geschildert. Im Mittelpunktsteht dabei die Beschreibung der Lage des neuen „Vierten Standes",der Arbeiter. Deren Situation war danach gekennzeichnet durch großesoziale Not und gesellschaftliche Rechtlosigkeit:

„Niedrige Löhne, lange Arbeitszeit, Kinderarbeit, Arbeitslosigkeit, Wohnungs-elend waren die typischen Kennzeichen proletarischen Schicksals." (Schroedel/Schöningh II, S. 61)

„Die Arbeitszeit wurde verlängert, die Löhne gedrückt. Oft waren Familienvä-ter arbeitslos und mußten zusehen, wie Frauen und Kinder (ab 6 Jahren) zu-grunde gerichtet wurden. 16stündige Arbeitszeit, Nachtarbeit, Unterernährung,Wohnungselend usw. kennzeichnen die erschütternde Lage." (Klett I, S. 210)

„In der Gesellschaft hatten sie (die Proletarier, d. Verf.) ihren Standort nochnicht gefunden: sie waren ohne Anteil und Einfluß in der Politik und am kultu-rellen Leben." (Schroedel III, S. 48)

„Der Arbeiter sah sich ausgestoßen aus der Volksgemeinschaft und verachtetvon Adel und Bürgertum." (Diesterweg VII, S. 99)

Diese Mißstände und die Notwendigkeit, sie zu beseitigen, werdenin allen Büchern mit dem Begriff der „Sozialen Frage" gefaßt. DerSchulbuchbegriff „Soziale Frage" meint also nicht die Lage der Arbei-ter in der bürgerlichen Gesellschaft allgemein, sondern nur einer be-stimmten historischen Situation, in der sie durch soziales Elend undgesellschaftliche Rechtlosigkeit gekennzeichnet waren. Der Begriffimpliziert also, daß es möglich sei, innerhalb der bürgerlichen Gesell-schaft soziale Gerechtigkeit herzustellen, d. h. er impliziert seine Auf-hebung durch den Begriff der „Sozialpartnerschaft".

Die Lage der Arbeiter wird überwiegend mit moralisch-wertendenKategorien beschrieben: „Erschütternde Lage" (Klett I, S. 210 ) , „ver-achtet", „ausgestoßen" (Diesterweg VII , S. 9 9 ) , „Lage der Arbeitertrostlos" (Schroedel III , S. 4 6 ) . Solcher Art moralisierende Begriffekönnen zwar Gefühle wie Mitleid wecken, sind aber kaum geeignet,die rationale Erkenntnis der Ursachen dieser Mißstände zu fördern.Bertolt Brecht schrieb in ähnlichem Zusammenhang: „Auch derZweck unserer Untersuchungen war es nicht lediglich, moralische Be-

70

Page 71: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

denken gegen gewisse Zustände zu erregen . . . , Zweck unserer Unter-suchungen war es, Mittel ausfindig zu machen, welche die betreffen-den schwer ertragbaren Zustände beseitigen konnten. Wir sprachennämlich nicht im Namen der Moral, sondern im Namen der Geschä-d i g t e n . " 1 2 3

Einige Bücher allerdings versuchen, über die rein moralisierende Be-schreibung der Mißstände hinaus zu einer Analyse ihrer Ursachen vor-zustoßen; sie verwenden dabei für die Darstellung der frühindustriellenZeit Begriffe, die z. T. der Marxschen Theorie entstammen. Ein Bei-spiel:

„Für den frühen Kapitalismus war der Arbeiter, ob Mann, Frau oder Kind,welchen Alters auch immer, eine Ware; der Warenwert wurde allein vom Nutzenbestimmt, den der Unternehmer aus ihr ziehen konnte; die Ausbeutung dermenschlichen Arbeitskraft als Ware war hemmungslos und von keiner staatli-chen, kirchlichen oder anderen Organisation gehindert; als Folge bildete sich eingroßer Reichtum weniger und eine Armut der großen Masse; daraus entwickeltesich der Klassengegensatz von Ausbeutern und Ausgebeuteten, Herren und Skla-ven." (Schroedel/Schöningh VII, S. 113; Hervorhebungen von uns)

Die Verwendung marxistischer Begriffe ist freilich unsystematisch.Dies führt zu einer Reihe von immanenten Widersprüchen und Inkonse-quenzen. So wird in einem Satz zuerst der Arbeiter selbst, dann seineArbeitskraft als Ware bezeichnet, als ob beide identisch wären. DerBegriff der Ausbeutung wird mit dem Attribut „hemmungslos" ver-ziert und damit in eine moralische Kategorie umgefälscht, während erin seiner ursprünglichen Verwendung bei Marx ein rein analytischerBegriff ist, der ein gesellschaftliches Verhältnis bezeichnet: die vomKapitalisten gekaufte Arbeitskraft schafft einen größeren Wert, als derArbeiter an Lohn erhält; die Differenz — den Mehrwert — eignet sichder Kapitalist an — dies eben heißt bei Marx „Ausbeutung". (DieseAneignung wiederum wird von Marx nicht als „Unrecht" angesehen,sondern als ein nach den immanenten Gesetzen der kapitalistischenProduktionsweise zwangsläufiger Vorgang; die Beseitigung dieser An-eignung und damit der Ausbeutung ist also nicht durch „weniger hem-mungsloses" Verhalten der Kapitalisten möglich, sondern allein durchdie Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise!) 1 2 4 Der Klas-sengegensatz wird in dem Zitat als eine „Folge" (!) von Vermögensun-terschieden erklärt, während doch vielmehr umgekehrt der Klassenge-gensatz als der grundlegende Widerspruch gesellschaftlicher Interessenzu Erscheinungen wie Armut und Reichtum führt! Wie wollen dieSchulbuchautoren ihre These mit der Tatsache vereinbaren, daß esUnterschiede zwischen Arm und Reich schon Jahrhunderte vor derkapitalistischen Produktionsweise gab, während der von ihnen be-nannte „Klassengegensatz" zwischen Unternehmern und Arbeiternerst im Kapitalismus entsteht? Schließlich wird der Begriff des „Skla-ven" in die „Analyse" der kapitalistischen Gesellschaft einbezogen,womit jede Differenzierung von Gesellschaftsformen innerhalb derMenschheitsgeschichte verwischt wird. Sklaven hat es schon im Feuda-lismus nur noch als Ausnahmeerscheinung gegeben; und mit der Her-

71

Page 72: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

ausbildung des Kapitalismus wurde auch die Leibeigenschaft aufgeho-ben. Die kapitalistische Produktionsweise setzt gerade die Existenzdoppelt freier (frei von persönlicher Abhängigkeit sowie frei von denProduktionsmitteln) Arbeiter voraus. Die Lohnarbeiter sind rechtlichfrei: freie Eigentümer ihrer Ware Arbeitskraft, die sie als gleichberech-tigte Vertragspartner dem Kapitalisten verkaufen.

Beinahe alle Bücher, die wie das eben zitierte derart gesellschafts-analytische Begriffe verwenden, tun dies bezeichnenderweise nur beider Darstellung der Lage der Arbeiter im 19. Jahrhundert — für das20. Jahrhundert werden diese Begriffe ohne nähere Begründung fallen-gelassen und durch andere ersetzt (s. u.). In den wenigen Fällen, in de-nen ein wissenschaftlicher Begriff später noch einmal aufgenommenwird, verwickeln sich die Autoren in allerlei Widersprüche. Dafür einBeispiel: bei der Beschreibung der „Sozialen Frage" im 19. Jahrhun-dert definieren die Autoren eines Buches den Begriff „Proletariat":

„Zu den Proletariern rechneten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundertsdie Lohnarbeiter, die ihre Arbeitskraft fortlaufend verkaufen mußten, weil sieihre einzige oder für die Lebenshaltung entscheidende Einkommensquelle war."(Schroedel III, S. 48)

Bei der Beschreibung der Arbeitsverhältnisse in der BRD wird indemselben Buch behauptet:

„Von einem Proletariat im Sinne des 19. Jahrhunderts kann heute nicht mehrdie Rede sein." (Schroedel III, S. 104)

Nun dürften die Autoren aber Schwierigkeiten haben, nachzuwei-sen, daß die Lohnarbeiter in der BRD ihre Arbeitskraft nicht mehrverkaufen müssen. Wenden wir also das vom Schulbuch selbst benann-te Kriterium für Proletariat — fortlaufender Verkauf der Arbeitskraft,um den Lebensunterhalt zu fristen — auf die BRD an, so ist die Kon-sequenz nicht zu umgehen: es gibt auch heute noch ein Proletariat.Für vergangene Perioden wird also manches zugegeben. Handelt essich jedoch um Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft, so scheuendie Schulbuchautoren selbst die offensichtlichsten Konsequenzenihrer eigenen Defini t ionen. 1 2 5

Bei dem Versuch, die Ursachen für das soziale Elend der Arbeiter zuergründen, greifen die meisten Bücher auf bestimmte Ideen der Men-schen zurück: die herrschenden Prinzipien des Liberalismus hätten dasEingreifen des Staates in den wirtschaftlichen Prozeß verboten:

„Die Anhänger des ,Freihandels' forderten wie Adam Smith den Verzicht desStaates auf alle wirtschaftspolitischen Eingriffe . . . Zugleich lehnten die Unter-nehmer jede Hilfe des Staates für die Arbeiter ab. So galt das freie Spiel derKräfte nicht nur auf dem Güter-, sondern auch auf dem Arbeitsmarkt . . . dieProletarier — ohne Besitz an Produktionsmitteln und sozial ungeschützt — muß-ten in diesem freien Kräftespiel den kapitalistischen Unternehmern unterliegen."(Schroedel/Schöningh IV, S. 140/141)

„Der Liberalismus kannte keinen Schutz der wirtschaftlich Schwachen undwollte keine soziale Gesetzgebung." (Klett I, S. 210)

Die Erklärung des materiellen Elends aus ideengeschichtlichen Ur-sachen legt die Vorstellung nahe, daß eine Beseitigung der Mißstände

72

Page 73: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

möglich wird, sobald man sich nur andere „Ideen" einfallen läßt — z. B. die „Soziale Marktwirtschaft" (s. u.). Nur in einigen der Bücherwird zumindest angedeutet, daß Entstehung und Dominanz der libe-ralen Ideen ihrerseits Ursachen hatten, die in konkreten wirtschaftli-chen Interessen begründet waren (z. B. Schroedel/Schöningh VII , S.114; Klett I, S. 209 ) .

Wie unzureichend aber auch eine scheinbar „kritische" Herleitungder „Sozialen Frage" durch das Benennen wirtschaftlicher Interessenin den Schulbüchern ist, läßt sich an folgendem Zitat aus einer Didak-tik zeigen. Dort wird vom Lehrer gefordert, es solle

„darauf hingewiesen werden, daß zweifellos das ungehemmte Gewinnstreben derKapitalisten das hervorstechendste Kennzeichen frühkapitalistischer Wirtschafts-weise war . . . " (Schroedel/Schöningh VII , S. 115)

Eine richtige analytische Feststellung „Das Gewinnstreben der Kapi-talisten ist das hervorstechendste Kennzeichen kapitalistischer Wirt-schaftsweise" wird hier durch zwei kleine, aber entscheidende Attri-bute verfälscht. Der Vorsatz „früh-" (zusammen mit der Vergangen-heitsform des Verbums) suggeriert, daß die Feststellung nur für einehistorische Ubergangsphase des Kapitalismus gültig sei — daß also z. B.für die heutige Phase des Kapitalismus das Gewinnstreben nicht mehr„hervorstechendstes Kennzeichen" sei, daß vielmehr, wie ein anderesSchulbuch behauptet, „das heutige Unternehmertum ... mit neuenMaßstäben in die Betriebe hinein(geht)" (Diesterweg VII , S. 108) . Inderselben Richtung verzerrend wirkt auch die Einfügung des Attributs„ungehemmt" — als ob die Gegenwart durch das „gehemmte" Ge-winnstreben der Kapitalisten charakterisiert sei.

Die Statistiken sprechen allerdings eine andere Sprache: während inder BRD die Nettoeinkommen aus unselbständiger Arbeit von 1965bis 1969 um 22,7 % gestiegen sind, erhöhten sich im selben Zeitraumdie Nettoeinkommen aus Unternehmertätigkeit (die Profite) und Ver-mögen um 2 8 , 9 % . 1 2 6 Nach einer anderen Untersuchung 1 2 7 über die„Verteilung des westdeutschen Nationaleinkommens nach seiner Um-verteilung durch den Staatshaushalt" ergibt sich, daß der Anteil derNettolöhne und -gehälter der Arbeiter und Angestellten an dem Natio-naleinkommen von 1950 bis 1968 in etwa stagnierte, obwohl sich derAnteil der Arbeiter und Angestellten an der Gesamtbevölkerung ver-größert hat, während die Profite erheblich gestiegen sind:

Jahr Nettolöhne und-gehälter

Profit derKapitalisten-klasse

Nettoeinkommen d. klei-nen Warenproduzenten(einschl. mithelfenderFamilienangehörige)

1950 36,8 44,3 18,91960 36,2 51,8 12,01968 36,4 53,9 9,7

(Nationaleinkommen insgesamt = 100)

73

Page 74: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Von „gehemmtem" Gewinnstreben der Unternehmer in der BRDkann also keine Rede sein (vgl. dazu auch Punkt 9 dieses Abschnitts).Der Blick auf die Statistik stützt vielmehr unsere Behauptung, daß das„ungehemmte Gewinnstreben" der Kapitalisten nicht nur Kennzei-chen frühkapitalistischer Wirtschaftsweise ist, sondern Kennzeichenkapitalistischer Produktionsweise überhaupt. Wodurch sollte es auchgehemmt sein, da doch die „freie Unternehmerentscheidung" als dasunantastbare Prinzip auch des gegenwärtigen Kapitalismus gilt. DasGewinnstreben ergibt sich als logische Konsequenz aus den Gesetz-mäßigkeiten dieser Produktionsweise: „Kapital muß sich vergrößern,es muß akkumuliert werden. Hierzu nötigt das Verhältnis derKonkurrenz, in dem die Unternehmungen zueinander s t e h e n . " 1 2 8 Un-gehemmtes Gewinnstreben ist also nicht, wie das Schulbuchzitat nahe-legt, dem maßlosen und finsteren Charakter des Kapitalisten aus dem19. Jahrhundert geschuldet, sondern entspringt einer anderen Eigen-schaft des Kapitalisten — nämlich der, Kapitalist zu sein. Diese Eigen-schaft ist nicht subjektiv, sondern objektiv — in der Struktur dieserGesellschaft begründet, in der jeder Unternehmer bei Stfafe des Unter-gangs im Konkurrenzkampf zum Herauspressen des maximalen Profitsgenötigt ist.

Eine für ein Verständnis der Geschichte extrem unbrauchbare Dar-stellung der Ursachen der „Sozialen Frage" findet sich im Klettschen„Grundriß der Geschichte". Das soziale Elend des englischen Prole-tariats wird hier dem subjektiven Unvermögen des Staates angelastet:

„Der Regierung fehlte es an sozialem Verständnis; sie sah nicht, daß sich hierzum ersten Male in der neueren Geschichte riesenhaft eine soziale Frage erhobenhatte." (Klett I, S. 210)

Eine Seite weiter heißt es:„Gleichzeitig (mit der Entstehung der Gewerkschaften, d. Verf.) erwachte im

liberalen und noch mehr im konservativen Bürgertum eine Bereitschaft zu sozia-len Reformen." (Klett I, S. 211)

Geschichtliche Prozesse werden hier nicht aus gesellschaftlichen Zu-sammenhängen heraus begriffen, sondern aus dem „Verständnis" bzw.Unverständnis der Handelnden, meist Herrschenden „erklärt" (Perso-nalis ierung). 1 2 9 Wenn die großen Probleme unserer Zeit dadurch ge-löst werden, daß Ideen „erwachen", so darf wohl gefragt werden, weroder was sie denn aus ihrem Schlummer geweckt hat und warum sievorher überhaupt schliefen. Zu der Ansicht schließlich, der Staat seieine neutrale Instanz, die über allen gesellschaftlichen Interessenkon-flikten steht und soziale Auseinandersetzungen durch „Verständnis"zum Ausgleich bringen kann, wird an späterer Stelle noch das Nötigezu sagen sein.

74

Page 75: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

3. Erste Lösungsversuche der „Sozialen Frage"

Die „Soziale Frage" — das besagt schon sprachlich der Ausdruck „Fra-ge" — impliziert, daß es Antworten, Lösungsmöglichkeiten gibt, durchdie die Lage der Arbeiter grundlegend verändert werden kann. Als dieersten Versuche, die „Soziale Frage" ihrer Lösung näherzubringen,werden in allen Schulbüchern die sozialen Maßnahmen einzelner Un-ternehmer und der Kirche angeführt. Genannt werden meist Owen,Krupp, Harkort und andere als „sozial denkende Unternehmer"(Hirschgraben II, S. 89) und als Vertreter der Kirche Kolping, vonKetteier, Bodelschwingh und andere. Stets wird aber auch die Be-grenztheit dieser Ansätze betont:

„Die Einzelmaßnahmen der Kirchen und der Unternehmer konnten die sozialeNot nicht beseitigen. Sie hatten auch oft den Charakter von Wohlfahrtsmaßnah-men, während die Arbeiter soziale Gerechtigkeit forderten." (Hirschgraben II, S.89)

„Doch konnten die damals geschaffenen sozialen Einrichtungen nur die un-glücklichsten Opfer der gesellschaftlichen Not aufnehmen, nicht aber das Übelmit der Wurzel beseitigen." (Diesterweg VII, S. 100)

Die Didaktik zu „Zeiten und Menschen" argumentiert ebenso, wennsie den Lehrern als Unterrichtsziel empfiehlt:

„Die Schüler sollen erkennen, daß den ersten Lösungsversuchen der sozialenFrage kein durchschlagender Erfolg beschieden sein konnte, weil das Problemnicht an seiner Wurzel angefaßt wurde." (Schroedel/Schöningh VII, S. 114)

Die Schulbücher plädieren also — wie es scheint — dafür, nicht nureinzelne soziale Verbesserungen durchzuführen, sondern das Probleman der Wurzel zu packen und wirkliche soziale Gerechtigkeit durchzu-setzen. Die Stellungnahmen der gleichen Schulbücher zur Gesell-schaftsordnung der Gegenwart werden allerdings zeigen, daß dort dieAutoren alles vergessen haben, was ihnen bei der Behandlung des19. Jahrhunderts noch klar war. Die in den Zitaten enthaltene Auffor-derung, das Übel an der Wurzel anzupacken (Wurzel = lat. radix), ist,beim Wort genommen, die Aufforderung, die Lage der Arbeiter „radi-kal" zu verändern. Eben dieser Begriff aber fungiert in den Schulbü-chern als Bezeichnung für alles Negative, Destruktive und Antidemo-kratische, für Faschisten wie für Sozialisten/Kommunisten (darüberspäter).

In der Didaktik wird das Beispiel der „sozial denkenden Unterneh-mer" genutzt, um zu beweisen, daß bei „vernünftiger" Haltung vonUnternehmern und Arbeitern beide Gruppen nicht Gegner sein müs-sen, sondern Partner (Sozialpartnerschaftsvorstellung!) sein können:

„Die Haltung dieser Männer bewies, daß Unternehmungen wirtschaftlich (d. h.mit Gewinn) arbeiten konnten, wenn sie den Arbeiter nicht ausbeuteten; die Ar-beiter dieser Unternehmen bewiesen, daß sie bei Mitspracherecht, relativ ver-nünftiger Arbeitszeit und ,auskömmlichen' Löhnen keineswegs grundsätzlicheGegner eines Unternehmers, sondern durchaus bereit und fähig sind, in der Zu-sammenarbeit mit dem Unternehmer das Wohl des ganzen Betriebes zu sehen,weil davon ihr eigenes Wohl abhängig ist." (Schroedel/Schöningh VII, S. 115)

75

Page 76: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Erst genaues Lesen zeigt, welche Vorstellungen die Autoren diesesSchulbuches von einer humanen Gesellschaft haben: da ist von „Mit-spracherecht" die Rede — nicht aber von Mitwirkung oder Mitbestim-mung, geschweige denn von Selbstbestimmung der Arbeiter. Die Ar-beitszeit soll nicht etwa vernünftig, sondern nur „relativ vernünftig"sein. Wer entscheidet darüber, was vernünftig ist? Und vernünftig fürwen? Die Löhne sollen „auskömmlich" sein — wer mit seinem Lohn„auskommt", also Essen, Trinken und Wohnung hat, hat demnach zu-frieden zu sein und kein Recht, weitere Forderungen zu stellen. Vonsozialer Gerechtigkeit unter Beseitigung des Übels „an der Wurzel" ist,wenn die Gefahr der Aktualisierung dieser Prinzipien besteht, nichtmehr die Rede.

4. Die Entstehung der Arbeiterorganisationen

Die Zusammenballung der Arbeiter in Fabriken war eine entscheiden-de Bedingung dafür, daß sie sich selbst ihrer gemeinsamen Lage undalso gemeinsamen Interessen in der bürgerlichen Gesellschaft bewußtwerden konnten, daß sie also Klassenbewußtsein130 entwickelten.Die Entwicklung von Klassenbewußtsein hatte zur Folge und wurdegleichzeitig gefördert dadurch, daß die Arbeiter sich organisatorischzusammenschlossen, um solidarisch die gemeinsamen Interessen gegendas Bürgertum wahrzunehmen. Im Laufe der geschichtlichen Ausein-andersetzungen entwickelten sie zwei Formen der Organisation: zurDurchsetzung von wirtschaftlichen und sozialen Forderungen schlos-sen sie sich in Gewerkschaften zusammen; für die Organisierung ihrerauf die Gesamtgesellschaft bezogenen politischen Kämpfe bildeten sieArbeiterparteien.

Die sich im 19. Jahrhundert vollziehende Entstehung der Arbeiter-organisationen wird auch in den Schulgeschichtsbüchern behandelt;die Autoren betrachten die Selbstorganisation der Arbeiter durchausals wichtigen Beitrag zur Lösung der „Sozialen Frage".

Insbesondere die Gewerkschaften und die stets im Zusammenhangmit ihnen dargestellten Genossenschaften werden durchweg positivbewertet, da sie wirtschaftlich-soziale Zugeständnisse von den Unter-nehmern auf nicht-revolutionärem Wege erzwangen:

„Durch einen friedlichen Wirtschaftskampf ihrer Organisationen, der Gewerk-schaften (Trade unions) und Genossenschaften, verbesserten die Arbeiter (inEngland, d. Verf.) allmählich ihre Lage." (Klett I, S. 211)

„Diejenigen (englischen, d. Verf.) Arbeiter aber, die in den Gewerkschaftennicht auf den Staatsumsturz, sondern auf die allmähliche Verbesserung der sozi-alen und politischen Verhältnisse abzielten, blieben am Ende dennoch erfolg-reich." (Diesterweg II, S. 233)

„Die Gewerkschaft vertritt die gemeinsamen Interessen der Arbeitnehmer ge-genüber den Arbeitgebern (vor allem Arbeitsbedingungen, Lohn, Arbeitszeit).Durch diesen Zusammenschluß wird die Stellung des einzelnen Arbeiters erheb-lich gestärkt." (Schroedel III, S. 51)

76

Page 77: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Das letzte Zitat besagt richtig, daß die Arbeiter „gemeinsame Inter-essen" haben, und zwar „gegenüber" den Unternehmern — Arbeiterund Unternehmer stehen folglich in einem Interessengegensatz. Daßsie von den Schulbuchautoren bei der Darstellung des 19. Jahrhun-derts als Vertreter gegensätzlicher Interessen bezeichnet werden, im20. Jahrhundert aber als „Sozialpartner", ist ein offensichtlicher Wi-derspruch sowohl innerhalb der Darstellung als auch zur bundesrepu-blikanischen Realität, denn die Arbeiter haben ja nach wie vor „ge-meinsame Interessen . . . gegenüber den Arbeitgebern (vor allem Ar-beitsbedingungen, Lohn, Arbeitszeit)". Ein zweiter Widerspruchbleibt ungeklärt: was bedeutet „friedlicher Wirtschaftskampf?" Wiekann Kampf friedlich sein? Insgesamt legen die Zitate den Schülernnahe: angemessen und erfolgreich ist allein eine solche Politik, die auf„allmähliche Verbesserung" zielt. Schon hier ist erkennbar, daß diekurz vorher formulierte These von der Notwendigkeit, das soziale Pro-blem an der Wurzel zu packen und also grundlegend umzugestalten,für die reale Politik der Arbeiterbewegung keine Geltung haben darf.

Was die Geschichte der Arbeiterparteien betrifft, so haben sich zweipolitische Richtungen herausgebildet, auf die die Geschichtsbücherauch eingehen: Marxisten und Reformisten. Zum Verständnis der bei-den Richtungen ein kurzer Blick auf deren Genese.

Beiden Richtungen gemeinsam war zunächst die allgemeine Zielset-zung: sie kämpften sowohl für die Beseitigung aktueller sozialer undpolitischer Mißstände (zum Beispiel für die Behebung der Wohnungs-not, für höhere Löhne, für die Einführung des allgemeinen Wahlrechts)als auch für die Beseitigung des grundlegenden Widerspruchs derbürgerlichen Gesellschaft zwischen Lohnarbeit und Kapital, d.h. füreine sozialistische Gesellschaft. Umstritten war in der Arbeiterbewe-gung von Beginn an der Weg, auf dem das langfristige Ziel, der Sozia-lismus, erreicht werden sollte.

Die eine Richtung, deren theoretische Grundlagen vor allem durchKarl Marx erarbeitet wurden, forderte die Überwindung des Kapitalis-mus durch die nationale und internationale Revolution der Arbeiter-klasse. Die Marxisten lehnten (und lehnen) Reformen keineswegs ab,hielten sie auch nicht für unwesentlich, verwiesen aber darauf, daßdurch Reformen stets nur Symptome des Kapitalismus kuriert, nichtaber die Ursachen der Mißstände beseitigt werden können. Zum Bei-spiel setzten sich die Marxisten seit jeher für Lohnerhöhungen ein; siebetonten dabei aber immer, daß das langfristige Ziel nicht stets aufsneue erkämpfte Lohnerhöhungen sein können, sondern nur die Ab-schaffung des Lohnsystems selbst (das, wie gezeigt, ein Ausbeutungs-verhältnis b e i n h a l t e t ) 1 3 1 . Kämpfe um die Durchsetzung tagespoliti-scher Forderungen wurden darum von den Marxisten zwar einerseitsals unmittelbare Verbesserung der Lage der Arbeiter für notwendig ge-halten, andererseits aber in der längerfristigen Perspektive als Mittel zur Stärkung der eigenen Bewegung auf dem Weg zum Sozialismus be-t r ach t e t . 1 3 2

77

Page 78: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Dagegen behauptete die zweite Gruppe, daß durch Reformen inner-halb des Systems — zum Beispiel die Einführung des allgemeinenWahlrechts (Lassalle) — die Lage der Arbeiter grundlegend verändertwerden könne; diese Richtung wird als die reformistische bezeichnet.Das sozialistische Ziel, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel,hielten die Reformisten allerdings zunächst noch aufrecht.

Während im 19. Jahrhundert bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhun-derts hinein die marxistische Richtung in der internationalen Arbeiter-bewegung die Führung innehatte, erstarkte in den Jahren vor dem Er-sten Weltkrieg der Reformismus zusehends. Die Auseinandersetzungenzwischen beiden Richtungen und insbesondere die Zustimmung der Re-formisten zu den Kriegskrediten 1914 führte bis zum Beginn der 20erJahre zur organisatorischen Spaltung der Arbeiterbewegung: die sozial-demokratischen Parteien verfochten weiter die These von der Reformie-rung des Kapitalismus und waren in der Praxis, zum Beispiel in Deutsch-land, sogar bereit, das sozialistische Ziel aufzugeben, um im Bündnis mitbürgerlichen Parteien an der Regierung beteiligt zu werden. Die Mehr-heit der marxistisch orientierten Arbeiter sammelte sich in den nach1918 neu entstandenen kommunistischen Parteien.

Diese hier skizzierte Herausbildung der beiden Hauptrichtungen derArbeiterbewegung wird als Faktum auch in den Schulbüchern er-wähnt. Die Spaltung der Arbeiterbewegung in zwei Richtungen, insbe-sondere das Erstarken des Reformismus bis zum Ersten Weltkrieg,wird allerdings nicht aus der politischen und ökonomischen Entwick-lung in Deutschland abge l e i t e t 1 3 3 , sondern statt dessen in einigenBüchern personalisierend erklärt, nämlich mit den verschiedenen„Denkweisen" der Führer der Arbeiterparteien (Marx, Bebel, Lieb-knecht, Lassalle). Ein extremes Beispiel für derartige Personalisierungliefert einmal mehr der Klettsche „Grundriß der Geschichte":

„Offensichtlich lebten in Marx selbst zwei Seelen: eine wissenschaftlich-evo-lutionistische, die abzuwarten mahnte, und eine agitatorisch-revolutionäre, dieschon 1871 — mit der Pariser Kommune — den Anbruch der sozialistischenWeltordnung erhoffte. So konnten später zwei verschiedene Richtungen desMarxismus entstehen: Sozialdemokratie und Kommunismus." (Klett II, S. 60)

Hier wird also die Ursache der Spaltung der Arbeiterbewegung indas Seelenleben von Marx selbst verlegt. Andere Bücher erklären dasErstarken des Reformismus dadurch, daß dieser — im Gegensatz zuden angeblich wirklichkeitsfremden Marxisten — eine realistische Ein-schätzung der Wirklichkeit entwickelt habe:

Die Entwicklung der SPD „zur stärksten Partei des Reiches war innerparteilichmit zahlreichen Richtungskämpfen verbunden, die an den ursprünglichen Gegen-satz von Marx und Lassalle erinnerten. Während die ,Revisionisten' unter Füh-rung Eduard Bernsteins die Marxschen Theorien mit der tatsächlichen Lage ver-glichen, hielten Bebel, Kautsky und Rosa Luxemburg an den Lehren von KarlMarx fest und erstrebten den radikalen Umsturz in einer proletarischen Revolu-tion. Den Revisionisten erschienen jedoch wie den Freien Gewerkschaften prak-tische Teilerfolge wichtiger als eine illusionäre chiliastische Heilserwartung."(Schroedel/Schöningh II, S. 62)

78

Page 79: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Hier werden also die Reformisten, die um „praktische Teilerfolge"kämpften, den Marxisten gegenübergestellt, die vor lauter idealisti-schen Hirngespinsten den Blick für die Wirklichkeit längst verlorenhätten. Den Marxisten wird damit fälschlich unterstellt, sie seien, inHeilserwartung erstarrt, gar nicht mehr zur Praxis vorgestoßen undhätten „praktische Teilerfolge" abgelehnt. Derartige Geschichtsverzer-rungen dienen dazu, die Parteinahme der Schulbuchautoren für die re-formistische Richtung der Arbeiterbewegung begründen zu können.Die sozialistische („radikale") Perspektive wird denunziert, weil ihreVerwirklichung die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft aufhebenwürde; „Teilerfolge" gelten als zulässig, solange sie Verbesserungen in-nerhalb der bestehenden Gesellschaft erreichen und diese selbst nichtin Frage stellen. Vom Anpacken der „Sozialen Frage" an der Wurzelist jetzt nicht mehr die Rede.

Daß überhaupt eine so abwegige Richtung wie der Marxismus in derArbeiterschaft Anhang gewinnen konnte, bedarf allerdings einer Er-klärung. Die Geschichtsbücher meinen:

„Es war ein Verhängnis für das liberale Bürgertum, daß es seine politischenAnschauungen mit sozialer Rückständigkeit verband. Nur auf diesem Hinter-grund ist zu verstehen, daß . . . in Deutschland . . . eine große ,marxistische' Ar-beiterpartei entstand, in der sich der Gedanke des Klassenkampfes durchsetzte."(Klett II, S. 55)

„Der Arbeiter sah sich ausgestoßen aus der Volksgemeinschaft und verachtetvon Adel und Bürgertum. Es ist darum nicht zu verwundern, daß er in eineKampfstellung gegenüber anderen Gesellschaftsschichten und dem von diesen ge-tragenen Staat trat." (Diesterweg VII , S. 99 )

Hinter der ersten Variante steht die Auffassung, daß der Revolu-tionsgedanke im allgemeinen und der Marxismus im besonderen nurdann eine Massenbasis findet, wenn wirtschaftliche Not das Volk ambestehenden System zweifeln läßt. Diese Ansicht durchzieht die Dar-stellung der gesamten Geschichte der Arbeiterbewegung, von der Rus-sischen Revolution („Die soziale Lage dieser ,Proletarier' war schlecht.Revolutionäre Wortführer fanden bei ihnen viel Anklang." Schroedel/Schöningh V, S. 7) über die Weimarer Republik („Die wirtschaftlicheNotlage radikalisierte die Wählerschaft." Schroedel/Schöningh V, S.113) bis zur BRD („Der steigende Lebensstandard bei Vollbeschäfti-gung hat dem Klassenkampfgedanken weithin den Boden entzogen."Schroedel III, S. 103) . Aus der Tatsache, daß ökonomische Krisen dieBereitschaft der Massen zu grundlegenden gesellschaftlichen Änderun-gen verstärken, indem sie nämlich die Widersprüche des bestehendenSystems in verschärftem Ausmaß erfahrbar machen, ziehen die Schul-buchautoren den falschen Schluß, daß der Marxismus grundsätzlich nur bei Arbeitslosen und Hungerleidern Anklang fände — was falschund empirisch widerlegbar ist. Die zweite Variante erklärt den Marxis-mus zur Haltung der Ausgestoßenen. Da wäre freilich zu fragen, wes-halb nicht Zigeuner, Landstreicher und Obdachlose seine vehemente-sten Vertreter sind.

Mit der Darstellung der beiden Hauptrichtungen der Arbeiterbewe-

79

Page 80: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

gung ist für die Schulbücher die weitere Behandlung der „SozialenFrage" vorstrukturiert. Diese steht nämlich unter der übergreifendenFrage, welche der beiden Richtungen „Recht hat": ist es möglich, die„Soziale Frage" innerhalb des bestehenden Systems zu lösen odermuß eine sozialistische Umwälzung stattfinden?

5. Bismarck — mit Zuckerbrot und Peitsche

Für die Entwicklung in Deutschland war es nach Ansicht der Ge-schichtsbuchautoren von zentraler Bedeutung, daß der Staat die ihmvon der liberalen Wirtschaftsauffassung diktierte passive Rolle imWirtschaftsablauf aufgab und sich statt dessen „durch direkte sozialeMaßnahmen" (Hirschgraben II, S. 6 3 ) der „wirtschaftlich Schwachen"(ebenda) annahm. Der erste Staatsmann, der auf diese Weise staatlicheSozialpolitik betrieb, war Bismarck:

„Bismarck erkannte, daß der Arbeiter ein wichtiges und wertvolles Glied imStaate geworden war, dem vom Staat geholfen werden müsse." (Diesterweg VII ,S. 103)

Die unter Bismarck und seinen Nachfolgern bis zum Ersten Welt-krieg durchgeführten ersten Maßnahmen der Sozialversicherung wer-den in den Schulbüchern detailliert beschrieben. Dabei erweckt dieDarstellung in den meisten Büchern den Eindruck, als wäre die Sozial-politik das Produkt eines plötzlich erwachenden „sozialen Gewis-sens" einzelner Politiker (vgl. oben: „Bismarck erkannte . . . " ) undUnternehmer. Unterschlagen wird durch eine solche Darstellung, daßdie sozialen Verbesserungen von der Arbeiterbewegung in harten Aus-einandersetzungen erkämpft worden sind, daß zum Beispiel Bismarckdie Sozialgesetzgebung genau zu dem Zweck durchführen ließ, um dieimmer stärker werdende Arbeiterbewegung zu befrieden und von wei-teren Kämpfen abzuhalten. Nur einige der Schulbücher geben für dieZeit des Kaiserreiches zu, daß die Besserstellung der Arbeiter vonihnen selbst und ihren Organisationen erkämpft werden mußte; zumBeispiel:

„Das Sozialistengesetz hatte . . . die Arbeiter in eine erbitterte Ablehnung desBismarck-Reiches getrieben. Bismarck kannte diese Haltung der Arbeiterschaftund versuchte ihr ab 1881 . . . durch materielles Entgegenkommen zu begeg-nen." (Schroedel/Schöningh II, S. 62 )

Bei der Darstellung von Weimarer Republik und BRD aber unter-schlagen die Schulgeschichtsbücher fast durchweg, daß die in dieserZeit eingeführten sozialen Maßnahmen — wie z. B. Einführung der5-Tage-Woche, Gewährung von bezahltem Urlaub usw. — Stück fürStück in zähen und langwierigen Auseinandersetzungen zwischen Ar-beiterorganisationen und Unternehmern durchgesetzt werden mußten.Damit erscheinen die bürgerliche Klasse und ihr Staat als die handeln-den Subjekte, die Masse der Bevölkerung dagegen als bloßes Objektder Geschichte.

Daß trotz der als „ungeheure Leistung Bismarcks und eine große so-

80

Page 81: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

ziale Tat" (Klett II, S. 62) angepriesenen Sozialpolitik das damit ver-folgte Ziel — die Integration der Arbeiter in die bürgerliche Gesell-schaft — nicht erreicht wurde, lasten die Schulbuchautoren dem auto-ritären Regierungsstil Bismarcks, insbesondere dem Sozialistengesetzan: Da die „Soziale Frage" aus zwei Elementen bestanden habe,nämlich der Beseitigung der sozialen Not und der gesellschaftlichenRechtlosigkeit, habe Bismarck sie nicht lösen können. Er habe zwareine für die damalige Zeit vorbildliche Sozialgesetzgebung („Zucker-brot") geschaffen, den Arbeitern aber die politischen Bürgerrechteverweigert und sie sogar unterdrückt, indem er mit dem Sozialistenge-setz ihre Organisierung zu unterbinden suchte („Peitsche"):

„Mit der Sozialversicherung war Deutschland der übrigen Welt um eine Gene-ration voraus . . . Bezeichnend für die deutschen Verhältnisse aber war, daß dieseSozialversicherung nicht nach dem englischen Grundsatz der Selbsthilfe, sondernnach dem des Obrigkeitsstaates organisiert war: Staat und Bürokratie entwarfendas Werk, leisteten Beihilfe, behielten die obrigkeitliche Leitung. Gleichzeitig er-weiterten sie ihre Autorität und verfolgten die selbständige Arbeiterbewegung."(Klett II, S. 62)

„Die vom Reich vor dem Ersten Weltkrieg verfolgte Sozialpolitik hatte zu je-ner Zeit keine Parallele in irgendeinem Industriestaat der Welt. Dennoch erreich-te sie nicht ihr Ziel, den deutschen Arbeiter mit seinem Staat zu versöhnen undseine Klasse in das gesellschaftliche Gefüge des Kaiserreiches einzuschmelzen.Das volle Koalitionsrecht wurde ihr versagt; in Preußen und Sachsen war der ihrzustehende Anteil am politischen Gestalten durch das Dreiklassenwahlrecht ver-wehrt; die Bildungschancen der Arbeiterklasse und damit ihre Aufstiegsmöglich-keiten waren gering . . . " (Schroedel/Schöningh III, S. 63)

Der Arbeiter konnte also im Kaiserreich — trotz des konstatiertenMangels an Demokratie — „seinen Staat" erblicken. Das Kaiserreichals Arbeiterstaat, das ist in der Tat eine originelle Geschichtsauffas-sung. Zugrunde liegt offenbar die Ansicht, daß der Arbeiter sich mitdem jeweils bestehenden Staat zu identifizieren habe. Diese autoritäreStaatsauffassung kann ihre Verwandtschaft mit der faschistischennicht ver leugnen! 1 3 4

Als Maßstab der Kritik des deutschen Obrigkeitsstaates dient in denSchulbüchern die parlamentarische Demokratie; da hier Koalitions-recht, allgemeines Wahlrecht und — nach Meinung der Schulbuchauto-ren — offenbar auch „Bildungschancen der Arbeiterklasse" gegebensind, hätte ein solches System die Forderungen der Arbeiter also er-füllt. Daß „die Bildungschancen der Arbeiterklasse und damit ihreAufstiegschancen" in der bundesrepublikanischen Realität nach wievor sehr gering sind, wird in den Geschichtsbüchern allerdings unter-schlagen (einzige Ausnahme: Diesterweg VI, S. 2 5 2 ) . Die Vergangen-heitsform des Verbs („war") suggeriert vielmehr das Gegenteil. UrsJaeggi stellte dagegen 1969 mit Recht fest: „Am negativen Bildungs-privileg der unteren Schichten besteht kein Zweifel: sowohl bei denAbiturienten als auch bei den Studenten sind die Arbeiterkinder mit 5 bis 7 Prozent, gemessen an dem Arbeiteranteil der Bevölkerung, starkunterproportional vertreten." 1 3 5 Und noch im Jahre 1973 beträgt

81

Page 82: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

nach einer von der GEW veröffentlichen Statistik der Anteil der Ar-beiterkinder an den Studenten in der BRD nur 5,2 Prozent, obwohldie Arbeiter 49,8 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen! 1 3 6

6. Die „Lösung" der „Sozialen Frage" von der Weimarer Republik biszur B R D

Die Maßnahmen zur Lösung der „Sozialen Frage" in der Weimarer Re-publik werden in den Schulbüchern als Ausweitung der im Kaiserreichbetriebenen Politik angesehen. Betont wird die Einführung der parla-mentarischen Demokratie durch die Verfassung der Republik (vgl.auch den Abschnitt über den Untergang der Weimarer Republik indiesem Buch), aber auch die Fortführung und Weiterentwicklung sozi-alpolitischer Maßnahmen:

„Über das Kaisserreich hinausgehend, fühlte sich die Politik der Republik füralle Lebensbereiche des Menschen sozial verantwortlich; das zeigte sich vor allemdarin, daß die Sozialpolitik sich nicht allein auf den Arbeits-, sondern auch aufden Lebensraum des arbeitenden Menschen erstreckte . . . " (Schroedel/Schöningh VIII, S. 88)

„Gewachsen war der Einfluß der Funktionäre der großen Interessenvertretun-gen, der Gewerkschaften und der Industriellenverbände . . . Die Gewerkschaftenkonnten für die Arbeiter eine gewisse Anpassung der Löhne an die steigende Pro-duktivität erreichen . . . Der Staat war bemüht, den Wirtschaftsaufschwung zu-gunsten breiterer Kreise des Volkes auszunutzen . . . Lohn und Arbeitsbedingun-gen verbesserten sich." (Schroedel/Schöningh II, S. 110—112)

Die auch für die BRD angewandte formale Gleichsetzung von Ge-werkschaften und Industriellenverbänden als „große Interessenvertre-tungen" verschleiert die Tatsache, daß die „Größe" der beiden Grup-pen von sehr unterschiedlicher Qualität war und ist. Die Gewerkschaf-ten vertraten die Interessen der großen Mehrheit der abhängig arbei-tenden Menschen (über 70 Prozent der Bevölkerung waren lohnab-hängig; heute sind es über 80 P r o z e n t 1 3 7 ) . Allein die Mitgliederzahldes Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) betrug 1971 über 6,8 Mil-l i o n e n . 1 3 8 Die Unternehmerverbände dagegen repräsentieren einewinzige Minderheit der Gesamtbevölkerung (1968 besaßen 1,7 Pro-zent aller Haushalte der BRD 70 Prozent des Betriebs- und Kapitalver-m ö g e n s 1 3 9 ) ; ihre Macht („Größe") beruht auf den gewaltigen wirt-schaftlichen und damit auch politischen Mitteln, die sich in denHänden der Großindustrie konzentrieren. Die Losung „Millionen ge-gen Millionäre" kommt daher den realen Machtverhältnissen in derBRD sehr viel näher als die nichtssagende bzw. die Realität verschlei-ernde Formel von den „großen Interessenvertretungen". Dies war imPrinzip auch in der Weimarer Republik schon der Fall.

Im Kern war also nach Auffassung der Schulbücher die Lösung der„Sozialen Frage" in der Weimarer Republik bereits angelegt; die „So-zialpartnerschaft" von Lohnarbeit und Kapital war hier schon ansatz-weise verwirklicht. Aber:

82

Page 83: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

„Trotz aller Bemühungen der Weimarer Republik konnte die soziale Fragenicht befriedigend gelöst werden . . . " (Schroedel/Schöningh VIII, S. 89)

Als Gründe dafür werden zum einen der Mangel an „demokrati-schem Denken" (vgl. auch das Kapitel über den Untergang der Weima-rer Republik), vor allem aber die Hilflosigkeit gegenüber dem Phäno-men der Arbeitslosigkeit angeführt:

„Die Zahl der Arbeitslosen nahm von 1925 — 1933 zu. Daraus erklärt sich auchdie Zunahme der KPD-Stimmen." (Schroedel/Schöningh VIII, S. 89)

Die der Weimarer Republik nachfolgende Epoche, die nationalsozia-listische Diktatur, brachte nach Ansicht der Schulbuchautoren dieschon recht weit fortgeschrittene Lösung der „Sozialen Frage" zeit-weilig zum Stillstand bzw. warf sie sogar wieder zurück. Zwar führteauch Hitler einige sozialpolitische Maßnahmen durch (Wohnungsbau,Reisen, Teilnahme der Arbeiter am „kulturellen Leben" usw.), dochbedeuteten die Zerschlagung der Gewerkschaftsorganisationen, dieAbschaffung des Streikrechts, die Aufhebung der Freizügigkeit u. a.einen gesellschaftspolitischen Rückschlag für die Arbeiter:

„Trotz KdF und aller Reden von der ,Würde der Arbeit' fiel der Arbeiter aufden Stand zurück, den er überwunden zu haben glaubte: über ,Arbeitseinsatz'und Dienstpflicht wurde er Objekt der staatlichen Planungen . . . " (Schroedel/Schöningh VIII, S. 119/120)

Diese im Vergleich zum Durchschnitt der Schulbücher kritische Ein-schätzung der Lage der Arbeiter während des Nationalsozialismuswird selbst wieder unkritisch, weil die Autoren es dann später unter-lassen, darauf hinzuweisen, daß mit den bundesrepublikanischen Not-standsgesetzen eine neue juristische Handhabe gegeben ist, mittels„Arbeitseinsatz" und „Dienstpflicht" den Arbeiter wieder zum „Ob-jekt der staatlichen Planungen" zu machen. Die Kriterien für „Span-nungszeiten" und „Verteidigungsfälle", in denen die Notstandsgesetzeangewendet werden sollen, sind so weit gefaßt, daß ein ähnliches „Zu-rückfallen" (s. o.) der Arbeiter in der BRD zwar noch nicht Realität,aber immerhin eine dauernde latente Gefahr für die arbeitende Bevöl-kerung i s t . 1 4 0

Nachdem die nationalsozialistische Herrschaft abgehandelt ist, kom-men die Schulbuchautoren sämtlich zu der Epoche, in der sie die End-lösung der „Sozialen Frage" als erreicht ansehen: zur BundesrepublikDeutschland. Zwar gestehen die Autoren durchaus zu, daß es in derBRD noch ungelöste soziale Probleme gibt — z. B. die Bildungspolitik(vgl. Schroedel/Schöningh VIII , S. 194) , das Gastarbeiterproblem (vgl.Schroedel III, S. 105) , die Vermögensverteilung (vgl. Schroedel/Schöningh VIII , S. 194) , u. a. m. — doch die grundsätzliche Problema-tik der „Arbeiterfrage" (Schroedel III, S. 103) sehen sie durch das be-hauptete hohe Ausmaß an politischer Demokratie sowie durch dieEinführung der „Sozialen Marktwirtschaft" als erledigt an:

„Abschließend muß man feststellen, daß es in den westlichen Ländern einesoziale Frage im Sinne von Marx und Engels nicht mehr gibt." (Diesterweg VII,S. 109)

Hier wird also nicht nur behauptet, die „Soziale Frage" sei in der

83

Page 84: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

BRD gelöst, sondern es werden als Zeugen für diese Behauptung sogarnoch Marx und Engels herangezogen. Marx und Engels als (unbewuß-te) Vorkämpfer der „Sozialen Marktwirtschaft" — eine einzigartigeVerdrehung, die ihren Sinn nur darin haben kann, dem Schüler weis-zumachen, der Marxismus sei inzwischen völlig überholt. Im übrigenzu der angeblich nicht mehr existenten „Sozialen Frage" „in denwestlichen Ländern" ein paar dürre Fakten: in den USA beträgt dieArbeitslosigkeit seit 20 Jahren zwischen 4 und 6 Millionen, von denelenden Lebensbedingungen der Farbigen ganz zu schweigen; in Eng-land, Italien, Kanada und anderen kapitalistischen Ländern gibt es jeetwa 1 Million Arbeitslose; in Griechenland, der Türkei, Süditalien,Lateinamerika leben die Massen physisch wie geistig verelendet. Vonalledem haben die Schulbuchautoren offenbar noch nichts vernom-men.

Einige Bücher stimmen einen emphatischen Lobgesang auf die „So-ziale Marktwirtschaft" an:

„Der sozialen Marktwirtschaft . . . ist der wirtschaftliche Wiederaufbau derBRD zu verdanken. Diese Wirtschaftsform wird heute von allen Parteien grund-sätzlich bejaht und ist ein Kompromiß zwischen ihnen. Sie schuf einen Spiel-raum, in dem sich die Phantasie und Tatkraft der Unternehmer und der Lei-stungswille und die Fähigkeiten der Arbeitnehmer treffen und auseinandersetzenkonnten." (Klett VI, S. 184)

Die „Soziale Marktwirtschaft" „unterscheidet sich von der liberalen Wirt-schaft alter Prägung dadurch, daß sie im freien Spiel der Kräfte Schutz für denwirtschaftlich Schwachen bieten will . . . So hat die soziale Marktwirtschaft dieVorteile der früheren Marktwirtschaft übernommen, ist aber bestrebt, ihre Nach-teile zu vermeiden." (Hirschgraben II, S. 62/63)

Das Idealbild ist also: Kapital und Arbeiterklasse sind „Sozialpart-ner"; der Staat ist die unparteiische Instanz über beiden, der „denwirtschaftlich Schwachen" schützt und Konflikte zwischen den„Partnern" schlichtet. Dieses harmonische Dreigestirn führt die Arbei-ter nach Auffassung einiger Schulbuchautoren 1 4 1 in ein wahres Para-dies:

„Die Arbeiterschaft . . . hat die rechtliche und soziale Gleichstellung endgültig errungen. Der steigende Lebensstandard bei Vollbeschäftigung hat dem Klassen-kampfgedanken weithin den Boden entzogen, und die Sozialversicherung gibtgegenüber den Wechselfällen des Lebens Schutz. Der Lohn des einzelnen . . .übersteigt durchweg das Existenzminimum, und die Arbeitszeit ist auf ein gesun-des Maß gesunken . . . So sind dem Arbeitnehmer seine wesentlichen Forde-rungen erfüllt worden: Koalitionsrecht, Streikrecht, Versicherungsschutz, Mit-sprache im Betrieb, starke Gewerkschaften, bezahlter Urlaub, gute Arbeits- undbessere Lebensbedingungen." (Schroedel III, S. 103/104; Hervorhebungen vonuns)

Auch hier zeigt erst genaues Lesen die Position der Schulbuchauto-ren. Die Gleichstellung der Arbeiter wird als „endgültig" bezeichnet — was nur heißen kann, daß weitere Forderungen überflüssig, maßlosund unzulässig sind. Die Arbeitszeit sei auf ein „gesundes Maß" gesun-ken. Weitere Senkungen der Arbeitszeit sind also „ungesund". Unge-sund für die Arbeiter? Oder nicht vielmehr ungesund für die Profitra-

84

Page 85: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

te der Unternehmer? Die Forderungen nach Koalitionsrecht undStreikrecht seien „erfüllt". Tatsächlich sind diese Rechte durch par-tiell reaktionäre Gesetze wie das Betriebsverfassungsgesetz unddurch die durchgängig reaktionäre Rechtsprechung der Arbeitsge-richte wesentlich eingeschränkt und selbst in dieser eingeschränktenForm vor allem durch die Notstandsgesetze permanent bedroht.Weiter behaupten die Verfasser, die Arbeiter hätten „Mitsprache imBetrieb" erreicht. Diese Behauptung ist ein Hohn, wenn man be-denkt, wie heftig die Unternehmer die Mitbestimmungsforderungender Gewerkschaften abweisen. Die Schulbuchautoren sind also dergleichen Meinung wie die Unternehmer: eine weitere Einschränkungder „freien Unternehmerentscheidung" sei abzulehnen, hier habeDemokratie ihre Grenze. Führende Wirtschaftszeitungen sprechendie Unternehmerposition offen aus, wenn sie behaupten, Betriebekönnten ebensowenig demokratisiert werden wie Zuchthäuser undKasernen . 1 4 2 Welches Demokratieverständnis also haben die Unter-nehmer und die Autoren dieses Schulbuchzitats? Die „guten Ar-beitsbedingungen" schließlich sind bestenfalls Postulat, nicht aberRealität. Die steigende Zahl der physischen und psychischen soge-nannten Abnutzungskrankheiten in unserer „Leistungsgesellschaft"stehen in offensichtlichem Widerspruch zu dieser Schulbuchthese.„In der nüchternen Sprache der Statistik sieht das so aus: von 100Sozialrentnern müssen 34 Rente beziehen, obwohl sie noch im ar-beitsfähigen Alter stehen. Im Durchschnitt sind heutzutage die Ar-beiter und Angestellten mit 55 Jahren — also zehn Jahre vor dergesetzlichen Altersgrenze — invalid. 78 847 Bergarbeiter erkranktenzwischen 1946 und 1964 an Silikose, und 3468 Bergleute mußtenan dieser Krankheit sterben. Die Zahl der angezeigten Arbeits- undWegeunfälle sowie der Berufskrankheiten beläuft sich bereits auf3 Millionen pro Jahr. Sie kosteten seit 1950 rund 128 000 Arbeiterund Angestellte das L e b e n . " 1 4 3

Doch zurück zur Darstellung der Schulbücher. Daß sie die „SozialeFrage" in der BRD als gelöst ansehen, schlägt sich auch in den ver-wendeten Begriffen nieder:

„Wie bezeichnet man die Kapitalisten heute? Unternehmer, Arbeitgeber, So-zialpartner'." (Klett VIII, S. 21, „Handreichungen für den Lehrer"!)

Wenn das keine Indoktrination ist . . .„Die Klassengesellschaft der Zeit des Hochkapitalismus wird heute als eine

Ubergangserscheinung angesehen, die das Auseinanderklaffen der Gesellschaft inzwei Gruppen aufweist, die durch Kapital und Arbeit, durch großen Reichtumund Ungesichertsein (Proletariat) bestimmt sind und einander feindlich gegen-überstehen." (Schroedel III, S. 109, Hervorhebungen von uns)

Davon abgesetzt wird die „moderne Industriegesellschaft" (ebenda),die auch als „Wohlstandsgesellschaft" (ebenda), „Massengesellschaft"(ebenda) oder als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft" (Schroedel III,S. 106) bezeichnet wird — nur eben nicht mehr als Klassengesell-schaft.

85

Page 86: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Nach dieser begrifflichen „Abschaffung" der Klassengegensätzedurch die Schulbuchautoren muß in ihren Augen die Funktion derSPD als Arbeiterpartei überflüssig werden. Darum begrüßen alle Ge-schichtsbücher das Godesberger Programm, mit dem die deutsche So-zialdemokratie die Klassenkampfgedanken endgültig zu den Akten ge-legt habe:

Die SPD „hatte inzwischen mit ihrem Godesberger Programm (1959) den Wegzu einer Volkspartei eingeschlagen, weg von marxistisch ideologischer Enge, unddamit die Konsequenzen gezogen aus dem Verhalten der deutschen Wähler,deren Mehrheit sie nicht für ein marxistisches Programm hatte gewinnen kön-nen." (Klett II, S. 242)

„Seit die SPD die Reste marxistischen Gedankengutes mit dem ,GodesbergerProgramm' (1960) aufgegeben hatte, gelang es ihr, ihren Stimmenanteil zu ver-größern." (Schroedel/Schöningh V, S. 2 3 5 / 2 3 6 )

7. Die „Soziale Frage" im „Bolschewismus"

Während also die Geschichtsbücher einerseits an Hand der Geschichteder deutschen Arbeiter die schrittweise und heute angeblich ganz voll-zogene Lösung der „Sozialen Frage" in den hochentwickelten kapita-listischen Ländern zu zeigen versuchen, wollen sie andererseits durchdie Darstellung der Geschichte und Gesellschaftsstruktur der beste-henden sozialistischen Länder beweisen, daß der dort beschritteneWeg — die „radikale sozialistische Lösung" (Diesterweg VII , S. 104) — keine positive Lösung der „Arbeiterfrage" bietet. Die soziale Lage derArbeiter in den sozialistischen Ländern sei systembedingt schlechterals in den westlichen Staaten; hinzu komme der „Verlust der Frei-heit" (Hirschgraben II, S. 64) auf politischem Gebiet. Die Schulbücherentwerfen ein wahres Schreckensbild „bolschewistischer Wirklichkeit"(Schroedel/Schöningh VIII , S. 6 6 ) .

Die materielle Lage der Arbeiter und Bauern besonders in der So-wjetunion wird in den meisten Schulbüchern als hart und entbehrungs-reich geschildert:

„Die Arbeitslosigkeit wurde beseitigt, aber der Arbeiter in der UdSSR erlittviel größere materielle Entbehrungen als der Arbeitslose in manchen ,kapitalisti-schen' Ländern . . . " (Klett IX , S. 28)

„An die Stelle der Brüderlichkeit des internationalen Proletariats trat der na-tionale russische Machtstaat, für dessen Größe auch die russischen Bauern undArbeiter durch Konsumverzicht Jahrzehnte währende Opfer zu bringen hat-ten . . . " (Schroedel/Schöningh VIII , S. 66)

Die Frage, zu welchem Zweck und in wessen langfristigem Interessedieser „Konsumverzicht" in den sozialistischen Ländern geleistet wor-den i s t 1 4 4 , wird entweder gar nicht gestellt oder aber mit plumperGeschichtsfälschung beantwortet. Für letzteres ein Beispiel:

„Von Anfang an dienten Wirtschafts- und Militärpolitik in erster Linie derMacht des Staates, d. h. der den Staat beherrschenden einen Partei, an derenSpitze ein Mann mit einer durch Terror abgesicherten unumschränkten Machtstand (Lenin, später Stalin) . . . " (Schroedel/Schöningh VIII , S. 66)

86

Page 87: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Die Verfasser dieses Zitats dürften schwerlich Beweise für ihre Be-hauptung liefern können, daß die beschleunigte Industrialisierung derSowjetunion allein im persönlichen Interesse Lenins und Stalinsdurchgeführt wurde und den Massen keine Verbesserungen brachte.

Zumindest die neuesten Ausgaben der Schulbücher vermerken, daßdie materielle Versorgung der Bevölkerung in den letzten Jahren kon-tinuierlich besser geworden ist. Um dennoch weiterhin die pauschaleDenunzierung des Sozialismus aufrechterhalten zu können, behauptendaher einige Schulbücher, daß die materielle Lage ohnehin nicht sowichtig sei; es komme vielmehr auf die mangelnde „Freiheit" an:

„Die wichtigste Frage bei der Beurteilung der Zentralverwaltungswirtschaft istjedoch nicht die nach der Produktion. Vielmehr war und ist der Kommunis-mus . . . mit dem totalitären Staat verknüpft, der keine Grundrechte, keine frei-en Wahlen, keine Gewaltenteilung kennt. Solange die staatlichen und die wirt-schaftlichen Aufgaben in einer Hand liegen, ist in der Zentralverwaltungswirt-schaft keine politische Freiheit für den einzelnen möglich." (Klett VI , S. 182)

Einmal abgesehen von der Tatsache, daß hier ganz einfach Lügen indie Darstellung einfließen (daß es in den sozialistischen Ländern „kei-ne Grundrechte" g ä b e 1 4 5 ) , wird auch deutlich, an welchen Maßstä-ben die vielberufene „Freiheit" des einzelnen gemessen wird: z. B. ander Existenz der Gewaltenteilung. Diese aber ist ein Prinzip, das mitder bürgerlichen Gesellschaft entstanden ist und eines der wichtigstenElemente bürgerlicher Demokratie darstellt; ein Prinzip, dessen einsti-ge historisch progressive Funktion verlorenging und das heute nurnoch als ein Absicherungs- und Verschleierungsinstrument der bürger-lichen Klassenherrschaft gelten kann (s. o.). Die sozialistische Arbei-terbewegung hat sich gerade zum Ziel gesetzt, die Gewaltenteilung wieüberhaupt die für die bürgerliche Gesellschaft konstitutive Trennungvon Staat und Gesellschaft aufzuheben durch die möglichst direkte In-teressenvertretung nach dem Rätepr inz ip . 1 4 6 Die Schulbuchautorenaber messen die sozialistischen Länder nicht an diesem Anspruch, son-dern an den historisch begrenzten Prinzipien der bürgerlichen Gesell-schaft — denen die sozialistischen Länder logischerweise weder ent-sprechen noch entsprechen wollen. Die bürgerliche Gesellschaft wirddamit von den Schulbüchern zum Maßstab von Geschichte überhaupterkoren.

Die Schulbuchautoren halten jedenfalls die „Soziale Frage" in densozialistischen Ländern für ungelöst. Es ist darum nur konsequent,wenn sie den Klassenbegriff, den sie für die kapitalistischen Länder„abgeschafft" haben, für die Darstellung der sozialistischen Länderwieder benutzen. Im „Grundriß der Geschichte" (Klett II, S. 228)wird bei der Darstellung der UdSSR davon gesprochen, daß eine „ge-sellschaftliche Oberschicht" entstand, eine „Art Staatsbourgeoisie",eine „neue Klasse".

87

Page 88: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

8. Die Arbeiterbewegung als „Soziale Frage" - eine Redukt ion derrealen Geschichte

Kurz zusammengefaßt, stellen die Schulbücher die Geschichte der Ar-beiterbewegung also etwa folgendermaßen dar: Im Zusammenhangmit der industriellen Revolution entsteht die moderne Industrie, dieeinen erheblichen Teil der bis dahin in der Landwirtschaft oder imHandwerk tätigen Menschen in Fabriken beschäftigt. Der dadurch ent-standene „Vierte Stand" (die Arbeiterschaft) leidet in der Frühzeitdes Industriezeitalters unvorstellbare soziale Not, er ist zudem poli-tisch rechtlos. Diese Situation der Arbeiter wird als „Soziale Frage"bezeichnet. Die Lösung der „Sozialen Frage" des 19. Jahrhundertswird zu einer Hauptaufgabe der Gesellschaft — wobei unter Lösungdie Integration der Arbeiter in das bestehende System verstandenwird. Eine Lösung ist um so dringlicher, als die Arbeiter zur Selbst-hilfe zu greifen drohen; sie entwickeln in Form der Gewerkschaftenund Arbeiterparteien Organisationen, mit denen sie selbst die „SozialeFrage" lösen wollen. Dabei gibt es unter den Arbeitern verschiedeneAuffassungen über die Art und Weise, wie diese Lösung aussehen underreicht werden soll. Eine Gruppe vertritt die „Idee" des Klassen-kampfes und strebt eine Revolution an, die in der Diktatur des Prole-tariats gipfeln soll. Eine andere Gruppe will, in Zusammenarbeit mitdem Staat, eine allmähliche Besserstellung der Arbeiter innerhalb derbestehenden Gesellschaft erreichen. Die Frage, welche dieser Gruppendenn nun „recht behalten hat", bestimmt die weitere Behandlung der„Sozialen Frage" in den Schulbüchern. Dabei versuchen die Schulbü-cher, an Hand der deutschen Entwicklung zu zeigen, wie in Deutsch-land durch staatliche Sozialpolitik, Einführung des parlamentarischenSystems und „verständiges" Verhalten der „Sozialpartner" (Arbeiterund Unternehmer) die „Soziale Frage" schrittweise gelöst worden ist;diese Darstellung gipfelt in der Behauptung, daß es in der BRD eine„Soziale Frage" im Sinne des 19. Jahrhunderts nicht mehr gäbe.

Ergibt sich schon daraus, daß die reformistische Richtung der Arbei-terbewegung recht behalten hat, so wird diese Auffassung bestätigtdurch die Darstellung der sozialistischen Länder. Dort kann nämlichvon einer Lösung der „Arbeiterfrage" angeblich nicht die Rede sein.

Das ist das Grundkonzept, das der Darstellung der Arbeiterbewe-gung in den untersuchten Schulbüchern implizit oder explizit zugrun-de liegt. Notwendig ist die Anmerkung, daß die Grundkonzeption, diewir hier thesenartig aus allen untersuchten Schulbüchern entwickelthaben, nicht in der hier formulierten Geschlossenheit und Stringenz inden einzelnen Schulbüchern auftaucht. Vielmehr erfolgt die Behand-lung der „Sozialen Frage" in einigen Büchern wesentlich unvollstän-diger und verkürzt. Ein extremes Beispiel für eine solche Verkürzungist der „Grundriß der Geschichte" aus dem Klett Verlag (Klett I undII ) . Die „Soziale Frage" beansprucht darin 1 1 / 2 Seiten bei der Dar-stellung der englischen Entwicklung (Klett I, S. 210 f) ; für Deutsch-

88

Page 89: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

land wird ihre Entwicklung auf 1 1/2 Seiten unter „Bismarcks Innen-politik" subsumiert (Klett III, S. 54 f) ; es folgen immerhin 5 Seitenüber „Bismarck und die Sozialdemokratie" (S. 56 ff), auf denen aller-dings auch schon die ganze marxistische Theorie — falsch — dargestelltund kritisiert wird; schließlich noch 1 1/2 Seiten über die „Sozialpoli-tik" Bismarcks (S. 61 f). Im weiteren Verlauf der Geschichte bean-sprucht die „Soziale Frage" im „Grundriß" meist nur noch den Um-fang von Sätzen, bestenfalls von Absätzen. Dagegen verwenden dieAutoren allein über 20 Seiten für eine detaillierte Schilderung des Er-sten Weltkriegs! (Klett II, S. 85 ff)

Insgesamt gesehen gibt aber auch eine vollständige Darstellung der„Sozialen Frage" im oben skizzierten Sinne bereits ein verkürztes unddeshalb falsches Bild von der Geschichte der Arbeiterbewegung.Durch offene Parteinahme für die reformistische Richtung der Arbei-terbewegung sind insbesondere die Geschichte der marxistischen Rich-tung auf ein Minimum reduziert — und dieses Minimum wird dannnoch verfälscht. Auch Aktionen der gesamten Arbeiterbewegung, dieüber das in Schulbüchern „erlaubte" Maß an Massenaktionen hinaus-gingen, werden unterschlagen oder verzerrt dargestellt.

So finden sich z. B. in keinem der untersuchten Schulbücher die ge-meinsamen Aktionen der deutschen Arbeiterklasse, die 1926 zumVolksbegehren über die „Fürstenenteignung" 1 4 7 (Enteignung der ehe-mals regierenden deutschen Herrschaftshäuser) führten; eine Aktion,an der KPD und SPD beteiligt waren.

Ausgelassen oder sehr verkürzt dargestellt wird zum Beispiel auchder Widerstand der kommunistischen und sozialdemokratischen Ar-beiter im Faschismus (der weitaus größte Teil der vom Faschismus auspolitischen Gründen Ermordeten und Inhaftierten gehörte der linkenArbeiterbewegung an), und das, obwohl selbst bürgerliche Wissen-schaftler wie Hilmar Toppe „die bis an die Grenze des Fanatismus undHeroismus heranreichende Entschlossenheit des kommunistischenWiderstandes" 1 4 8 konstatieren. Dagegen werden die von Offizierenund Großbürgerlichen wie Beck und Goerdeler getragenen Wider-standsversuche in den letzten Monaten der faschistischen Herrschaftmit großer Ausführlichkeit geschildert, ebenso wie die Aktionen dervom „inneren Gewissen" getriebenen (und damit für die Schulbuchau-toren vorbildlichen) Geschwister Scholl. Die Verdienste der Geschwi-ster Scholl sollen keineswegs bestritten werden — es geht hier aber umdie Frage der quantitativen und qualitativen Gewichtung der Darstel-lung: wer die opfervolle Geschichte von Hunderttausenden konse-quenten Antifaschisten der Arbeiterbewegung nur in Nebensätzen er-wähnt (vgl. z. B. Klett II, S. 188; Schroedel/Schöningh V, S. 181) , dieTaten bestimmter Individuen aber ausführlichst schildert, der betreibteindeutig Geschichtsklitterung. 1 4 9

In keinem der Bücher schließlich ist eine zusammenhängende Dar-stellung über die deutsche Arbeiterbewegung nach 1945 zu finden.Vollständig ausgelassen wird der Widerstand breiter Bevölkerungs-

89

Page 90: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

schichten gegen die Restauration der kapitalistischen Wirtschaftsord-nung, gegen die Wiederbewaffnung der BRD, gegen die atomare Be-waffnung der Bundeswehr, gegen die Notstandsgesetze wie auch dieheute noch anhaltenden Kämpfe um wirtschaftliche Mitbestim-m u n g . 1 5 0 Allenfalls wird in einigen Büchern erwähnt, daß verschiede-ne Parteien sich z. B. gegen die Wiederbewaffnung ausgesprochen ha-ben; dabei werden aber soziale und politische Kämpfe der Arbeiterund Angestellten, die sich u. a. in riesigen Demonstrationen undStreiks ausdrückten, auf parlamentarische Auseinandersetzungen redu-ziert — der „Mann auf der Straße" (bzw. im Betrieb) taucht als han-delndes Subjekt der Geschichte nicht auf.

Würden die Kämpfe der Arbeiter in der bundesrepublikanischen Ge-genwart in den Geschichtsbüchern zugegeben, so könnte die „SozialeFrage" allerdings auch nicht mehr als gelöst erscheinen; es müßten dieUrsachen dieser anhaltenden Kämpfe der Arbeiter analysiert und da-mit die gegenwärtige Gesellschaftsordnung hinterfragt und kritisiertwerden, was den Schulbuchautoren offensichtlich fernliegt.

9. Die „Soziale Frage" — heute wirkl ich gelöst?

Zu untersuchen ist hier, inwieweit die These der Schulbuchautoren, esgäbe in den westlichen Ländern keine „Soziale Frage" mehr, mit derbundesrepublikanischen Wirklichkeit übereinstimmt.

Wir gehen hierbei von der Definition des Kapitalismus in einemSchulbuch (Schroedel III, S. 109, vgl. o. S. 8 5 ) aus, die inhaltlichbesagt: Die Klassengesellschaft der Zeit des Hochkapitalismus fiel inzwei Gruppen auseinander, „die durch Kapital und Arbeit, durchgroßen Reichtum und Ungesichertsein" bestimmt wurden und „ein-ander feindlich" gegenüberstanden. Zunächst ist also zu fragen, wieder Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit entstand und was er bein-h a l t e t . 1 5 1

Wir hatten in der Einleitung dargestellt, daß das entscheidend Neueder kapitalistischen Produktionsweise gegenüber der feudalistischendie Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln ist. ImFeudalismus befanden sich die Arbeitsmittel in der Regel im Besitzder unmittelbaren Produzenten, im Kapitalismus gehören sie jedochnicht dem Lohnarbeiter, sondern dem Kapitalisten. Damit entwickeltesich ein tiefgreifender Widerspruch. Die Produktionsweise hatte mitder weitergetriebenen Arbeitsteilung in der Manufaktur und dann vorallem in der Fabrik eine neue Qualität erreicht: an die Stelle der priva-ten Produktion in der Einzelwerkstatt des Feudalismus war das Zu-sammenwirken von Hunderten und Tausenden von Arbeitern an ei-nem einzigen Produkt getreten, d. h. die Organisationsform der Arbeithat einen unmittelbar gesellschaftlichen Charakter erhalten. Die An-eignungsform der Produkte ist aber die gleiche geblieben wie im Feu-dalismus, nämlich privat; hatte der Besitzer der Arbeitsmittel sich bis-

90

Page 91: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

her das Produkt angeeignet, weil es in der Regel Ergebnis seiner eige-nen Arbeit war, so fuhr der Besitzer der Arbeitsmittel, jetzt der Kapi-talist, fort, sich das Produkt anzueignen, obwohl es nicht mehr seinProdukt, sondern Produkt fremder Arbeit war. Diesem Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion — ,gesellschaftlich' im Sinneder zugrunde liegenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung (vgl.S. 223 ff) sowie der unmittelbar ins Auge fallenden großbetrieblichenOrganisationsform der Arbeit — und privater Aneignung entsprichtder Gegensatz zwischen Lohnarbeitern und Kapitalisten.

Wenden wir das vom Schulbuch genannte Kriterium (nämlich Ge-gensatz zwischen Kapital und Arbeit) auf die heutige Gesellschaftsord-nung an, so stellen wir fest, daß der Kapitalismus keineswegs eine„Übergangserscheinung" (Schroedel III, S. 109) war, sondern nachwie vor in seiner vollen Widersprüchlichkeit existiert. Die Arbeitermüssen auch heute noch „ihre Arbeitskraft fortlaufend verkaufen . . . ,weil sie ihre einzige oder für die Lebenshaltung entscheidende Ein-kommensquelle" ist (Schroedel III, S. 4 8 , vgl. auch das Zitat von PaulJostock in Schroedel III, S. 103) .

Diese theoretische Ableitung soll nun im folgenden mit der bundes-republikanischen Wirklichkeit verglichen und untersucht werden, obder Kapitalismus nicht auch als soziale Realität mehr als „nur einName" (Ludwig Erhard) ist.

Die Schulbuchautoren bestreiten den Klassencharakter der BRD.Sie behaupten, unsere Gesellschaft sei heute eine „nivellierte Mittel-standsgesellschaft", in der die „Grenzen zwischen den ,Klassen' weit-hin verwischt" seien und in der „soziale Aufstiegs- und Abstiegspro-zesse" die grundlegenden sozialen Unterschiede eingeebnet hätten(Schroedel III, S. 106) .

Vergleichen wir diese These mit einigen Statistiken:

Struktur des Realvermögens in der Bundesrepublik 1950—1965,in Prozent1 5 2

1950 1955 1960 1965

Arbeitnehmer 34,7 18,2 15,6 17,2Rentner undPensionäre 5,1 2.7 2,5 2,6Selbständigeund Unter- 45,7 46,8 49 ,3 46 ,6nehmungenöffentlicheHaushalte 14,5 32,3 32,6 33,6

„Der Anteil der Arbeitnehmer und Rentner am Gesamtvermögen istvon 1950 bis 1965 um jeweils die Hälfte zurückgegangen, der der Un-ternehmer und Selbständigen leicht gestiegen, während sich der Anteilder öffentlichen Haushalte mehr als verdoppelt hat. Über 80 % des

91

Page 92: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

realen Vermögens der Bundesrepublik konzentrierten sich 1965 beiUnternehmen und öffentlichen Haushalten, während die Massen de-rer, die durch Erwerbstätigkeit erst Vermögen schaffen, nämlich diemehr als 20 Millionen Arbeitnehmer sowie die früheren Erwerbstäti-gen, die Rentner, zusammen fast 20 % des gesamten Realvermögensbesaßen. Wenn man hiervon noch die häuslichen Investitionen ab-zieht, die bei Arbeitnehmern 63,4 % und bei Rentnern 54,4 % ihrerErsparnisse ausmachten, so erhält man als Restbetrag einen Anteil derArbeitnehmer und Rentner am Gesamtvermögen (ohne häusliche In-vestitionen) von 8,9 % . " 1 5 3

Es zeigt sich also, daß sich die Verteilung der Realvermögen in derBRD seit 1950 erheblich zuungunsten der Arbeitnehmer und Rentnerverschoben hat. Berücksichtigt man ferner, daß unter der Kategorie„Arbeitnehmer" (vgl. dazu den Abschnitt „Manipulation durch Spra-che" in diesem Buch) sowohl Arbeiter mit einem Einkommen von750,— DM als auch Manager mit einem Einkommen von 10 000,— DMmonatlich subsumiert werden, so ergibt sich eine noch schlech-tere Lage der Arbeiter und Angestellten, als es die Statistik aus-drückt. Auf der anderen Seite gehören zu der Kategorie „Selbständi-ge" Hunderttausende von kleinen Handwerkern, Händlern und Bau-ern, die häufig nicht viel mehr verdienen als die Arbeiter und Ange-stellten, die aber in der gleichen Rubrik geführt werden wie millionen-schwere Großaktionäre und Inhaber großer Konzerne. Die Kategorien„Arbeitnehmer" und „Selbständige" sind also rein juristische Begriffe,die für die Analyse von realen sozialökonomischen Abhängigkeitenkaum brauchbar sind, auf denen aber alle offiziellen Statistiken derBRD beruhen.

Als weitere Verzerrung der Statistik kommt hinzu, daß der Anteilder sogenannten Selbständigen sich erheblich verringert hat. „Sie, dieim Jahre 1950 immerhin noch 37 Prozent aller Erwerbstätigen aus-machten, verfügten damals über 47 Prozent des Volkseinkommens.Heute stellen sie nur noch etwa 20 Prozent der Erwerbstätigen, aberihr Anteil am Volkseinkommen beträgt immernoch 41 P r o z e n t . " 1 5 4

Umgekehrt hat sich der Anteil der „Arbeitnehmer" an der Gesamtbe-völkerung erhöht. „Im Jahre 1950 teilten sich 13,9 Millionen Arbeiterund Angestellte samt ihren Familien in 52 Prozent des Volkseinkom-mens. Bereits im Jahre 1965 aber mußten sich 21,9 Millionen Arbeiterund Angestellte — das sind genau 8 Millionen oder rund 60 Prozentmehr — in einem nur in etwa 6 Prozent höheren Anteil am Volksein-kommen t e i l e n . " 1 5 5

Daraus folgt:Von einer Angleichung der sozialen Unterschiede kann keine Rede

sein. Statt dessen hat eine ungeheure Konzentration von Vermögen inder Hand einer winzigen Minderheit der Bevölkerung stattgefunden.„Selbst von der Bonner Regierung muß in ihrem sogenannten ,Sozial-bericht 1970 ' die bezeichnende Tatsache eingestanden werden, daßnur 1,7 Prozent der privaten Haushalte in der BRD über 70 Prozent

92

Page 93: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

des produktiv genutzten Vermögens in privater Hand bes i t zen . " 1 5 6

Betrachtet man ferner den Rückgang der Selbständigen von 37 Pro-zent 1950 auf 20 Prozent 1966, so verbirgt sich hinter dieser nüch-ternen Statistik die Enteignung und Proletarisierung von Millionenvon kleinen Eigentümern, die unter dem enormen Konkurrenzdruckder Großkonzerne Bankrott gemacht haben.

Diese Entwicklung ist mittlerweile mindestens in einigen Ansätzendurchaus ins Bewußtsein der Öffentlichkeit eingedrungen. Sie wirdaber von den Unternehmern damit gerechtfertigt, daß eine permanen-te Steigerung der Unternehmergewinne die Voraussetzung für In-vestitionen sei, die vorhandene Arbeitsplätze sichern und vor allemneue Arbeitsplätze schaffen sollen und also den Arbeitern selbst wie-der zugute kämen. Wie verhält sich diese Behauptung zur Realität?

Investitionen haben die Funktion, durch Technisierung und Auto-matisierung der Produktion die Arbeitsproduktivität zu erhöhen (inder gleichen Zeit wird mit denselben Arbeitskräften ein größeres Pro-dukt erzeugt) und damit das „Wirtschaftswachstum" voranzutreiben.Rationalisierung der Produktion bedeutet in der kapitalistischenRealität Senkung der Lohnkosten, und zwar durch Senkung der Lohn-quote und Reduktion der Arbeitsplätze, also Verringerung der Be-schäftigtenzahl („strukturelle Arbei ts los igkei t") 1 5 7 . Welches Ausmaßdie dadurch erzielte Leistungssteigerung in der BRD erreicht hat, zeigtfolgende Angabe: Allein in den Jahren von 1958 — 1965 ist die Ar-beitsproduktivität um 50 Prozent gestiegen. Insgesamt konnte die Ar-beitsproduktivität seit 1950 um 120 Prozent und die Produktion (So-zialprodukt) nominell um etwa 200 Prozent gesteigert werden . 1 5 8

Diese Steigerungsraten sind aber nicht allein auf die Erhöhung der Ar-beitsproduktiuität zurückzuführen; vielmehr ist auch die Arbeitsinten-sität erheblich gest iegen. 1 5 9 Indizien dafür sind u.a. die hohe Zahlvon Arbeitsunfällen, das erschreckende Ausmaß an Frühinvalidität 1 6 0

wie auch die Zunahme von psychischen Störungen aller Art.Die ungeheuren Produktivitätssteigerungen sind — wie auch die

Statistiken auf Seite 73 und Seite 91 zeigen — nicht in erster Linieden Arbeitern und Angestellten zugute gekommen (das, was sie über-haupt an Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen in den letztenJahren errungen haben, mußten sie sich zudem gegen den heftigenWiderstand der Unternehmer erkämpfen); die enormen Zuwachsratenverblieben vielmehr größtenteils im Besitz der Kapitalisten, weil ihnenauf Grund des Besitzes der Produktionsmittel auch die Ergebnisse derProduktion zufallen — obwohl sie von den Arbeitern geschaffen wur-den. Genau dieser Aneignungsprozeß stellt das Charakteristikum derkapitalistischen Wirtschaftsform dar. Nach dem Sachverständigengut-achten von 1970/71 wuchs die Arbeitsproduktivität der Industrie zwi-schen 1962 und 1969 um 53,0 Prozent, der Realarbeitslohn hingegennur um 29,4 P rozen t . 1 6 1

Es zeigt sich also, daß Investitionen nicht einem abstrakten „Allge-meinwohl" dienen, sondern dem ganz konkreten Profitinteresse der

93

Page 94: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Unternehmer. Primäres Motiv der unternehmerischen Investitionstä-tigkeit ist weder die Schaffung von Arbeitsplätzen noch die Bewälti-gung eines angeblich autonomen technischen Fortschritts, sondern dasInteresse an der Erhöhung der Profite, der Vergrößerung des Kapitalsund der Festigung und Erweiterung der Machtposition der Konzerne.Jede anderslautende Interpretation von Unternehmermotivationenläßt sich durch Statistiken widerlegen.

Zu betonen ist allerdings, daß es nicht im Belieben des einzelnenUnternehmers steht, ob er investiert und Profit macht oder nicht. DerKonkurrenzkampf des kapitalistischen Systems zwingt ihn bei Strafeseines eigenen Untergangs dazu, immer weiter zu investieren und im-mer höhere Profite auf Kosten der „Arbeitnehmer" zu erzielen.

Auch das Argument der Unternehmer, sie hätten das Risiko derWirtschaftstätigkeit zu tragen und hätten also auch einen Anspruchauf hohe Gewinne, erweist sich bei näherem Zusehen als nicht stich-haltig. In der Krise 1 9 6 6 / 6 7 1 6 2 — wie auch bei jeder anderen Kon-junkturschwankung — zeigte sich nämlich, daß gerade die „Arbeitneh-mer" das Risiko der Unternehmertätigkeit zu tragen hatten, und zwarmit dem Verlust ihrer Existenzgrundlage, dem Einkommen und demArbeitsplatz. Der Sachverständigenrat verzeichnet für den Febru-ar 1967 einen Anstieg der Arbeitslosenzahl auf 673 000 und eine Ar-beitslosenquote von 4,5 P r o z e n t . 1 6 3 Hinzu kommt noch, daß alleinschon der Abbau von außertariflich gezahlten Überstunden für denArbeiter und seine Familie oft eine ganz erhebliche Einbuße seinesEinkommens darstellt, ohne daß diese in irgendeiner offiziellen Stati-stik auftaucht.

Für die Großindustrie hingegen bedeuten Konjunkturschwankungengewöhnlich nur Gewinnverminderungen, für Großkonzerne sogar oftnoch eine Steigerung der Profite und der Machtstellung (durch denBankrott kleiner Unternehmen und die verschärfte Arbeitsdisziplin).Außerdem: worin besteht eigentlich das „Unternehmerrisiko?"Schlimmstenfalls verliert der Unternehmer seinen Betrieb und wirdselber zum Lohnabhängigen — ein sozialer Status, der ja angeblich kei-ne wesentlichen Nachteile gegenüber dem des Selbständigen haben sollund den über 80 Prozent der Bevölkerung einzunehmen gezwungensind.

Überdies unterstützt der Staat die Großunternehmer bei Krisener-scheinungen mit „Konjunkturspritzen" und verhindert deren Bank-rott. Aber auch sonst kann die Großindustrie einen Großteil der In-vestitionen per Abschreibungen, Subventionen, Staatsaufträge, Kre-dite usw. vom Staat finanzieren lassen: „Im Jahre 1966 beispielsweisestanden den Neuinvestitionen für Anlagen und Bauten in Höhe von58,8 Milliarden DM Abschreibungen in Höhe von 52,2 Milliarden DMgegenüber. Das bedeutet: Die über die Abschreibungen finanziertenInvestitionen waren kaum weniger groß wie die aus dem eigentlichenGewinn und anderen Quellen gespeisten Neuinvesti t ionen." 1 6 4

In diesem Zusammenhang stellt sich überhaupt die Frage, welche

94

Page 95: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Rolle der Staat im Kapitalismus spielt. Ist er tatsächlich die neutraleInstanz, die über allen Interessengruppen steht und soziale Konfliktezwischen den „Sozialpartnern" zu schlichten sucht, wie die Schul-buchautoren glauben machen wollen? Schützt der Staat wirklich die„wirtschaftlich Schwachen" (so Hirschgraben II, S. 62 /63 )? Wen sa-nierte der Staat z. B. in der Währungsreform 1948, als die Sachmittel-besitzer, also die ohnehin Privilegierten, ihre Fabriken behielten,während die kleinen Sparguthaben der Millionen von Arbeitern, Ange-stellten, kleinen Beamten und Rentnern entwertet wurden? In wessenInteresse handelte der Staat, als er in der Krise 1966/67 die Sanierungder Großkonzerne auf Kosten der kleinen Selbständigen und Betriebevollzog und damit den Zentralisationsprozeß innerhalb der Wirtschaftweiter vorantrieb? Und wer schließlich bezahlt die Subventionen, Ab-schreibungen, Kredite und Staatsaufträge, die alljährlich den größtenKonzernen und Kapitalgesellschaften zufließen? — Sie werden ausSteuern bezahlt, die ihrerseits zum größten Teil von der Masse der Ar-beiter und Angestellten aufgebracht werden. Seit 1950, vor allem aberseit 1960 steigen die Steuern schneller als die Bruttolöhne und -gehäl-t e r . 1 6 S Der Zuwachs des Steueraufkommens geht damit vorwiegendzu Lasten der arbeitenden Bevölkerung. Auch die Hauptlast der ande-ren Massensteuern (Mehrwert-, Mineralöl-, Tabaksteuer, Branntwein-monopol) wird von der arbeitenden Bevölkerung getragen. „1971 ent-fielen von den Steuereinnahmen: 107,4 Mrd. DM (62,4 Prozent) aufMassensteuern und nur 47,5 Mrd. DM (27,6 Prozent) auf Steuern vonGewinnen und V e r m ö g e n . " 1 6 6

Als Resultat kann festgehalten werden: Seit Entstehen der Bundes-republik hat sich eine Verteilung und Umverteilung des Nationalein-kommens in riesigem Ausmaß zugunsten der Großwirtschaft vollzogenund auf der anderen Seite eine massenhafte und massive Enteignungund relative Vere lendung 1 6 7 von Millionen von arbeitenden Men-schen. Die sozialen Unterschiede sind also nicht abgemildert, sondernsogar noch verschärft worden, und der Staat, das parlamentarischeSystem haben nicht nur diesen Prozeß nicht verhindert, sondern denUnternehmern bei der Kapitalakkumulation massiv geholfen. In einerbekannten politischen Programmschrift wird diese Entwicklung so zu-sammengefaßt: „Ein wesentliches Kennzeichen der modernen Wirt-schaft ist der ständig sich verstärkende Konzentrationsprozeß. DieGroßunternehmen bestimmen nicht nur entscheidend die Entwick-lung der Wirtschaft und des Lebensstandards, sie verändern auch dieStruktur von Wirtschaft und Gesellschaft:— Wer in den Großorganisationen der Wirtschaft die Verfügung überMillionenwerte und über Zehntausende von Arbeitnehmern hat, derwirtschaftet nicht nur, der übt Herrschaftsmacht über Menschen aus;die Abhängigkeit der Arbeiter und Angestellten geht weit über dasÖkonomisch-Materielle hinaus.— Wo das Großunternehmen vorherrscht, gibt es keinen freien Wettbe-werb. Wer nicht über die gleiche Macht verfügt, hat nicht die gleiche

95

Page 96: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Entfaltungsmöglichkeit, er ist mehr oder minder unfrei. Die schwäch-ste Stellung in der Wirtschaft hat der Mensch als Verbraucher. — Mitihrer durch Kartelle und Verbände noch gesteigerten Macht gewinnendie führenden Männer der Großwirtschaft einen Einfluß auf Staat undPolitik, der mit demokratischen Grundsätzen nicht mehr vereinbar ist.Sie usurpieren Staatsgewalt. Wirtschaftliche Macht wird zu politischerMacht.

Diese Entwicklung ist eine Herausforderung an alle, für die Freiheitund Menschenwürde, Gerechtigkeit und soziale Sicherheit die Grund-lagen der menschlichen Gesellschaft sind." Aufrüttelnde Worte — ausdem Godesberger Programm der S P D ! 1 6 8

Alles Gerede von Reformen und „Vermögensbildung in Arbeitneh-merhand", von „breiterer Streuung des Eigentums" und dergleichenwaren nur der ideologische Schleier, hinter dem sich die Macht- undEigentumskonzentration des großen Kapitals vollzog. Die offiziellenPläne zur Vermögensbildung beziehen sich überdies ausschließlich aufdie Verteilung des zukünftig zu erwartenden Gewinnzuwachses. Diebereits angesammelten riesigen Vermögen der Unternehmer und damitder vorhandene Unterschied der Vermögensverteilung wird in keinerWeise ange t a s t e t 1 6 9 , ganz abgesehen davon, daß auch diese Plänenach aller Erfahrung Pläne bleiben werden. Die Schulbuchautoren sa-gen dazu:

„Zur Hilfe des Staates und der Arbeitgeber muß aber der Wille zum Eigentumund damit zum Sparen und Konsumverzicht bei den Arbeitnehmern hinzukom-men." (Schroedel III, S. 105)

Angesichts der Tatsache, daß „44 % aller Arbeiter weniger als600 DM netto, und 80 % aller Arbeiter weniger als 800 DM netto ver-d i e n e n " 1 7 0 , ist das der blanke Zynismus. Ziel der Arbeiter kann esauch gar nicht sein, durch „Sparen und Konsumverzicht" die unglei-che Vermögensverteilung zu überwinden, weil auf diesem Weg die Ur-sache der ungleichen Verteilung, nämlich der Widerspruch zwischender gesellschaftlichen Produktion und der privaten Aneignung nichtgelöst wird. „Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand" müßte denVerteilungsschlüssel verändern, ist also nur auf Kosten der Unterneh-mergewinne durchzusetzen; vor allem die reale Mitbest immung 1 7 1 imSinne einer Kontrolle der unternehmerischen Wirtschaftstätigkeitdurch Interessenvertretungen der Arbeiterklasse würde eine Möglich-keit schaffen, ihre gesellschaftliche Stellung zu verbessern.

Dieses Ziel wird — genau das zeigt die lange Geschichte der Arbei-terbewegung, die in den Schulbüchern so arg verzerrt wiedergegebenwird — sich nicht im Selbstlauf realisieren noch durch das „soziale Ge-wissen" von Unternehmern und Staat gewährt werden, sondern eskann nur das Ergebnis ausdauernder Kämpfe der Arbeiterklasse selbstsein. Auf wessen Seite die Schulbuchautoren mit ihrer Geschichtsdar-stellung in diesen Klassenauseinandersetzungen stehen, ist in diesemKapitel hinreichend deutlich geworden.

96

Page 97: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

D. Russische Oktoberrevolution und Novemberrevolutionin Deutschland

1. Oktoberrevolut ion

Kaum ein Ereignis der neueren Geschichte ist in der Geschichtswissen-schaft so umstritten wie die Oktoberrevolution. Bei der Beurteilungder Oktoberrevolution und der Bolschewiki tritt die schärfste Polari-sierung von nichtmarxistischer und marxistischer Geschichtswissen-schaft ein. In dieser Polarisierung werden Grundzüge der Methode bei-der Geschichtsauffassungen deutlich (siehe unsere Anmerkung aufS. 208! ) .

Führende westliche Historiker der Russischen Revolution begreifendie Oktoberrevolution wesentlich als Errichtung der Diktatur einerMinderheit. „Im Unterschied zu dem unvorbereiteten, ,zufällig' ausge-brochenen und nicht zentral gelenkten Februarumsturz (ähnlich wiespäter die deutsche Novemberrevolution 1918) ist der bolschewisti-sche Oktoberaufstand das klassische Beispiel für eine ,geplante Revo-lution', die Kombination von organisierter Verschwörung einer Min-derheit mit einer machtvollen, aber unklaren und daher leicht zu ma-nipulierenden Massenströmung." 1 7 2 Entscheidend für diese Beurtei-lung ist bei allen bürgerlichen Historikern die politische Form der Re-volution (bewaffneter Aufstand, Räteprinzip, Auflösung der Konsti-tuierenden Versammlung, Verbot bürgerlicher Zeitungen usw.), die imWiderspruch zu den Prinzipien „westlicher Demokratie" steht.

In der marxistischen Wissenschaft wird dagegen der soziale Inhalt der Revolution hervorgehoben. „Die große sozialistische Oktoberre-volution gab der Welt ein Modell für die Lösung der grundlegendensozialen Probleme: Sturz der Macht der Ausbeuter und Errichtung derDiktatur des Proletariats; Verwandlung des Privateigentums, des Ei-gentums der Bourgeoisie und der Gutsbesitzer in gesellschaftliches, insozialistisches Eigentum; gerechte Lösung der Agrarfrage zugunstender Bauern; Befreiung der abhängigen Völker vom nationalen und ko-lonialen Joch ; Schaffung der politischen und ökonomischen Vorausset-zungen für den Ausbau des Soz ia l i smus ." 1 7 3 Die politischen Formen, indenen sich der Übergang vollzog, werden in der marxistischen Ge-schichtswissenschaft jeweils im Zusammenhang mit diesem sozialenInhalt gesehen, was vor allem bedeutet, daß die jeweiligen politischenVorgänge aus den Interessen der am Umwälzungsprozeß beteiligtensozialen Gruppen (Klassen, Schichten) abgeleitet werden.

Diese Interessen werden verstanden als Gegenwarts- und Zukunfts-interessen, d. h., in der marxistischen Geschichtsauffassung wird zumeinen davon ausgegangen, daß in der Oktoberrevolution die aktuellenForderungen der Mehrheit der Bevölkerung verwirklicht wurden (Frie-den, Arbeiterkontrolle über die Betriebe und Aufteilung der Adelsgü-ter unter die Bauern), zum anderen bedeutete die Revolution dieGrundlegung einer neuen sozialen Ordnung, die der kapitalistischen

97

Page 98: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

trotz der enormen, erst in einem langen Prozeß zu überwindendenRückständigkeit Rußlands qualitativ überlegen ist. „Die große soziali-stische Oktoberrevolution war der erste siegreiche Akt der sozialisti-schen Weltrevolution. Sie veränderte radikal das politische und sozial-ökonomische Antlitz eines riesigen Reiches, hob die internationale Be-freiungsbewegung auf eine neue, höhere Stufe und ,hat der ganzenWelt', wie Lenin sagte, ,den Weg zum Sozialismus gewiesen und derBourgeoisie gezeigt, daß es mit ihrer Herrlichkeit zuende geht' . . . " 1 7 4

Die hier angedeutete internationale Bedeutung der Revolution wirdauch in der nichtmarxistischen Wissenschaft, wenn auch unter umge-kehrten Vorzeichen, betont. „Darüber hinaus bedeutet die Revolutionvon 1917 die Entstehung einer Front der ,proletarischen Weltrevolu-tion', der auf der Gegenseite durch den Kriegseintritt der USA die,Weltdemokratie' entgegentr i t t ." 1 7 5

Für die Schulbuchautoren spielt dieses historische Ereignis jedochoffenbar eine geringere Rolle. Die meisten Darstellungen begnügensich mit einer kurzen Chronologie und der unabgeleiteten Übernahmeder zentralen Thesen der nichtmarxistischen Historiker. Schwerpunk-te sind:— Die Tätigkeit der Provisorischen Regierung— Die Person Lenins— Die Auflösung der Konstituierenden Versammlung.

Diese drei Schwerpunkte sollen im folgenden in bezug auf Inhalt und'1'Form der Darstellung knapp untersucht werden.

Vorgeschichte — Tätigkeit der Provisorischen Regierung

Ähnlich wie die erste Phase der Französischen Revolution wird diebürgerlich-demokratische Februarrevolution hinsichtlich ihrer unmit-telbaren Ergebnisse (Abdankung des Zaren, Ansetzen einer National-versammlung) akzeptiert — zugleich werden auch hier die treibendenKräfte der Revolution verdreht dargestellt und ihre „Begleiterschei-nungen", d. h. die revolutionären Massenaktionen, negativ charakteri-siert. Dies sei an einer Darstellung erläutert:

„Deprimiert von der russischen Niederlage 1916 und unzufrieden über die lan-ge Dauer des Krieges und die schlechte Ernährungslage, streikten im März 1917die Rüstungsarbeiter von Petersburg. Sofort entstanden Straßenunruhen, das ein-gesetzte Militär ging zu den Arbeitern über. Keiner der russischen Generale, kei-ne politische Partei oder Gruppe war bereit, die zusammenbrechende Monarchiezu schützen. Der Zar löste die Duma auf, sie aber berief in einem revolutionärenAkt eine ,Provisorische Regierung' aus Linksliberalen und gemäßigten Soziali-sten und nötigte den Zaren zur Abdankung. Gleichzeitig hatten sich in Peters-burg und bald darauf auch in den größeren Städten und Garnisonen Arbeiter-und Soldatenräte (Sowjets) gebildet, eine Folge der revolutionären Aufgewühlt-heit des Volkes, das seine Geschicke in die Hand nehmen wollte." (Klett II, S.97)

Der Aufstand gegen den Zarismus erscheint als rein spontaner, be-

98

Page 99: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

wußtloser Akt der Arbeiter, der besonders durch den Hunger hervor-gerufen ist. Der eigentliche revolutionäre Akt wird durch die Dumavollzogen, also auf der parlamentarischen Ebene. In der ProvisorischenRegierung sind „gemäßigte" Sozialisten beteiligt. Die gleichzeitig ge-bildeten Sowjets sind „eine Folge der revolutionären Aufgewühltheitdes Volkes". Das Hauptcharakteristikum jeder Revolutionsdarstellungin den Schulbüchern, die Polarität von Masse und Elite, von gemäßig-ten und radikalen Kräften, ist hier aufs neue entwickelt. Die Fragenach dem Ausgang des Kampfes zwischen diesen Kräften spitzt sichim Verlaufe der Revolution immer mehr auf die Entscheidung zwi-schen „parlamentarischer Demokratie" und „Sowjetdiktatur" zu.

„Das System der Doppelherrschaft von provisorischer Regierung und Sowjetsspiegelte das gesellschaftliche und politische Kräfteverhältnis; hinter der ersterenstanden das Bürgertum, der liberale Adel und die liberale Intelligenz, die von derRevolution eine energische Fortsetzung und siegreiche Beendigung des Kriegeserwarteten; hinter den Sowjets standen die kriegsmüden Soldaten, das Industrie-proletariat und die radikale sozialistische Intelligenz. Das Bauerntum verharrteunentschieden zwischen beiden Gruppen." (Klett II, S. 97)

„Das Ziel der Revolution, die Demokratie, war zwar erreicht, aber die Autori-tät der demokratischen Regierung war durch die Räte und ihre Tätigkeit gefähr-det; . . . " (Schroedel/Schöningh VIII, S. 46)

Die beiden folgenden Schulbuchzitate zeigen exemplarisch, wie dieGeschichtsdarstellung je nach Altersstufe der Schüler differiert. ImKlett-Unterstufen-Erzählband wird die Existenz von Sowjets über-haupt nicht erwähnt. Dort heißt es lakonisch:

„Entmutigt legte der Zar am 15. März 1917 die Krone nieder. Demokratenbildeten eine ,Provisorische Regierung'. Sie bleibt den französischen und eng-lischen Bundesgenossen treu und setzt den Krieg fort, dessen die Russen unend-lich müde sind." (Klett X, S. 113)

Dagegen kann man in einem Oberstufenband lesen:„Die Provisorische Regierung konnte sich nur an der Macht halten, weil die

nach dem Vorbild der Revolution von 1905 in den Fabriken und militärischenEinheiten gewählten Arbeiter- und Soldatenräte (russisch Sowjets) dies Proviso-rium vorerst tolerierten." (Schroedel/Schöningh II, S. 82)

Die in diesen Zitaten angedeutete Darstellungsweise der Februar-revolution und ihre Folgen nennt zweifellos die wichtigsten Ereignisseund Ergebnisse dieser Phase — den Aufstand der Arbeiter und Solda-ten, die Bildung der Sowjets und der Provisorischen Regierung und diesozialen Kräfte, die hinter den beiden Institutionen standen. Dennochbleiben entscheidende Fragen offen. Warum z. B. mußte gerade in derSituation des Jahres 1917 das zaristische System, das sich jahrzehnte-lang gegen alle demokratischen Bestrebungen behaupten konnte, derbürgerlichen-demokratischen Revolution weichen? Die genanntenGründe — Kriegsniederlagen, Volksbewegungen, parlamentarischeOpposition — lagen auch schon 1905 nach dem russisch-japanischenKrieg vor. Ist es ein Zufall, daß die Revolution nicht schon 1905 siegte?

Die Beantwortung dieser Fragen kann allerdings nicht von Schul-buchautoren erwartet werden, die die Gründe von Revolutionen aufMassenstimmungen, Meinungen, Zufälle, unfähige Regierungsführung

99

Page 100: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

und ähnliche Erscheinungen zu reduzieren pflegen. Einer derartigoberflächlichen Betrachtungsweise muß entgehen, daß sich das zaristi-sche Reich 1917 in einer tiefen revolutionären Krise befand.

Die zaristische Regierung hatte im Verlaufe des Krieges 8 MilliardenRubel Kriegsanleihe bei den Westalliierten aufnehmen müssen — einBeweis für die ökonomische Unfähigkeit Rußlands, den Krieg gegendas kaiserliche Deutschland weiterzuführen. Die letzten ökonomi-schen Ressourcen mußten mobilisiert werden — auf Kosten der Bevöl-kerung. Schon 1916 brach in den Städten die Hungersnot aus.

Gegen diese Verhältnisse regte sich breitester Widerstand. Nicht erstim Februar 1917, sondern schon über ein Jahr früher begann der Auf-schwung der revolutionären Bewegung. Im Jahre 1916 waren mehr als1500 Streiks zu verzeichnen, an denen über eine Million Arbeiter be-teiligt waren. In Mittelasien und Kasachstan kam es zu nationalenAufständen. Die Soldaten begannen zu desertieren. Auf dem Landebegannen Bauern, Adelsgüter in Brand zu stecken. Der in den Schul-büchern erwähnte Februarstreik der (zum größten Teil gewerkschaft-lich und politisch organisierten) Arbeiter der Petrograder Putilow-Wer-ke war erst der Höhepunkt einer allgemeinen Volksbewegung, derenZiele klar erkennbar waren: Sofortige Friedensverhandlungen, Kon-trolle der Produktion und Aufteilung der Adelsgüter an die armenB a u e r n . 1 7 6

Daß die Arbeiter- und Soldatenbewegung keineswegs ,aufgewühlt'war, daß sie im Gegenteil durchaus zielbewußt handelte, beweist dasvon den Schulbuchautoren selbst genannte Faktum der Arbeiter- undSoldatenräte, der Sowjets, die als gewählte Organe der Mehrheit desVolkes dazu bestimmt waren, die Interessen ihrer Wähler zu vertreten.

Die Schulbuchautoren verstricken sich selbst in unauflösbare Wider-sprüche, wenn sie auf der einen Seite behaupten, der wirklich revolu-tionäre Akt sei der Dumabeschluß zur Bildung einer ProvisorischenRegierung gewesen, und andererseits zugeben müssen, daß diese Regie-rung von der Duldung der Sowjets abhängig war.

Wenn man davon ausgeht, daß der Erfolg einer Revolution eineMachtfrage ist — und dies wird in bezug auf die Oktoberrevolutionvon den Autoren selbst betont —, müßte man eher zu dem Ergebniskommen, daß der entscheidende revolutionäre Akt der organisierteAufstand der Petrograder Arbeiter war.

Welche Stellung nahm die Provisorische Regierung nun wirklich ein,wenn sie nicht der eigentliche Motor der Revolution war? Die Schul-buchdarstellung selbst gibt Aufschluß darüber. Hinter ihr

„standen das Bürgertum, der liberale Adel und die liberale Intelligenz, die vonder Revolution eine energische Fortsetzung und siegreiche Beendigung des Krie-ges erwarteten;" (Klett II, S. 97)

„Die Provisorische Regierung hatte zwar eine gemäßigte Bodenreform verspro-chen, verschob aber die Wahlen zur Nationalversammlung immer wieder, die einsolches Reformgesetz hätte verabschieden sollen. Die allgemeine Friedenssehn-sucht der Bevölkerung ignorierte sie und setzte den Krieg gegen die Mittelmäch-te fort." (Schroedel/Schöningh VIII, S. 83)

100

Page 101: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

„Im Mai 1917 hatte der gemäßigte Sozialist Kerenskij praktisch die Macht desStaates in der Hand. Er wünschte einen baldigen Frieden ohne ,Annexionen undKontributionen', konnte aber die Entente nicht dazu bewegen und setzte des-halb den Krieg fort." (Klett II , S. 98 )

Hier wird also einerseits zugestanden, daß die Provisorische Regie-rung gar nicht Vertreter des ganzen Volkes, sondern lediglich desBürgertums war, andererseits aber nicht erkannt oder nicht zugegeben,daß sie auch dessen spezifische Interessen vertrat. Abstrakte Haltun-gen wie „Ignoranz" und „Treue" werden als Gründe für die Weiterfüh-rung des Krieges und die Nichtdurchführung einer Bodenreform an-gegeben. Auf diese Weise wird ein Verständnis der wirklichen histori-schen Gründe für die Weiterführung des Krieges verhindert. Sie kön-nen im Rahmen dieser Schulbuchkritik nur angedeutet werden.

Die schon erwähnte Kriegsverschuldung Rußlands bei den Westalli-ierten und der schon vor dem Kriege vorhandene starke Einfluß fran-zösischen und englischen Kapitals, die organisierte Tätigkeit amerika-nischer und englischer Propagandisten in der Armee während derKerenskij-Offensive (Sommer 1917) und andere Indizien legen denSchluß nahe, daß nicht eine irgendwie geartete Nibelungentreue zur,westlichen Demokratie', sondern handfeste ökonomische Interessendie Provisorische Regierung zur Weiterführung des Krieges gezwungenh a b e n . 1 7 7 Geht man von den in der Februarrevolution aufgestelltenForderungen der Arbeiter, Soldaten und Bauern aus — Frieden, Arbei-terkontrolle und Aufteilung des Bodens —, muß festgehalten werden,daß sich die Provisorische Regierung vor den Augen des Volkes als un-fähig erwies, diese Ziele durchzuführen. Die Petrograder Massende-monstrationen im April, Mai und Juni zeigen, daß das Volk sich dieserTatsache zunehmend bewußt wurde.

Schulbuchautoren, die von den Interessen der Volksmassen abstra-hieren, muß dieser Zusammenhang allerdings verborgen bleiben. Fürsie muß das Entstehen einer neuen revolutionären Krise als bloßes Er-gebnis einer klugen, Massenstimmungen ausnutzenden Taktik Lenins erscheinen.

Die Rolle Lenins

Die Oktoberrevolution ist, kurzgefaßt, in der Darstellung der Schulge-schichtsbücher ein taktisch geschickt unter Lenins Führung vollzo-gener Staatsstreich einer Minderheit von Berufsrevolutionären, die aufGrund der Schwäche der demokratischen Kräfte in Rußland dieMacht ergreifen und sie durch ein System totalitärer Herrschaft si-chern konnten. Daß die Revolution der Staatsstreich einer Minderheitgewesen sei, wird in den Büchern mehrfach betont.

„Sie (die Revolution, d. Verf.) ist das klassische Beispiel für eine geplante Re-volution: Eine verschwindend kleine Gruppe von Berufsrevolutionären, die mitdem Wohlwollen oder wenigstens der Duldung der Massen rechnen konnte,machte den Aufstand." (Klett II , S. 99)

101

Page 102: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Ein Zusammenhang zwischen den politischen Zielen der Bolsche-wiki und den Interessen des Volkes ist für die Autoren also von vorn-herein auszuschließen. Es findet sich in den Schulbüchern dann sogarnoch die alte, schon von der Provisorischen Regierung ausgestreuteThese, nach der Lenin im Grunde als Agent des deutschen Kaisers ge-handelt habe:

„Die Mittelmächte hatten von den Wirren in Rußland eine Entlastung der Ost-front erwartet. Der Sieg der gemäßigten Richtung enttäuschte sie. Deshalb woll-ten die deutsche Regierung und Heeresleitung durch das Einschleusen radikalerPolitiker die Spannungen in Rußland vergrößern. Im April 1917 durfte eineGruppe russischer Emigranten, die in der Schweiz Zuflucht gefunden hatte,durch Deutschland nach Schweden reisen; von dort gelangte sie über Finnlandnach Petersburg. An ihrer Spitze stand Lenin, der Wortführer der radikalen, bol-schewistischen Richtung der russischen Sozialisten." (Schroedel/Schöningh V, S.31)

Die von den Bolschewiki aufgestellte Forderung nach Frieden istdanach also im Grunde nichts anderes als die Verfolgung deutscherKriegsziele in der russischen Innenpolitik.

„General Ludendorff rechnet sich für Deutschland Vorteile aus, wenn die Rus-sen in einem Bürgerkrieg übereinander herfallen." (Klett X, S. 114)

Daß die Arbeiter und Bauern „über die Fortsetzung des Krieges ent-täuscht" (ib.) waren, daß eine „allgemeine Friedenssehnsucht"(Schroedel/Schöningh II, S. 83) bestand, erscheint also nur als günsti-ger Boden, nicht als Grundlage für die Politik der Bolschewiki. Ebensoverhält es sich mit der Forderung nach Aufteilung der Adelsgüter, dieein geschicktes Aufgreifen, des „Landhungers" (Schroedel/SchöninghV, S. 32) der Bauern ist. Die Forderungen der Bolschewiki werdennicht als Programmforderungen im Rahmen einer Strategie der gesell-schaftlichen Umgestaltung dargestellt, sondern erscheinen als takti-sche Tricks geriebener Machtpolitiker.

„Ihm (Lenin, d. Verf.) gelang es, die über die Fortsetzung des Krieges ent-täuschten Massen gegen die Regierung aufzuwiegeln. Seine Forderungen warenwirkungsvoll: Sofortige Friedensverhandlungen, Land für die Bauern, Kontrolleder Arbeiter über die Fabriken. Diesen Forderungen hatte die schwache, dazunoch von einer Gegenrevolution der Offiziere bedrohte Regierung nichts ebensoSchlagkräftiges entgegenzusetzen." (Schroedel/Schöningh V, S. 31)

Eine Verführerelite, geprägt durch die Persönlichkeit Lenins, habedie Revolution durchgeführt, um anschließend eine „Schreckensherr-schaft" (Klett X, S. 115) zu errichten. Den unmündigen Massen stehtinnerhalb dieses Geschichtsbildes — das zeigt sich am Beispiel der Rus-sischen Revolution besonders deutlich — eine mit besonderen Quali-täten ausgestattete Führerpersönlichkeit gegenüber. In fast allen Dar-stellungen wird der Person Lenins — nur in wenigen auch seinerTheorie — breiter Raum gegeben. Dabei werden zwei Eigenschaftenbesonders betont: Seine Überzeugungskraft und seine Fähigkeit zurDurchsetzung seiner politischen Taktik. Diese beiden FähigkeitenLenins — gewissermaßen des personifizierten Radikalismus — werdengrundsätzlich negativ, teilweise auch dämonisierend dargestellt. Dabeiüberwiegt die dämonisierende Darstellung in den Büchern für die unte-

102

Page 103: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

ren Klassen und in den älteren Ausgaben, während in neueren Ober-stufenbänden eine stärkere Auseinandersetzung mit der Theorie undPolitik stattfindet.

Zur Person Lenins: Im Exil „haust (!) er . . . mit seiner Frau in einem einfach möblierten Zimmer.

Für sich selbst braucht der 47jährige Berufsrevolutionär wenig, weil er ,an nichtsanderes denkt und von nichts anderem träumt als von der Revolution, und das24 (!) Stunden am Tag'." . . .

„In den Lesestuben und Bibliotheken erdachte Lenin in allen Einzelheiten ei-nen Plan, wie man in Rußland nach den Gedanken (!) von Karl Marx eine ,Dik-tatur des Proletariats' errichten könnte." . . .

„Nachdem sein Sieg feststeht, reißt er sich die Perücke vom Kopf und denbreiten Taschentuchverband von der Backe, mit dem er sich unkenntlich ge-macht hatte. Er ernennt sich selbst zum Ministerpräsidenten von Rußland undseine nächsten Freunde zu Ministern. Da ihm das Wort .Minister' zu .kapitali-stisch' klingt, nennt er sie .Volkskommissare'." . . . „Der Justizminister erläßtohne Lenins Wissen ein Gesetz, das die Todesstrafe abschafft. Als Lenin davonerfährt, schäumt er vor Ärger. ,Wie kann man eine Revolution ohne Hinrichtun-gen machen? ' fragt er. Einer der Volkskommissare schlägt vor, daß Gesetz aufdem Papier ruhig bestehen zu lassen. Die Regierung könne ja trotzdem auch wei-terhin unfolgsame (!) Bürger erschießen lassen. Lenin schmunzelt. Der listige (!)Vorschlag gefällt ihm." (Alle Zitate: Klett X, S. 113 ff - man beachte, daß esein „Minister" ist, der die Todesstrafe abschaffen, ein „Kommissar", der sie wie-der einführen will!)

„Seine Rede klang abgehackt, überzeugte aber geradezu suggestiv; besondersdie Arbeiter wurden mitgerissen vom Feuer seiner Rhetorik. . . . Überzeugendwie erschreckend wirkte sein kaum zu überbietender Radikalismus. ,Raubt dasGeraubte', rief er. Und das Millionenheer der Unterdrückten und Entrechtetenglaubte endlich einen Sprecher gefunden zu haben. Dabei ging es Lenin wederum das russische Proletariat noch um Rußland überhaupt, sondern allein um diemarxistische Zukunftshoffnung, die beginnende Weltrevolution." (Klett II , S.110)

Zur Leninschen Theorie: „Lenin war der orthodoxeste Marxist seiner Zeit; er glaubte jedes Wort, daß

Marx und Engels geschrieben hatten. Seine Gegner erschlug er mit Zitaten ausden Werken beider Autoritäten (,Zitatenschockbehandlung'). Das hinderte ihnaber nicht, Marx gelegentlich auf seine Weise zu deuten und eigene Theorienhinzuzufügen, um den Marxismus den wirtschaftlichen und politischen Entwick-lungen anzupassen, die Marx noch nicht gekannt hatte." (Klett II, S. 110 — Her-vorhebung im Original)

Da der Marxismus in allen Schulbuchdarstellungen als unrealistischeHeilslehre denunziert wird (vergl. Abschnitt „Marxismus" in diesemKapitel), andererseits Lenin — der in der internationalen Vorkriegs-sozialdemokratie zum Flügel der sogenannten „orthodoxen Marxi-sten" gehörte — der praktische Erfolg in der Leitung der sozialisti-schen Oktoberrevolution bescheinigt werden muß, stehen die Schul-buchautoren vor einem Dilemma. Besonders in neueren Darstellungenwird hier argumentiert, daß Lenin eine „Anpassung" des Marxismusan russische Verhältnisse vollzogen habe.

103

Page 104: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

„Lenin hat aber in der Zeit seiner Emigration die marxistische Theorie inwichtigen Punkten verändert . . . und im Anschluß an die konspirative und revo-lutionäre Tradition der russischen Intelligenz die heute noch geltende politischeTheorie des Kommunismus geschaffen." (Klett X, S. 81)

„Er bekennt sich zwar zu den entscheidenden Prinzipien der Marxschen Ge-schichts- und Gesellschaftstheorie, aber bei der Übernahme und Verarbeitungder Marxschen Gedanken gibt er ihnen zu einem erheblichen Teil eine Bedeu-tung, die nicht mehr mit dem übereinstimmt, was Marx vorgetragen hat." (Die-sterweg IX, S. 260)

In der vorgeblichen „Russifizierung" des Marxismus liegt gleichsamdas Verbindungsglied zwischen den „orthodoxen Marxisten" unddem „geborenen Praktiker". (Klett II, S. 110)

Eine Kritik der personalisierenden Darstellung in den Geschichts-büchern kann natürlich nicht in einer kategorischen Leugnung des Ein-flusses von Persönlichkeiten auf den geschichtlichen Verlauf bestehen.Die nationale und internationale Bedeutung der Tätigkeit Lenins wirdauch in der marxistischen Diskussion häufig hervorgehoben. Seine Be-deutung wird aber nicht aus irgendwelchen metaphysischen Qualitä-ten, z. B. einer nicht weiter abgeleiteten „Überzeugungskraft" oderähnlichem erklärt; vielmehr ist Lenin Theoretiker und bedeutendsterRepräsentant einer qualitativen Weiterentwicklung der sozialistischenBewegung, die sich nach der Oktoberrevolution weltweit in der Kon-stituierung kommunistischer Parteien manifestierte. Lenins interna-tionale Bedeutung besteht darin, daß er Fragen, die sich für die Sozia-listen in allen Ländern stellen — Probleme der Analyse der Entwick-lung vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum monopolistischenKapitalismus, Fragen der Strategie der sozialistischen Revolution unddes sozialistischen Aufbaus — theoretisch erarbeitet und praktisch ineinem Lande wesentlich vorangetrieben hat. Kurz: Lenin ist nicht zuverstehen und historisch einzuordnen ohne Kenntnis seiner Theorie und seiner praktischen Tätigkeit innerhalb der Partei der Bolschewiki.

Ein grober Überblick über die Geschichte der Partei der Bolschewikiund der internationalen Sozialdemokratie aber zeigt eindeutig, daß dieForderung nach Frieden kein kurzfristiger taktischer Trick war — wiedie Schulbücher suggerieren —, sondern eine grundsätzliche Forderung(vgl. etwa das Baseler Manifest von 1912, das zum Kampf gegen dieKriegsgefahr aufruft und insbesondere von Lenin und Rosa Luxem-burg unterstützt wurde).

Ebenso verhält es sich mit der Forderung nach Aufteilung derAdelsgüter. Auch sie war schon 1905 Bestandteil des Kampfpro-gramms der Bolschewiki.

Die Spezifik der Theorie und Praxis der Bolschewiki (wie sie etwa inLenins ,Aprilthesen' von 1917 zum Ausdruck kommt) bestand aller-dings darin, daß sie davon ausgingen, daß in Rußland, wo der Sturzder zaristischen Herrschaft auf der Tagesordnung stand, die Aufgabendieser demokratischen Revolution vom Bürgertum nicht gelöst werdenkonnten, da diese Klasse inzwischen selbst einen reaktionären Charak-ter angenommen hatte und bereit war, sich im Bündnis mit dem Adel

104

Page 105: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

gegen die Arbeiter und Bauern zu stellen. Auf der Basis dieser Er-kenntnis und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß zu Beginn des20. Jahrhunderts mit der Monopolisierung weiter Industriezweige ent-scheidende materielle Bedingungen für den Übergang zum Sozialismusvorhanden waren, entwickelte Lenin die Theorie des Hinüberwachsensder bürgerlich-demokratischen in die sozialistische Revolution, alsoeine Revolution nicht mehr unter Führung der Bourgeoisie, sondernunter Führung der Arbeiterklasse. 1 7 8

„Die Frage läuft stets auf dasselbe hinaus: Die Herrschaft derBourgeoisie ist mit wahrhaft revolutionärer, wirklicher Demokratieunvereinbar. Man kann im 20. Jahrhundert in einem kapitalistischenLand nicht revolutionärer Demokrat sein, wenn man Angst hat, zumSozialismus zu schre i t en . " 1 7 9

Diese Auffassung der Bolschewiki fand in der Praxis in der Proviso-rischen Regierung ihre Bestätigung. Ist es unter diesen Umständen ver-wunderlich, daß die Arbeiter und Soldaten von Juni 1917 an mehr-heitlich Bolschewiki in ihre Räte wählten, um ihre Interessen zu ver-treten? Die Bolschewiki waren die einzige Partei, die eindeutig ihreForderungen vertrat.

Revolution und Auflösung der Konstituierenden Versammlung

Auf den unbestreitbaren Tatbestand, daß die Bolschewiki im Oktoberdie Mehrheit der Arbeiter- und Soldatendeputierten stellten, gehen dieSchulbuchautoren offensichtlich nur widerwillig ein. In einigen Dar-stellungen wird nur der Petrograder Sowjet erwähnt, in einer anderenDarstellung wird unterstellt, daß die Mehrheit der Bolschewiki aufdem II. Gesamtrussischen Sowjetkongreß — der am 26. Oktober nachdem bewaffneten Aufstand die Sowjetregierung bildete — manipuliertsei:

„Viele Abgeordnete verließen aus Protest gegen den bolschewistischen Um-sturz den am folgenden Tag zusammentretenden Rätekongreß. So gewannen dieBolschewisten und die mit ihnen verbündeten Vertreter der landhungrigen Bau-ern die Mehrheit in ihm." (Schroedel/Schöningh V, S. 32)

Hier wird in der Argumentation deutlich, wie nicht sein kann, wasnicht sein darf: daß das von der Gesamtheit der russischen Arbeiterund Soldaten demokratisch gewählte Interessenvertretungsorganmehrheitlich aus einer angeblich kleinen, radikalen Minderheit von Be-rufsrevolutionären besteht (ca. 400 von 650 Delegierten).

In den untersuchten Büchern zeigt sich insgesamt eine ambivalenteHaltung der Autoren zum Gelingen des bewaffneten Aufstandes undzur Festigung der Sowjetmacht. Sie stehen vor dem Dilemma, einer-seits zugeben zu müssen, daß die Provisorische Regierung nicht die Be-völkerungsmehrheit hinter sich hatte, andererseits aber darauf zu in-sistieren, daß die die Staatsmacht ergreifenden Bolschewiki nicht imInteresse der Mehrheit des Volkes handelten. An diesem Punkt muß

105

Page 106: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

das Argument von der Unmündigkeit der Massen herhalten. DiesesArgument wird nicht offen ausgesprochen — in dieser Schärfe würdees dem bürgerlich-parlamentarischen Anspruch der Autoren wider-sprechen — aber es findet in subtiler Form in fast alle DarstellungenEingang (s. o.).

Ein wichtiger Rettungsanker ist für die Schulbuchautoren der Tat-bestand der Auflösung der Konstituierenden Versammlung durch denRat der Volkskommissare. Hier wird — losgelöst von der Frage, werdie wirkliche Mehrheit des Volkes repräsentierte — der antidemokra-tische Charakter der Bolschewiki festgemacht.

„Die Revolution der Bolschewisten beendete eine Epoche. Zwar hatte eineMinderheit gesiegt, wie die letzten freien Wahlen Ende 1917 bewiesen, dieseMinderheit hatte aber nach Lenins Wort ,zum entscheidenden Zeitpunkt, an derentscheidenden Stelle das ausschlaggebende Übergewicht' besessen. Über denWillen der Bevölkerungsmehrheit — von 707 Sitzen in der Konstituante erhieltendie Bolschewisten nur 175 — setzte sich Lenin mit Gewaltmaßnahmen hinweg."(Schroedel/Schöningh II, S. 84)

Diese Darstellung enthält Fehler und Verdrehungen, die symptoma-tisch sind. Die Formulierung „letzte freie Wahlen" ist falsch und trägtaußerdem eindeutig demagogischen Charakter: Die Wahlen zur Kon-stituierenden Versammlung waren nicht die letzten, sondern die er-sten und einzigen Wahlen, die in Rußland unter den Bedingungen ei-ner bürgerlichen Republik stattfanden. Implizit argumentiert dasSchulbuch hier im Sinne des Zarismus, der auch nicht davor zurückge-schreckt hatte, die Wahlen zur zaristischen Duma (einem Scheinmitbe-stimmungsgremium) als „freie Wahlen" zu bezeichnen. Zum anderenist die Behauptung, die Wahlen zu den Sowjets der Arbeiter-, Solda-ten- und Bauerndeputierten seien keine „freien Wahlen" gewesen,nicht zutreffend. Eine nähere Untersuchung erweist nämlich, daß dieZusammensetzung der Konstituierenden Versammlung im Januarnicht repräsentativ für den Willen der Bevölkerung war. In der Kon-stituante hatten die Kadetten und rechten Sozialrevolutionäre dieMehrheit. Auf dem fast zur selben Zeit Qanuar 1918) tagendenIII. Gesamtrussischen Sowjetkongreß dagegen gab es eine eindeutigeMehrheit der Bolschewiki und linken Sozialrevolutionäre. Wie ist dieszu erklären?

Klar ist, daß bei der Beantwortung dieser Frage die politische Wil-lensbildung der Bauern, also der übergroßen Mehrheit der Bevölke-rung, entscheidend ins Gewicht fällt. Außerdem muß berücksichtigtwerden, daß die Wahlen zur Konstituante bereits am 12. November1917 stattgefunden hatten. Zwischen November und Januar hatte sichjedoch eine entscheidende politische Wandlung vollzogen. Die klassi-sche Bauernpartei, die Partei der Sozialrevolutionäre, die noch imOktober einheitliche Kandidatenlisten für die Wahlen zur Konstituan-te vorgelegt hatte, war inzwischen endgültig in einen linken und einenrechten Flügel gespalten. Die Mehrheitsverhältnisse auf dem Kongreßder Bauerndeputierten (November/Dezember 1917) machen deut-lich, daß schon zu diesem Zeitpunkt etwa die Hälfte der Bauern die

106

Page 107: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

linken Sozialrevolutionäre gewählt hatte. Auf den Kandidatenlistenzur Konstituante vom Oktober 1917 waren aber fast ausschließlichrechte Sozialrevolutionäre vertreten.

Insofern kann durchaus nicht etwa der gesamtrussische Sowjetkon-greß, sondern die Konstituierende Versammlung als Verfälschung des Wählerwillens bezeichnet werden . 1 8 0

Trotz dieser Tatsachen sprach sich das Zentralexekutivkomiteeder Sowjets ( Z E K ) 1 8 1 zunächst für die Abhaltung der Konstituante ausund schlug dieser vor, ein Gesetz über Neuwahlen zu verabschieden.Erst als dieser Vorschlag von der konterrevolutionären Mehrheit abge-lehnt wurde, beschloß das ZEK die Auflösung der Versammlung.

Zwar wird man kaum verlangen können, daß ein Schulbuch diesekomplizierten Zusammenhänge im einzelnen darstellt, man wird abererwarten dürfen, daß die erzwungene Vereinfachung keine Verkeh-rung der historischen Realität bedeutet, sondern ihre richtige Zusam-menfassung. Ohne Frage ist die falsche Vereinfachung der Geschichtein Schulbüchern nicht von zufälliger Art: Die Verdrehungen und Aus-lassungen haben Methode.

Im übrigen werden die Schulbuchautoren — mit einigem Recht — davon ausgegangen sein, daß es bei der Denunzierung der Ereignisseder Oktoberrevolution kaum sonderlicher Mühe bedürfe: Sie könnenja aufbauen auf einem Bewußtsein der Bevölkerung, das durch 50 Jah-re massive antibolschewistische Propaganda der Herrschenden geprägtist.

2. Novemberrevolution

Die Novemberrevolution 1918 in Deutschland hat in unserem Zusam-menhang insofern einige Bedeutung, als die Etablierung der bürger-lich-parlamentarischen Republik in Deutschland gegen den Widerstandeiner sozialistischen Opposition, die weitergehende Forderungen hat-te, unmittelbar im Zusammenhang mit der heutigen gesellschaftlichenSituation interpretierbar ist. Mit der sozialdemokratischen Führungunter Ebert ist hier zugleich ein hervorragendes Identifikationsobjekt(Vaterfigur) für die Schüler vorgegeben, die lernen sollen, daß es gilt,die „freiheitlich-demokratische Grundordnung" gegen alle „kommu-nistischen" und „totalitären" Angriffe zu verteidigen.

„Die Schüler sollen erkennen, wie es den demokratischen Kräften in Deutsch-land unter Führung Eberts gelang, die Gefahr einer extremistischen Entwicklungzu bannen und den Übergang zu einer verfassungsmäßig gesicherten parlamenta-rischen Demokratie zu gewährleisten." (Schroedel/Schöningh VIII , S. 72)

Diese Lernzielbestimmung der Didaktik liegt in Einzeldarstellungenaller Schulbücher inhaltlich zugrunde. Es werden dabei folgendeSchwerpunkte gesetzt:

Die revolutionäre Situation ergibt sich aus dem militärischen Zu-sammenbruch der Mittelmächte. Dieser Zusammenbruch resultiert in

107

Page 108: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

den Schulbüchern hauptsächlich aus einer fehlerhaften Politik des kai-serlichen Regimes, aus dem Primat militärischer Überlegungen gegen-über politischen und der Machtstellung der Obersten Heeresleitung.Der drohende Zusammenbruch der Westfront wird aus der Material-überlegenheit der Ententetruppen erklärt. Diese Überlegenheit ist vorallem ein Produkt des Kriegseintritts der USA, der als Resultat desvon Deutschland begonnenen uneingeschränkten U-Boot-Krieges dar-gestellt wird.

„Wieder hatte sich die politische Führung den militärischen Forderungen ge-beugt." (Schroedel/Schöningh V, S. 30)

Die Aufforderung der Obersten Heeresleitung an den Reichskanzlerin sofortige Waffenstillstandsverhandlungen zu treten, wird als poli-tisch unvertretbar charakterisiert.

„Da verlor Ludendorff die Nerven; völlig kopflos verlangte er am 28. 9. vonder Regierung sofort ein Gesuch um Waffenstillstand, denn er befürchtete täg-lich den Zusammenbruch der Westfront und den Marsch der Alliierten über dieDonau gegen die SO-Flanke des Reiches.

Kaiser und Reichsleitung hatten gerade den Plan einer ,Revolution von oben'gefaßt, um die in Auflösung begriffene Heimatfront noch einmal zusammenzu-fassen. Reichskanzler Hertling trat zurück, Deutschland wurde parlamentarische Monarchie, Preußen erhielt das allgemeine, gleiche Wahlrecht . . .

. . . So ließ Prinz Max (v. Baden, d. Verf.) auf immer neues Drängen der OHLin der Nacht vom 3. zum 4. Oktober gegen seine Überzeugung die Note an denamerikanischen Präsidenten abgehen, die die deutsche Kapitulation einleitete.

. . . Wilsons Notenwechsel erweckte immer mehr den Eindruck, als verlange erzur Sicherung der demokratischen Staatsform in Deutschland die Beseitigungder Monarchie. Prinz Max versuchte deshalb, Wilhelm II. rechtzeitig zur Abdan-kung zu bewegen, um wenigstens die Monarchie zu retten; aber der Kaiser warentschlußlos. Da begann mit einer Marinemeuterei in Kiel der innerdeutsche Zu-sammenbruch." (Klett II, S. 101 f.)

In dieser Darstellung wird der Eindruck erweckt, der „Zusammen-bruch" der Monarchie sei wesentlich Produkt einer unflexiblen Politikder Reichsregierung, die zuviel Rücksicht auf die Militärs genommenund die „Revolution von oben" nicht schnell genug durchgeführt ha-be.

„Wilhelm II. schwankt in seinen Entschlüssen. Er zögert so lange, bis AnfangNovember 1918 in Kiel die Matrosen auf den Kriegsschiffen zu meutern begin-nen." (Klett X, S. 112)

„Die Bildung einer dem Parlament verantwortlichen Regierung war zu spät ge-kommen, um die über das Versagen der deutschen Führung erregten, kriegsmü-den Volksmassen zu beschwichtigen." (Schroedel/Schöningh V, S. 36)

In dieser Darstellung der Hintergründe der Novemberrevolutionzeigt sich wiederum die Unfähigkeit der Schulbuchautoren, Revolu-tionen und andere große soziale Bewegungen aus den inneren Wider-sprüchen einer Gesellschaft zu erklären. Außenpolitische Faktorenund die subjektive Unfähigkeit von Regierungsvertretern werden zuUrsachen der Revolution ernannt. So muß offenbleiben, warum dieVersuche der Herrschenden, durch Zugeständnisse — die Aufnahmevon Friedensverhandlungen und die Einbeziehung von Sozialdemokra-

108

Page 109: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

109

ten in die Regierung — ihre Herrschaftsposition zu retten, scheiterten.Die Autoren sind offensichtlich außerstande, beschleunigende Mo-mente der Entwicklung einer revolutionären Situation (und um solchehandelt es sich bei den angeführten „Ursachen") von den tieferen so-zialen Wurzeln des Konflikts zu unterscheiden, über die sie kein Wortverlieren. Was für die Petrograder Arbeiter gilt, gilt auch für die KielerMatrosen. Sie waren keine „wilden Haufen", sondern organisierte, ge-werkschaftlich und politisch aktive Arbeiter. Sie waren nicht etwa„über das Versagen der deutschen Führung erregt" — eine solche Dar-stellung unterschiebt ihnen, letztlich seien sie ja mit der Kriegspolitikeinverstanden gewesen, nur die miserable Führung habe sie unzufrie-den gemacht —, sie befanden sich vielmehr in einer prinzipiellen Op-position zum kaiserlichen Regime. Dieselben Matrosen hatten schonim Juli/August 1917 gemeutert — allerdings erfolglos. Zwei ihrerFührer, die Matrosen Reichpietsch und Köbis, waren zum Tode verur-teilt worden. Die Matrosenmeuterei vom November 1918 ist nur imZusammenhang mit den vielen Antikriegsaktionen zu verstehen, dieseit 1916 stattgefunden hatten (z. B. dem Berliner Munitionsarbeiter-streik vom Januar 1918) . Daß diese Aktionen nicht schon eher erfolg-reich waren, hat unter anderem seine Ursache darin, daß die Arbeiter-bewegung seit 1914 faktisch gespalten war. Die offiziellen Führer derArbeiterbewegung, die sozialdemokratische Führungsspitze und dieParlamentsfraktion, hatten 1914 mit dem kaiserlichen Regime ge-meinsame Sache gemacht und entgegen allen Beschlüssen der soziali-stischen Internationale die Kriegskredite bewilligt. Der innerpartei-liche Widerstand gegen diese Politik manifestierte sich zunächst nur inder Bildung der oppositionellen Spartakusgruppe, dann, 1917, kam esendgültig zur Spaltung der Partei (Bildung der USPD).

Es ist erwiesen, daß sowohl Ludendorff als auch die Reichsregierungrelativ früh und klug kalkulierend die Einbeziehung der sozialdemo-kratischen Führer in die Regierungsgeschäfte geplant haben. So äu-ßerte Ludendorff am 1. Oktober 1918 :

„Ich habe aber S. M. (den Kaiser, d. Verf.) gebeten, jetzt auch die-jenigen Kreise in die Regierung zu bringen, denen wir es in der Haupt-sache zu danken haben, daß wir so weit gekommen sind. Wir werdenalso diese Herren jetzt in die Ministerien einziehen sehen. Die sollenden Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muß. Sie sollendie Suppe essen, die sie uns eingebrockt h a b e n . " 1 8 2

Von einer Besprechung General Groeners mit den sozialdemokra-tischen Führern wird berichtet: „Nachdem alle Herren versammeltwaren, besprach zunächst Ebert die Lage in kurzen Ausführungen. Essei jetzt nicht die Zeit, nach den Schuldigen für den allgemeinen Zu-sammenbruch zu suchen. Die allgemeine Stimmung im Volk sähe aberim Kaiser den Schuldigen, ob mit Recht oder Unrecht, sei jetzt gleich-gültig. Die Hauptsache sei, daß das Volk den vermeintlichen Schuldi-gen an dem Unglück von seinem Platz entfernt sehen wolle. Daher seidie Abdankung des Kaisers, wenn man den Übergang der Massen in

Page 110: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

das Lager der Revolutionäre und damit der Revolution verhindernwolle, unumgänglich notwendig. Er schlage vor, daß der Kaiser nochheute, spätestens morgen (7. November, d. Verf.) freiwillig seine Ab-dankung erkläre und einen seiner Söhne, vielleicht den Prinzen EitelFriedrich oder den Prinzen Oskar, mit der Regentschaft b e t r a u e . " 1 8 3

Ebert, Scheidemann und Noske waren bereit, mit den Vertreternder Generalität ein Bündnis für eine konstitutionelle Monarchie einzu-gehen — daß dieses gemeinsame politische Ziel nicht realisiert wurde,hat andere Gründe als ein Zögern des Kaisers. Offensichtlich half kei-ne noch so kluge politische Taktik mehr, das Gefürchtete zu verhin-dern. Auch der rechte Flügel der Sozialdemokratie konnte die revolu-tionären Ereignisse nicht mehr aufhalten. Hierzu heißt es in demsel-ben Bericht:

„ . . . war der Staatssekretär Scheidemann ans Telephon gerufenworden. Nach wenigen Minuten kam er kreidebleich, vor Aufregungam ganzen Körper zitternd, wieder herein und unterbrach den Abge-ordneten David mit den Worten: ,Die Abdankungsfrage steht jetzt garnicht mehr zu Diskussion. Die Revolution marschiert.' . . . Als dieHerren sämtlich das Zimmer verlassen hatten, äußerte ich (Oberstv. Haeften, d. Verf.) zu General Groener: ,Das bedeutet die Revolu-tion — diese Führer haben die Massen nicht mehr in der Hand. Wennsie deren Willen nicht tun, sind die Generäle ohne T r u p p e n . ' " 1 8 4

In den Schulbüchern wird nicht deutlich, daß alle Gruppierungendes herrschenden Systems — OHL, Regierung und Kaiser — vor einemobjektiven Dilemma standen: entweder durch schnelle Friedensbe-mühungen alle Kriegsziele aufzugeben oder durch weitere Kriegfüh-rung die Revolution zu beschleunigen. In dieser Situation suchten sieRettung in der Übergabe der Regierungsgeschäfte an die Sozialdemo-kratie.

„,Der Kaiser hat abgedankt', verkündet mittags (d. 9. Nov., d. Verf.) derReichskanzler Prinz Max von Baden. Dann tritt er zurück und übergibt sein Amtdem Sozialdemokraten Friedrich Ebert, dem Führer der stärksten Partei imReichstag. ,Ich lege Ihnen das Deutsche Reich ans Herz', sagt der scheidendeKanzler mit bewegter Stimme. Ebert senkt den Blick. ,Ich habe für dieses Reichwährend des Krieges zwei Söhne geopfert', gibt er leise zur Antwort." (Klett X,S. 117)

Es ist bezeichnend, daß die hier zitierte Darstellung der Übergabeder Regierungsgeschäfte an die sozialdemokratische Führung fastwörtlich — und kommentarlos — aus den Memoiren Prinz Max v. Ba-dens abgeschrieben i s t . 1 8 5 Hier erweist sich die Geschichtsschreibungder Schulbuchautoren buchstäblich als Geschichtsschreibung aus demBlickwinkel der reaktionären, antidemokratischen Kräfte.

Gleichzeitig verrät diese Vorgehensweise, daß die Schulbuchautorenauch bei der Darstellung der Novemberrevolution die Vorgänge per-sonalisieren. Der Kaiser, der General, der Prinz und der Parteiführersind die Hauptakteure. Dabei gewinnt die Person Eberts geradezuSymbolcharakter.

Die Didaktik rät, die Person Eberts und seine Rolle in der Novem-

110

Page 111: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

berrevolution folgendermaßen zu behandeln:„Ebert traute den Deutschen einen revolutionären Umsturz nicht zu; er war

davon überzeugt, daß der Appell an die Einsicht in die Notwendigkeit des Au-genblicks und die dem einzelnen übergeordneten Interessen der Gemeinschafterfolgreich sein würde; er selbst stellte das Ganze über den Teil (die Nation überdie Klasse, das Volk über die Partei) . . . " (Schroedel/Schöningh VIII , S. 73)

Ebert verkörpert in den Schulbuchdarstellungen den über den Klas-sen und Parteien stehenden Repräsentanten der bürgerlich-parlamenta-rischen Demokratie. Als sozial aufgestiegener Sohn eines Flickschnei-ders ist er ein Symbol, durch das auch die Arbeiterklasse als in dasSystem integriert erscheint.

, J e t z t am Ende des Weltkriegs, als die Großen versagen, soll er, der einfacheMann aus dem Arbeiterstand, über das künftige Schicksal Deutschlands entschei-den." (Klett X, S. 117)

Nur Borniertheit und Kurzsichtigkeit hindern die Vertreter des al-ten kaiserlichen Regimes daran, ihn als Garanten auch ihrer Interessenzu akzeptieren.

„Eberts Gegner auf der Rechten vermochten nicht, über die soziale und poli-tische Herkunft des Präsidenten hinwegzusehen und sein staatsmännisches Ge-schick zu würdigen. Sie verfolgten ihn bis in den Tod mit Hohn und gemeinerVerleumdung als ,Landesverräter'. Für die Kommunisten blieb er bis heute ein,Arbeiterverräter'." (Schroedel/Schöningh V, S. 70)

Ebert ist also als Prototyp des „Mannes der Mitte" vorzustellen. Werihm vorwirft, er habe gegen die Interessen der Arbeiterschaft gehan-delt, als er sich mit der Reaktion verbündete, macht sich demnach ei-ner totalitären Anschauungsweise schuldig — wie durch die sprach-liche Gleichsetzung rechter und linker Ebertgegner im zuletzt zitiertenSchulbuch suggeriert wird.

Eberts historische Leistung besteht in den Schulbuchdarstellungenvor allem darin, die Gefahr von links abgewendet zu haben.

„Ebert wurde zum Reichspräsidenten gewählt. Damit zollten die Abgeordne-ten dem Politiker Anerkennung, der in entscheidender Stellung durch sein be-sonnenes Wirken den Ubergang vom Kaiserstaat zur Republik gelenkt und dabeidie Gefahr der Bolschewisierung abgewehrt hatte." (Schroedel/Schöningh V, S. 69)

Die linkssozialdemokratische und kommunistische Opposition ge-gen den Kurs der rechten Sozialdemokratie unter Ebert, Noske undScheidemann, vor allem die Politik der neugegründeten KPD, die eineSicherung der Ergebnisse der Revolution durch die Arbeiter- und Sol-datenräte forderte, wird als „bolschewistisch" und somit „russisch"denunziert.

„Die Herrschaft der Spartakisten war eine ,Schreckensherrschaft'." (Schroe-del/Schöningh VIII , S. 73)

„Die ,Spartakisten' erstrebten unter Führung Karl Liebknechts und RosaLuxemburgs eine radikale Umwälzung, einen Rätestaat nach russischem Mu-ster." (Schroedel/Schöningh V, S. 66)

Auch in der Darstellung der Novemberrevolution wird wieder derunvermittelte Gegensatz von Demokratie und Diktatur konstruiert.Die Spartakisten firmieren als „antidemokratische Kräfte". (Schroe-del/Schöningh VIII , S. 73)

111

Page 112: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

„Diese Entscheidung (Einberufung der Nationalversammlung durch Ebert, d.Verf.) erweckte wilden Haß bei den Kommunisten, wie sich Liebknechts Anhän-ger jetzt nach russischem Vorbild nennen. Bei freien Wahlen haben sie keineAussicht, eine Mehrheit zu erringen. Daher plant Liebknecht vorher einen Ge-waltstreich gegen die rechtmäßige Regierung." (Schroedel/Schöningh VIII , S.118)

Der Druck der Linken auf die rechtssozialdemokratische Regierungstellt diese vor die Alternative, entweder Zugeständnisse gegenüberderen Forderungen zu machen, oder sich mit den Kräften des kaiser-lichen Regimes zu verbünden. Der Januaraufstand wird nach diesemSchema erklärt: Links schaukelt rechts hoch.

„Im Januar 1919 kam es erneut in Berlin zu schweren Straßenkämpfen.Die Regierung glaubte, dieser Bedrohung des Staates durch die radikale Linke

nur dadurch Herr werden zu können, daß sie sich auf die Kräfte der Rechtenstützte, die in der Mehrheit aber auch antidemokratisch eingestellt waren."(Schroedel/Schöningh V, S. 66)

„Damit war es der Regierung gelungen, die parlamentarisch-demokratischeStaatsordnung gegen die Anhänger des Rätestaates durchzusetzen. Sie hatte frei-lich wesentliche Machtbefugnisse an ihre Gegner von rechts übertragen müssen."(Schroedel/Schöningh V, S. 69)

Diese Erklärungsweise der Anfänge der Weimarer Republik hat gro-ße Bedeutung im Zusammenhang mit der Darstellung des Endes derRepublik und des sogenannten Totalitarismus.

Die zentralen Thesen dieser Darstellung— daß die SPD mit Ebert an der Spitze einen konsequent demokrati-schen Kurs verfolgt habe,— daß die Entstehung der Räte und die Gründung der KPD sich „nachrussischem Muster" vollzogen hätten,— daß das schließliche Bündnis Eberts mit der Reichswehr und denFreikorps eine Reaktion auf putschistische Aktionen der KPD sei — können nur auf Grund von Auslassungen und Verdrehungen der histo-rischen Faktizität aufrechterhalten werden.

Die Revolution breitete sich von Kiel aus über ganz Deutschland ausund schuf sich ihre Organe, die Arbeiter- und Soldatenräte. Selbst derkonservative Historiker G. A. Ritter betont, daß die Bildung der Räte„ s p o n t a n " 1 8 6 vor sich ging. Insofern ist es einfach falsch, wenn inden Schulbuchdarstellungen gesagt wird, der Spartakusbund erstrebeeine Räteherrschaft nach russischem Muster. Liebknecht und Luxem-burg forderten vielmehr nichts anderes, als die Anerkennung derjeni-gen Organe, die den Sturz der alten Ordnung in Deutschland herbeige-führt hatten, als rechtmäßige Institutionen einer neuen Staatsordnung.Sie forderten dies, obwohl die Kommunisten/Spartakisten in denRäten nur eine kleine Minderheit darstellten. Die Führer der rechtenSozialdemokratie konnten sich in den ersten Tagen der Revolutiondieser Forderung, die offensichlich nicht nur von Liebknecht gestellt,sondern von der Mehrheit der Berliner Arbeiter unterstützt wurde,nicht ganz entziehen. Sie sahen sich gezwungen, sich als „Volksbeauf-tragte" vom Berliner Arbeiter- und Soldatenrat bestätigen zu lassen.

1 1 2

Page 113: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Im Verlaufe der nächsten Wochen gelang es den Regierungssoziali-sten jedoch, ihre Position zu festigen, nicht zuletzt deshalb, weil siedurch die Einbeziehung von USPD-Mitgliedern in den Rat der Volks-beauftragten ihre Basis in der Arbeiterschaft festigen konnten.

Der am 16. Dezember 1918 zusammengetretene Reichsrätekongreßentmachtete sich selbst zugunsten der Nationalversammlung. DerKongreß betonte zwar: „Die Kommandogewalt über Heer, Marine undSchutztruppen üben die Volksbeauftragten unter Kontrolle des Voll-zugsrats (der Arbeiter- und Soldatenräte, Hervorhebung v. d. Verf.)a u s . " 1 8 7 Damit verkannte er jedoch die Situation. Intensive Vorberei-tungen waren schon im Gange, „in Berlin die Gewalt den Arbeiter-und Soldatenräten zu en t re ißen" . 1 8 8 General Groener berichtet überdie Pläne beim Truppeneinzug in Berlin am 10. Dezember 1918:

„Wir haben für diesen Einmarsch, der gleichzeitig die Gelegenheitbringen sollte, wieder eine feste Regierung in Berlin aufzustellen — ichmuß jetzt unter meinem Eid aussagen, die Herren haben mich gefragt,infolgedessen muß ich in Gottes Namen reden, was ich bisher immeraus guten Gründen nicht getan habe — ein militärisches Programm aus-gearbeitet für die Einzugstage.

In diesem Programm war tageweise enthalten, was zu geschehenhätte: die Entwaffnung Berlins, die Säuberung Berlins von Spartaki-den usw. . . . Ich bin Herrn Ebert dafür dankbar und habe ihn auch,wegen seiner absoluten Vaterlandsliebe und restlosen Hingebung andie Sache überall verteidigt, wo er angegriffen w u r d e . " 1 8 9

Gleichzeitig kam es zu Provokationen von der Seite der Gegenre-volution. Schon am 6. Dezember hatten Gardefüsiliere auf eine fried-liche Spartakus-Demonstration geschossen, während gleichzeitig Sol-daten versuchten, den Berliner Vollzugsrat zu verhaften und Ebertzum „Reichspräsidenten" zu e rnennen . 1 9 0

Diese Entwicklung fand ihren Höhepunkt im Januar 1919 mit derAbsetzung des linkssozialistischen Berliner Polizeipräsidenten Eich-horn durch den — inzwischen nur noch aus Mehrheitssozialisten be-stehenden — Rat der Volksbeauftragten. In Reaktion darauf kam eszum Versuch eines bewaffneten Aufstandes gegen Ebert und Scheide-mann, zu den sogenannten Januarunruhen. Dieser Aufstandsversuchwar keineswegs von der KPD geplant. Am 5. Januar kam es zu einerProtestdemonstration gegen die Entlassung Eichhorns, an der sich ca.100 000 Berliner Bürger beteiligten. Die Führer der Berliner Arbeiter-schaft, die „revolutionären Obleute", unter denen die KPD nur eine1/5 -Minderheit stellte, entschlossen sich zum Aufstand. Die KPDschloß sich der Mehrheit an, obwohl sie noch vorher die Auffassungvertreten hatte, „daß es sinnlos sei, die ,Regierung' anzustreben. Nachihrer Meinung hätte eine auf das Proletariat gestützte Regierung nichtlänger als 14 Tage zu leben g e h a b t . " 1 9 1

Insofern ist es absurd, wenn in einer Unterstufen-Schulbuchdarstel-lung von einem geplanten „Gewaltstreich" Liebknechts die Rede ist.(Klett X, S. 118)

113

Page 114: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Liebknecht selbst schrieb zu den Ereignissen in seinem letzten Arti-kel vor seiner und Rosa Luxemburgs Ermordung:

,„Spartakus niedergerungen!' . . .Jawohl, sie wurden geschlagen, und es war historisches Gebot, daß

sie geschlagen wurden. Denn die Zeit war noch nicht reif. Unddennoch — der Kampf war unvermeidlich, denn das Polizeipräsidium,dieses Palladium der Revolution, den Eugen Ernst und Hirsch kampf-los preisgeben, wäre ehrlose Niederlage gewesen. Der Kampf war demProletariat aufgezwungen von der Ebert-Bande; und elementar braustees aus den Berliner Massen hervor — über alle Zweifel und Bedenkenhinweg.

Jawohl! Die revolutionären Arbeiter Berlins wurden geschlagen.Und Ebert-Scheidemann-Noske haben gesiegt. Sie haben gesiegt, denn die Generalität, die Bürokratie, die Junker von Schlot und Kraut, die Pfaffen und die Geldsäcke, und alles was engbrüstig, beschränkt, rückständig ist, stand bei ihnen: Und siegte für sie mit Kartätschen, Gasbomben und Minenwerfern."192

Nach der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburgwar es Ebert, der im aktiven Bündnis mit der Reaktion die militärischeBesetzung Berlins geplant hatte, nach knapp zwei Monaten gelungen,das zu „gewährleisten", was die Schulbücher „den Übergang zur ver-fassungsmäßig gesicherten parlamentarischen Demokratie" nennen.

E. Das Ende der Weimarer Republik

Mit der Weimarer Republik war als Ergebnis der Novemberrevolutiondie erste bürgerlich-parlamentarische Demokratie auf deutschem Bodenentstanden. Bürgerlich war diese Demokratie darum, weil sie — ebensowie das von ihr abgelöste Kaiserreich — auf bürgerlichen Eigentums-verhältnissen, also der kapitalistischen Produktionsweise beruhte. Po-litisch jedoch setzte die Republik an die Stelle des kaiserlichen Obrig-keitsstaates ein parlamentarisches System und war insofern ein wich-tiger gesellschaftlicher Fortschritt in der deutschen Geschichte. DerFortschritt währte aber nur wenige Jahre: Ende der 20er und Anfangder 30er Jahre wurde die demokratische Verfassung zunächst durcheine Reihe von Präsidialdiktaturen ausgehöhlt (Brüning, Papen, Schlei-cher), bis schließlich 1933 die faschistische Diktatur die Republikvollständig vernichtete.

Nach 1945 wurde in den Westzonen auf Betreiben der Besatzungs-mächte ein politisches System geschaffen, das der Weimarer Republikähnlich ist: Auch die BRD ist eine bürgerlich-parlamentarische Demo-kratie. Eine Untersuchung der für die Zerstörung der Weimarer Re-publik verantwortlichen gesellschaftlichen und politischen Kräfte istdaher von konkreter und aktueller Bedeutung. Aus der historischenUntersuchung ergibt sich nämlich die Antwort auf die Frage, welche

114

Page 115: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Kräfte in der BRD das erreichte Maß an Demokratie bedrohen odereines Tages bedrohen könnten. Zunächst ein Blick in die Schulbücher.

Die Weimarer Republik war auch nach Auffassung der Schulbuchau-toren die erste deutsche Demokratie (die Bezeichnung „bürgerlicheDemokratie" verwenden sie allerdings nicht — eine andere Form derDemokratie als die bürgerliche gibt es nach ihrer Meinung offenbarnicht). Während aber die Verfassung nach Ansicht der Schulbuchauto-ren ein Höchstmaß an Demokratie ermöglichte, war das Volk infolgeder obrigkeitsstaatlichen deutschen Tradition an demokratische Denk-und Verhaltensweisen noch nicht hinreichend gewöhnt. Zu dem Man-gel an demokratischem Bewußtsein der Bürger kam — so die Darstel-lung in den Schulbüchern — die Weltwirtschaftskrise mit ihren ver-heerenden sozialen Folgen wie Massenarbeitslosigkeit, Kurzarbeit undHungersnot. Diese beiden Faktoren ermöglichten es den radikalen Parteien von rechts und links (Nationalsozialisten und Kommunisten),die Wähler gegen die bestehende Demokratie aufzuhetzen; schließlichlöste die nationalsozialistische Diktatur die demokratische Republikab.

Dies sind die Grundgedanken der Schulbuchautoren bei der Be-schreibung des Untergangs der Weimarer Republik. Sie werden im fol-genden zunächst mit Zitaten aus den Schulbüchern belegt. Im An-schluß daran wird kurz erläutert, welche aktuelle politische Funktiondie These von der Zerstörung der Weimarer Republik durch die Extre-men von rechts und links besitzt. Am Ende werden einige Einwändegegen diese Geschichtsinterpretation formuliert.

Die Verfassung der Weimarer Republik wird — als „Beweis" für diedemokratische Struktur der Republik — in allen Schulgeschichtsbü-chern verhältnismäßig ausführlich dargestellt. Während einerseits dieVerfassung insgesamt als sehr fortschrittlich, freiheitlich und demo-kratisch gewertet wird, betonen die Autoren andererseits die mangeln-de inhaltliche Ausfüllung der Demokratie durch die Staatsbürger, de-nen es an demokratischem Bewußtsein gefehlt habe.

„Allen Unruhen und Umsturzversuchen nach Kriegsende zum Trotz gelang esEbert und seiner Partei, Deutschland auf den Weg zu einem freiheitlichen demo-kratischen Rechtsstaat zu führen . . . Es wurde eine sehr freiheitliche Verfas-sung . . . Eines aber konnte auch die beste Verfassung nicht schaffen: GenügendMenschen, die sich für den neuen Staat einsetzten . . . Was der deutschen Re-publik fehlte, um in guter Verfassung zu sein, waren bewußte Republikaner."(Klett VI, S. 29)

„Da die alte Gesellschaftsordnung mit ihrer wirtschaftlichen und verwaltungs-technischen Machtverteilung im wesentlichen erhalten geblieben war, entsprachder demokratischen Verfassungsstruktur kein hinreichend starkes demokrati-sches Staatsgefühl . . . Die politische Einsicht der Bürger entsprach nicht ihrerVerfassung." (Schroedel/Schöningh II, S. 106)

„Unter schwerer äußerer und innerer Bedrängnis war diese Verfassung geschaf-fen worden, die man im Hinblick auf die Freiheit und Einflußmöglichkeit, diesie den Bürgern gewährte, als die demokratischste der Welt bezeichnete. Sie setz-te allerdings eine politische Reife voraus, die das deutsche Volk aufgrund derbisherigen obrigkeitsstaatlichen Verhältnisse noch nicht besaß. Ihre Bestimmun-

115

Page 116: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

gen gewährten Freiheiten, die von den Feinden der Freiheit mißbraucht werdenkonnten." (Schroedel/Schöningh V, S. 72)

Einerseits beklagen also die Schulbücher das mangelnde demokra-tische Bewußtsein der Massen und führen es zu Recht auf obrigkeits-staatliche Traditionen zurück. Andererseits hat unsere Analyse an an-deren Stellen gezeigt, daß die Massen überall, wo sie in der Geschichteselbständig zu handeln versuchen, von den Schulbuchautoren denun-ziert werden. Am Beispiel der Französischen Revolution, des Bauern-krieges, der Oktober- und Novemberrevolution ließ sich immer wiederzeigen, daß die z. T. gewaltsame Unterdrückung von Emanzipationsbe-strebungen der Volksmassen in den Schulbüchern positiv als Wieder-herstellung von „Ruhe und Ordnung" bewertet wird. Wie aber soll einVolk demokratisches Bewußtsein entwickeln, wenn dessen Versuche,eine reale Demokratie zu errichten (1848er Revolution, Novemberre-volution 1918) , stets von der jeweils herrschenden Klasse und ihremStaat unterdrückt wurden? Die Darstellung der Schulbücher ist hieralso schon in sich widersprüchlich. Ein ähnlicher Widerspruch liegtvor, wenn man das Weiterbestehen der „alten Gesellschaftsordnung"und „Machtverteilung" als Grund dafür nennt, daß die Demokratienicht zu Kräften kam, andererseits aber gerade die Parteien, die dafürverantwortlich waren, als „demokratisch" bezeichnet, die Kräfte dage-gen, die Gesellschaftsordnung und Machtverteilung verändern wollten,als „undemokratisch" diffamiert.

Der Mangel an demokratischem Bewußtsein bildete jedenfalls — nach Auffassung der Schulbuchautoren — von Beginn der Republik anden Nährboden für die Wühlarbeit der „Radikalen von rechts undlinks". Nationalsozialisten und Deutschnationale einerseits, Kom-munisten andererseits werden gemeinsam als „Radikale", „Extre-me", „Antidemokratische Kräfte" oder „Republikfeinde" bezeichnetund den „demokratischen" Parteien der Weimarer Koalition gegen-übergestellt. Die Gemeinsamkeiten von Rechts- und Linksradikalenbestehen dabei — angeblich — vor allem in ihren Zielsetzungen. Daseinzige konkret benannte gemeinsame Ziel ist allerdings die Opposi-tion gegen die parlamentarische Demokratie. Was an deren Stelle ge-setzt werden soll, wird entweder überhaupt nicht gesagt oder durchnegative Reizworte („Bolschewistische Diktatur") ausgedrückt, dieeine inhaltliche Argumentation ersetzen sollen.

„Von Anfang an bedrohten die extremen Parteien von rechts und links ihre(der Weimarer Republik, d. Verf.) Existenz. Die Rechtskreise wünschten dieRückkehr in die Monarchie, die Kommunisten eine Diktatur nach bolschewisti-schem Muster." (Klett II, S. 145)

„Feinde der Republik waren vor allem die Rechtsradikalen, die ihr die Schuldam verlorenen Kriege gaben und zum alten Obrigkeitsstaat zurück wollten, unddie kommunistischen Linksradikalen." (Klett VI, S. 37)

Überschrift: „Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik". „Füreine Demokratie ist eine starke Opposition gut, für die Weimarer Demokratieaber war die Opposition lebensgefährlich, denn sie stand bald nicht mehr aufdem Boden der Verfassung, sondern wandte sich gegen den Weimarer Staat über-

116

Page 117: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

haupt, gegen jede Demokratie oder zumindest gegen ihre parlamentarischeForm. Die Kommunisten lehnten den bürgerlichen Staat und seine kapitalisti-sche Wirtschaftsform ab. Die radikale Rechte verwarf die Demokratie als nüch-tern-rationales Gebilde zugunsten eines Irrationalismus . . . " (Schroedel/Schö-ningh II, S. 111)

Wenn man die im letzten Zitat enthaltene Behauptung, für eine De-mokratie sei eine starke Opposition gut, für die Weimarer Demokratieaber sei sie „lebensgefährlich" gewesen, zu Ende denkt, offenbartsich, wie geschichtslos die Gesellschaftsauffassung der Schulbuchauto-ren ist. Es gibt nämlich danach eine „gute Opposition" — gemeint sinddie Parteien, die den Status quo der Gesellschaft akzeptieren und nurinnerhalb der bestehenden Ordnung divergierende Auffassungen ha-ben — und eine „schlechte (lebensgefährliche) Opposition" — gemeintsind ohne Unterschied alle Kräfte, die eine ,grundlegende' Verände-rung, was wiederum nicht genau definiert wird, der Verhältnissewünschen. Die „schlechte" Opposition, so impliziert unausgesprochendas Schulbuch, sollte man nicht dulden, um das „Leben" der Demo-kratie nicht zu gefährden. In der Praxis heißt es: Alle systemkritischenKräfte sind zu unterdrücken, jede Entwicklung der menschlichen Ge-sellschaft über den jeweils herrschenden Zustand hinaus ist zu verhin-dern. Die bestehende bürgerliche Gesellschaft wird damit willkürlichzum Endzustand der Menschheitsgeschichte e rk l ä r t . 1 9 3 Außerdemwird durch die Gleichsetzung von links und rechts unter dem Oberbe-griff „radikal" die historische Realität auf den Kopf gestellt — diepolitische Rechte, so extrem sie immer sein mag, ist niemals radikal, da ihre Kritik sich auf die Staatsform, die Sitten usw. beschränkt unddie Gesellschaftsstrukturen niemals angreift — und damit die Emanzi-pation (die nur von links erkämpft werden kann) durch die krudeReaktion, mit der sie wesensgleich sei, diskreditiert. Wenn man dieGeschichte auf diese Weise undeutlich gemacht hat, ergibt sich dasVerschweigen der Tatsache, daß der antifaschistische Widerstand vonAnfang an fast ausschließlich von der politischen Linken, insbeson-dere von den Kommunisten getragen wurde (s.u.), als notwendigeKonsequenz.

Durch den Mangel an demokratischer Gesinnung im Volk war nachAnsicht der Schulbuchautoren die Möglichkeit für das Wirken der„Radikalen" gegeben. Damit aus dieser Möglichkeit geschichtlicheWirklichkeit wurde, mußten Umstände eintreten, die das Volk im ver-stärkten Maße in die Arme der „Radikalen" trieben. Diese Umständesehen die Schulgeschichtsbücher vor allem in der Wirtschaftskrise 1 9 4

mit ihren sozialen Folgen: der Massenarbeitslosigkeit und dem damitverbundenen Elend.

„In manchen Städten war jeder dritte Arbeitnehmer ohne Verdienst. Vonmorgens bis abends saßen kräftige, gesunde Männer in den öffentlichen Anlagenund spielten Karten oder standen in den Straßen herum und warteten . . . DieKaufleute machten immer schlechtere Geschäfte. Kleinere Fabriken mußten rei-henweise schließen, die Gewinne sanken allgemein . . . Das Elend wuchs. Die Un-glücklichen und Unzufriedenen aber lauschten begierig jeder ,Weltanschauung',

117

Page 118: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

die behauptete, die Ursache der Krise einfach erklären zu können und vor allem— schnelle Hilfe zu bringen . . . Die antidemokratischen Parteien hatten wach-senden Zulauf, besonders diejenigen, die am lautesten schimpften und am mei-sten versprachen, die radikalen Parteien. ,Nur die Diktatur des Proletariats kannEuch helfen', predigte die radikale Linkspartei, die KPD. ,Die Juden, Marxistenund Demokraten sind schuld an Eurem Unglück', verkündete die radikaleRechtspartei, die NSDAP." (Klett, VI, S. 51).

„Wirtschaftliche Not und schiere Angst verstärkten die sozialen Gegensätze.Vielen galt mit der freien Wirtschaft auch der demokratische Staat als überwun-den. Besonders in Europa gewannen planwirtschaftliche Vorstellungen sozialisti-scher oder nationalistischer Art immer mehr Anhänger . . . Die Propaganda derRadikalen nutzte die Verelendung aus, um alle Zukunftshoffnungen auf ihreantidemokratischen Lösungen zu konzentrieren." (Diesterweg VI, S. 47)

„Die Neuwahlen vom 14. 9. 1930 zeigten die politischen Auswirkungen derKrise. Die Nationalsozialisten zogen mit 107 (bisher 12) Abgeordneten als zweit-stärkste Partei in den Reichstag ein, die Kommunisten wurden drittstärksteFraktion. Nahezu 40 % aller Wähler hatten ihre Stimmen den Parteien gegeben,die offen ihre Staatsfeindschaft bekundeten." (Schroedel/Schöningh V, S. 102)

Der „Mangel an demokratischer Gesinnung im Volk" (Klett II, S.154) und die sozialen Folgen der Weltwirtschaftskrise waren also nachAuffassung der Schulbuchautoren die entscheidenden Voraussetzun-gen für den Untergang der Weimarer Republik. Einen wesentlichenAnteil am Ende der Republik schreiben die Schulbücher zu Rechtauch den Präsidialdiktaturen zu, die als Ubergang vom parlamentari-schen System zum Führerstaat angesehen werden. Die Präsidialdikta-tur Brünings allerdings wird in den meisten Schulbüchern positiv gegendie durchweg offen verurteilten Regierungen Papen und Schleicher ab-gesetzt. Während es in Diesterweg III immerhin noch heißt: „Die Poli-tik, die Brüning machte, ist noch heute umstritten" (S. 50 ) , werden inanderen Büchern Brünings angeblich „gute Absichten" in den Vorder-grund gestellt.

„Das Ziel des aus der christlichen Gewerkschaftsarbeit kommenden Brüningwar es, den Staat . . . durch die Krise zu steuern, nicht aber einer Diktatur denWeg zu bereiten." (Diesterweg VIII, S. 157)

„Lauter und nüchtern ging dieser überzeugte Katholik den Weg harter Pflicht-erfüllung, bereit, den Ansturm des Nationalsozialismus abzuwehren, auch auf dieGefahr hin, daß seine Politik unpopulär sei." (Klett II, S. 152, Hervorhebungvon uns).

Wie es tatsächlich mit der „Lauterkeit" des Heinrich Brüning be-stellt war, haben nicht zuletzt Brünings inzwischen veröffentlichteMemoi r en 1 9 5 aufgedeckt. Darin wird in aller Offenheit, wenn aucherst nachträglich, beschrieben, wie Brüning bereits seit Oktober 1930durch Geheimabsprachen mit Hitler und anderen NSDAP-Führern diezukünftige Entwicklung Deutschlands geplant h a t . 1 9 6 Seine grund-legenden Ziele waren, und darin stimmte er mit Hitler überein, inten-sive Aufrüstung und Revision der im Versailler Vertrag festgelegtenGrenzen . 1 9 7 Differenzen zwischen Brüning und den Nationalso-zialisten gab es allenfalls über die Methoden, mit denen obige Zieleerreicht werden sollten: „Gewalt oder ,Verständigung' nach außen,Zerschlagung oder Ausnutzung des Parlamentarismus und der Sozial-

118

Page 119: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

demokratie im I n n e r n . " 1 9 8

Von einer Bereitschaft Brünings, „den Ansturm des Nationalsozialis-mus abzuwehren", kann jedenfalls überhaupt keine Rede sein.

Die entscheidende Ursache für den Untergang der Republik sehendie Schulbuchautoren in den Aktivitäten der „Antidemokraten". DieDarstellung der Rechtsradikalen nimmt dabei einen relativ breiterenRaum ein als die der Kommunisten; letztere werden aber stets in ei-nem Atemzug mit den Faschisten erwähnt, in einigen Büchern sogarexplizit als Mitschuldige am Ende der Weimarer Republik benannt:

„Das Untergraben der demokatischen Machtpositionen wurde erleichtertdurch das Verhalten der KPD . . . " (Diesterweg VI , S. 5 3 ) .

„Ihre Wühlarbeit schwächte entscheidend die Widerstandskräfte gegen denNationalsozialismus, den die Kommunisten zwar auf der Straße bekämpften, mitdem sie aber oft gegen den Staat zusammenarbeiteten." (Schroedel/SchöninghV, S. 105)

Besonders die Kampfverbände von NSDAP und KPD werden in vie-len Büchern auf eine Stufe gestellt:

„In einem für frühere und heutige Zeiten unvorstellbaren Maße wurden diepolitischen Kämpfe auf der Straße ausgetragen . . . Am radikalsten waren dieNationalsozialisten und die Kommunisten. Sie hatten auch die größten Verluste.Beiden Parteien ging es vor allem um die Zerstörung der bestehenden Ordnung."(Schroedel/Schöningh V, S. 108)

„Der systematische Straßenterror der nationalsozialistischen ,SA' (Sturmabtei-lung) sollte die Bürger zermürben und die Sehnsucht nach einem ,Führer' stär-ken. Die SA ging gegen die Republik und gegen die Kommunisten vor. Deren,Roter Frontkämpferbund' setzte sich zur Wehr, bekämpfte seinerseits aberebenso die Republik." (Schroedel/Schöningh II, S. 114)

Damit werden als zweite Gemeinsamkeit der „totalitären Parteien"— neben den angeblich gemeinsamen Zielen („Zerstörung der beste-henden Ordnung") — ihre politischen Kampfmethoden angegeben.Nun gab es allerdings in der Weimarer Republik auch Kampfverbändeder sogenannten „demokratischen" Parteien, deren defensiver Charak-ter hervorgehoben wird:

„Zu ihrer Verteidigung hatten die Parteien der Weimarer Koalition das,Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold' gegründet." (Schroedel/Schöningh II, S. 114)

Hier zeigt sich, daß die Schulbuchautoren sehr wohl unterscheidenkönnen, zu welchem Zweck bestimmte Kampfmethoden (hier dieKampfverbände) eingesetzt werden; diese Unterscheidungsfähigkeithat allerdings ein Ende, wenn faschistische und kommunistischeSysteme bzw. Bewegungen verglichen werden: Bei diesen nämlich istangeblich Gewalt gleich Gewalt (vgl. im Kapitel Systematisierung denAbschnitt über die Totalitarismustheorie). Nur in einem Schulbuchwird die Rolle der Kampfverbände der Weimarer Republik richtigwiedergegeben: daß nämlich allein die Faschisten bewußt und gezieltGewalt angewendet haben, daß also auch der Rotfrontkämpferbundin erster Linie eine defensive Organisation war:

„Aufgabe der SA war der Terror. In Saalschlachten und Straßenkämpfe, inParaden und Aufmärschen sollten die ,Braunhemden' die Stärke der national-sozialistischen Bewegung beweisen. Die Weimarer Republik kannte auch andere

119

Page 120: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

uniformierte Parteiorganisationen, den .Stahlhelm' . . . , den ,Roten Front-kämpferbund' . . . , das .Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold' . . . Das bewußte Aus-üben von Terror blieb jedoch der SA vorbehalten. Sie war in erster Linie Schulddaran, daß in den letzten Jahren der Weimarer Republik politische Gewalttätig-keiten und Mordtaten im bedrohlichen Maße zunahmen." (Diesterweg VI , S. 48 )

Als ein entscheidendes Ereignis für den Untergang der Weimarer Re-publik werten fast alle Schulbücher die „Mehrheit" der „radikalenParteien" im Reichstag:

„Die Reichstagswahlen vom 3 1 . 7. 1932 brachten der NSDAP den erwartetenErfolg. Sie erhielt 38 % der Parlamentssitze; da die Kommunisten auf 14 % ka-men, konnten die Radikalen den Reichstag endgültig lahmlegen." (Schroe-del/Schöningh V, S. 112)

„Neuwahlen Ende Juli 1932 ergaben eine negative Mehrheit der antidemokra-tischen Parteien (KPD, DNVP und NSDAP) von 359 Mandaten auf insgesamt608 . Die Demokratie hatte nun auch im Parlament keine Stütze mehr." (Diester-weg III, S. 158)

Diese These von der Lahmlegung des Reichstags durch die „Radika-len" wird in einigen Büchern auch mit optischen Mitteln untermauert.In „Spiegel der Zeiten" (Diesterweg VI, S. 47) ist eine Tabelle enthal-ten, die die „Ergebnisse der Reichstagswahlen 1928—1932" zusam-menfaßt. Sie enthält vier Abteilungen: „Rechtsradikale und Verbün-dete" (NSDAP, DNVP), „,Mittlere' Parteien" (DVP, DDP, BVP,Zentrum, SPD), „Linksradikale" (KPD) „Radikale von rechts undlinks zusammen" (NSDAP, KPD); Ziel der Tabelle ist es, das „Anwach-sen der Radikalen" zu veranschaulichen. In „Zeiten und Menschen"(Schroedel/Schöningh V, S. 102) findet sich eine ähnliche, noch sub-tilere Graphik: die Wahlergebnisse 1919—1932 werden für jede Wahlin Form eines Spektrums, das die Sitzzahl der einzelnen Parteien aus-drückt, dargestellt; dabei werden die „mittleren" Parteien von den„extremen" nach beiden Seiten durch leicht verstärkte Querstriche ge-trennt. Auch diese Graphik suggeriert dem Betrachter, daß die „demo-kratischen" Parteien durch das Anwachsen der „antidemokratischen"gewissermaßen „erdrückt" worden sind (ebenso in Klett X, S. 22 ) .

Zusammenfassend kann man also sagen, daß die Schulbücher die„antidemokratischen" Aktivitäten der „extremen" Parteien vonrechts und links für das Ende der Weimarer Republik verantwortlichmachen. Damit soll keineswegs geleugnet werden, daß die einzelnenSchulbücher (und Verlage) den hier beschriebenen Faktoren un-terschiedliches Gewicht beimessen; solche Differenzierungen imDetail ändern aber nichts daran, daß insgesamt die hier beschriebeneArgumentation für alle untersuchten Geschichtsbücher konstitutivist.

Daß sich diese These in allen Geschichtsbüchern findet, verwundertnicht, wenn man sich ihre aktuelle politische Funktion vergegenwär-tigt. Wenn nämlich die Behauptung der Schulbücher, daß die Weima-rer Republik in erster Linie an ihren Gegnern von rechts und links(Faschisten und Kommunisten) zugrunde gegangen sei, der histori-schen Wahrheit entspricht, so ergibt sich daraus die Lehre, daß die

120

Page 121: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Bürger der Bundesrepublik das Aufkommen solcher Gegner (heute:Neofaschisten einerseits, sozialistische Bewegung andererseits) mit al-len Mitteln und schon in den Ansätzen verhindern müssen. Konkretwird damit die These der Schulbücher zur historischen Rechtfertigungder Verfolgung der Linken in der BRD, wie sie sich in KPD-Ver-b o t , 1 9 9 den Berufsverboten für sozialistische und kommunistischeL e h r e r 2 0 0 und anderen Maßnahmen äußert.

Weil die historische These so große aktuelle politische Bedeutunghat, erscheint — in der gebotenen Kürze — eine grundsätzliche Kritikunumgänglich.

Zunächst fällt auf, daß die Schulgeschichtsbücher der deutschenIndustrie überhaupt keine oder nur eine sehr geringe Rolle beim Un-tergang der Weimarer Republik zusprechen. Nur in zwei der unter-suchten Bücher wird wenigstens erwähnt, daß sich „einige Vertreter"von Großindustrie und Großgrundbesitz für Hitlers Reichskanzler-schaft eingesetzt haben (vgl. Diesterweg III, S. 54 ; Schroedel/Schö-ningh V, S. 112 f .) . Dagegen haben eingehende empirische Untersu-chungen erwiesen, daß die Republik von Weimar gerade auf Betreiben und im Interesse des Großkapitals durch die faschistische Diktatur er-setzt worden i s t . 2 0 1 Es läßt sich nämlich im einzelnen nachweisen,daß eine wachsende Gruppe führender Großindustrieller, Bankiers undGroßgrundbesitzer schon seit dem Ende der 20er Jahre die Zusam-menarbeit mit der NSDAP gesucht hat, daß diese Gruppe mit den sichverschärfenden Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zunehmend ei-ne faschistische Diktatur als Ausweg aus der Krise ins Auge gefaßt hatund daß schließlich die Repräsentanten der mächtigsten Konzerneund Banken Anfang 1933 die Ernennung Hitlers zum Reichskanzlerbewirkt haben.

„Im November 1932 verlangten einflußreiche Industrielle, Bankiersund Großgrundbesitzer schriftlich vom Reichspräsidenten Hindenburgdie Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. So kam es nach einem Zu-sammenspiel der großen Konzerne und Banken mit Teilen des Staats-apparats und der Führung der NSDAP am 30. Januar 1933 zur Bil-dung der Regierung Hitler-Hugenberg . . . In dieser Regierung . . .kommt in aller Klarheit zum Ausdruck, daß der faschistische Erfolgauf einem Bündnis der faschistischen Massenbewegung mit Teilen derOberklasse beruhte. Um diesen Charakter noch zu unterstreichen, trafsich Hitler vier Tage nach der ,Machtergreifung' — am 3. Februar — mit den Führern der Reichswehr und zweieinhalb Wochen später — am 20. Februar — mit den Repräsentanten der mächtigsten Unterneh-men, um ihnen sein Regierungskonzept darzulegen und um Unterstüt-zung zu bitten, die er dann auch e r h i e l t . " 2 0 2

Diese und viele weitere Fakten widerlegen die Behauptung einigerSchulbuchautoren, Hitlers Machtübernahme sei vor allem durch dieStimmen des Volkes und die sich daraus ergebende Sitzverteilung imReichstag ermöglicht worden. Daß diese These falsch ist, zeigt schondie Tatsache, daß Hitler in einem Augenblick zum Kanzler gemacht

121

Page 122: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

wurde, als seine Partei den Höhepunkt ihrer Erfolge bei den Wählernschon überschritten hatte: die NSDAP hatte nämlich bei den Reichs-tagswahlen im November 1932 gegenüber den Wahlen vom Juli 2 Mil-lionen Stimmen weniger erhalten. Daß sie nicht schon im Juli zurMacht gekommen war, wie es doch der Argumentation der Schulbü-cher zufolge logisch gewesen wäre, lag vor allem daran, daß zu diesemZeitpunkt die Mehrheit der führenden Großindustriellen noch dieKanzlerschaft Franz von Papens unterstützte. Eines der Schulbücher,hier allein auf weiter Flur als positive Ausnahme, deutet den wirkli-chen Sachverhalt ganz vorsichtig an:

„Es war nicht die Mehrheit des Volkes, es waren andere Kräfte, die ihn (Hit-ler, d. Verf.) an die Macht brachten." (Schroedel/Schöningh V, S. 108)

Wer diese „anderen Kräfte" waren, hat der Hauptankläger der USAim Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß am 27. 8. 1947 in aller Klar-heit ausgesprochen: „Ohne die Zusammenarbeit der deutschen Indu-strie und der Nazipartei hätten Hitler und seine Parteigenossen nie-mals die Macht in Deutschland ergreifen und festigen können und dasDritte Reich hätte es nie gewagt, die Welt in einen Krieg zu stür-z e n . " 2 0 3

Grundsätzlich gilt für die Analyse po l i t i s i e r Entwicklungen dasmethodische Prinzip, daß die hinter den politischen Gruppierungenstehenden gesellschaftlichen Interessen benannt werden müssen. Sowar das faschistische System nicht einfach eine politische Diktatur,sondern hat einen empirisch feststellbaren Klassencharakter , 2 0 4 dersich in Struktur und Politik dieses Systems ausdrückt: die faschisti-sche Diktatur ist ihrer sozialen Massenbasis nach eine überwiegendkleinbürgerliche Erscheinung, ihre gesellschaftliche Funktion aber be-steht in der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisseund der Verbesserung der Ausbeutungsbedingungen für die herrschen-de bürgerliche Klasse. Da nämlich im Faschismus die Organisationender Arbeiterklasse (Gewerkschaften, Arbeiterparteien) vollständig zer-schlagen, die erkämpften Rechte der Arbeiter (Tarifautonomie,Streikrecht, Mitsprache im Betrieb u. a.) beseitigt werden, können dieUnternehmer die Profite erheblich steigern, ohne durch den Wider-stand der Arbeiter daran gehindert zu werden. Zudem funktioniert dieGesellschaftspolitik des faschistischen Staates eindeutig im Interessedes Kapitals: „Sozialökonomisch ist die faschistische Politik zu be-stimmen als eine gigantische Umverteilung des Volksvermögens durchStaatsaufträge, die die Massen der Lohnabhängigen und in zweiterLinie auch die kleinbürgerlichen Schichten ausplünderte und die Ober-klasse be re icher te . " 2 0 5 Die soziale Funktion des Faschismus ist auchschon daran zu erkennen, daß die Führer der Arbeiterparteien und Ge-werkschaften in den Konzentrationslagern saßen oder ermordet wur-den, während die Vertreter der großen Industrie- und Bankkonzernezusammen mit den Führern der NSDAP in den Entscheidungszentrendes Systems saßen. Der Faschismus ist darum nur als eine „Form bürgerlicher Herrschaft", als eine spezifische Staatsform auf kapitali-

122

Page 123: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

stischer Grundlage, wirklich zu verstehen.Wenn die Schulbücher den nachweisbaren Anteil der deutschen In-

dustrie an der Zerstörung der Weimarer Republik verschweigen oderauf ein Minimum reduzieren, so verschleiern sie damit — bewußt oderunbewußt — deren reaktionäre geschichtliche Rolle, sie handeln alsoobjektiv im Interesse eben dieser Großindustrie.

Aus der — hier notwendig verkürzt formulierten — Auffassung überEntstehung und Wesen des Faschismus ergeben sich Konsequenzen fürdie Frage, welche gesellschaftlichen Kräfte die Verhinderung bzw. dieBeseitigung des Faschismus — den antifaschistischen Kampf — amwirksamsten betreiben können. Wenn nämlich der Faschismus Klas-sencharakter besitzt, dann logischerweise auch der Antifaschismus. Esist nach dem oben Gesagten offensichtlich, daß die den Faschismusbekämpfende Kraft in erster Linie die Arbeiterklasse mit ihren Organi-sationen sein muß — und daneben die Teile der Intelligenz, die an derVerteidigung des demokratischen Verfassungssystems, an der Demo-kratisierung von Staat und Gesellschaft und an der Erhaltung des Frie-dens interessiert sind.

Das fundamentale Interesse der Arbeiterklasse an der Bekämpfungdes Faschismus ergibt sich aus dem qualitativen Unterschied vonbürgerlicher Demokratie und faschistischer Diktatur:

„Zwar ist es richtig, daß es sich bei beiden Staatsformen um Variantendes bürgerlichen Staates handelt und daß beide darauf abzielen, Privat-eigentum und bürgerliche Gesellschaftsordnung zu erhalten; die quali-tative Differenz aber liegt darin, daß die bürgerliche Demokratie dieEntfaltung der Opposition grundsätzlich zuläßt (wenn sie sie auch imeinzelnen behindert), während der Faschismus die Arbeiterbewegungunterdrückt und vernichtet. Eine realistische antifaschistische Strate-gie hat also davon auszugehen, daß die Linke ein elementares Interessean der Verteidigung der bürgerlichen Demokratie gegen den Faschis-mus haben und daß sie im Augenblick der Bedrohung durch den Fa-schismus nach einem Bündnis aller antifaschistischen Kräfte strebenmuß, die an der Bewahrung der bürgerlichen Demokratie interessiertsind. Denn diese ist fundamentale Voraussetzung für die legale Exi-stenz der Arbeiterbewegung — und damit auch die Bedingung für einepotentielle Weiterentwicklung zur sozialistischen Demokra t i e . " 2 0 6

Entgegen diesem Interesse gelang es am Ende der Weimarer Re-publik aber nicht, eine gemeinsame Kampffront gegen den Faschismusaufzubauen — aus einer Reihe von Gründen, die hier nicht im Detailausgeführt werden k ö n n e n . 2 0 7 Im Gegenteil, SPD und KPD warfensich gegenseitig vor, Bundesgenossen des Faschismus zu sein. DieSPD-Führung, die sich seit der Novemberrevolution vollständig mitder bürgerlichen Republik identifizierte und damit, im Gegensatz zuden Vorstellungen von erheblichen Teilen ihrer Mitglieder und Anhän-ger, das sozialistische Ziel in der Praxis aufgegeben hatte, denunziertedie Kommunisten — ebenso wie es heute die Schulbücher tun! — alsAntidemokraten und lehnte die Zusammenarbeit mit der KPD grund-

123

Page 124: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

sätzlich ab. In der KPD dominierte in den letzten Jahren der WeimarerRepublik die sogenannte Sozialfaschismustheorie, dergemäß die Poli-tik der sozialdemokratischen Führung bereits seit 1929 „Faschismusin der Tat und Sozialismus in der P h r a s e " 2 0 8 gewesen sei. Als Konse-quenz aus der Sozialfaschismustheorie lehnte die KPD eine Zusam-menarbeit mit der SPD-Führung ab und beschränkte sich auf dieÜberzeugungsarbeit bei einzelnen SPD-Mitgliedern.

Erst in den allerletzten Monaten vor dem faschistischen Machtan-tritt wurde die Sozialfaschismustheorie der KPD in Ansätzen durchrealistischere Einschätzungen der SPD ersetzt; man bemühte sich,buchstäblich in letzter Minute doch noch zu einem einheitlichen Vor-gehen gegen den Faschismus zu gelangen. So richtete die KPD am30. Januar 1933, dem Tag, an dem Hitler Reichskanzler wurde, einenAufruf an die Führungen der anderen Arbeiterorganisationen, in demsie zur gemeinsamen Ausrufung des Generalstreiks aufforderte:

„Die Kommunistische Partei Deutschlands wendet sich vor der ge-samten proletarischen Öffentlichkeit mit diesem Aufruf zugleich anden ADGB, an den AFA-Bund, an die SPD und die christlichen Ge-werkschaften mit der Aufforderung, gemeinsam mit den Kommuni-sten den Generalstreik gegen die faschistische Diktatur der Hitler,Hugenberg, Papen, gegen die Zerschlagung der Arbeiterorganisationenfür die Freiheit der Arbeiterklasse durchzuführen. Die KPD appelliertan die Millionen der sozialdemokratischen, freigewerkschaftlichen,christlichen und Reichsbannerarbeiter in Stadt und Land wie an dieunorganisierten Arbeitermassen! Führt gemeinsam mit euren kom-munistischen Klassengenossen in allen Betrieben und Arbeiterviertelndie Massendemonstration, den Streik, den Massenstreik, den General-streik d u r c h ! " 2 0 9

Dieser Aufruf wird bezeichnenderweise in keinem der untersuchtenSchulbücher auch nur erwähnt — er würde auch kaum mit der Schul-buchthese von den „antidemokratischen" Zielen und Kampfmetho-den der KPD in Einklang zu bringen sein!

Die reformistischen Führungen von SPD und ADGB gingen jedochnicht auf den Aufruf ein; sie verzichteten damit darauf, das letzte und— wie die Erfahrungen der Arbeiterbewegung z. B. beim Kapp-P u t s c h 2 1 0 gezeigt hatten — wirksamste Kampfmittel der Arbeiterbe-wegung einzusetzen, sie handelten gegen den Willen und gegen dieKampfbereitschaft eines großen Teils ihrer Mitglieder.

Sie lehnten die von der KPD vorgeschlagenen Maßnahmen mit ebenderselben Begründung ab, mit der die Schulbuchautoren auch heutenoch jede außerparlamentarische Aktion — vornehmlich der Linken — in der Weimarer Republik verurteilen: Der Kampf um die Verfassungkönne nur mit parlamentarischen Mitteln geführt werden. Schließlichsei auch Hitler auf legalem Wege Reichskanzler geworden . 2 1 1

Hierin drückt sich jenes formale Demokratieverständnis aus, dasbürgerlicher Denkweise seit je eigen ist. Diese Denkweise abstrahiertvon dem notwendigen Zusammenhang zwischen Demokratie auf par-

124

Page 125: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

lamentarischer, politischer und gesellschaftlicher Ebene. Hinsichtlichder Weimarer Republik bedeutet das: die SPD konnte auf parlamen-tarischem Wege nur etwas erreichen, solange die Arbeiterbewegungstark war. Als die SPD eben auf Grund der ausschließlichen Fixierungauf den parlamentarischen Weg mit dazu beitrug, alle diejenigen au-ßerparlamentarischen Kräfte niederzuschlagen, die erst die Vorausset-zungen für den Erfolg reformistischer Politik geschaffen hatten, muß-te auch diese Politik scheitern und die fortgesetzte — nun illusorische— Beschwörung der Verfassung auf einen gigantischen Massenbetrughinauslaufen.

Da die Schulbuchautoren heute diesen Zusammenhang ebensowenigsehen wie die SPD in der Weimarer Republik — und das trotz all desinzwischen zur Verfügung stehenden Dokumentenmaterials! —, reihensie sich lückenlos ein in jene lange Ahnenreihe der Erzieher zur politi-schen Unmündigkeit, deren Früchte die deutsche Geschichte in beson-derer Weise geprägt haben.

Die konkrete historische Erfahrung vom ambivalenten Charakterder bürgerlichen Demokratie und die bereits lange vor Beginn des Fa-schismus von der Arbeiterbewegung herausgearbeiteten Konsequenzen— prinzipielle Notwendigkeit der antifaschistischen Einheitsfront;konkretes Nichtzustandekommen der Einheitsfront und die Ursachendavon — finden in den Schulgeschichtsbüchern überhaupt keinen Nie-derschlag. Nicht einmal der soziale Zusammenhang zwischen den bei-den großen Arbeiterparteien — d. h. die Existenz einer zugleich ein-heitlichen und gespaltenen Arbeiterbewegung — wird in den Bücherndargestellt. Statt dessen existieren für die Schulbuchautoren, völlig iso-liert voneinander, eine KPD (welche Rolle ihr zugesprochen wird, zei-gen die Zitate im ersten Teil dieses Abschnitts) und eine SPD, die als„letzte(n) demokratische(n) Kraft von Bedeutung" (Schroedel/Schö-ningh II, S. 116) gekennzeichnet wird. Ziemlich alle Schulbücher er-wähnen lobend die „tapfere" Haltung der SPD bei der Reichstagsab-stimmung vom 23. 3. 1933 über das faschistische Ermächtigungsge-setz, das von der SPD abgelehnt wurde — bezeichnenderweise —,während alle bürgerlichen Parteien zugestimmt haben.

Unterschlagen wird die Tatsache, daß die SPD wesentlich zur Ver-schärfung der politischen Situation beitrug durch die Unterdrückungaller politischen Aktionen der Arbeiterbewegung. In diesem Zusam-menhang ist z. B. besonders hervorzuheben der Schießbefehl des Ber-liner SPD-Polizeipräsidenten auf die Arbeiterdemonstration zum1. Mai 1929. Unterschlagen wird ferner die Rolle der SPD bei den seitEnde der 20er Jahre einsetzenden Mobilmachungsvorbereitungen.2 1 2

Nicht problematisiert wird die Tatsache, daß die SPD im Winter 1932sich für den reaktionären Kandidaten Hindenburg stark machte, derdann 9 Monate später Hitler die Vollmacht zur Errichtung seiner Dik-tatur gab; usw. Kurz: Jene „Politik des kleineren Übels" bleibt weiterhistorisch unaufgearbeitet.

Unterschlagen wird die systematische Abwiegelung aller massenhaf-

125

Page 126: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

ten antifaschistischen Aktionen, z. B. des Generalstreiks, von seitender SPD. Ferner findet sich nirgends ein Hinweis darüber, daß dieSPD-Fraktion im Reichstag noch am 1 7 . 5 . 1 9 3 3 einer verlogenen„Friedensrede" Hitlers zugestimmt h a t . 2 1 3

Die Schulbuchautoren sehen die einzig legitime und erfolgverspre-chende Art, den Faschismus zu „bekämpfen", im „Zusammenhalten"der „gemäßigten" Parteien im Parlament. Ein Beispiel:

„Die wirtschaftliche und damit auch die innenpolitische Lage des Reicheswurde mit dem Ubergreifen der Weltwirtschaftskrise auf Deutschland . . . außer-ordentlich schwierig ... Die Republik geriet dadurch ... in eine politische Kri-se, aus der sie auf die Dauer nur die Einmütigkeit der Parteien der Mitte hätteretten können. Diese Solidarität war aber nicht vorhanden." (Diesterweg VIII , S.157)

Es wird also einerseits zugegeben (und partiell kritisiert), daß die„Parteien der Mitte" die Republik gegen die Bedrohung durch den Fa-schismus nur unzureichend verteidigt haben (z. B. erwähnen dieSchulbücher durchweg die Zustimmung der bürgerlichen Parteien zumfaschistischen Ermächtigungsgesetz). Andererseits können sie dieseZustimmung zur Hitlerschen Machtergreifung nicht erklären, weil sienicht nach den gesellschaftlichen Interessen fragen, die hinter den po-litischen Gruppierungen standen: zu erwähnen wäre hier die partielleInteressenidentität zwischen den hinter der NSDAP stehenden Groß-industriellen und Gruppen des Großbürgertums, die von den „Parteiender Mitte" repräsentiert wurden; beide waren an der Zerschlagung derArbeiterbewegung, der Errichtung eines „starken Staates" und demVersuch, das im Ersten Weltkrieg gescheiterte imperialistische Expan-sionsprogramm doch noch zu verwirklichen, interessiert. (Daß dasGroßkapital dann die Parteien der Mitte und der gemäßigten Rechten,mit deren Hilfe es in der Weimarer Republik seine Interessen durchge-setzt hatte, 1933 fallenließ, erklärt sich daraus, daß es jetzt in derNSDAP einen Bundesgenossen gefunden hatte, der das viel besser unddurchgreifender tat.) In dem obigen Schulbuchzitat erscheint die man-gelnde „Solidarität" der bürgerlichen Parteien und Politiker als einmehr zufälliges Versagen, das im subjektiven Fehlverhalten einzelnerPolitiker begründet liegt (Ausnahme z. B. : Schroedel/Schöningh V,S. 100) .

Ein extremes Beispiel dafür liefert einmal mehr der Klettsche„Grundriß der Geschichte": „Der Herrenreiter v. Papen . . . stand sei-nem Herzen nach weit rechts." (Klett II, S. 153, Hervorhebung vonuns) Außer einem Herzen hatte er allerdings auch noch umfänglichenLandbesitz, der seinen Drang nach rechts schon hinreichend erklärt.

Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Behauptung der Schul-bücher, die Weimarer Republik sei durch die Schuld der Faschistenund der revolutionären Arbeiterbewegung zugrunde gegangen, derhistorischen Wahrheit widerspricht. Vielmehr war es die ökonomischund politisch herrschende Klasse, repräsentiert vor allem durch füh-rende Männer aus Schwerindustrie und Bankkapital, die die zuneh-

126

Page 127: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

mende Auflösung der Weimarer Republik betrieben und schließlichihre Ablösung durch die faschistische Diktatur verschuldet hat. DiesePolitik der herrschenden Klasse wurde unterstützt und ermöglichtdurch das Verhalten der bürgerlichen Parteien, die sich der Machtüber-nahme des Faschismus nicht widersetzten, sondern diese toleriertenund teilweise sogar eine Koalition (DNVP) mit den Faschisten schlos-sen bzw. anstrebten (Zentrum).

Daß auch heute die Gefahr für die Demokratie von den sozialenKräften ausgeht, die bei der Verwirklichung von Mitbestimmung undsozialer Gerechtigkeit den Verlust ihrer Privilegien und ihrer Macht-positionen zu befürchten haben und daß es angesichts dieser Gefahrvon r e c h t s 2 1 4 darauf ankommt, das einheitliche Vorgehen aller De-mokraten und Sozialisten zu erreichen, ist also die wahre Lehre, diesich aus dem Untergang der Weimarer Republik e r g i b t . 2 1 5

F. Der Kalte Krieg

Die Darstellung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, besonders derPeriode des Kalten Krieges, den man in seiner schärfsten Form von1947/48 bis 1954/55 datieren kann, hat für den Geschichtsunterrichtder BRD eine besondere Bedeutung — fällt doch in diese Zeit die Spal-tung Deutschlands, die Gründung der BRD und der DDR und im in-ternationalen Rahmen die Bildung der „Blöcke" in Ost und West.

Die Autoren der Schulbücher reflektieren bewußt oder unbewußt,daß die bloße Existenz der Bundesrepublik als Staat dem Kalten Krieggeschuldet ist. Die Zustimmung der Schulbuchautoren für den Staatist zugleich die Bejahung der nach dem Krieg restaurierten kapitalisti-schen Wirtschaftsordnung. Ein drittes Axiom, das mit den beiden an-deren zusammenhängt, stellt die Funktion des neuen Staates (bis indie jüngste Gegenwart) als „Bollwerk gegen den Bolschewismus" dar.Da sich die Autoren mit der sozialen und wirtschaftlichen Strukturdieser Bundesrepublik identifizieren, 2 1 6 fällt für sie die Legitimationder Bundesrepublik mit der der kapitalistischen Sozial- und Wirt-schaftsordnung und den Interessen der US-amerikanischen Besat-zungsmacht genauso zusammen wie die Ablehnung des Sozialis-mus und Kommunismus, der Politik der Sowjetunion und der Exi-stenz der DDR. Von diesem von vornherein festgelegten Standpunktaus ergibt sich ein relativ festes Interpretationsschema, das allen inden Schulbüchern behandelten Ereignissen dieser Zeit aufgepreßtwird. Daß dies mit erheblichen Auslassungen, Verzerrungen und Ver-drehungen historischer Realität verbunden ist, wird im Folgenden zuzeigen sein.

127

Page 128: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

1. Der Ost-West-Konfl ikt

Das Grundmuster für die Erklärung der Entstehung des Kalten Kriegesund des Ost-West-Konfliktes in den Schulgeschichtsbüchern lautet et-wa so:

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Sowjetunion so stark, daß siedie Gelegenheit nützen wollte, ihren Machtbereich — gemäß der kom-munistischen Ideologie — zu erweitern. Die USA mußten daher, umdie gefährdeten Staaten vor der kommunistischen Diktatur zu retten,eine Politik der Eindämmung der Sowjetunion betreiben. Die Sowjet-union hatte also das Gesetz des Handelns an sich gerissen, und dieUSA, die sich am liebsten wieder in ihren Isolationismus zurückgezo-gen hätten, wurden gezwungen, zu reagieren.

Dazu ein paar Fakten, die die ungeheuerliche Verdrehung der tat-sächlichen Situation nach dem Krieg aufzeigen:

„Die Sowjetunion war zwar als Sieger aus dem Krieg hervorgegan-gen, aber unter welchen Opfern: ,Auf Hunderte, auf Tausende vonMeilen war nicht ein einziger aufrecht stehender Gegenstand zu sehen.Jeder Marktflecken, jede Stadt war dem Erdboden gleichgemacht. Esgab keine Schienen. Es gab keine Maschinen. Es gab keine Bahnhöfe,keine Wassertürme. In der weiten Landschaft war nicht ein einzigerTelegraphenmast stehengeblieben. . . . Nach russischen Unterlagenwaren zwischen 15 und 20 Mill. sowjetische Bürger getötet wor-den; die Deutschen hatten 15 Großstädte, 1710 Kleinstädte sowie70 000 Dörfer völlig oder teilweise zerstört; sie hatten 6 Mill. Gebäu-de niedergebrannt bzw. verwüstet und 25 Mill. Menschen obdachlosgemacht; sie zerstörten 31 850 Industriebetriebe, 65 000 km Eisen-bahnstrecke, 4100 Bahnhöfe, 36 000 Post-, Telegraphen- und Fern-sprechämter, 56 000 Meilen Hauptstraße, 90 000 Brücken und10 000 Kraftwerke; sie vernichteten 1135 Kohlenbergwerke und3000 Ölquellen und transportierten nach Deutschland 14 000 Dampf-kessel, 1400 Turbinen und 11 300 Dynamomaschinen; sie plünderten98 000 Kolchosen und 2890 Maschinen- und Traktors ta t ionen ' . " 2 1 7

Selbst wenn man unterstellt, daß die Sowjetunion auf Expansionaus war, hätte sie dieses Vorhaben angesichts der Kriegschäden inHöhe von 679 Mrd. Rubel zurückstellen müssen. Wie George Kennan,der die Eindämmungspolitik mit konzipiert h a t t e , 2 1 8 1965 sagte, wares jedem, der das damalige Rußland auch nur annähernd kannte,„vollkommen klar, daß die sowjetischen Führer keineswegs beabsichtig-ten, ihre Angelegenheiten durch militärische Angriffe über die Gren-zen hinweg vorwärtszutreiben." Er wies darauf hin, daß „eine solcheVerfahrensweise weder den Erfordernissen der marxistischen Lehreentsprochen hätte, noch der für Rußland selbst dringlichen Notwen-digkeit, sich von den Verwüstungen eines langen und erschöpfendenKrieges zu e r h o l e n . " 2 1 9

Ganz anders war die Stellung der USA. Ihr Territorium war vomKrieg nicht berührt worden: „Drei Viertel des Anlagekapitals der Welt

128

Page 129: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

und zwei Drittel ihrer Industriekapazität waren in einem einzigenLand, den Vereinigten Staaten, konzentriert, der Rest verteilte sichauf die anderen 95 Prozent der bewohnten Erdoberf läche ." 2 2 0 DerKrieg hatte außerdem die Folgen der Weltwirtschaftskrise beseitigenhe l f en . 2 2 1 Durch die Aufrüstung und die dadurch stark gestiegeneNachfrage war es gelungen, die Arbeitslosigkeit einzudämmen, diedurchschnittliche Arbeitszeit und die Industrieproduktion zu erhö-h e n . 2 2 2 Doch trotz oder gerade wegen ihrer ökonomischen Stärke sahsich die US-Wirtschaft vor entscheidende Probleme gestellt. IhreStruktur war nach dem Krieg von einer unaufhaltsam ansteigenden,überschüssigen Produktionskapazität geprägt, d. h. es wurde mehr pro-duziert, als man absetzen konnte, zumal das Abnehmermonopol fürdie Rüstungsgüter, der Staat, die Aufträge jetzt einschränkte. Zwar istdie Umstellung von der Kriegs- zur Friedensproduktion in den USAnicht radikal durchgeführt worden („ungeachtet der Beendigung desZweiten Weltkrieges wurde die riesige Rüstungsindustrie der USA bei-behalten. Von den 1900 Staatsbetrieben, die während des Krieges ge-baut worden waren, wurde nicht einmal die Hälfte verkauft oder ge-schlossen, . . . " 2 2 3 ) bedeutete aber dennoch eine Gefährdung der er-reichten Positionen, zumal das US-Kapital die hohen Profite aus demRüstungsgeschäft (im Zweiten Weltkrieg 123 Mrd. D o l l a r 2 2 4 ) nichtmehr rentabel investieren konnte. Weitere Investitionen hätten aufdem ohnehin übersättigten Markt das Angebot noch mehr erhöht, eineEntwicklung, die unausweichlich zu einer Senkung der Profite und zurKrise geführt hätte. Dazu kamen Lohnerhöhungen, die sich die Arbei-terklasse auf Grund ihrer angesichts der ,Vollbeschäftigung' gefestig-ten Stellung erkämpfen konnte. Aus all dem, was hier nur angerissenwerden konnte, „ergibt sich zwangsläufig die Tendenz zum Massen-export von K a p i t a l " 2 2 5 .

Diese Kapitalexporte bringen nun, weil die Löhne in den übrigenLändern niedriger sind, höhere Profite. Im Vergleich mit den USAsind auch Westeuropa, Japan und Kanada in diesem Sinne relativ un-entwickelte Regionen. Damit ist ein entscheidender Faktor für dieEntscheidung zur Restauration des Kapitalismus in der BRD und Ja -pan genannt. So kennzeichnete (und kennzeichnet) die Frontstellungder USA gegen das sozialistische Lager und die beginnende Kolonialre-volution auf Grund der immanenten Notwendigkeit der amerikani-schen Wirtschaft die expansive Nachkriegspolitik der VereinigtenStaaten.

Weiter trug zur herausragenden Machtposition der USA der anfangsalleinige Besitz von Atomwaffen bei. Im Vergleich zu diesem Atom-bombenmonopol sind alle anderen Faktoren sekundär, dennoch ist zubetonen, daß die angeblich einseitige radikale Abrüstung der USA, diein den Schulbüchern immer wieder behauptet wird, ein Märchen ist.Die Sowjetunion reduzierte ihre Streitkräfte um 25 %, die USA ledig-lich um 13 %. Bei den offenen Grenzen der UdSSR sind 2,9 Mill. Sol-daten gegen 1,5 Mill. der USA, die zudem überwiegend eine Luft- und

129

Page 130: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Seemacht sind, relativ wen ig . 2 2 6

Daß die am Boden liegende Sowjetunion ihrerseits gute Gründe hat-te, sich verteidigungsbereit zu halten, ergab sich aus ihren bisherigenErfahrungen mit den kapitalistischen Mächten. Schon unmittelbarnach der Oktoberrevolution 1917 hatten Interventionstruppen sowohlder Entente-Staaten (England und Frankreich) als auch des deutsch-österreichischen Blocks, die weißrussischen Konterrevolutionäre un-terstützt: „Die Hauptinitiatioren und -akteure der Intervention warenGroßbritannien, Frankreich, Japan und die USA. In besonderem Maßeaber beteiligen sich die USA an der Intervention — sie besaßen diegrößten materiellen Potenzen zur Unterstützung der antisowjetischenKräfte . . . " 2 2 7

Es handelt sich hierbei also um gemeinsame Aktionen von Staaten,die sich selbst in einem mörderischen Krieg gegenüberstanden (beson-ders Deutschland und Frankreich). Deutlicher kann das gemeinsameInteresse kapitalistischer Staaten gegen den ersten großen Versuch ei-ner sozialistischen Umgestaltung wohl kaum dokumentiert werden.

Nach der Niederlage der Interventen begann eine Politik der Isolie-rung der Sowjetunion, in den dreißiger Jahren setzte die direkte mili-tärische Bedrohung durch die Anti-Komintern-Achse Deutschland undJapan ein, die in der militärischen Aggression 1941 gipfelte. Allein dieExistenz einer sozialistischen Gesellschaft wurde in den kapitalisti-schen Staaten als Bedrohung aufgefaßt, der man mit entsprechendemHandeln zu begegnen habe.

Der Krieg hatte das Bündnis mit der Sowjetunion notwendig ge-macht, der Gegensatz zwischen Kapitalismus und Sozialismus waraber nur notdürftig überdeckt worden. Dies wurde an einer Reihe vonEreignissen deutlich. Einmal war die versprochene zweite Front imWesten, die der SU zur Entlastung bereits für 1942 zugesagt wordenwar, erst im Juni 1944 aufgestellt worden, als die SU die faschistischeAggression schon zurückgeschlagen hatte. Selbst dann blieb die Haupt-last der Sowjetunion aufgebürdet. Churchill sagte dazu 1943, „daß diewestlichen Alliierten mit lediglich sechs deutschen Divisionen ,herum-spielten', während die Russen mit 185 deutschen Divisionen fertigwerden m u ß t e n . " 2 2 8

In ihrer ganzen Brutalität wurde die Politik der USA von dem spä-teren Präsidenten Truman 1941 charakterisiert, als er forderte: „Wennwir sehen, daß Deutschland den Krieg gewinnt, sollten wir Rußlandhelfen, und wenn Rußland gewinnt, sollten wir Deutschland helfenund die Deutschen so viele wie möglich umbringen lassen . . . " 2 2 9 Indiesen Gesamteindruck ordnet sich dann die Tatsache, daß die Mate-riallieferungen der USA an die Sowjetunion nicht mehr als 10 % dessowjetischen Bedarfs ausmachten, nahtlos e i n . 2 3 0

Die USA haben in Japan gezeigt, daß sie vor dem Einsatz von Atom-bomben mit ihrer verheerenden Wirkung in bestimmten Situationennicht zurückschrecken. Die Vermutung, daß die Vereinigten Staatenden Abwurf der Atombomben — die eigentlich auf Deutschland hat-

130

Page 131: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

ten fallen sollen, aber nicht rechtzeitig vor der Kapitulation fertig ge-worden waren — als Drohung gegen die Sowjetunion meinten, liegtschon deshalb nahe, weil sie zu einem Zeitpunkt eingesetzt wurden,als die Japaner bereits (und zwar einen Monat vor dem Abwurf) umKapitulationsverhandlungen nachgesucht h a t t e n . 2 3 1

Diese Vermutung wird bestärkt durch die augenfällige Fragwürdig-keit der offiziellen Begründung für den Einsatz der Bomben. Manwollte angeblich den Krieg schneller beenden, um weitere Verluste un-ter den eigenen Soldaten zu verhindern und um „die Jungens heimzu-h o l e n " 2 3 2 .

Erstens war aber kein Landeplan, der das Leben amerikanischer Sol-daten aufs Spiel hätte setzen können, vor dem 1. November 1945 vor-gesehen (Abwurf der Atombomben am 6. und 9. August 1945) undzweitens hätte nach dem Lagebericht der Bomberflotte ,Japan be-stimmt noch vor dem 3 1 . 12. 1945 kapituliert, auch wenn die beidenAtombomben nicht abgeworfen worden wären, Rußland nicht in denKrieg eingetreten und die Invasion nicht geplant worden w ä r e " 2 3 3 .Zu dem angegebenen militärischen Zweck hätte auch eine der Atom-bomben genügt; daß man dennoch innerhalb weniger Tage zwei Bom-ben abwarf, ist ein Indiz für die politische Stoßrichtung der Demon-stration militärischer Macht. Unter diesem Gesichtspunkt — daß dieSowjetunion durch eine fürchterliche Waffe bedroht war, gegen die eskeinen Schutz gab und die anzuwenden die Führung der VereinigtenStaaten offenbar bereit war — müssen alle Maßnahmen der beidenStaaten im folgenden gesehen werden.

Als das Bündnis nach dem Kriege nicht mehr erforderlich war,konnte die antikommunistische Politik wiederaufgenommen werdenund die UdSSR wieder die Zielscheibe der wiedervereinigten kapita-listischen Länder unter der Hegemonie der USA abgeben. Churchillhatte noch vor Ende des Krieges an Montgomery ein Telegramm ge-schickt, in dem er ihn aufforderte, die deutschen Waffen sorgfältigeinzusammeln und sie aufzubewahren, damit sie im Fall einer so-wjetischen Offensive an die deutschen Soldaten leicht zurückgegebenwerden k ö n n t e n . 2 3 4 Einer Reihe von diplomatischen Brüskierun-g e n , 2 3 5 darunter die Empfehlung, die SU im Rahmen des Marshall-plans zur natürlichen Kornkammer des Westens zu degradieren 2 3 6

(was den Verzicht auf eine eigenständige Industrialisierung bedeutetund die SU in die Lage eines abhängigen Entwicklungslandes gebrachthätte), folgten Aktionen im Iran, in Griechenland und der Türkei bishin zur Truman-Doktrin (12. März 1947) und dem offenen Ausbruchdes Kalten Krieges. Die Strategie der Eindämmung (Containment),hinter der als Bild ein Damm steht, der etwas zurückhält, und damitzumindest die Vorstellung von defensivem Verhalten hervorruft, ent-wickelt sich bis zum offen aggressiven Konzept des Zurückdrängens(Roll-Back), das den Status quo zugunsten der USA zu verändern ver-sprach.

Der Kalte Krieg entsprach somit den Interessen der kapitalistischen

131

Page 132: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Länder, besonders aber denen der USA. Er wurde von den USA be-wußt begonnen. Horowitz hat nachgewiesen, „daß die Struktur desKalten Krieges (als ,Kalter Krieg') durch eine Reihe politischer, inWashington zwischen 1945 und 1947 getroffener Entscheidungen be-stimmt wurde, die ihre ,klassische' Formulierung in der Truman-Dok-trin e r h i e l t e n " 2 3 7 . Die Gefahr, die dabei von der Sowjetunion aus-ging, ist vom State Department, wie es später zugab, nicht in einermilitärischen Expansion gesehen worden: vielmehr sah man „die kom-munistische Gefahr in ihrer bedrohlichsten Form als ein inneres Pro-blem, d. h. als ein Problem der westlichen Gesellschaftsordnung"2 3 8

an.Nach diesem verhältnismäßig ausführlichen Vorspann, der aber nö-

tig war, um die Zusammenhänge aufzuzeigen, in die die folgendenEinzelprobleme einzuordnen sind — jetzt der Blick in die Schulbücher.Alle Schulbücher gehen von einseitigen Expansionsbestrebungen derUdSSR aus. So heißt es etwa:

„Eine europäische Macht allerdings hatte trotz schwerster Kriegsverluste einePosition errungen, die für Mittel- und Westeuropa bedrohlich schien, weil sie voneiner expansiven Ideologie unterstützt wurde: die Sowjetunion." (Schroe-del/Schöningh II, S. 144)

Noch häufiger findet sich die Reduktion der Expansionsbestrebun-gen auf das egoistische Nationalinteresse der Sowjetunion.

„Die Sowjetunion versuchte auch über die von ihr besetzten Gebiete hinausihren Einflußbereich zu vergrößern." (Schroedel/Schöningh V, S. 196)

Als Beleg für diese Behauptung werden die Gebietsgewinne der So-wjetunion angeführt. Außer den von der Roten Armee besetzten Ge-bieten werden als Paradebeispiel der Iran, Griechenland und dieTürkei genannt.

„Iran und Türkei wurden nach Kriegsende von ihr unter schweren diplomati-schen Druck gesetzt." (Schroedel/Schöningh V, S. 196)

„Von der Türkei forderte sie (die Sowjetunion, d. Verf.) die Rückgabe der1918 abgetretenen transkaukasischen Gebiete . . . sowie die Einräumung vonStützpunkten an den Dardanellen. In Griechenland, wo ein Bürgerkrieg aus-brach, suchte die Sowjetunion dem Kommunismus zum Siege zu verhelfen."(Diesterweg III, S. 246)

Was nicht gesagt wird, ist, daß die Sowjetunion den Iran, in dem sieüber die vereinbarte Frist geblieben war, auf diplomatischen Druckhin geräumt hat und, noch wichtiger, daß die US-Amerikaner sofortnachzogen, nicht mit Truppen, „sondern auf leisen Sohlen mit Dollarszur Aufrechterhaltung des Status q u o " 2 3 9 . Wenn die Ereignisse inPersien Beispiele für eine Expansion sein sollen, dann hinsichtlich derUSA. In Gr iechenland 2 4 0 bestand die wirkliche expansionistischeEinmischung darin, daß die britischen Truppen der EAM, der Nationa-len Befreiungsfront, das Rückgrat brachen und der reaktionären Mon-archie wieder auf den Thron verhal fen. 2 4 1

„Die Sowjetunion wollte ihre Kriegskoalition nicht durch sozialeund revolutionäre Bewegungen in Gebieten, die sie als Interessenbe-reich eines kapitalistischen Staates anerkannt hatte, b e l a s t e n . " 2 4 2

132

Page 133: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Nachdem die Briten ihre Position in Griechenland wegen ihrer öko-nomischen Schwierigkeiten aufgeben mußten, rückten auch hier dieUSA nach und unterstützten, wie auch im Iran, eine korrupte, reak-tionäre Regierung. 2 4 3 Die Ereignisse in Griechenland nahm Trumanzum Anlaß, die schon lange vorbereitete, nach ihm benannte Doktrinöffentlich zu verkünden. In einem Geschichtsbuch ist folgende Passageder Truman-Doktrin abgedruckt:

„Wir können keinen Veränderungen des Status quo (des gegenwärtigen Zu-stands) zustimmen, etwa durch Methoden des Zwanges oder durch politische In-filtration. Dadurch, daß die USA freien und unabhängigen Staaten helfen, ihreFreiheit aufrechterhalten, verwirklichen sie die Grundsätze der UN. Sollten wirin dieser schicksalschweren Stunde es unterlassen, Griechenland und der Türkeizu helfen, würden die Folgen für den Westen wie für den Osten weitreichendsein." (Schroedel/Schöningh V, S. 196, ebenso etwa in Klett II, S. 202)

Daß es den Vereinigten Staaten nicht primär um die Aufrechterhal-tung von Freiheit und Unabhängigkeit ging, zeigt schon ihre Politik inanderen Teilen der Welt, die mit den gleichen Parolen gerechtfertigtwurde: Die Unterstützung der Diktaturen in Guatemala, Thailand,Formosa, Südvietnam, Südkorea, Pakistan und dem vorrevolutionärenKuba und die Zusammenarbeit mit Diktaturen oder Polizeistaaten inIran, Saudi-Arabien, im Libanon, in Marokko, Südafrika, Nicaragua,Paraguay und Haiti sprechen eine zu deutliche Sprache, zumal einigeder Regierungen durch CIA-Unterstützung erst an die Macht gekom-men s i n d . 2 4 4

Zwar scheint das Beispiel V i e t n a m s 2 4 5 den oben gemachten Aus-führungen über die Dominanz ökonomischer Interessen in der Außen-politik der USA zu widersprechen, da der massive militärische Einsatzin keinem Verhältnis zur Profiterwartung des amerikanischen Kapitalsin Vietnam steht. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber doch die letzt-lich ökonomische Funktion des „schmutzigen Krieges", nämlich indem exemplarischen Charakter des versuchten Völkermords für alleim amerikanischen Einflußgebiet liegenden unentwickelten Staaten.Alle von den USA abhängigen Völker sollen wissen: Wie es Vietnamerging, wird es jedem Land ergehen, welches nach amerikanischemSelbstverständnis das Lager der „freien Völker" verlassen will.

Es ist aber nicht erforderlich, nach Asien, dem Nahen Osten, Afrikaoder Südamerika zu gehen, um zu wissen, was die USA mit „Freiheitund Demokratie" meinen. Auch heute werden diktatorische Regimein Griechenland, der Türkei und Portugal, die „zuverlässige Partner"der USA in der NATO und bei den Abstimmungen in der UNO sind,militärisch und wirtschaftlich unterstützt.

In Westeuropa kam es nach dem Krieg darauf an, kapitalistische,bürgerlich-parlamentarisch verfaßte Systeme vor dem Sozialismus zu„schützen". Als Antwort auf die „Expansion" der Sowjetunion wurdelaut den Schulbüchern die Marshallplanhilfe gewährt und die NATOgegründet. Im Zusammenhang mit den großzügig verteilten Marshall-plan-Geldern weist nur eine Schulbuch-Didaktik darauf hin, daß die

133

Page 134: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Hilfe nicht uneigennützig war (Schroedel/Schöningh VIII , S. 163) .Nur selten wird auf die politischen Konsequenzen für die Empfän-

gerländer hingewiesen (Schroedel/Schöningh II, S. 149) . Frankreichund England gerieten wie alle anderen Staaten in politische Abhängig-keit, was sich besonders an der Preisgabe ihrer Vorstellungen zurDeutschlandpolitik zeigt. Hinsichtlich des „Ostblocks" wird nur be-hauptet, daß einige Staaten an der Hilfe teilhaben wollten, die So-wjetunion ihnen das aber untersagt hat. Kein Wort wird darüber ver-loren, daß die Sowjetunion an der Gewährung von Krediten starkinteressiert war, einen Sechs-Milliarden-Dollar-Kredit wünschte undMolotow mit 89 Wirtschaftsexperten und Beratern zur Vorkonferenznach Paris kam. Erst nachdem dort klargestellt wurde, daß die Sowjet-union zur „Kornkammer" und Ungarn zum „Fleischtopf" werdensollte und die politischen Implikationen klar wurden, lehnte dieUdSSR ab. Daß der Westen nie an eine Gewährung von Hilfe für dieSowjetunion dachte, geht daraus hervor, daß Bevin und das britischeAußenministerium besorgt waren, „daß Stalin zusagen würde, undmachten nicht die geringsten Anstrengungen, für Molotow in Paris ei-ne aufgeschlossene Atomosphäre zu s c h a f f e n " 2 4 6 , weil man nämlichbefürchtete, daß sonst der amerikanische Kongreß den Plan nicht fi-nanzieren würde.

Da aber die ökonomische Gesundung nicht ausreiche, um sich vorder „aggressiven" Sowjetunion zu schützen, sei — so einige Schulbü-cher — die NATO gegründet worden.

„Wirtschaftliche Maßnahmen allein genügten jedoch nicht. Um der Sowjet-union den vollen Ernst der amerikanischen ,Eindämmungspolitik' darzulegen,entschloß sich die amerikanische Regierung, ein militärisches Verteidigungsbünd-nis mit allen europäischen Staaten abzuschließen, die gewillt waren, einem so-wjetischen Angriff Widerstand entgegenzusetzen." (Diesterweg VIII , S. 216 ,ebenso Diesterweg III, S. 248)

Daß die NATO nur defensiven Charakter hat, wird selbstverständ-lich durchgängig vertreten. Um sich zu „verteidigen", hatten die USAnoch 1946 in 56 Ländern und auf jedem Kontinent Truppen sta-tioniert, einige der vielen Pazifik-Stützpunkte nahe den sibirischen Ge-bieten der UdSSR. Später wurde von Dulles ein „Verteidigungsring"geschaffen, der die UdSSR völlig einschließt. Außer der militärischenExpansion mußte die Sowjetunion eine damit zusammenhängendeumfassende wirtschaftliche Durchdringung der Welt durch die USAhinnehmen. 2 4 7

Es läßt sich leicht zeigen, daß die Absicherung der ökonomischenInteressen des US-Kapitals in aller Welt die Ursache für die militäri-schen und außenpolitischen Maßnahmen der Vereinigten Staatens i n d . 2 4 8 Den Schulbuchautoren scheinen derartige Zusammenhängeallerdings unbekannt zu sein.

134

Page 135: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

2. Die Entstehung der Volksdemokrat ien

In der geheimen Balkanabsprache zwischen Stalin und Churchill wur-den die Interessensphären auf dem Balkan abgesteckt. Danach solltenur Griechenland ganz westlich, der Einfluß in Jugoslawien aber zwi-schen beiden Mächten geteilt werden; Rumänien, Ungarn und Bulga-rien sollten dem sowjetischen Einflußbereich vorbehalten bleiben. InJal ta wurde das Abkommen bestätigt und der Sowjetunion freier Zu-gang nach Dairen, Port Arthur als Marinestützpunkt, die Südhälfte derHalbinsel Sachalin und die Kurilen zugesprochen. Später, am 26. Juli1945, machten die Vereinigten Staaten jedoch den Sowjets diese ver-traglich zugesicherten Gebiete wieder streitig, die größtenteils vor demRussisch-Japanischen Krieg (1905) in russischem Besitz gewesen wa-r e n . 2 4 9

Die Rote Armee befreite die Balkanländer von der faschistischenHerrschaft und einige von Diktaturen der Zwischenkriegszeit. Daß dieSU, die kurz hintereinander zweimal von Deutschland in mörderischeKriege verwickelt worden war, aus Sicherheitsgründen an einer Puffer-zone zwischen dem eigenen Land und Deutschland interessiert war, istverständlich. Entgegen der Darstellung in den meisten Geschichtsbü-chern machte sich die Sowjetunion keineswegs daran, sofort nach derBesetzung in diesen Ländern eine sozialistische Umgestaltung durch-zusetzen.

Umgekehrt wurde ihr vom Westen unmißverständlich klargemacht,daß man eine Zusammenarbeit ablehne und außerdem nicht bereit sei,den Status quo in Osteuropa zu akzeptieren — d. h. sich vorbehielt,gegebenenfalls auch mit militärischen Mitteln einzugreifen. Dazu heißtes bei Horowitz:

„Das angestrebte Mindestziel war es, der Sowjetunion den Einflußstreitig zu machen, den sie als Folge ihrer im Kriege errungenen Siegein Europa gewonnen hatte. . . . Das oberste Ziel der amerikanischenFührung, soweit es sich aus ihren Erklärungen und Handlungen ablei-ten läßt, ging über den einseitigen Abzug der sowjetischen Streitkräfteaus Osteuropa hinaus bis zum Zusammenbruch der Sowjetmacht sel-ber und darüber hinaus der russischen Revo lu t i on . " 2 5 0

In diesem Zusammenhang ordnete sich die schon erwähnte Korn-kammerdiplomatie und die später erfolgte Propagierung einesatomaren Präventivkrieges ein. — Nichts davon in den Schulbüchern.

Sie stellen die „Sowjetisierung" der „Satellitenstaaten" dagegen alsBeweis für die Expansionsabsichten der Sowjetunion heraus, obwohleinige das Balkanabkommen oder Jal ta anführen (Diesterweg VIII , III,IV und Klett VI) . Ein Schulbuch erwähnt zwar, daß die Einflußnahmeerst ab 1947 in größerem Ausmaß stattfand, findet dafür aber eineBegründung, die ins herrschende Schema paßt.

„Erst als sich der Bruch der Kriegskoalition abzeichnete, und die sowjetischeRegierung keine Rücksicht mehr auf die Angelsachsen zu nehmen brauchte, wur-de die Sowjetisierung durchgesetzt." (Schroedel/Schöningh II, S. 154)

135

Page 136: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Auch die Tatsache, daß es in diesen Ländern ähnlich wie in Westeu-ropa starke antifaschistische und kommunistische Parteien gab, undder sogenannte Staatsstreich in der Tschechoslowakei (1948) eine„echte" von den Arbeitern getragene Revolution war, wird verschwie-gen.

Die Leugnung starker oppositioneller Bewegungen in Westeuropaund die Denunzierung der Revolution in der Tschechoslowakei alsUmsturz oder Staatsstreich sind typische Beispiele für die Verlagerungvon innergesellschaftlichen Konflikten in den Außenraum 2 5 1 : alleswird von Moskau gesteuert, Moskaus Agenten sitzen überall, planenUmstürze und führen sie auch durch. Die Einsicht, daß es innerhalbvon Gesellschaften antagonistische (unversöhnliche) Widersprüche ge-ben kann, die unabhängig von der Existenz und Hilfe der Sowjetunionsozialistische Tendenzen hervorbringen, übersteigt offensichtlich dieVorstellungskraft der Schulbuchautoren. 2 5 2

3. Die Spaltung Deutschlands

Die Erklärung der Spaltung Deutschlands führt die Schulbuchautorenin ein Dilemma. Sie sind zunächst gezwungen anzuerkennen, daß dieTeilung Deutschlands von den USA ausging.

„Sie (die Rede des US-Außenministers Byrnes vom 6. 9. 1946, d. Verf.) kün-digte als Folge der gesamtpolitischen Lage die vorläufige Teilung Deutschlandsan." (Schroedel/Schöningh II, S. 150/151)

Und etwas weiter unten heißt es:„Es spricht viel dafür, daß die Westmächte bereits vor der Londoner Außen-

ministerkonferenz (25. 11.—15. 12. 1947) die Errichtung eines Weststaates be-schlossen hatten" (ib.).

Begründet wird diese Entwicklung allerdings damit, daß die Sowjet-union einen Einfluß auf ganz Deutschland haben wollte, d. h. daßletztlich doch die UdSSR — auf Grund ihrer Unersättlichkeit — an derSpaltung Schuld sei. In diesen Kontext gehört auch der Vorwurf, daßdie Sowjetunion in der SBZ schon 1948 vollendete Tatsachen geschaf-fen habe.

Wie mit taktischem Vorgehen das gewünschte Resultat erzielt wer-den kann, soll an der Argumentationsweise im „Grundriß der Ge-schichte III (Oberstufe)" exemplarisch dargestellt werden. Der Autorbeginnt mit der Behauptung, daß

„Stalin hoffte, ganz Deutschland in irgendeiner Weise dem sowjetischen Ein-flußbereich eingliedern zu können" (Klett II, S. 204).

(Da der Autor Belege nicht angibt, muß angenommen werden, daßer Gelegenheit hatte, Einblick in Stalins Seelenleben zu nehmen unddie dort im Verborgenen keimende Hoffnung zu entdecken.)

Weil diese Auslegung aber offensichtlich der von den Autoren an-sonsten vorgenommenen Einschätzung der sowjetischen Politik — wo-nach sie gerade auf die Spaltung hingearbeitet habe — widerspricht,

136

Page 137: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

muß er anschließend das Gegenteil behaupten: Die Sowjetunion stell-te zwar

„die Einheit Deutschlands als ihr Ziel hin, leitete aber tatsächlich die Tei-lung Deutschlands ein." (ib.)

Nachdem dann die Sowjetunion noch einmal ihr Interesse an einerZentralverwaltung und einer internationalen Kontrolle des Ruhrge-biets betont hatte, stellten die USA — laut Schulbuch — die Repara-tionszahlungen ein und nahmen ab Mai 1946 zusammen mit Großbri-tannien die Westlösung in Angriff. Es folgt die Darstellung der Wäh-rungsreform und die Erwähnung der Tatsache, daß seit 1947 das Ge-setz des Handelns auf den Westen überging und die SBZ lediglichnachzog. Schließlich wird auch noch der Vorstoß der UdSSR 1952geschildert, der auf die Errichtung eines neutralen Gesamtdeutsch-lands abzielte.

Diese Mischung von richtigen und falschen Informationen und In-terpretationen, die sich teilweise widersprechen und den Schüler, derüber die Geschehnisse nicht unterrichtet ist, gelinde gesagt, verwirrenmüssen, geht jedenfalls in die Richtung, daß letztlich die Sowjetuniondoch wieder diejenige ist, die für die Spaltung verantwortlich zeichnet.

Direkter, aber nicht weniger fadenscheinig geht ein anderes Schul-buch vor.

„Dieser Zeitpunkt (der des Staatsaufbaus der DDR, d. Verf.) entsprach derTaktik der SED, entscheidende — längst vorbereitete — politische Maßnahmeneinige Tage nach den entsprechenden Vorgängen in Westdeutschland durchzu-führen, um damit den Anschein zu erwecken, daß die Spaltung Deutschlandsvom Westen ausginge." (Schroedel/Schöningh V, S. 210/211)

Ernst Richert, den man gewiß nicht der Apologie der sowjetischenNachkriegspolitik bezichtigen kann, sagt dazu: , , . . . nichts spricht da-für, daß die Russen vor 1953 oder sogar 1955 von langer Hand imvorhinein aus eigener Initiative auf ein separates Sowjet-Deutschlandhingezielt h ä t t e n . " 2 5 3

Molotow hielt „eine Entwaffnung und Entmilitarisierung Deutsch-lands für mindestens 40 Jahre v o n n ö t e n " 2 5 4 und fügte hinzu, daß dievorgesehenen Maßnahmen keine Sicherheitsgarantie böten. Auf Grundder vom deutschen Militär angerichteten Kriegsschäden war die SUaußerdem mehr als die Westmächte an der Lösung der Reparationsfra-ge interessiert.

Die Vereinigten Staaten stellten die der Sowjetunion laut PotsdamerAbkommen zustehenden Reparationen aus den Westzonen imMai 1946 ein und sperrten die G r e n z e . 2 5 5

Als es dann nach dem Potsdamer Abkommen nicht zu einer Eini-gung über die Wirtschaftseinheit ganz Deutschlands kam, hielt der US-Außenminister Byrnes am 6. 9. 1946 jene Rede, die die Separatent-wicklung der Westzonen einleitete. Wie ernst es der Sowjetunion war,eine Teilung zu verhindern, geht aus zahlreichen Versuchen hervor,die sie unternahm, um die Westintegration und Wiederbewaffnung derWestzonen zu verhindern. Der Vorstoß im Frühjahr 1952 soll laut

137

Page 138: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Horowitz so weit gegangen sein, daß der Führung der DDR „vomKreml mitgeteilt wurde, daß ihre Regierung im Interesse einer Wieder-vereinigung Deutschlands aufgelöst werden m ü s s e " 2 5 6 .

Im Oktober 1954 erklärte sich die Sowjetunion bereit, den Plan desbritischen Außenministers Eden für freie Wahlen zu prüfen, unter derVoraussetzung, daß Deutschland nicht der NATO b e i t r a t . 2 5 7 SolcheVerhandlungsangebote, besonders das von 1952, sind in fünf der unter-suchten Schulbücher enthalten: drei von ihnen bedauern die Tatsache,daß der Westen damals keine Verhandlungen aufgenommen hat oderverurteilen sogar die Haltung der Wes tmächte . 2 5 8 Doch es gibt auchGegenbeispiele; unter Verfälschung der historischen Tatsachen heißtes in einem Klettbuch:

„Alle Anläufe der Westmächte, sich mit der Sowjetunion über eine Friedensre-gelung für Deutschland und Österreich zu verständigen, scheiterten." (Klett II,S. 197)

Einfach verschwiegen werden die Kämpfe der Arbeiterbewegung umeine ökonomische und gesellschaftliche Neuordnung in den Westzo-nen. Nur zwei der Geschichtsbücher nehmen überhaupt Bezug auf dieVerhaltensweise der Bevölkerung; in dem einen heißt es dazu:

, , . . . die deutsche Bevölkerung war mit den dringendsten Problemen des Über-lebens beschäftigt und nahm die Ereignisse meist passiv hin." (Schroedel/Schö-ningh II, S. 149)

Für die Zeit der Gründung der BRD heißt es in dem anderen, daß dieüberwiegende Mehrheit der Bevölkerung mit der Gründung der BRDeinverstanden war (Klett VI , S. 5 ) . In Wirklichkeit gab es in den West-zonen, wie auch in den anderen westeuropäischen Staaten, starkekommunistische und sozialistische Bewegungen, die sich besondersdurch den antifaschistischen Widerstandskampf politische und pre-stigemäßige Positionen verschafft h a t t e n . 2 5 9

Da damals offen zutage lag, daß es der Kapitalismus gewesen war,der den Faschismus hervorgebracht hatte, waren in den westlichen Zo-nen alle Gewerkschaftsgruppen und Parteien einschließlich der CDU(bis hin zum Ahlener Programm vom Februar 1947) für eine Soziali-sierung mindestens der Grundstoffindustrien und der Monopole.

Ein Stahltreuhänder der IG-Metall erklärte 1954: , , . . . die amerika-nischen Dienststellen in Deutschland waren überwiegend mit Reprä-sentanten der amerikanischen Großindustrie besetzt, deren Sympa-thien auf selten der deutschen Konzerne l a g e n . " 2 6 0 Der amerikani-sche Militärgouverneur General Clay und seine drei wichtigsten Bera-ter Draper, Douglas und Murphy waren Vertreter dieser Kapitalgrup-pen, die sich gegen die kleinbürgerliche, reformkapitalistische „Linke",die unter Präsident Roosevelt in der New Deal-Phase dominiert hatte,nach 1945 rasch durchsetzten.

Die Kapitalgruppe um General Clay war selbstverständlich gegeneine Sozialisierung; ihr war an einem ungehinderten Eindringen vonamerikanischem Kapital gelegen, was nur die andere Seite der obendargelegten Notwendigkeit von Kapitalexport der US-Wirtschaft dar-

138

Page 139: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

stellt. Die Arbeiter, die teilweise „ihre" Betriebe übernommen hatten,mußten sie an Treuhänder abgeben, die zum Teil während der faschi-stischen Herrschaft leitende Angestellte gewesen waren.

Im Herbst und Winter 1946/47 kam es im Ruhrgebiet wegen derVersorgungslage und der von den Arbeitern geforderten Sozialisierun-gen zu Massenstreiks, an denen sich mehrere 100 000 Arbeiter betei-ligten. Mehrfach wurden von der britischen Militärverwaltung dabeiPanzerwagen gegen die Streikenden eingesetzt. Als sich die Streiksüber alle Westzonen ausbreiteten und verschärften, wurden unter An-drohung der Todesstrafe alle weiteren Proteststreiks und Demonstra-tionen durch die Besatzungsmacht ve rbo ten . 2 6 1

Auch die Vorgänge um den Sozialisierungsartikel der HessischenVerfassung (Nr. 41 ) , der von 72 % der Bevölkerung in einer Volksab-stimmung gebilligt worden w a r , 2 6 2 zeugen von der Ohnmacht der Be-völkerung gegen eine auf konsequent kapitalistische und monopolisti-sche Restauration ausgerichtete Politik der Westmächte. Als Antwortauf den Art. 41 der Hessischen Verfassung verfügte die amerikanischeMilitärregierung (am 6. 12. 1946) die Herausnahme einer Reihe vonBanken und anderer Betriebe, „so daß im Endeffekt nur noch wenigzu sozialisieren übr igb l ieb" 2 6 3 .

Auch die anderen Landesverfassungen einschließlich der von CDUbzw. CSU regierten Länder hatten entweder Sozialisierungsermächti-gungen oder sogar verpflichtende Sozialisierungsaufträge aufgenom-m e n . 2 6 4 Mit der Begründung, daß Sozialisierungsmaßnahmen einerZentral- und nicht einer Landesregierung überlassen werden müsse,wurden die beiden entsprechenden Gesetze des Landes Nordrhein-Westfalen (vom 25. Januar 1947 und 6. August 1948) von der ameri-kanischen Militärregierung (am 1 .1 . 1947 war bereits die Bizone ent-standen) abgelehnt. Die Antwort auf den zweiten Anlauf enthielt dieMitteilung, daß die Militärgouverneure den Sozialisierungsbeschlußnicht anerkennen würden. 2 6 5 Die Besatzungsmächte verhindertenoder unterdrückten also sowohl Aktionen der Arbeiter wie auch Be-schlüsse der demokratisch gewählten Parlamente, sobald sie sich gegendas kapitalistische System richteten. Von alledem ist in den Ge-schichtsbüchern mit keinem Wort die Rede.

Geradezu zynisch angesichts dieser Entwicklung klingt folgendesZitat aus einer Didaktik:

„ . . . wobei dann gleichzeitig deutlich gemacht würde, was unter freier Ent-scheidung in Ost und West verstanden wurde. Als Ergebnis kann festgehaltenwerden: Abgesehen von einer staatlichen Neugliederung griffen die Westmächtein gesellschaftliche und Eigentumsverhältnisse wenig ein: . . . sie respektierten al-so die freie Entscheidung des Einzelnen." (Schroedel/Schöningh VIII, S. 173)

Dazu paßt die Behauptung, daß die Entnazifizierung von den Ame-rikanern am gründlichsten durchgeführt worden sei. Tatsächlich wur-den in den Westzonen allenfalls die Mitläufer bestraft, während dieHauptschuldigen, nämlich die Führungsgruppen aus Wirtschaft, Mili-tär, Verwaltung, Justiz usw., sogleich oder spätestens nach 1951 als

139

Page 140: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

„Fachleute" gebraucht wurden und ihre früheren Machtpositionenwieder einnahmen. Über die Wirtschaftsführer heißt es dementspre-chend: „Sie waren keine Nazis, sie waren Geschäf ts leu te ." 2 6 6

Das waren sie in der Tat. Eben deshalb hatten sie sich mit derNSDAP verbündet und die Politik des faschistischen Systems wesent-lich mitgestaltet.

In dem „vom 1. Bundestag verabschiedeten ,Gesetz zur Regelungder Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 GG fallenden Personen'vom 11. 5. 1951 wurde die Wiedereinstellung aller nach 1945 im Zugeder Entnazifizierung entlassenen Personen zur Pflicht g e m a c h t . " 2 6 7

So kann als Resultat der Nachkriegsperiode festgehalten werden,daß sowohl das Wirtschaftssystem als auch die Führungsschichten rela-tiv unbeschadet aus dem Faschismus hervorgegangen sind. Die Zechemußte von den „kleinen Leuten" in der Währungsreform bezahlt wer-den, die Sachmittelbesitzer erhielten Marshallplanhilfe und kamen inden Genuß von Abschreibungsgesetzen, die sie zeitweise von jederSteuer befreiten und in kurzer Zeit enorm bereicherten — dies unterder Parole, daß es dann auch wieder Arbeitsplätze für jeden g e b e . 2 6 8

Es hat sich gezeigt, daß die Autoren den wirklichen Geschichtsver-lauf wesentlich verfälschen. Dabei bedienen sie sich sowohl der Unter-schlagung und Verdrehung von Tatsachen als auch falscher Interpreta-tionen von Tatsachen. Der Eindruck drängt sich auf, daß die Ergebnis-se von vornherein feststehen nach dem Schema: USA und Bundesre-publik = gut, UdSSR und DDR = böse. Danach werden dann die Tat-sachen zurechtgestutzt. Die Fülle der Verzerrungen läßt die Vermu-tung aufkommen, daß bei dem Thema „Kalter Krieg" wegen seinerAktualität mehr bewußte Verfälschung vorliegt als bei weiter zurück-liegenden Perioden.

Wem eine solche Darstellung nützt, liegt auf der Hand. Wie schon inder Vorbemerkung zu diesem Kapitel gesagt, kommen dabei, vermit-telt durch das konservative bis reaktionäre Bewußtsein der Schulbuch-autoren, die Interessen der Herrschenden in der BRD, besonders derProduktionsmittelbesitzer zur Geltung. Von daher ergibt sich auch diepositive Einschätzung der USA als der führenden kapitalistischenMacht, die Ablehnung des Sozialismus und als Bindeglied zwischenbeiden der Antikommunismus nach innen und nach außen, dessenscharfe Ausprägung als Strukturmerkmal der Epoche des „KaltenKrieges" gelten kann.

140

Page 141: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

G. Kolonialismus und Entkolonisierung — Imperialismusund Dritte Welt

1. Anspruch und Wirkl ichkeit

Die Kritik der Imperialismusdarstellung der Schulbücher hat zunächstaufzuzeigen, welche Bedeutung der Imperialismus in der Geschichtehatte und welche er für uns hat.

Bei der Rezeption der Imperialismustheorien in den verschiedenenSchulbüchern wie auch wissenschaftlichen Werken sieht man sichjedoch vor eine Reihe von Schwierigkeiten gestellt. Durch die Ver-schiedenheit der Theorien drängt sich der Eindruck auf, daß vielSchindluder mit dem Begriff des Imperialismus getrieben wird. In denmeisten Fällen wird der Begriff so entleert, daß er unbrauchbar wird,um einen bestimmten Teil der Geschichte in seinen wesentlichenZügen zu erfassen.

Entweder wird der Begriff zu einer ,universellen' Kategorie ge-m a c h t 2 6 9 — dadurch wird er auf die ganze Menschheitsgeschichte an-wendbar und die qualitativen Unterschiede geschichtlicher Epochenwerden verwischt — 2 7 0 oder er wird durch eine Vielzahl willkürlichausgewählter und einfach addierter Phänomene gekennzeichnet undzeitlich enger lokalisiert als die vorher selbst bestimmten Kriterien zu-lassen.

Geht man nun davon aus, daß die Ideen der Menschen nicht wie ein,deus ex machina' auftauchen oder aus sich selbst entspringen, son-dern in einer kausalen Beziehung zur gesellschaftlichen Praxis stehen,ergibt sich aus der Tatsache, daß die Entstehung der Imperialismusde-batte auf die Jahrhundertwende zu datieren ist, der Hinweis auf ent-scheidende Veränderungen der geschichtlichen Lage in dieser Zeit.Dies wird von allen Geschichtsbüchern konstatiert, allerdings mit un-terschiedlicher Gewichtung.

Den allgemeinsten Konsens — und dies scheint dann auch die ent-scheidende Veränderung zu benennen — findet man im folgenden Zi-tat am besten formuliert:

„Die Erde als Ganzes wurde zum Schauplatz der Geschichte." (Klett II, S. 65)

Damit ist die Variante „Imperialismus als universale Kategorie"schon in ihrer Unbrauchbarkeit bewiesen. Weit interessanter ist jedochdie andere Interpretation, die auf die strikte zeitliche Lokalisierungdes Imperialismus hinausläuft. Dazu weiter unten mehr; nur eine An-merkung an dieser Stelle: es ist zumindest auffällig, daß das Ende desImperialismus von der Mehrheit der Schulbuchautoren just auf denZeitpunkt festgelegt wird, an dem der erste sozialistische Staat in Ge-stalt der Sowjetunion entsteht.

Der Einbezug der ganzen Welt in das „Spiel der Geschichte" hattenatürlich auch materielle Resultate, vor allem für die europäischenLänder: in dieser Zeit begann eine rücksichtslose Ausbeutung der

141

Page 142: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Rohstoffe und Arbeitskräfte in den ,unterentwickelten' Kontinen-t e n . 2 7 1

Hier trafen zwei Produktions- und Lebensweisen aufeinander, derenAbstand aus den unterschiedlichen Bedingungen der natürlichen Um-gebung , 2 7 2 der Kultur, der Tradition, kurz aus der total verschiede-nen geschichtlichen Entwicklung resultieren. Dies stellt sich dar imunterschiedlichen Verhältnis der Menschen zur Natur und zueinander,was sich wiederum niederschlägt in den unterschiedlichen Staats- undRechtsformen.

Das Aufeinandertreffen zweier Stadien der menschlichen Entwick-lung — hier die Beherrschung der Natur durch den Menschen, dort dienaive Beziehung des Menschen zur Natur, von der er beherrscht wird— führte zur gewaltsamen Auseinandersetzung; das Konkurrenzprin-zip, der „bellum omnium contra omnes" der abendländischen Weltmußte die auf Naturwüchsigkeit beruhende gemeinschaftliche Produk-tion (Dörfer, Stämme, Familien) zerstören.

Die „unfaßbare Form", in der sich der als positiv verstandene Auf-trag der westlichen ,zivilisierten' Welt durchsetzte (Gewalt, Zerstö-rung, Sklaverei) steht im eklatanten Widerspruch zu den bürgerlichenIdealen „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit". Selbst die ,konservativ-sten' (oder gerade diese) kommen nicht umhin, diese Form zu verur-teilen.

Die Schulbuchautoren geraten hier offensichtlich in Schwierigkei-ten: einerseits sind sie entsprechend ihrer — im Laufe unserer Untersu-chungen oft aufgezeigten — affirmativen Betrachtungsweise all dessen,was der Entwicklung des Kapitalismus nützt, genötigt, auch die Aus-plünderung der Kolonien gutzuheißen — tatsächlich ermöglichte sieerst die Entwicklung des Kapitalismus in Westeuropa —, andererseitssind sie aber gezwungen, die ihrer eigenen Ideologie offen widerspre-chenden gewaltsamen Methoden dieser Ausplünderung abzulehnen.Sie versuchen, aus diesem Dilemma herauszugelangen, indem sie diewirtschaftliche Ausplünderung und Ruinierung der nichtkapitalisti-schen Länder — die, wie etwa Indien, durchaus eine bedeutende Indu-strie besitzen k o n n t e n 2 7 3 — entsprechend der damaligen Propagandaals „Zivilisation" bezeichnen und die „unzivilisierte" Form dieser „Zi-vilisation" als zufällig und ihr äußerlich betrachten.

Nachdem auf diese Weise der gesellschaftliche Inhalt (ökonomischeAusplünderung und Zerstörung nicht-kapitalistischer Wirtschaftsgebie-te zum Zwecke der erweiterten kapitalistischen Akkumulation in den,Mutterländern') und seine äußere Form (die barbarische Form, in dersich die ökonomische Ausbeutung vollzog: Ausrottung ganzer Volks-stämme, Sklaverei usw.) auseinandergerissen worden sind, ist es einleichtes, die ,schlechte' Erscheinungsform moralisch zu verurteilenund an ihre Stelle geschwind ein positives Gegenbild in Gestalt derangeblich nun wirklich humanen ,Entwicklungshilfe' von heutzutagezu sehen.

Das weiterbestehende Problem, die barbarischen Methoden von Ko-

142

Page 143: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

lonialismus und Imperialismus irgendwie historisch erklären zu müs-sen, wird von den Schulbuchautoren mit Hilfe zweier altbewährterHilfsmittel ,gelöst': der ideengeschichtlichen Betrachtungsweise (Im-perialismus = Nationalismus, Sozial-Darwinismus, Sendungsbewußt-sein usw.) sowie dem Rückgriff auf anthropologische Konstanten (Im-perialismus = Machtdenken).

In einem Band des Verlags Schroedel/Schöningh wird Imperialismusdementsprechend wie folgt bestimmt:

„Machtdenken und nationalistische Überheblichkeit gingen eine gefährlicheVerbindung ein. Jeder Großstaat wollte sein Herrschaftsgebiet erweitern."(Schroedel/Schöningh IV, S. 197)

Durch eine derartige Geschichtsbetrachtung wird hinterrücks derImperialismus als historisch gesellschaftlich formbestimmtes Phäno-men (d. h. als notwendige Form kapitalistischer Entwicklung) voll-ständig ausgelöscht.

Es existiert für die Schulbuchautoren nur noch der zivilisatorische Anspruch — also das, was angeblich in den Köpfen der Imperialistenvorging — und seine unzivilisatorische Verwirklichung. Das Wesen — der historisch gesellschaftliche Zweck — des Imperialismus hat sich in ideologische Verbrämung und äußerlich sichtbaren Vollzug — die Mittel — verflüchtigt.

Dies läßt sich an den selbst erklärten pädagogischen Zielen ablesen,welche den Widerspruch durch eine Zweiteilung der didaktischen Ver-mittlung der Kolonialgeschichte zu lösen sucht, ihn aber nur reprodu-zieren kann:

„Die Schüler sollen Ausmaß und Bedeutung der kolonialen Erschließung derWelt für Europa kennenlernen." (Schroedel/Schöningh VII, S. 162)

„Die Schüler sollen durch die Interpretation der Quellenstellen die Ideologiedes Imperialismus kennenlernen, sie auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschied-lichkeiten bei den einzelnen imperialistischen Staaten untersuchen und sie in ih-rer Gefährlichkeit erkennen." (ebenda, S. 165)

Für die heutige „Dritte Welt"„können im wesentlichen nur Tatsachen und Entwicklungstendenzen darge-

stellt werden" (Schroedel/Schöningh VIII, S. 180),aber als sicher gilt:„Die nächsten Jahrzehnte werden erweisen, ob es gelingen wird, die Einwohner

der Erde von Hunger zu befreien und allen ein menschenwürdiges Dasein zu si-chern." (Schroedel/Schöningh V, S. 228)

Und wem dieser Auftrag zufällt, bedarf ebenfalls keiner Diskussio-nen: „Versagt die westliche Welt . . . " (Klett II, S. 224)

Auf diese Weise werden der ,positive' Inhalt der Kolonialbewegungund die ,negative' Form der Durchsetzung zusammenhanglos neben-einandergesetzt, d. h. die bürgerliche Geschichtsdarstellung sieht kei-nen inneren Zusammenhang zwischen „Ausmaß und Bedeutung" fürdas imperialistische Europa und der „Gefährlichkeit imperialistischerIdeologien". Indem aber diese beiden Momente derselben Sache aus-einandergerissen werden und als Phänomene beziehungslos nebenein-anderstehen, verstrickt sich die Darstellung in weitere immanente Wi-

143

Page 144: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

dersprüche. Das stellt sich in der Unfähigkeit dar, zwei unterschiedlichbewertete Teilphänomene aus den gleichen gesellschaftlichen Bedin-gungen zu erklären, auf der anderen Seite aber doch Ursachen ange-ben zu müssen.

2. Der Kolonialismus

„Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, um 1890, begann ein neuer Abschnitt derWeltgeschichte, der wesentlich von den Massenkräften der modernen Demokra-tie und dem weltumspannenden Imperialismus bestimmt wurde. Die Epoche desNationalstaates und des Bürgertums war zu Ende. Die sprunghafte Bevölkerungs-zunahme und die Ausweitung der Weltwirtschaft durch die fortschreitende Indu-strialisierung führten dazu, daß die Staaten nun auch politisch über den Rahmendes Nationalstaates hinausgriffen, um sich einen möglichst großen Teil der Erd-oberfläche als Einflußgebiete zu sichern. Die Erde als Ganzes wurde zum Schau-platz der Geschichte." (Klett II, S. 66/12)

In fast allen Geschichtsbüchern beginnt die Darstellung des Imperia-lismus und der Kolonialbewegung mit ähnlichen, dem Sinn nach glei-chen Sätzen: deshalb kann hier exemplarisch — am Beispiel diesesTextes — verfahren werden.

Wie schon in der Einleitung als Variante der Geschichtsinterpreta-tion benannt, ist der erste Schritt jeder Schulbuchdarstellung die Fest-legung eines Zeitraumes für einen bestimmten historischen Vorgang.Scheinbar vorgegebene feststehende Begriffe werden historisch lokali-siert.

„ . . . Die Epoche des Nationalstaates und des Bürgertums war zu En-de . . . " Solche Aussage ergibt sich scheinbar zwangsläufig aus der zeit-lichen Lokalisierung: Beginnt eine neue Epoche, muß eine alte zuEnde gehen. Ist die Epoche des Nationalstaates aber wirklich zu En-de? Ist, um zunächst nur die Frage aufzuwerfen, Nationalstaatlichkeitnicht gerade im Gegenteil eine notwendige Prämisse der imperialenKolonialbewegung?

Aufschlußreich ist die Verwendung des Begriffes Bürgertum in die-sem Zusammenhang. An dieser Stelle ist noch einmal an unsere histo-rische Ableitung der Französischen Revolution zu erinnern, in der dar-gelegt wurde, woraus sich das Bürgertum konstituiert (Besitzform, po-litische Macht, Geisteshaltung) und wie es sich historisch herausgebil-det hat.

Ist das entscheidende Kennzeichen aber der Besitz an Geld- undProduktivkapital (Produktionsmittel), welches das Bürgertum von al-len anderen Gruppen innerhalb der Gesellschaft unterscheidet, sokann von seinem Ende in der Epoche des Imperialismus überhauptkeine Rede sein.

Im Gegenteil: Es ist gerade das Bürgertum, das vor allem auf Grundder materiellen Voraussetzungen in der Lage ist, die Kolonialbewe-gung in Gang zu bringen. Als erstes sind es die großen Handelsunter-nehmungen, dann die Industriekonzerne, die ihren Fuß auf den Boden

144

Page 145: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

der unterentwickelten Länder setzen. Ganz wesentlich sind die Mo-tive, welche diese Politik als unumgänglich erscheinen ließen: Roh-stoffquellen und Absatzmärkte — neue Anlagemöglichkeiten für dieeuropäischen Kapitale (die, wie später zu zeigen ist, eine Notwendig-keit für diese Kapitalien waren). Man muß also gerade dieses Bürger-tum als die treibende Kraft ansehen, und es waren die bürgerlichenInteressen, die eine Intervention der einzelnen Staaten erfordertenund „fast regelmäßig den Soldat der Nation folgen ließen": zur Unter-werfung der Kolonialvölker und zur Sicherung gegen die konkurrie-renden imperialistischen Mächte.

Damit wird auch die Behauptung, das Zeitalter des Bürgertums wer-de von dem der „Massenkräfte" der modernen Demokratie „abgelöst"— denen das Schulbuchzitat den Imperialismus in die Schuhe schiebenmöchte — hinfällig. Ist die imperiale Bewegung von den Interessen desBürgertums her ableitbar, so muß die Funktion der „Massenkräfte"hier eine andere sein.

Die Fragwürdigkeit der Schulbuchdarstellung läßt sich schon daranablesen, daß sich in keinem der Bücher auch nur der Versuch findet,die Eroberung von Kolonien wissenschaftlich stringent aus den In-teressen oder dem Drang der Massen herzuleiten. Empirisch feststell-bar ist allerdings, daß die wirtschaftlichen Expansionsinteressen sichauch geistig und publizistisch äußerten, z. B. im „Alldeutschen Ver-band", der mit seiner Propaganda wirklich Massen mobilisieren konn-te, besonders im Kleinbürgertum. 2 7 4

Als ein wesentlicher Mangel der Schulbuchdarstellung wurde bereitserwähnt, daß sie niemals eine bestimmte Gesellschaftsformation ana-lytisch, d. h. in ihren Kausalbeziehungen erfaßt. Sie trägt empirischjeweils nur eine Reihe von Phänomenen zusammen, die zeitlich zumgleichen Zeitpunkt auftauchen.

So wird als erstes in allen Geschichtsbüchern das Phänomen der in-dustriellen Entwicklung aufgegriffen: Die industrielle Revolution des18. Jahrhunderts brachte eine gewaltige wirtschaftliche Entwicklungmit sich, und es war nur eine Frage der Zeit, „wann die Produktionden Eigenbedarf übertraf". (Schroedel/Schöningh VII , S. 163) Und

„um diese Massenproduktion in Gang zu halten, brauchte die Industrie billigeRohstoffquellen und neue Absatzmärkte. . . . Die Menschheit zerfiel in armeRohstofflieferanten und reiche Produzenten." (Diesterweg V, S. 217)

(Daß jene „armen Rohstofflieferanten" durchweg erst mit Militärge-walt von Seiten der kapitalistischen Staaten dazu herabgedrückt wur-den — indem nämlich das bodenständige z. T. hochentwickelte Gewer-be systematisch vernichtet wurde — sei hier nur am Rande vermerkt.)

Nach dem ersten Zitat waren es also nicht die Ideen der großen Un-ternehmer, die den Anstoß gaben.

Tatsächlich war es die erste große Wirtschaftskrise in den 70er Jah-ren des letzten Jahrhunderts, die zu einem starken staatlichen Wirt-schaftsprotektionismus führte und den direkten Anlaß zu kolonialenExpansion dars te l l te . 2 7 5

145

Page 146: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Da aber die Antriebskräfte der „schrankenlosen" industriellen Mas-senproduktion nicht begriffen werden, kann auch nicht erklärt wer-den, warum die Industrie mehr produzieren sollte, als zum Eigenbe-darf notwendig ist. Schon der Begriff Eigenbedarf ist fragwürdig. Tat-sächlich hat er eine eindeutig verschleiernde Funktion: er erwecktnämlich den Eindruck, als seien die gesellschaftlichen Bedürfnisse imeigenen Lande vollständig befriedigt. Es genügt aber schon ein Hinweisauf die sogenannte „Soziale Frage" des 19. Jahrhunderts, also des ma-teriellen Elends breiter Schichten, um das zu widerlegen. Die entschei-dende wirtschaftliche Motivation kann also nicht die Bedürfnisbefrie-digung der Gesellschaftsmitglieder sein, sondern muß in dem Prinzipgesucht werden, daß die Entscheidung jedes Unternehmers bestimmenmuß, wenn er nicht Gefahr laufen will, im Konkurrenzkampf unterzu-gehen: der Profitmaximierung. Eben weil die Schulbuchautoren die„schrankenlose" Massenproduktion und die daraus entspringendeTendenz zum Weltmarkt nicht erklären können, greifen sie zu einemweiteren Phänomen, das quasi als unabhängig von den erstgenanntendargestellt wird.

„Es ist klar, daß der Imperialismus eine hochentwickelte kapitalistische Wirt-schaft zur Voraussetzung hat. . . . Betrachtet man (jedoch) vielmehr das ver-wickelte Zusammenspiel von triebhaften, geistigen und wirtschaftlichen Kräften,das den Imperialismus hervorruft, so kann man sein Wesen so umreißen: ,Impe-rialismus ist eine zugleich geistige und politische Bewegung mit dem Ziel einerReichsgründung durch die Ausdehnung nationaler Herrschaft und Wirtschafts-macht über einen Raum, der die Grenzen des betreffenden Nationalstaates über-schreitet und fremde Völker dem Reichsverbande zu unterwerfen oder einzuglie-dern' (Hashagen)." (Zimmermann, Der Imperialismus, seine geistigen, wirt-schaftlichen und politischen Zielsetzungen, Klett 1971, S. 3)

Später heißt es in diesem Text, dem Vorwort einer Quellensamm-lung:

„Bei dem ständigen Wachstum der Bevölkerung, der schnell fortschreitendenIndustrialisierung und der Ausweitung des Ausfuhrhandels strebten die herr-schenden Kreise danach, dem deutschen Volke die nötigen Rohstoffbasen zu si-chern. Kann man diese Politik aber als echten Imperialismus bezeichnen? Esfehlten dem deutschen Nationalstaat, der erst so spät gegründet worden war, da-zu gewisse natürliche Voraussetzungen. Es fehlte dem deutschen Volke vor allemein unerschütterliches Sendungsbewußtsein . . . " (ibid. S. 34)

Mit dem Sendungsbewußtsein ist nun ein offensichtlich besondersbeliebtes Motiv dieser Imperialismusdarstellung angesprochen; dazunur zwei Beispiele:

„Der wirtschaftliche und politische Imperialismus fand einen starken Rückhaltim Selbstgefühl der Völker. . . . das Sendungsbewußtsein . . . " (Diesterweg V, S.218)

„Imperien sind Reiche, die ihre überschüssige Bevölkerung auf eigenem Bodenansiedeln und ihre Kapitalien dort anlegen wollen. Von Großbritannien ging dieimperialistische Idee aus und erfaßte den Kontinent wie eine Modeströmung.Ein sich steigernder, die biologisch-naturwissenschaftliche Denkweise des Sozial-darwinismus, eine neue Wirtschaftsauffassung und ein ausgesprochenes Sen-dungsbewußtsein prägten die imperialistische Lehre." (Klett II, S. 66)

146

Page 147: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Viel Raum und Zeit wird aufgewendet, um das englische, französi-sche, russische, nordamerikanische und auch das deutsche Sendungs-bewußtsein im einzelnen darzustellen. Der Zusammenhang mit denGesellschaften aber, in denen dieses „Sendungsbewußtsein" entsteht,wird zwar gelegentlich zaghaft angedeutet, das Wesentliche aber, die,negative' Fortführung ideologischer Momente (Rassismus und reli-giöser Fanatismus) der Kolonialbewegung, wird nicht auf gesellschaft-liche Ursachen zurückgeführt, sondern einigen wenigen Persönlichkei-ten, meist Politiker oder Intellektuelle, zugeschrieben: Disraeli, Cham-berlain, Rhodes, Caprivi, Wilhelm II. etc. So waren es der EngländerRhodes und der Deutsche Wilhelm II., welche die Geschicke der Weltin ihren Händen hielten. Die ,Entscheidungssituationen' der Geschich-te werden zu individuellen Ermessensfragen. Doch auch dies hat sei-nen Sinn. Auf diese Weise kann nämlich die Kolonialbewegung ausein-andergerissen werden in eine angeblich rational begründete wirtschaft-liche und politische Expansion einerseits und die irrationalen Ideolo-gien andererseits. So also lösen die Geschichtsbücher den in der Einlei-tung dargelegten Widerspruch zwischen Inhalt und Form des Imperia-lismus. Identifiziert man die irrationalen ,negativen' Ideologien miteinigen Persönlichkeiten, die sich einem wissenschaftlichen Urteil ent-ziehen und nur moralisch zu kritisieren sind, kann man auch die ge-waltsame und unmenschliche Form, in der sich die koloniale Erschlie-ßung der Welt durchsetzte, moralisch verurteilen, ohne die Gesell-schaftsordnung, die das alles hervorbrachte, irgendwie belasten zumüssen:

„Jede Bedenkenlosigkeit (!) und jeder Gewaltakt bei der Besitzergreifung derWelt ließ sich mit den angeblichen ,Menschheitsaufgaben' der Großmächte recht-fertigen." (Diesterweg V, S. 2 1 8 ) 2 7 «

„Aber die deutsche Wirtschaft zog auch Profite aus den Kolonien. SchwerenSchaden erlitt die einheimische Bevölkerung, denn sie verlor ihr Selbstbewußt-sein . . . und fühlte (!) sich ausgebeutet." (Diesterweg V, S. 224)

Ob dieses Gefühl nicht auch eine reale Basis hatte?Die historische Eingrenzung, die den Imperialismus 1914 oder 1918

für abgeschlossen erklärt, und die moralische Verurteilung bestimmterpersonalistisch abgeleiteter Phänomene bewirkt, daß geschichtlicheKontinuität nicht begriffen werden kann: daß die Gesellschaftsord-nung und also die treibenden gesellschaftlichen Kräfte bis heute diegleichen sind wie am Ende des 19. Jahrhunderts und daß Ausbeu-tungsverhältnisse in veränderten Formen fortexistieren, wird so mitmethodischen Mitteln aus dem Geschichtsbild eleminiert.

Es ist an dieser Stelle erforderlich, noch einmal auf das in der Einlei-tung erwähnte Zitat zurückzukommen: „Die Schüler sollen Ausmaßund Bedeutung der kolonialen Erschließung der Welt für Europa ken-nenlernen." Was im Zusammenhang mit der kolonialen Erschließungder Welt „Ausmaß und Bedeutung" heißt, ist wohl klar erkenntlich.Gemeint ist Fortschritt, der in jeder Hinsicht die Kolonialvölker aus-schließt. Eine Quellensammlung zeigt, woran sich dieser Fortschritts-

147

Page 148: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

begriff im bürgerlichen Bewußtsein festmacht: Landfläche und Bevöl-kerungszahlen der Großmächte, Bevölkerungsentwicklung und Berufs-gliederung, Ausweitung der Produktion (Eisen, Stahl, Steinkohle),Ausdehnung des Welthandels, steigende Tonnengehalte der Handels-flotte, Ausbau des Eisenbahnnetzes. Aber nicht nur in Europa werdenAusmaß und Bedeutung sichtbar:

„Die industrielle Überlegenheit des ,Weißen Mannes' erregte die Bewunderungin Japan ebenso wie in Afrika. Daher eiferte man überall dem europäischen undnordamerikanischen Vorbild nach." (Klett V, S. 116)

3. Entkolonisierung — Dri t te Welt

Mit dem ,Ende des Imperialismus' und dem Beginn der Epoche derWeltkriege rückt die koloniale Frage bei allen Geschichtsdarstellungenin den Hintergrund. Die kommenden 30 Jahre liegen völlig im dun-keln. Die Kolonien rücken erst wieder mit dem „Erwachen der farbi-gen Völker" in den Gesichtskreis der oberf lächl ichen, 2 7 7 rein phäno-menologischen Geschichtsdarstellung. Es hat den Anschein, als seiender koloniale Status quo der Jahrhundertwende und die Völker derunterentwickelten Länder für 30 Jahre eingeschlafen.

Hierin liegt wahrscheinlich der Grund, weshalb der „Aufbruch derkolonialen Völker" und ihr Unabhängigkeitskampf wie ein deus exmachina auftauchen. Wiederum wird diese Bewegung nicht von ihrengesellschaftlichen Ursachen her erklärt; vielmehr wird unvermitteltfestgestellt:

„Nach dem Krieg herrschte Verlangen nach Selbstverwaltung und Unabhängig-keit." (Klett VI, S. 193)

Woher dieses Verlangen plötzlich kommt, bleibt ungeklärt. Viel in-teressanter erscheinen den Autoren die Verhaltensweisen der Kolo-nialmächte. Im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung scheint sichnämlich — mit einigen Ausnahmen — eine neue Qualität der Beziehun-gen zwischen unterentwickelten und entwickelten Ländern herauszu-bilden: der Wandel vom Machttverhältnis zur Partnerschaft, eine neueForm der Durchsetzung des alten „humanitären Auftrags" der westli-chen Welt.

Die Geschichtsdarstellung unterscheidet im wesentlichen zwischenvier „kolonialen Verhaltensweisen": 1. Die Kolonialmacht verweigertdie Selbständigkeit. Die Folge sind blutige Kriege, an deren Ende dieNiederlage der Kolonialmacht und ein scharfer Gegensatz des befrei-ten Volkes zu den weißen Siedlern steht. 2. Die weiße Schicht sichertsich ihre Herrschaft durch politische und militärische Präventivmaß-nahmen. 3. Die Kolonialmacht bereitet ihren Rückzug in Zusammen-arbeit mit dem Kolonialvolk vor. Die Folge ist eine — angeblich — rei-bungslose Machtübernahme und weitere Zusammenarbeit mit denWeißen. 4. Die Kolonialmacht weicht überstürzt einem plötzlichenDruck des Kolonialvolkes. Das Resultat ist Chaos und Haß gegen dieWeißen (Schroedel/Schöningh VIII , S. 185) .

148

Page 149: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Daß das englische B e i s p i e l 2 7 8 das lobenswerteste ist, steht für dieGeschichtsbücher außer Frage; dabei sieht man über eine Reihe vonAufständen in Indien und anderen Dominions, die blutig niederge-schlagen worden sind, gern hinweg. Sie würden das schöne Bild vonder „reibungslosen Machtübernahme" hier nur stören.

Für wichtiger als die Ursachen und der Hergang (empirisch und be-wußtseinsmäßig) gelten die Folgen. So ist für die Schulbücher nichtdie Verweigerung der Selbständigkeit oder das überstürzte Zurückwei-chen das eigentliche Übel der Entkolonisierung, sondern es sind dieGegensätze „zwischen Schwarz und Weiß" und der Haß gegen die Wei-ßen. Denn eines gilt als sicher:

„Die selbständig gewordenen Länder Asiens und Afrikas können nicht aus ei-gener Kraft die für ihre Existenz notwendigen wirtschaftlichen Grundlagenschaffen." (Klett II, S. 224)

Sie sind auch weiterhin auf die Hilfe der nunmehr zum Partner ge-wordenen Industriestaaten angewiesen. Doch waren es nicht eben die-se europäischen Staaten und die USA, welche durch ihre Kolonialpoli-tik die blutigen Unabhängigkeitskämpfe verursacht haben? War esnicht die rücksichtslose Ausbeutung der „Dritten Welt" an Rohstof-fen und Arbeitskräften, welche die Unterentwicklung bewirkte undkonservierte? Die zentrale Frage bleibt in den Büchern unbeantwor-tet: Woher resultiert die wirtschaftliche Rückständigkeit und die poli-tische Unmündigkeit trotz des angeblich so segensreichen 50jährigen„weißen" Einflusses? 2 7 9 Wie kommen die Schulbücher dazu, dieHöherentwicklung dieser Länder von eben jenen Mächten zu erwar-ten, die die Unterentwicklung verursacht haben? Indem man von ei-nem gegebenen Status quo ausgeht, ohne die Ursachen zu analysieren,entzieht man sich selbst theoretisch und praktisch die Möglichkeit,das Übel an der Wurzel zu packen. Hier ein Beispiel:

„Auch in diesem Kapitel können im wesentlichen nur Tatsachen und Entwick-lungstendenzen dargestellt werden. Es ist das Kennzeichen der ,Dritten Welt',daß sie sich in einem Stadium der Vorläufigkeit befindet, das ihr noch nichterlaubt, trotz ihrer großen Bevölkerungszahl und ihres großen Anteils der be-wohnten Erdoberfläche, eine aktive Rolle in der Weltpolitik zu spielen.

. . . ; in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht sind sie noch sehr schwach;dadurch geraten sie leicht in eine gewisse (!) Abhängigkeit von wirtschaftlichoder militärisch überlegenen Mächten; auch ihre staatlichen Strukturen sindnicht gefestigt; zu deren Festigung benutzen sie häufig Ideologien (!), die sie ausEuropa übernommen haben (Nationalismus, Marxismus-Leninismus) und stülpendiese ihrer Bevölkerung über ohne Rücksicht darauf, ob sie mit Tradition, Le-bensweise, Religion etc. vereinbar sind.

Es ist klar, daß Entwicklungshilfe mehr sein muß als Kapitalhilfe;. . . Bildungshilfe . . .

Entwicklungshilfe ist keineswegs in erster Linie zur Eindämmung des Kommu-nismus notwendig, sie ist — abgesehen von humanitären und christlichen Erwä-gungen — der wirksamste Schutz gegen einen Aufstand der Armen gegen die Rei-chen und sichert als Folge die Erhaltung der Arbeitsplätze, denn je mehr die,unterentwickelten Länder' ihren Lebensstandard erhöhen, um so mehr werden

149

Page 150: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

sie versuchen, an der Produktion der Industrienationen teilzuhaben." (Schroedel/Schöningh VIII, S. 180 ff)

Zu Beginn steht also eine oberflächliche Konstatierung des Beste-henden, aus der abgeleitet wird, daß Entwicklungshilfe notwendig ist,und zwar in zweierlei Hinsicht: 1. Schutz des Reichtums gegen einenAufstand der Armut. 2. Eindämmung des Kommunismus . 2 8 0

Die Forderung nach diesem „Schutz" erscheint als legitim, da in ei-ner Gesellschaft, die auf Privateigentum basiert, der Schutz des Privat-eigentums eine unbedingte Notwendigkeit ist; ein Aufstand der Nicht-besitzenden würde es gefährden. Auch daß dieser Schutz wirksamersein kann, weil sublimer als das Herrschaftsverhältnis der Vergangen-heit, soll nicht bestritten werden. Mit geradezu brutaler Offenheitaber wird hier gesagt, worum es eigentlich geht: um den Schutz derReichen gegen die Armen, also um die Erhaltung der Abhängigkeits-verhältnisse. Die unterentwickelten Länder sollen an der Produktionder Industriestaaten „teilhaben", nicht etwa selbst Industriestaatenwerden. So betrachtet läßt sich von „humanitären und christlichen Er-wägungen" in der Tat „absehen", auch wenn diese sonst zur ideologi-schen Verbrämung sehr nützlich sind. ,Kapitalistischer' dürfte mankaum noch argumentieren können. Hier haben wir den Standpunktdes Kapitals in nuce. Die „Eindämmung des Kommunismus" ist vondaher allzu verständliches Nebenziel.

Da hilft es dann wenig, wenn man den Vorwurf verbal zurückweist,die Entwicklungs,,politik" versuche:

„Abhängigkeiten und Ausbeutungsmechanismen des Kolonialzeitalters mit an-deren, weniger auffälligen Mitteln zu konservieren und zu etablieren." (Eppler inKlett II, S. 225)

„Entscheidend ist die Erkenntnis, daß die Entwicklungspolitik das Leben füralle auf dieser geschrumpften Erdkugel einigermaßen erträglich (!) zu machenhat, damit es nicht für alle unerträglich wird." (ib.)

Das zweite „alle" kann sich eigentlich nur auf den „reichen Westen"beziehen, für die unterentwickelten Länder (vor allem für die breitenVolksmassen) ist es heute immer noch unerträglich. Und daß es in er-ster Linie nicht um die Eliminierung des Gegensatzes von arm undreich geht, zeigt auch folgendes Zitat:

es ist vielmehr notwendig, die wirtschaftlich-technische Rückständigkeitund damit die geringe Produktivität der Arbeitskraft zu beseitigen; die Ausbil-dung von Fachkräften für die Wirtschaft, Technik und Verwaltung muß geför-dert werden. Dadurch könnte sich auch in den Entwicklungsländern eine meistnoch fehlende Mittelschicht bilden, die imstande wäre, die großen sozialen Un-terschiede zwischen der kleinen, aber reichen Oberschicht und den armen, unge-bildeten Volksmassen zu überbrücken." (Schroedel/Schöningh V, S. 228)

Je tz t wird auch deutlich, warum die westliche Welt nicht versagendarf. Unterläßt sie die „Hilfe" für die „Dritte Welt" oder überläßt mansie gar dem Kommunismus (der ja offenbar eine andere Entwicklungs-hilfepolitik zu betreiben scheint), so geht in den unterentwickeltenLändern, dem größten Teil der bewohnten Erde, der kapitalistischeStatus quo verloren, und es entstünde eine weitere Gefahrenquelle für

150

Page 151: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

die Industriemonopole.Tatsächlich handelt es sich um eine „weitere" Gefahrenquelle, denn

auch die Widersprüche in den kapitalistischen Metropolen treten im-mer deutlicher zutage. Das ständige Betonen des Gegensatzes zwi-schen armen und reichen Ländern verschleiert, daß die „reichen"Länder selbst, ihrer sozialen Struktur nach, auf diesem Gegensatz be-ruhen.

„Versagt die westliche Welt, so werden die Länder möglicherweise mit Aufleh-nung und Aggression gegen die Industrienationen reagieren, denn man empfin-det heute die eigene Armut als vermeidbare soziale Ungerechtigkeit." (Klett II,S. 224)

Die Gefahr für die „westliche Welt" wird also klar gesehen, dochzugleich wird eine Begründung geliefert, die an Infamie grenzt: nichtnur wird unterschlagen, wer an der „Armut" schuld ist, sondern die„soziale Ungerechtigkeit" wird von einer Tatsache in ein bloß subjek-tives Empfinden der Betroffenen verwandelt. Danach würde es also ge-nügen, durch irgendwelche Tricks deren „Empfinden" zu verändern.So wird so manche gut gemeinte, von moralischen Erwägungen be-stimmte Darstellung unversehens zur Apologetik des Kapitalismus, derbestehenden Verhältnisse.

Nur ein einziges Buch gibt ein detailliertes Faktenmaterial über Pro-duktions- und Sozialstrukturen der unterentwickelten Länder, enthältsich jeder Wertung, spricht nicht von Schutz oder Gefahren undschließt mit folgendem Satz:

„In den geäußerten Ansichten (es handelt sich um Zitate von Fanon, einemalgerischen Revolutionär und Sozialisten, und von U. Meinhof, d. Verf.) und inden Taten einzelner traten deutlicher als in der Zeit des Nachkrieges die gesell-schaftlichen und politischen Gegensätze auch innerhalb der westlichen Demo-kratien hervor!" (Diesterweg VI , S. 184)

Diese Aussage verweist darauf, daß das Problem von Neokolonialis-mus und Entwicklungshilfe zunächst ein Problem der kapitalistischenIndustrienationen und ihres gesellschaftlichen Systems selbst ist.

H. Die Darstellung des wissenschaftlichen Sozialismus

I. Die Bedeutung der Auseinandersetzung mit dem Marxismus für dasbürgerliche Denken

„Der Marxismus ist jetzt mehr als 100 Jahre alt. Es scheint an derZeit, eine moderne Darstellung und Kritik der Lehre zu versuchen, dieheute auf einem Drittel der Erde Staatsreligion ist und ihren Schat-ten über die ganze Weltpolitik w i r f t . " 2 8 1 Dies sind die ersten Zeilenaus dem Vorwort Walter Theimers in seinem Buch „Der Marxismus".Die letzten Zeilen des Vorworts lauten: „Nichts an dieser Kritik (amMarxismus, d. Verf.) soll so verstanden werden, als wäre es gegen diesozialen Bestrebungen der freiheitlichen Arbeiterbewegung gerich-

151

Page 152: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

t e t . " 2 8 2 Die beiden Sätze kann man als die Klammern bürgerlicherMarxbeschäftigung bezeichnen.

Aus ihnen läßt sich das Bedürfnis nach der Auseinandersetzung mitdem Marxismus sowie deren Funktion ablesen. Den bürgerlichen Au-toren erwächst das Bedürfnis nach dieser Auseinandersetzung nichtaus den Problemen der eigenen Gesellschaft, in dem Sinne, daß derMarxismus für sie noch Gültigkeit besäße, sondern aus dem Faktum,daß ein Drittel der Welt schon von der ,roten' Religion beherrschtwird. Die unmittelbare Legitimation einer Beschäftigung mit demMarxismus leiten die bürgerlichen Autoren also aus dem gesellschaft-lichen Außenraum ab.

Die innergesellschaftliche Funktion der Auseinandersetzung mitdem Marxismus hingegen: Nämlich die Abwehr sozialistischer Forde-rungen der Arbeiter in der kapitalistischen Gesellschaft, wird ver-schwiegen. Die besondere Versicherung — die Kritik am Marxismusimpliziere keinesfalls eine Ablehnung der „sozialen Bestrebungen derfreiheitlichen Arbeiterbewegung" — klingt wie ein Ausdruck schlech-ten Gewissens.

Diese Art der Begründung für die Auseinandersetzung mit dem Mar-xismus, wie wir sie an Hand von Theimer andeuteten, kann als reprä-sentativ gelten, ebenso das Verschweigen der innergesellschaftlichenImplikationen. Daß es einen strukturellen innergesellschaftlichen Kon-flikt, einen Klassenwiderspruch gibt, darf gar nicht erst thematisiertwerden. Der innergesellschaftliche Konflikt wird — wie Werner Hof-mann zeigte — in einen außenpolitischen verwandel t . 2 8 3 Besondersoffensichtlich wird dies angesichts des Rahmens, innerhalb dessen dieAuseinandersetzung mit dem Marxismus in der Oberstufe der Gymna-sien oft stattfindet. Diesen Rahmen bilden die „Richtlinien für die Be-handlung des Totalitarismus im Unterricht, Beschluß der KMK vom5. Juli 1 9 6 2 " — ein typisches Produkt des Kalten Krieges. Es ist in derTat erst die Existenz der sozialistischen Staaten, die die bürgerlicheWissenschaft und Schule veranlaßt, sich auch mit der Theorie des Mar-xismus auseinanderzusetzen. Solange der Marxismus wesentlich nur ei-ne innergesellschaftliche Angelegenheit war, Ausdruck des Emanzipa-tionskampfes der Arbeiterklasse, war es die vornehmste Aufgabe derbürgerlichen Gelehrten, den Marxismus mit Schweigen zu beden-k e n . 2 8 4 Erst als man durch die Existenz der sozialistischen Staatendie wesentlich innergesellschaftliche Bedeutung des Marxismus in einProblem der Auseinandersetzung mit dem Außenraum verwandelnkonnte, wurde der Marxismus Gegenstand zahlreicher Darstellungen,Kritiken usw. seitens der bürgerlichen Wissenschaftler.

Ist bei Prof. Theimer die innergesellschaftliche Funktion quasi nuraus seiner aufdringlichen Versicherung, in dieser Richtung nichts imSchilde zu führen, herauszulesen, so tritt sie in plumper Weisehervor bei Hampel/Seilnacht: „Wir erleben die Geschichte", einemGeschichtsbuch für die Volksschule aus dem Jahre 1966. Hier wird je-der der auch heute noch Kategorien von Marx benutzt, als unvernünf-

152

Page 153: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

tig hingestellt:„Kein vernünftiger Mensch spricht im freien Teil Europas von Kapi-

talisten und Proletariern; man unterscheidet zwischen Arbeitgebernund Arbei tnehmern." 2 8 5

„Von Ausbeutung der Arbeiter ... in unserem Staat" kann ,keineRede' sein. Hingegen ist es eine „Tatsache, daß die Arbeiter vor allemin den Staaten unterdrückt und ausgebeutet werden, die sich ,soziali-stisch' n e n n e n . " 2 8 6

Autoritäre Sprachregelung dekretiert, was vernünftig ist, was ein-fach ist, und was man zu sagen hat, will man nicht dem Verdikt verfal-len, zu den Unvernünftigen, Unverbesserlichen zu gehören.

Kritische marxistische Kategorien, wie Klasse, Klassenkampf, Aus-beutung etc., die für die Analyse und Beschreibung der kapitalisti-schen Gesellschaft — in der wir immer noch leben — entwickelt wur-den, sollen für diese keine Geltung mehr besitzen, hingegen sollen siefür den gesellschaftlichen Außenraum, für die sie nicht entwickeltwurden, gelten. Dort ist der Gegner angesiedelt, innerhalb der eigenenGesellschaft gibt es ja keine Gegner, sondern nur Partner, Sozialpart-ner. So heißt es in Heinz Beckers „Staatsbürger von morgen", einemSozialkundebuch für die Volksschule aus dem Jahre 1964:

„Das Verhältnis der Unternehmer zu den im Unternehmen beschäf-tigten Menschen beruht auf gegenseitige Achtung. Ein Klassenkampf ist durch die Entwicklung der sozialen Verhältnisse übe rho l t . " 2 8 7

Schwieriger wird die Auseinandersetzung mit Theorie und Praxisdes Marxismus in höheren Schulklassen, wo auch über die Existenzund die Vorstellungen der großen kommunistischen Parteien in westli-chen Staaten (Italien, Frankreich) gesprochen werden muß. Hier hatProf. Hugo Andreae in seinem Buch „Zur Didaktik der Gemein-schaftskunde" offensichtlich Mühe, ein Unterrichtsziel zu formulieren— „das Ziel eines Unterrichts über dieses Thema ist schwer formulier-bar. Daß es sich, insgesamt gesehen, um eine unsere Existenz in jeder Richtung bedrohende Macht handelt, gegen die wir uns bis zur Auf-bietung unserer letzten Kräfte wehren werden, muß deutlich werden. In diesem Punkte kann der Inhalt nicht zweifelhaft sem. " 2 8 8 Dieswurde 1968 geschrieben und nicht zur Zeit des Höhepunktes des Kal-ten Krieges, aus der der Totalitarismuserlaß datiert (1962) . Steht die-ser Erlaß auch seit Jahren unter Beschuß von Verfassern von Sozial-kundebüchern (allen voran Kurt Gerhard Fischer) und Politikwissen-schaftlern, ist es offensichtlich dennoch nicht so, daß er in den neue-ren und neuesten Unterrichtsbüchern, Didaktiken und Unterrichtshil-fen generell abgelehnt würde. Vielmehr ist eine Tendenz zu beobach-ten, die die vorgebrachte Kritik an dem Schematismus der Totalitaris-mustheorie berücksichtigt, indem sie die Stoßrichtung der Kritik insGegenteil verkehrt. Hermann Meyer, der als Mitautor und Herausgebervon Geschichts-, Sozialkunde- und Lehrerhandbüchern sowie von Ver-lagsreihen fungiert, hat in der neuesten von ihm im Beltz-Verlag her-ausgegebenen Reihe „Unterrichtseinheiten", die er mit „Themen zur

153

Page 154: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Politik" (gedacht für den Lehrer der Oberstufenklassen) eröffnete, die„pädagogische Zielsetzung" der Behandlung des Unterrichtsthemas„Totalitärer Staat und demokratische Grundordnung" so angegeben:„Sie ist eindeutig formuliert in den ,Richtlinien für die Behandlungdes Totalitarismus im Unterricht', . . . welche bis heute nichts an ihrerBedeutung verloren h a b e n . " 2 8 9

Es folgt dann der Abdruck der Richtlinien. — Dieses Buch erschiennicht in den 60er Jahren, sondern 1971 (!). Natürlich konnte auchHerrn Meyer nicht die Kritik an solch unreflektiert übernommenerTotalitarismustheorie verborgen geblieben sein. Er problematisiert da-her den Totalitarismusbegriff und schlägt vor, daß dies auch im Unter-richt selbst geschehen sollte. Liest man die Problematisierung, stockteinem der Atem. Da heißt es: „Dabei kann man zu seiner Ergänzungim Rahmen unseres Themas die Frage stellen, wie weit etwa Diktatu-ren wie diejenigen Nassers, der revolutionären (!!!) griechischen Obri-sten, Francos in Spanien und Salazars in Portugal entscheidende Merk-male des Totalitarismus fehlen . . . " 2 9 0

War die Stoßrichtung der Kritik am Totalitarismus gewesen, daßman den Faschismus, dessen Ausgangspunkt schon inhuman sei, mitdem Sozialismus, auch in der pervertierten Form des Stalinismus nichtohne weiteres identisch setzen könne, weil der Sozialismus in einerhumanen Theorie seinen Ausgang nehme, so verkehrt Meyer diese In-tention, indem er versucht, die faschistischen Staaten als weniger ver-werflich zu retten. Denn alle Negativa faschistischer Diktaturen teilt — nach Meyer — der Kommunismus weiterhin mit diesen; er hat jedochnoch zusätzliche (so schafft er zum Beispiel das Privateigentum an denProduktionsmitteln ab). Er ist daher der Hauptfeind. Innerhalb diesesallgemeinen Rahmens, den die Totalitarismustheorie absteckt, mußdie Darstellung des Marxismus in den Geschichtsbüchern, die wir imfolgenden analysieren sollen, gesehen werden. Nur von hier aus er-schließt sich die Funktion der Behandlung des Marxismus im Unter-richt. Denn in den Geschichtsbüchern selbst wird der Marxismus nurgelegentlich unmittelbar in Verbindung gebracht mit der Totalitaris-muskonzeption. Dennoch bestimmt die Atmosphäre des Kalten Krie-ges die Diktion der Darstellung des Marxismus. Allein der linkskatholi-sche Iring Fetscher gesteht dies im Vorwort der Neufassung seinesSchulbestsellers „Von Marx zur Sowjetideologie": „Bei der längstfälligen Neubearbeitung meines Buches habe ich eine Menge Detailsgeändert. Eine Anzahl von Formulierungen, die von der Atmosphäredes Kalten Krieges geprägt waren, sind korrigiert worden . . . " 2 9 1

Für die vorliegenden Geschichtsbücher kann man eine solche Revi-sion nicht bestätigen.

154

Page 155: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

2. Ontologisierung

Ontologisierung wird jene grundlegende Tendenz des bürgerlichen Be-wußtseins bezeichnet, welche darin besteht, Bestimmungen, die nurfür eine spezifische historische Gesellschaftsformation Geltung besit-zen und anwendbar sind zur Analyse eben dieser Gesellschaft, in Be-stimmungen des menschlichen Lebens oder des Seins überhaupt zuhypostasieren.

Im dritten Kapitel des Buches werden wir den Ursprung dieser Ten-denz aufzeigen und die Ontologisierung als Aspekt oder Ideologemnotwendig falschen Bewußtseins (bürgerliche Ideologie), wie es ausder kapitalistischen Warenproduktion entspringt, aufdecken. Hier giltes hingegen nur, dieses Ideologem aufzuweisen und zu zeigen, wie esin die Darstellung des Marxismus einfließt und so ein Verstehenmarxistischer Kategorien von vornherein verstellt. Die eigenen Vor-stellungen und Kategorien gehen in die Darstellung des marxistischenDenkens ein und entstellen dieses bis zur Unkenntlichkeit, bevor esschließlich explizit einer Kritik vom eigenen „wissenschaftlichen"Standpunkt her unterzogen wird. Was dann der Kritik unterzogenwird, ist nicht mehr der Marxismus, sondern der durch die Hinein-tragung von Kategorien der bürgerlichen Wissenschaft verzerrteMarxismus. — Seine eigene Definition von ,Kapital', ,Eigentum', .pro-duktiv' etc. dem Marxschen Denken unterschiebend, ist es leicht undauch richtig, Marx Unlogik nachzuweisen, seine Konsequenzen alsProphezeiungen, seine Angabe der historischen Tendenz des Kapitalis-mus als nicht zwingend, als Glaubenssache zu denunzieren. Es istleicht, dies zu begreifen, wenn man sich nur einen Augenblick vor-stellt, zu welcher Konfusion es führen würde, wenn man den Begriffder Masse, wie er im Alltagsverstand oder in der Soziologie verwendetwird, mit dem Begriff der Masse in der Physik identifizieren würde — nur weil es sich um das gleiche Wort handelt.

Untersuchen wir nun die Darstellung grundlegender Kategorien desMarxismus unter dem Aspekt der Entstellung durch die Ontologisie-rung. In einem Lehrerhandbuch zur Sozial- und Gemeinschaftskundeschreibt der Autor L. Helbig: „Entscheidend für den Kapitalismus istdie Trennung von Arbeit und K a p i t a l . " 2 9 2

Ein harmloser Satz, so scheint es, auf den ersten Blick. Doch manmuß genau hinsehen! Helbig verwandelt Marx in einen seinesgleichen.In nuce läßt sich an diesem einen Satz sein ganzes Unverständnis ge-genüber dem Marxismus darlegen. In Marxscher Terminologie würdeder Satz heißen: Entscheidend für den Kapitalismus ist die Trennungder Produzenten von ihren Arbeitsmitteln; da diese Arbeitsmittelihrerseits Produkte menschlicher Arbeit, vergegenständlichte Arbeitsind, kann dieser Tatbestand auch als Trennung der lebendigen Arbeitvon ihren gegenständlichen Momenten gekennzeichnet werden.

Helbig identifiziert schlicht die gegenständlichen Momente des Ar-beitsprozesses — nämlich die Produktionsmittel — mit Kapital.

155

Page 156: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Für Marx nun ist das Kapital keine Sache, sondern ein durch Sachenvermitteltes gesellschaftliches Verhältnis von Personen. Genauso, wieein Neger an sich kein Sklave ist, sondern dies erst in bestimmten Ver-hältnissen w i r d , 2 9 3 sind Produktionsmittel an sich kein Kapital.„Eine Baumwollmaschine ist eine Maschine zum Baumwollspinnen.Nur in bestimmten Verhältnissen wird sie zu Kapital. Aus diesen Ver-hältnissen herausgerissen, ist sie so wenig Kapital, wie Gold an und fürsich Geld ... i s t . " 2 9 4

Für die bürgerlichen Autoren sind hingegen Produktionsmittel im-mer schon Kapital. Sie identifizieren die Momente des einfachen Ar-beitsprozesses (lebendige Arbeit, Arbeitsmittel und Arbeitsgegen-stand), die in der Tat aller menschlichen Produktion gemeinsam sind,mit ihrer historisch-sozialen Formbestimmung; lebendige Arbeit= Lohnarbeit; Arbeitsmittel + Arbeitsgegenstand = Kapital. Kapitalund Lohnarbeit erscheinen so als ontologische Grundgegebenheiten,deren Aufhebung — konsequent zu Ende gedacht — die Aufhebungdes menschlichen Seins selbst bedeuten müßte.

Wieso die stofflichen Elemente des Produktionsverhältnisses denbürgerlichen Autoren unmittelbar zusammenwachsen mit ihrer ge-schichtlich-sozialen Bestimmtheit, wird im dritten Kapitel des Buchesnoch zu klären sein. Die objektive ideologische Funktion kann aberjetzt schon aufgezeigt werden:

„Die Eigenschaft bestimmter Produktionsmittel, als Kapital zu fun-gieren, erscheint als ihr natürliches Attribut. Der dingliche Charakterwird mit dem gesellschaftlichen Verhältnis identifiziert. Die soziale Ei-genschaft wird als eine von den Dingen untrennbare Eigenschaft ange-sehen, als ein den Dingen notwendig zukommender immanent einge-wachsener Charakter ... Es liegt auf der Hand, daß auf diese Weisedie Vorstellung von der Naturgegebenheit und der ewigen Berichti-gung der vorhandenen sozialen Wirklichkeit überhaupt erzeugt undbefestigt w i r d . " 2 9 5

Die gleiche entstellende Darstellung findet man in den „Quellen undArbeitsheften zur Geschichte und Gemeinschaftskunde" bei K.Mielcke, „Historischer Materialismus — Die Lehren von Karl Marx."Mielcke verwechselt (wie übrigens die Sozialdemokraten in ihrem„Gothaer Programm" von 1875) die Arbeit als Quelle des Wertes mitder Arbeit als Quelle des Reichtums, da Reichtum für ihn — wie in derkapitalistischen Gesellschaft tatsächlich, aber nicht in allen Gesell-schaften — immer schon in Warenform oder als Kapital vorliegt. „Bei-de Gruppen von Menschen, sowohl die, die nur über die Quelle desReichtums, die Arbeit, wie auch die, die nur über die vergegenständ-lichte Arbeit, den Reichtum verfügen, sind nicht mehr ganze Men-schen . . . " 2 9 6 Marx kritisiert diese Auffassung — die ihm hier unter-schoben wird — in seinen „Randglossen zum Programm der deutschenArbeiterpartei": „Die Arbeit ist nicht Quelle allen Reichtums. Die Na-tur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen be-steht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit . . . Jene

156

Page 157: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Phrase findet sich in allen Kinderfibeln und ist insofern richtig, als un-terstellt wird, daß die Arbeit mit den dazugehörigen Gegenständen und Mitteln vorgeht . . . Nur soweit der Mensch sich von vornhereinals Eigentümer der Natur, der ersten Quelle aller Arbeitsmittel und-gegenstände verhält, sie als ihm gehörig behandelt, wird seine ArbeitQuelle von Gebrauchswerten, also auch von R e i c h t u m . " 2 9 7 Die kapi-talistische Produktionsweise ist aber gerade dadurch gekennzeichnet,daß der Arbeiter nicht Eigentümer seiner Arbeitsbedingungen ist. Ihmgehört lediglich seine Arbeitskraft, die er dem Kapitalisten teilweisezur Verfügung stellt. Im Verlauf dieser Zeit — des Arbeitstages — ver-nutzt der Kapitalist die gekaufte Arbeitskraft, indem er sie mit seinenProduktionsmitteln arbeiten läßt. Die Arbeit und das Arbeitsprodukt,in dem sie sich vergegenständlicht, gehört von vornherein dem Kapita-listen. Sie interessiert ihn nur als wertbildende (genauer: Mehrwertbildende) Arbeit; sie ist Arbeit für den Verkauf auf dem anonymenMarkt; sie ist Tauschwert — Warenproduktion. Der gesellschaftliche Reichtum liegt im Kapitalismus also in Warenform vor, d. h. er ist Pro-dukt entfremdeter (fremdbestimmter) Arbeit, die auf der vorausge-setzten Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln be-ruht.

Diese besondere Formbestimmtheit des Reichtums im Kapitalismus(Warenform), die sich aus der Formbestimmtheit der Arbeit (Entfrem-dung) ergibt, wird in der Formel von der „Arbeit als Quelle des Reich-tums" verschleiert.

Die Arbeit ist die Quelle des Reichtums, aber es gibt weder ,die'Arbeit, noch ,den' Reichtum — genausowenig, wie es ,den' Menschengibt.

Marx: „Alle Produktion ist Aneignung der Natur von Seiten des In-dividuums innerhalb und vermittels einer bestimmten Gesellschafts-f o r m . " 2 9 8

Dieses historisch-gesellschaftliche Vermitteltsein der Arbeit machtgerade die konkrete Form der Produktion aus. Produktion, Arbeit ,ansich' — in dieser Abstraktheit — ist ein Gedankending und hat keinereale Existenz. In der Wirklichkeit liegt sie immer in bestimmter histo-risch-gesellschaftlicher Form vor: „Es gibt allen Produktionsstufen ge-meinsame Bestimmungen, die vom Denken als allgemeine fixiert wer-den; aber die sogenannten allgemeinen Bedingungen aller Produktionsind nichts als diese abstrakten Momente, mit denen keine wirklichegeschichtliche Produktionsstufe begriffen i s t . " 2 9 9

Die besondere Leistung der bürgerlichen Ökonomie liegt nun darin,die kapitalistische Form der Arbeit in die Sphäre der „sogenanntenallgemeinen Bedingungen aller Produktion" zu erheben, die Lohnar-beit (als konkret-historische Kategorie) in ein Abstraktum, in ,Arbeitüberhaupt', ,Arbeit schlechthin' aufzulösen, zur universalhistorischenKategorie auszuweiten. Auf diese Weise wird implizit die kapitalisti-sche Produktionsweise zur ontologischen, seinsgegebenen Form derAuseinandersetzung des Menschen mit der Natur erklärt. Der Kapita-

157

Page 158: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

lismus wird zur ewig-menschlichen, naturgegebenen Daseinsweise ver-klärt und damit als unabänderlich hingestellt. Die apologetische Funk-tion dieser Sichtweise liegt auf der Hand.

Marx: „Die Produktion soll ... als eingefaßt in von der Geschichteunabhängigen ewigen Naturgesetzen dargestellt werden, bei welcherGelegenheit dann ganz unter der Hand bürgerliche Verhältnisse als un-umstößliche Naturgesetze der Gesellschaft in abstracto untergescho-ben werden. Dies ist der mehr oder minder bewußte Zweck des gan-zen Ver fah rens . " 3 0 0

Aus dieser Betrachtungsweise, der Verklärung des Kapitalismus zur,zweiten Natur', resultiert auch die oben gezeigte Unfähigkeit derSchulbuchautoren, die Entstehung des Kapitalismus (und der Arbei-terklasse) darzustellen. Da sie Kapitalismus als eine universalhistorischeKategorie verstehen, schneiden sie sich von vornherein die Möglichkeitab, seine historische Genesis aufzuspüren. In dieser Ontologisierung ei-nes bestimmten Stadiums des historischen Prozesses — eben des Kapi-talismus — gründet die oft aufgezeigte Begriffslosigkeit der Schulbü-cher, die sie immer wieder daran hindert, historisch- isellschaftlicheProzesse zu begreifen. Mit ihrer ontologisierenden Betrachtungsweisemachen die Autoren auch vor dem Marxismus nicht halt. DieMarxsche Kritik der bürgerlichen Ökonomie wird hemdsärmelig in diebürgerliche Ökonomie vereinnahmt. Die Verfälschung des Marxismusin den Schulbüchern ist die notwendige Konsequenz des Selbstver-ständnisses eben der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft, die sich alseine „Wissenschaft (versteht), die das menschliche Verhalten als eineBeziehung zwischen Zielen und knappen Mitteln, die alternativen Nut-zen haben, s tud ie r t . " 3 0 1 Oder, wie Professor Karl Häuser es formu-lierte: „Die Wirtschaft umfaßt einen Bereich menschlichen Handelns,der durch begrenzte Mittel einerseits und einer Vielfalt von Verwen-dungsmöglichkeiten dieser Mittel andererseits gekennzeichnet i s t . " 3 0 2

Daraus folgt für die Wirtschaftswissenschaftler, daß sie das ökono-mische System „als eine Reihe von interdependenten, aber begrifflichgetrennten Beziehungen zwischen Menschen und ökonomischen Gü-tern b e t r a c h t e n " 3 0 3 . Subsumiert unter die Arbeitsteilung der Wissen-schaften, hat die Volkswirtschaftslehre somit das Bewußtsein verlo-ren, daß die Wirtschaft einen integralen Bestandteil eines gesellschaft-lichen Ganzen darstellt und als solche von sozialen Beziehungen inihrer historischen Formbestimmtheit handelt. Die Konsequenz ist dasunvermittelte Gegenüberstellen von abstraktem Mensch und ökonomi-schen Gütern als reiner Sachenwelt! Der einfache Arbeitsprozeß wirdso identisch mit dem kapitalistischen Produktionsprozeß, Produk-tionsmittel erscheinen immer schon als Kapital.

Betrachten wir noch einige weitere Bücher, in denen die ontologi-sierende Tendenz des bürgerlichen Bewußtseins sich in der Darstellungdes Marxismus niedergeschlagen hat. In „Zeiten und Menschen",(Schroedel/Schöningh IX, S. 152,) heißt es:

„Die herrschende Klasse besitzt die besten Produktionsmittel, den ,Unterbau',

158

Page 159: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

und beherrscht damit die wirtschaftlich schwächere Klasse."Fragen: 1. Welche Produktionsmittel besitzt die wirtschaftlich

schwächere Klasse? (Sie muß vermutlich welche besitzen, da die herr-schende Klasse nur die „besten" besitzt.)

2. Wer ist die wirtschaftlich schwächere Klasse?Antwort: „Bourgeoisie (Bürgertum) und Proletariat sind für Marx

die Klassen in den Industriestaaten" (ib. S. 152) . Kommentar: Was soll die Formulierung die „besten Produktionsmittel"? Sie suggeriert,daß das Proletariat ebenfalls, wenn auch schlechtere Produktionsmit-tel besitzt, was falsch ist. Es besitzt keine. Wie -wird der Unterschiedzwischen Bourgeoisie und Proletariat nach Marx beseitigt werden?

„Es entspreche aber dem Gesetz der Geschichte, daß schließlich das Proleta-riat das Bürgertum beseitige, um dann als herrschende Klasse die sozialen Gegen-sätze aufzuheben und damit den Klassenkampf der Menschheit zu beenden."(ib. S. 152)

An neuer Information enthält dieser Passus, daß es soziale Gegen-sätze gibt (vermutlich die zwischen Proletariat und Kapital). Dies istneu gegenüber der ersten aus diesem Buch zitierten Passage, wo dieKlassen nicht als gegensätzlich definiert wurden, sondern nur als un-terschiedene. Denn zwischen schwächer und stärker besteht genauso-wenig ein Gegensatz wie zwischen 100 m und 200 m, lediglich ein Un-terschied existiert hier. Verfehlt wird hier also das Wesentliche derMarxschen Klassenbestimmung: der Antagonismus. Wo findet mannun diese beiden Klassen (Bourgeoisie und Proletariat)? „In den In-dustriestaaten!!"

Wenn dies stimmt, muß mit der sozialistischen Revolution, die dasBürgertum als Klasse aufhebt, die Industrie verschwinden. Denn nachAussage des Buches sind die Klassen der Industriestaaten Bourgeoisieund Proletariat. Mit diesem muß also auch die Industrie verschwin-den! Sozialismus/Kommunismus müßte demnach ein Rückfall in vor-industrielle Zustände bedeuten. Man sieht, wohin man gelangt, wennman die Autoren beim Wort nimmt. Woher aber kommt dieser Un-sinn? Einfach wieder dadurch, daß sie die industrielle Gesellschaft (al-so einen bestimmten Stand in der Entwicklung der Produktivkräfte)mit der kapitalistischen Gesellschaft (ihrer historisch-sozialen Formbe-stimmung) identifizieren. So auch in „Grundzüge der Geschichte"(Diesterweg), wo es heißt:

„Zweifellos hat Marx das heraufkommende Maschinenzeitalter richtig er-kannt." (Diesterweg II, S. 236. — Hervorhebung von uns)

Des weiteren zeigt sich diese ontologische Auffassung in der Formu-lierung, daß die Produktionsmittel den „Unterbau" bilden. Daß der„Unterbau" oder die Basis bei Marx jedoch nicht die reine Sachenweltbedeutet, sondern die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse (imengeren Sinne die Eigentumsverhältnisse) einschließt, übersteigt offen-bar die Rezeptionsfähigkeit der im verdinglichten Begriffsapparatbürgerlicher Volkswirtschaftslehre befangenen Autoren. Produktionfällt für sie zusammen mit dem einfachen Arbeitsprozeß, wie er histo-

159

Page 160: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

risch nie existierte, sondern nur im Denkakt — durch Abstraktion vonallen Spezifika — existiert. Für sie drückt der Begriff der Produktionlediglich die Beziehung des Menschen zur Natur aus. Der rein techni-sche Aspekt der Produktion dient den Autoren zur Klassifizierung ei-ner Gesellschaft oder Epoche (Industrienation, Maschinenzeitalter).Der Begriff der Ökonomie wird rein technizistisch gefaßt. Dieses ver-kürzte Verständnis von Ökonomie (Produktion), welches — wie wirgesehen haben — der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre immanent ist,projiziert man in den Marxismus und kritisiert dann dessen angeb-lichen ökonomischen Determinismus, der zuwenig den „Menschen" berücksichtige . . .

Setzt man den „Unterbau" gleich mit den Produktionsmitteln, ist esin der Tat unmöglich, eine Gesellschaft, ihren Staat etc. auf Grundihrer ökonomischen Basis zu erklären; der Vorwurf der Einseitigkeitgegenüber dem Marxismus wäre voll berechtigt. Jedoch ist dieseGleichsetzung Resultat der bürgerlichen Auffassungsweise und damitder marxistischen Auffassung — die darzustellen sie angetreten war — diametral entgegengesetzt. Die ontologisierende Sichtweise der Schul-buchautoren, die sich in der Darstellung der Produktionsmittel als„Unterbau" niederschlägt, verfehlt die wesentlichste Seite des Marx-schen Begriffs der Produktion, daß nämlich die Produktion immer hi-storisch-sozial bestimmt ist, niemals als einfache, sachliche Beziehungzur Natur existiert. Marx schreibt: „In der Produktion beziehen sichdie Menschen nicht allein auf die Natur. Sie produzieren nur, indemsie auf eine bestimmte Weise zusammenwirken und ihre Tätigkeitengegeneinander austauschen. Um zu produzieren, treten sie in bestimm-te Beziehungen und Verhältnisse zueinander, und nur innerhalb diesergesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse findet ihre Beziehungzur Natur statt, findet die Produktion s t a t t . " 3 0 4

Der Begriff des „Unterbaus" (Basis) umfaßt somit für Marx die Pro-duktivkräfte (wovon die Produktionsmittel nur ein Teil sind) und dieProduktionsverhältnisse.

Wie stark die Fesseln des ontologischen Denkens sind, zeigt Staven-hagens Rezeption der Textstelle Marxens über das Verhältnis von Pro-duktivkräften und Produktionsverhältnissen im „Herder-Staatslexi-kon".

Stavenhagen ist unfähig — und diese Unfähigkeit ist nur zum Teilsubjektiv, sondern, wie wir versucht haben deutlich zu machen, allge-meiner Ausdruck des ontologischen Denkens der Volkswirtschafts-lehre — überhaupt noch Produktivkräfte und Produktionsverhältnissezu unterscheiden. Letztere gehen bei ihm in ersteren auf, ganz wieProduktionsmittel und Kapital identifiziert werden.

Die Stelle, die Stavenhagen (auch noch zum größten Teil als direk-tes Zitat!) von Marx wiedergibt, lautet original: „Die bürgerlichen Pro-duktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesell-schaftlichen Produktionsprozesses", bei der „die im Schoß der bürger-lichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte . . . zugleich

160

Page 161: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

die materiellen Bedingungen zur Lösung des Antagonismus bil-d e n . " 3 0 5

Stavenhagen hingegen schreibt im Herder-Staatslexikon: „Die Pro-duktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft stellen die letzte antagoni-stische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses aar, bei derdie im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Pro-duktivkräfte . . . zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung die-ses Antagonismus scha f f en . " 3 0 6

Stavenhagen ersetzt einfach die Produktionsverhältnisse durch dieProduktivkräfte und verwandelt das Ganze so in reinen Nonsens, wo-bei wir es uns ersparen, diese Verdrehung beim Wort zu nehmen undad absurdum zu führen — was reizvoll wäre.

Nach ihm stellen also die Produktivkräfte (!) die antagonistischeForm des gesellschaftlichen Produktionsprozesses dar. Die „Industrie"an sich wäre somit antagonistisch! Was bedarf es da noch des Begriffes„kapitalistisch", welcher das gesellschaftliche Produktionsverhältnisbezeichnet! „Industriestaaten" und „kapitalistische Staaten" sindeben identisch nach bürgerlichem Verstand!

Der Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnis-sen, welcher für Marx den Motor in der bisherigen Geschichte bildet,verschwindet völlig. Das Geschichtsbuch „Grundriß der Geschichte"(Klett) verwandelt daher (Folge der Identifizierung) notwendigerweiseden Widerspruch in der Basis in einen Widerspruch zwischen der aufmaterielle Kräfte reduzierten Basis und dem „staatlichen Überbau":

„indem nun die materiellen Kräfte sich entfalten und entwickeln, der staat-liche Überbau dagegen starr bleibt, entsteht eine Spannung, ein Widerspruch, derzur sozialen Revolution führt." (Klett, Grundriß der Geschichte, Ausgabe A III,S. 122)

Aus diesem — hier nun ungenügend dokumentierten-ontologischenDenken heraus, das in die Darstellung des Marxismus einfließt, erklärtsich auch die „Zwei-Seelen-Theorie" des Klett-Buches:

„Ob das Ziel der Geschichte mehr durch Evolution oder mehr durch Revolu-tion erreicht wird, bleibt unklar. Offensichtlich lebten in Marx selbst zwei See-len: eine wissenschaftlich-evolutionistische . . . und eine agitatorisch-revolutio-näre . . . " (Klett II, S. 60)

Die ideologische Funktion dieses Satzes tritt ohne jegliche Kaschie-rung expressis verbis im „Herder-Staatslexikon" hervor. Stavenhagenbetrachtet in seiner „Würdigung" des Marxismus jene Vermengungvon „wissenschaftlichen Feststellungen" und „agitatorischen Phraseneiner geschichtsphilosophischen Prophetie" als besonders schlimm. Ei-nen gar noch „unheilvolleren Niederschlag" jedoch finde Marxens ge-spaltenes Wesen in seinem „unwissenschaftlichen Beiwerk", der Klas-senkampf — und Revolutionstheorie, welche „als reichhaltiges Arsenalzugkräftiger propagandistischer Schlagwörter nicht unwesentlich zurVergiftung der sozialen Atmosphäre beigetragen" haben. „Diese Ge-dankengänge" sind nach der Ansicht Stavenhagens „von Marx' wissen-schaftlichem Werk nicht nur scharf zu trennen, sondern auch aufs ent-

161

Page 162: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

schiedenste abzulehnen, weil sie allen überkommenen politischen, sitt-lichen und religiösen Anschauungen abendländischer Kultur wider-sprechen. " 3 0 7

Sehen wir von der ganz offensichtlich aus der antikommunistischenpolitischen Kampfstellung heraus formulierten Ablehnung der Klas-senkampf- und Revolutionstheorie einmal ab und untersuchen die inbeiden Textstellen vorgenommene Aufteilung des Marxismus in demKategorienpaar: Evolution (= wissenschaftlich orientierter Marx) — Revolution ( = agitatorischer Marx) unter dem Gesichtspunkt derOntologisierung, von dem wir uns bisher leiten ließen. Die dokumen-tierte Aufspaltung des Marxismus (Evolution-Revolution) ist das kon-sequente Resultat der Projektion der ontologistischen Auffassungswei-se der Autoren in den Marxismus. Da sie auf Grund ihrer bürgerlichenBegrifflichkeit von Ökonomie, Produktion, Kapital etc. außerstandesind, das historisch-soziale Moment in den Marxschen Kategorien zuerkennen, müssen für sie Klassenkampf und Revolution als „unwissen-schaftliches Beiwerk" erscheinen.

Da sie keine der Marxschen „ökonomischen" Kategorien — wie wirgezeigt haben — wirklich verstehen, projizieren sie ein Dilemma inMarx' Seele, welches lediglich das Dilemma ihres eigenen Nichtbe-greifens ist.

Denn für Marx ist der revolutionäre Akt nicht mechanistisch derökonomischen Entwicklung gegenüberzustellen. Die Gewalt stellt viel-mehr — in bestimmten historischen Situationen — selbst eine ökono-mische P o t e n z 3 0 8 dar, und zwar insofern, als sie die Produktivkräftevon den Fesseln der alten Produktionsverhältnisse befreit, d. h. dieVoraussetzung für die volle Entfaltung der Produktivkräfte schafft.Marx kann daher schreiben: „Von allen Produktionsinstrumenten istdie größte Produktionskraft die revolutionäre Klasse s e l b s t . " 3 0 9 Dieabstrakte Gegenüberstellung von Evolution und Revolution, wie siedie bürgerlichen Autoren vornehmen, drückt ihren Verlust an histo-risch-gesellschaftlichem Denken oder, positiv ausgedrückt, das Vorwie-gen ahistorischen-ontologischen Denkens aus. Marx hingegen faßt dasProblem historisch-gesellschaftlich: „Nur bei einer Ordnung der Din-ge, wo es keine Klasse und keinen Klassengegensatz gibt, werden diegesellschaftlichen Evolutionen aufhören, politische Revolutionen zus e i n . " 3 1 0

Die gewaltsame Trennung von Ökonomie und Gewalt führt die Au-toren schließlich dazu, Marx einen faden ökonomischen Determinis-mus vorzuwerfen, der zuwenig die konkreten Menschen berücksichti-ge. In der Tat ist dies wiederum nur ihr eigenes Dilemma, Resultat desabstrakten Gegenüberstellens von reiner Sachenwelt und abstraktenMenschen. Marx' Votum für die revolutionäre Aktion kann ihnen sonur als Bruch mit seinen ökonomischen Analysen erscheinen, alsvoluntaristisch von außen hineingetragene Willkür:

„Obgleich Marx von der Naturnotwendigkeit dieses Prozesses überzeugt war,wartete er nicht einfach ab, sondern suchte ihn durch revolutionäre Bewegungen

162

Page 163: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

zu beschleunigen." (H. Hilgenburg u. a. [Hg.] Unsere Geschichte, unsere Welt,Bd. 2, Bayerischer Schulbuchverlag, München, S. 280)

Die Projizierung ihrer eigenen ontologisierenden Auffassungsweisein den Marxismus macht es den Schulbuchautoren unmöglich, diesenzu begreifen. Dies versuchten wir an Hand der Darstellung grundlegen-der Marxscher Begriffe nachzuweisen. Der Verdinglichung von Begrif-fen in ihrer historisch-sozialen Formbestimmtheit (wie Kapital, Pro-duktion etc.) zur reinen Sachenwelt entspricht, wie schon angedeutet,eine ebenso ahistorische-ontologische Hypostasierung des Menschen.Der Ontologisierung korrespondiert daher eine Anthropologisierungund Psychologisierung, die es im nächsten Abschnitt aufzuweisen gilt.

3. Anthropologisierung - Enthistorisierung

Der enthistorisierenden Darstellung der menschlichen Produktions-weise entspricht eine ebenso ahistorisch-statische Auffassung des Men-schen. Dies tritt besonders da zutage, wo man Marx blinde Fort-schrittsgläubigkeit unterstellt:

„Der Fortschritt ist das Gesetz der Geschichte, weil der materielle Egoismusden Menschen zwingt, fortschrittlich zu sein." (Klett II, S. 58)

Hier wird Mark ein Begriff vom Menschen unterschoben, den dieserselbst in seinem ganzen Werk als idealistisch widerlegt hat. Marx faßtdas menschliche Individuum gerade nicht als das den Angehörigen al-ler historischen Gesellschaftsformationen gleichermaßen innewohnen-de Abstraktum, sondern als „das ensemble gesellschaftlicher Verhält-nisse"311, was von vornherein das Moment der Veränderung und Ver-änderbarkeit miteinschließt. Des weiteren wird hier auf Grund desVerlustes der historischen Dimension von den Autoren ein Spezifikumdes Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft, der „materielle Ego-ismus", zum Wesensmerkmal des Menschen überhaupt hypostasiertund außerdem noch Marx unterstellt, er haben diese anthropologischeKonstante zum Motor der Geschichte erklärt — ein aufschlußreichesBeispiel bürgerlicher Ignoranz gegenüber der Marxschen Theorie.

Auch dem folgenden Zitat liegt eine ähnliche Fehlrezeption zugrun-de: Die Autoren projizieren ihre eigene Anschauung auf Marx, wennsie schreiben:

„Überhaupt ist das Marxsche Menschenbild, sowohl das des Arbeiters, als auchdas des Kapitalisten in seiner Vereinfachung falsch." (Klett II, S. 60)

Marx hat im Unterschied zu den bürgerlichen Autoren gerade keinMenschenbild von dem Arbeiter und dem Kapitalisten gezeichnet;vielmehr werden in der „Kritik der politischen Ökonomie" die Men-schen als das behandelt, zu dem sie die verdinglichten gesellschaftli-chen Verhältnisse im Kapitalismus gemacht haben: als Personifika-tionen ökonomischer Verhältnisse. An dieser Stelle wird jedoch eineTendenz deutlich, die sich in fast allen Schulgeschichtsbüchern wie-derfinden läßt und die als ein zentraler Hebel zur Entstellung des

163

Page 164: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Marxismus anzusehen ist; nämlich der durchgängige Versuch, den wis-senschaftlichen Sozialismus als eine ethisch-anthropologische Heils-lehre und Marx in die Schublade der „leidenschaftlichen Weltverbes-serer" (Diesterweg III, S. 169) und Moralisten zu verbannen.

„Bourgeoisie und Proletariat sind keine einander einfach gegenüberstehendenKlassen, sondern die einen sind die Kinder der Finsternis, die anderen die desLichts. Das Proletariat wird von Marx mit allen guten Eigenschaften ausgestat-tet, so daß es im Grunde gar keine empirische Realität, sondern eine Idee, einMythos ist . . . Das Proletariat ist das Gute, die ,Ausbeuter' — an sich schon keinwissenschaftlicher Begriff, sondern ein moralisches Urteil — sind das radikalBöse." (Klett II, S. 60)

Derartige Sätze bedeuten nicht nur eine grobe Fehlinterpretation:Sie verkünden Unwahres, resultierend aus Unkenntnis, die sich etwaszusammenreimt. Selbst oberflächlichen Kennern des Marxismus wirdauffallen, daß dies mit der Theorie Marxens nichts zu tun hat. „Marx(hat, d. Verf.) den Kapitalismus nicht mit moralphilosophischen, son-dern mit ökonomischen und soziologischen Kategorien analysiert. Dasgilt übrigens auch schon für den ,frühen', ,philosophischen' Marx derPariser Manuskripte, den sich das Bürgertum für seine Philosophiege-schichte retten m ö c h t e . " 3 1 2

Stellt man sich aber probehalber auf den Gut-Böse-Standpunkt derSchulbuchautoren, so kann man die Widersprüche, in die sie sich not-wendigerweise bei einer aufrichtigen Analyse der marxistischen Theo-rie verwickeln müßten, leicht nachvollziehen. Wie z. B. sind von die-sem Standpunkt aus die langen Ausführungen im KommunistischenManifest über die revolutionäre Rolle der Bourgeoisie in der Geschich-te einzuordnen, wenn die Kapitalistenklasse für Marx nichts andereswäre als die Inkarnation des Inhumanen und Reaktionären? Offen-sichtlich verwendet er zur Beurteilung der historischen Rolle einerKlasse Kriterien, die auf der ethisch-anthropologischen Ebene nicht zufassen sind. Will man ihn dennoch auf dieser Ebene denunzieren unddabei den Schein von Logik aufrechterhalten, so ist ein gehöriges Maßan Ignoranz vonnöten. Sie drückt sich aus in dreisten Simplifizie-rungen, Unterschlagungen und Reduktionen der marxistischen Theo-rie. So heißt es beispielsweise in einem Buch:

„Zweifellos hat Marx das heraufkommende Maschinenzeitalter richtig er-kannt. Aber wirkungsvoller waren seine außerordentlich vereinfachte Darstel-lung der Menschheitsentwicklung und sein prophetisches Bild vom Endzustandder Welt. Nach . . . seiner Auffassung entwickelt sich die Menschheit vom para-diesischen Zustand der klassenlosen Urgemeinschaft über die lange Reihe derSklavenhalter und Feudalstaaten bis zum Höhe- und Endpunkt der Klassen-kämpfe in seiner eigenen Zeit. Durch eine Revolution, so lehrte er, wird der Ka-pitalismus gestürzt. Dann beginnt mit der Herrschaft des Proletariats im klassen-losen Kommunismus abermals eine paradiesische Zeit. Alle natürlichen und wirt-schaftlichen Freiheitsberaubungen werden fallen, der Staat wird überflüssig,denn der Mensch, der Proletarier (!) ist gut." (Diesterweg II, S. 236)

Hier verkommt der Historische Materialismus zum klassischenMythos vom goldenen Zeitalter, dessen die Menschheit auf Grund ge-

164

Page 165: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

heimnisvoller Selbstbewegung der Geschichte verlustig gegangen seinsoll und das als abstrakte Setzung auf ebenso unerklärliche Weise eineTages wieder eintreten werde. Dies hat nun mit Marxismus absolutnichts zu tun. Marx und Engels haben, gestützt auf die Erkenntnisseder bürgerlichen Natur- und Geschichtswissenschaft, gerade mit derGlorifizierung der Urgesellschaft aufgeräumt und letztere als einen Zu-stand des Mangels beschrieben, von dem sich die Menschheit fortent-wickeln mußte. Diese historische Bewegung wiederum ist für den Hi-storischen Materialismus keine ethische Setzung, wie das obige Zitatglauben machen will, sondern wird aus der jeweiligen historischen Stu-fe der Auseinandersetzung der Menschen mit der Natur und der damiteinhergehenden besonderen Organisation ihrer eigenen gesellschaft-lichen Beziehungen entwickelt. Die historische Möglichkeit wird alsoim Rahmen des jeweiligen Grades der Beherrschung von Natur undGesellschaft selbst produziert.

Die teleologische Betrachtungsweise (die Annahme einer Zielgerich-tetheit der Geschichte), die Marx hier untergeschoben v rd, ist geradeein typisch bürgerliches Phänomen (das Marx schon in seiner Jugendad acta legte). So war z. B. die bürgerliche Auffassung gerade dadurchgekennzeichnet, daß sie Geschichte als Verwirklichung des bürgerli-chen Menschen auffaßte. Die frühbürgerlichen Philosophen gingen vonder Konzeption einer im Kern unveränderlichen Wesensnatur des Men-schen aus, die sich im historischen Fortschritt gleichsam immer reinerherausschält . 3 1 3 Dieses verkehrte Bewußtsein, das die bürgerliche Ge-sellschaft (den Kapitalismus) affirmativ zum Absolutum erklärte — wir haben gesehen, daß diese Sichtweise auch die Schulbücher durch-zieht —, hat Marx gerade kritisiert, anstatt daran teilzuhaben: „Vor-sehung, providentielles Ziel, das ist das große Wort, dessen man sichheute bedient, um den Gang der Geschichte zu erklären. Tatsächlicherklärt dieses Wort n i c h t s . " 3 1 4 Die Welt als Ganzes ist Marx zufolgegerade nicht (wie etwa bei Hegel) einer einheitlichen sinnverleihendenIdee unterworfen: „Alle in der Wirklichkeit auftretenden Ziele undZwecke gehen zurück auf konkrete gesellschaftlich tätige Menschen,die ihren sich wandelnden Situationen gemäß handeln. Abgelöst vonihnen gibt es keinen S i n n . " 3 1 5

Marx hat bekanntlich den größten Teil seines Werkes der Analyseder zu seiner Zeit beobachtbaren gesellschaftlichen Vorgänge gewid-met. Seine Aussagen über den Kommunismus sind nicht einer ethi-schen Wunschvorstellung nach einem „paradiesischen Zustand" ent-sprungen, sondern ergeben sich logisch aus der Analyse des Kapitalis-mus als diesem selbst innewohnende, über ihn hinausweichende Ten-denzen. Unter diesen Tendenzen verstand Marx wiederum nicht dieabstrakte Setzung des „neuen Menschen", schon gar nicht „des Prole-tariers", sondern die Möglichkeit einer Gesellschaft, in der die Men-schen auf Grund größtmöglicher Beherrschung der Natur und vor al-len Dingen ihrer eigenen gesellschaftlichen Beziehungen sich umfas-sender entfalten können als unter der Herrschaft des Kapitals. Beutler

165

Page 166: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

hebt zu Recht hervor: , , . . . Gerade die Strenge der Analyse und seinErkenntnisinteresse an der Wirklichkeit (haben Marx, d. Verf.) darangehindert, konkrete Angaben zur Zukunft zu machen, oder gar ,dasZukunftsbild des paradiesischen Endzustandes' auszumalen, das ihmin christlichen Denkgewohnheiten steckende Apokalyptiker desSchulbuch-Genre anhängen w o l l e n . " 3 1 6

Die Reduktion des Historischen Materialismus auf einen primitiven„Erklärungsversuch" der Selbstbewegung anthropologischer Konstan-ten („das Gute" und „das Böse" im Menschen) in der Menschheitsge-schichte führt somit für die Autoren notwendig zur Diffamierung desMarxismus als eine „religiösen Idee":

„Die Marxsche Lehre ist eine eschatologische Botschaft, Marx selbst ist derProphet. Für den Marxisten ist sie im Grunde Glaubenssache, religiöse Idee."(Klett II, S. 60)

„Dieser heilsgeschichtliche Zukunftsglaube macht den Kommunismus zu einerArt diesseitiger Erlösungslehre." „Hier (in bezug auf Marx' Aussagen über dieproletarische Revolution, d. Verf.) hat Marx den Boden der wissenschaftlichenTheorie verlassen und ist zum politischen Revolutionär geworden." (DiesterwegII, S. 236)

Diese Darstellung des Marxismus als Heilslehre folgt getreu den„Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht",d.h. dem Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 5 .Ju l i 1962.Dort heißt es: „Der Totalitarismus gründet sich auf eine Ideologie, dieden Charakter einer Ersatzreligion und Heilslehre hat ..."

Durch Begriffe wie „Zukunftsglaube", „Erlösungslehre", „Heilsleh-re" (Klett II, S. 60) wird Marx auf eben jenes Niveau gebracht, dessensich die Schulbuchautoren selbst zu bedienen pflegen. So wird zumBeispiel in einem Klett-Geschichtsbuch der „Aufstieg des deutschenVolkes zu neuer Höhe" im 18. Jahrhundert auf eben solche irrationa-len Kräfte zurückgeführt, deren angebliche Hypostasierung man Marxunterstellt. Man erfährt dort nämlich von folgenden Ursachen für diedeutsche Entwicklung:

„Widerstand gegen Rationalismus, Vernunftglauben und Verweltlichung (fran-zösische Aufklärung), durch die irrationalen Kräfte des Herzens und des Ge-fühls, . . . durch ein in der Irrationalität des deutschen Geistes begründetesSelbstbewußtsein." (Klett III, S. 242)

Die Methode der Projektion eigener Vorstellungen auf den Marxis-mus zeitigt bei ihrer Analyse mehrere Aspekte. Ein Aspekt wird offen-bar, wenn man diese Art der Behandlung des Marxismus vor dem Hin-tergrund der ideologischen Grundkonzeption der Schulbuchverfasserbetrachtet, wie sie sich im obigen Zitat dokumentiert. Zunächstwird unterschoben, daß die Geschichte wesentlich durch irrationaleKräfte bestimmt sei, die sich selbst jeder rationalen Erklärung entzö-gen. So wird erst gar nicht der Versuch unternommen, die irrationalenBewegungen und Ereignisse in der Geschichte aus den gesellschaftli-chen Verhältnissen zu erklären. Beansprucht nun eine Theorie, wieder Marxismus, eine wissenschaftliche Methode zur Erklärung der Ge-schichte zu besitzen und zieht sie darüber hinaus auch noch Konse-

166

Page 167: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

quenzen für gesellschaftsverändernde Praxis, so ist es notwendig, umsie widerlegen und bekämpfen zu können, daß man sie auf das eigene Unvermögen reduziert. Nachdem man sie auf diese Weise in eine Reli-gion verwandelt hat, verliert sie 1. ihre Überlegenheit gegenüber dereigenen Konzeption und verwandelt sich 2. in einen Inhumanismus,weil sie wesentliche Seiten des Menschen, nämlich das Irrationale,leugnet; 3. wird die eigene Erklärungsweise, welche sich auf das Irra-tionale stützt, zur wirklichen wissenschaftlichen Methode, 4. wird derMarxismus aus eben diesem Grunde unwissenschaftlich, 5. wird diemarxistische „Heilslehre" zur Perversion der Religion, da sie die Hoff-nungen der Menschen aufs Profane herunterzieht, 6. absorbiert derMarxismus die irrationalen Glaubenskräfte im Menschen und wird sozu einer Gefahr des wahren Glaubens, welcher der bürgerlichen Wis-senschaft nicht widerspricht. — Der Marxismus erweist sich so als eingigantischer Betrug (bewußt oder unbewußt) an den Menschen, indemer ihnen ein „irdisches Paradies" verspricht und im Namen dessen dieMenschen sinnlos opfert. Die bürgerliche Auffassung hingegen weißvon den ontologischen Grundgegebenheiten des Menschen, die als sol-che in dieser Welt nicht transzendierbar sind. Der Mensch hat sichalso mit den Übeln dieser Welt abzufinden, statt ständig dagegen auf-zumucken. Da auch die irrationalen Kräfte in dieser Konzeption alsvom konkreten historischen Sein losgelöst dennoch immer zu diesemdazugehören, ist es nur konsequent, ihre Einlösung im Irrationalen,im Jenseits als schlecht Transzendentem anzunehmen. Es wundertdarum auch nicht, daß kein Buch die marxistische Religionskritik dar-stellt. Diese würde nämlich die Schüler instand setzen, den rationalenKern der irrationalen Vorstellungen der Menschen zu verstehen. DerMarxismus leugnet nämlich keineswegs die Mächtigkeit irrationalerKräfte. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Apologeten erkennt er siejedoch an, indem er sie theoretisch und praktisch kritisiert. Er hypo-stasiert sie nicht wie jene zum Wesen der Menschen, sondern begreiftsie als das Wesen in seiner Entfremdung, als — um es in der SpracheBlochs auszudrücken — Uneingelöstes, unbewußt Treibendes, welchesnicht mit der schlechten Realität einfach zusammenfällt, sondern alsnoch nicht Begriffenes, nur Besseres Ahnendes, das nach seiner Ver-wirklichung drängt. Ein anderer Vorteil der Verwandlung des Marxis-mus in eine Religion ergibt sich daraus, daß er dann keinen Vorzugmehr vor der bürgerlichen Auffassung hat. Er, wie die christliche Leh-re, fordern Opfer im Namen einer besseren Zukunft. Kann jedochnachgewiesen werden, daß das „irdische Paradies" unrealisierbar ist,so bleibt nur die Hoffnung aufs Jenseits, und der gesellschaftliche Sta-tus quo ist befestigt; denn die Annahme eines besseren Lebens im Jen-seits ist nicht empirisch zu widerlegen.

Die objektive Funktion der Behauptung, der Marxismus versprecheein „irdisches Paradies", wird erst recht verständlich, wenn man sie imZusammenhang sieht mit der oben beschriebenen Funktion der Onto-logisierung gesellschaftlich-historischer Tatbestände. Vor diesem Hin-

167

Page 168: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

tergrund muß er dem Schüler notwendigerweise als utopisches Unter-fangen, als „Irrlehre" erscheinen, die die Hoffnungen der Menschenenttäuschen muß. Daher ist der Marxismus in den Augen der Schul-buchautoren auch nicht Religion im bürgerlich-positiven Sinne, son-dern Ersatzreligion, Pseudoreligion. Mit der Darstellung des Marxis-mus als „diesseitiger Heilslehre" schneiden Schulbücher ihre Leser ob-jektiv von der wirklichen Antriebskraft des Marxismus ab. Ihr Ziel istdie Verschleierung des wesentlich revolutionären Charakters des wis-senschaftlichen Sozialismus, welcher sich festmacht an den Klassen-auseinandersetzungen innerhalb der schlechten Realität und nicht sei-ne psychischen Energien aus dem Glauben an ein zukünftiges Paradiesauf Erden gewinnt.

Nachdem man den Marxismus zu seinesgleichen gemacht hat, gilt esjetzt nur noch, zwischen Richtigkeit und Falschheit der Religionen zuunterscheiden. Auf Grund der ganzen Darstellungsweise ist es klar,daß es der Marxismus ist, der den Schülern als falsch, widernatürlicherscheinen muß.

Die Tendenz der Anthropologisierung und Ontologisierung von gesell-schaftlich-historisch Gewordenem tritt auch besonders deutlich hervorbei der Darstellung der Marxschen Entfremdungstheorie.

Da bei Marx allzu deutlich als Ursache der Entfremdung historisch-gesellschaftliche Tatbestände angegeben sind, werden diese von denSchulbuchautoren auch nicht gänzlich verschwiegen. Wenn der Begriffder Entfremdung so in Zusammenhang gebracht wird mit der Existenzvon Kapital und Privateigentum, so erscheinen diese Begriffe jedochnur als unvermittelte Einsprengsel, wie in der im folgenden zitiertenPassage nachgewiesen werden soll. Die wirkliche Aussage hat wenigermit der marxistischen Herleitung des Entfrerndungsbegriffes zu tun,als vielmehr mit der anthropologisch-technizistischen Auffassung derentsprechenden Autoren. Das Resultat ist ein konfuses Konglomerataus eigenen falschen Theoremen und Bruchstücken der MarxschenTheorie. Betrachten wir uns die Darstellung im einzelnen:

„Der erste große Sündenfall der Menschheit war das Aufkommen des Privat-eigentums durch die Einführung der Arbeitsteilung. Sie brachte die Entfremdungdes arbeitenden Menschen zu seiner Arbeit in die Geschichte." (Klett III B, S.53)

Der Gedanke vom Sündenfall entwirft das Bild eines ursprünglichenZustandes der allseitigen Vollkommenheit der Menschheit, was nichtsmit Marx zu tun hat, sondern nur als Niederschlag religiöser Nebelbil-dungen in den Köpfen der Geschichtsbuchschreiber verstanden wer-den kann. Die Autoren bedienen sich, wie Marx sagen würde, derMethode des Theologen, der „den Ursprung des Bösen durch denSündenfall" erklärt, „das heißt, er unterstellt als ein Faktum, in Formder Geschichte, was er erklären s o l l " 3 1 7 . Die Schulbuchautorenschrecken nicht davor zurück, dies, dem Marxismus gänzlich fremdeVerfahren, ihm dennoch vorzuwerfen.

168

Page 169: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Zum zweiten wird hier nicht das Privateigentum, sondern die Ar-beitsteilung zur Ursache der Entfremdung gemacht. Damit wird Marxdie Auffassung Iring Fetschers unterstellt, der ihn in seiner Schrift„Von Marx zur Sowjetideologie" in entstellender Weise malifiziert.„Aber die von Marx beschriebene Entfremdung hat weniger mit demPrivateigentum an Produktionsmitteln als mit der technisch notwendi-gen Arbeitsteilung zu tun, und eine Abschaffung des Privateigentumsan Produktionsmitteln ändert am Wesen der entfremdeten Arbeit imallgemeinen nicht v i e l . " 3 1 8 Marx hingegen erklärt das Phäno-men der Entfremdung gerade aus den Bedingungen der Warenproduk-tion im Kapitalismus, die ihre Ursache nicht in der technisch notwen-digen Arbeitsteilung hat (das wäre eine Ontologisierung des Phäno-mens der Entfremdung), sondern notwendiges Resultat des Privat-eigentums an Produktionsmitteln ist. Die Entfremdung der Individuenvoneinander ergibt sich daraus, daß sich im Kapitalismus ihr eigenesgesellschaftliches Verhältnis, ihr Aufeinanderbezogensein, in Form desWarenaustausches realisiert. Diese spezifische Formbestimmtheit hatzur Folge, daß ihr Verhältnis sich nicht bewußt, als von ihnen gemein-sam vorgesehenes und kontrolliertes vollzieht, sondern als ein von ih-nen unabhängiges, auf das sie keinen Einfluß haben, das ihnen alsofremd ist. Die Ursache für die Entfremdung liegt für Marx nicht in derArbeitsteilung an sich, sondern in der planlosen, naturwüchsigenForm, in der sie sich im Kapitalismus vollzieht, da das Prinzip des so-genannten „freien Spiels der Kräfte" unabdingbare Voraussetzung fürdie Herrschaft des kapitalistischen Privateigentums an Produktions-mitteln ist.

Die Schulbuchautoren schreiben weiter:„Die auf Privateigentum aufgebaute soziale Ordnung ist die Ordnung der ent-

fremdeten, entäußerten Arbeit, in der das Wesen des Menschen, das er in dasProdukt seiner Arbeit entäußert hat, nicht zurückgenommen wird." (Klett III B,S. 54)

Damit machen auch sie plötzlich Entfremdung an der Existenz vonPrivateigentum (richtig wäre: Privateigentum an den Produktionsmit-teln) fest, stellen sich damit aber in Widerspruch zu ihrem ersten Satz,wo sie die Arbeitsteilung als Ursache angaben.

Wenn im übernächsten Satz ein aus dem Zusammenhang gerissenesMarxzitat gebracht wird, scheint jedoch Entfremdung wiederum alsanthropologische Konstante aufgefaßt zu sein:

„Die Entäußerung des Arbeiters in seinem Produkt hat die Bedeutung, . . . daßseine Arbeit . . . außer ihm, unabhängig, fremd von ihm existiert und eine selb-ständige Macht ihm gegenüber wird, daß das Leben, was er dem Gegenstand ver-liehen hat, ihm feindlich und fremd gegenübertritt." (Klett III B, S. 54)

Mag auch das Nicht-Unterscheiden der Begriffe „Entäußerung" und„Entfremdung" durch den frühen Marx der „Pariser Manuskripte",den die bürgerliche Marxkritik so gern für sich aus der Geschlossenheitseines Gesamtwerkes herausbrechen möchte, die Anthropologisierungerleichtert haben, so findet sie auch dort inhaltlich jedoch keinenBoden. Marx macht die Entfremdung schon in diesem Werk geschicht-

169

Page 170: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

lich-gesellschaftlich fest. Während für ihn die Entäußerung eine Eigen-schaft der Arbeit generell ist, in der sich die menschliche Praxis mitder Umwelt vermittelt, ist die Entfremdung der Arbeit eine Folgeer-scheinung vor allem der kapitalistischen Lohnarbeit: die kapitalisti-sche Form der Produktion bedingt, daß die vergegenständlichte Arbeitin Gestalt des Kapitals über die lebendige Arbeit des Produzentenherrscht; diese Tatsache bedingt, daß die Resultate der Tätigkeit desArbeiters und alle Eigenschaften der gesellschaftlichen Arbeit (Ar-beitsteilung, Kooperation, Wissenschaft usw.) nicht als von den Ar-beitenden selbst, sondern vom Kapital produziert erscheinen und da-her den eigentlichen Produzenten entfremdet s i n d . 3 1 9

Wenn Marx also die Entfremdung als ein Merkmal der kapitalisti-schen Produktionsweise beschrieb und ableitete (was hier nur ange-deutet werden konnte), so erscheint auch eine scheinbar so objektiveQuellenauswahl wie in dem Schulbuch „Zeiten und Menschen" (Aus-gabe G, Band 2) in ganz anderem Licht. Aus dem Zusammenhang desMarxschen Gesamtwerkes, ja selbst der „Pariser Manuskripte" geris-sen, suggeriert gerade diese unkommentierte Zitatauswahl, daß esMarx mit seinem Entfremdungsbegriff um ein ethisch-philosophischesKonstrukt gegangen sei. Indem in den aufgeführten Passagen der „Pa-riser Manuskripte" nur von der Entfremdung des Arbeiters schlecht-hin die Rede ist, Marxsche Aussagen über die historisch-sozialen Be-dingungen, unter denen erst Entäußerung zur Entfremdung wird, je-doch weggelassen werden, kann der junge Marx und sein „humanerAnsatz" kurz und schmerzlos vom ganzen Marx abgetrennt und in diegroße Kiste der eigenen bürgerlichen Philosophietradition gestecktwerden: den übrigen Marx, vor allen den des „Kapitals", kann man dannunbesehen als absonderlich beiseite werfen.

Doch zurück zu jener Schulbuchpassage, von der wir ausgingen:„Die Zurücknahme des menschlichen Wesens wird nur möglich durch die Ab-

schaffung des Privateigentums, das heißt durch den Kommunismus." (Klett IIIB, S. 54)

Dies kann entweder bedeuten, daß die Arbeitsteilung nun dochnicht verantwortlich ist für die Entfremdung, sondern das Privateigen-tum, oder daß mit dem Privateigentum auch die Arbeitsteilung abge-schafft wird. Im ersten Falle widersprechen die Autoren ihrer obengemachten Aussage, im letzten Falle ist impliziert, daß der Kommu-nismus in ein vorindustrielles Stadium der Produktion zurückfallenmuß, wo noch keine Arbeitsteilung herrschte. Diese Annahme wirdbestätigt durch den folgenden Satz: „Das (der Kommunismus, d.Verf.) ist die Beseitigung aller Selbstentfremdung und die Rückkehr des Menschen zum wahren menschlichen Leben." Hier wird, genausowie oben bereits an Hand anderer Zitate nachgewiesen, unterstellt,Marx hätte mit dem Kommunismus die Rückkehr irgendeines Zustan-des ursprünglicher Entfaltung des Menschen gezeichnet. Die gleicheFehlinterpretation finden wir im folgenden Zitat aus einem anderenSchulbuch:

170

Page 171: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

„Er (Marx, d. Verf.) warf Feuerbach vor, daß er sich bei seinem Bemühen, daseigentlich Menschliche des Menschen zu finden, zu sehr an den abstrakten Men-schen schlechthin, nicht aber an den konkret in einer bestimmten Zeit und Ge-sellschaft lebenden halte, und gelangte zu der Überzeugung, daß der Mensch erstdann wirklich Mensch sei, wenn er über sich selbst und alles, was er schaffe,selbständig verfügen könne. Diese ,Selbstverwirklichung' sei dem Menschen imLaufe der Zeit als Folge eines Differenzierungsprozesses im Arbeitsvorgang ab-handen gekommen und drohe immer mehr zu schwinden." (Schroedel/Schöningh III, S. 56)

Richtig wird hier im ersten Satz die Marxsche Kritik an Feuerbachsabstraktem Begriff vom Menschen wiedergegeben. Im zweiten Satz je-doch fallen die Autoren selbst auf die Feuerbachsche Ebene zurückund anthropologisieren nun ihrerseits wiederum Marx; sie unterlegenihm einen Begriff vom Menschen, den er doch gerade kritisiert hat,wie die Autoren im vorangegangenen Satz schreiben. Marx behaupte,so wird hier impliziert, dieser habe sich von jener „Selbstverwirk-lichung" nur entfremdet (auf Grund der Arbeitsteilung!), Konsequenzist die Aufhebung der Entfremdung durch die Rückkehr zu jenem ur-sprünglichen Zustand in Gestalt des Kommunismus.

Marx dagegen: „Auf früheren Stufen der Entwicklung erscheint dasIndividuum voller, weil es eben die Fülle seiner Beziehungen nochnicht herausgearbeitet und als von ihm unabhängige gesellschaftlicheMächte und Verhältnisse sich gegenübergestellt hat. So lächerlich esist, sich nach jener ursprünglichen Fülle zurückzusehnen, so lächerlichist der Glaube, bei jener vollen Entleerung stehenbleiben zu müssen.Über den Gegensatz gegen jede romantische Ansicht ist die bürgerlichenie herausgekommen und darum wird jene als berechtigter Gegensatzsie bis an ihr seliges Ende beg l e i t en . " 3 2 0

4. Personalisierung

Beinahe alle Marxismus-Darstellungen in den von uns untersuchtenGeschichtsbüchern beginnen mit mehr oder weniger detaillierten Auf-führungen über die Biographie von Karl Marx, die sich allerdings zu-nächst auf ein beziehungsloses Aneinanderreihen von einzelnen Le-bensdaten und Fakten beschränken. Besonders erwähnt wird durch-gängig seine Herkunft aus der Familie des jüdischen Rechtsanwalts,was zunächst ein unwesentliches Fakt bleibt, bringt man es nicht inirgendeinen Zusammenhang mit Marx' späterer Entwicklung. Demschließt sich eine Darstellung seines intellektuellen Werdeganges an,während dessen er sich mit der Wissenschaft und Philosophie seinerZeit auseinandersetzte. In diesem Zusammenhang wird in mehrerenBüchern zu Recht auf den großen Einfluß hingewiesen, den die Philo-sophie Hegels auf Marx ausübte. Über die Hintergründe von HegelsEinfluß auf Marx geben die Bücher allerdings keine Auskunft.

Als weiteres entscheidendes Ereignis wird seine Begegnung mitFriedrich Engels angegeben, der „als Vertreter der väterlichen Firma

171

Page 172: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

in England die furchtbaren Mißstände in den Fabriken kennengelerntund darüber ein Buch ,Über die Lage der arbeitenden Klasse in Eng-land' geschrieben" (Klett II, S. 56) hatte: Engels' Schriften waren „fürMarx ein weiterer entscheidender Anlaß, sich mit der kapitalistischenWirtschaft auseinanderzusetzen" (Klett V, S. 165) . Auch diese Begeg-nung Marx' mit Engels erscheint unter Aussparung der realen gesell-schaftlichen Hintergründe, vor denen sie sich vollzog, auf die zufälligeBerührung zweier Intellektueller reduziert. Auf Grund seiner politi-schen Ansichten — so referieren die Bücher weiter — sowohl inDeutschland als auch in Frankreich verfolgt, mußte Marx nach Lon-don flüchten. Dort lebte er dann in „bescheidenen Verhältnissen, nurauf seine Aufgabe gerichtet: die Untersuchung und Beurteilung derbestehenden Gesellschaft, die wissenschaftliche Begründung seinerTheorie einer neuen Gesellschaft und die Veröffentlichung vonAktionsprogrammen für Arbeiterbewegungen" (Diesterweg V, S.169) . Marx wird als ein „hochintelligenter Mann, philosophisch gebil-det, kritisch veranlagt" (ib.) und als eine „vielseitige Persönlichkeit"beschrieben. In diesen Lobesbekundungen erschöpfen sich allerdingsdie Aussagen über die historischen Wurzeln der marxistischen Theorie.Zu dem Lob seiner intellektuellen Fähigkeiten gesellt sich das seinermoralischen Größe: obwohl er aus bildungsbürgerlichem Milieustammte, „widmete" er jedoch sein Leben der Arbeiterklasse.

„Er kam zwar aus der Familie eines Rechtsanwaltes, war sogar mit einer Frauaus adligem Hause verheiratet, aber er hat sich ein Leben lang für die Arbeiter-klasse, für die Proletarier, wie er sie nannte, eingesetzt." (Diesterweg II, S. 235)

Er „verwendete sein Leben darauf, die Ursachen des Arbeiterelends zu unter-suchen und herauszufinden, wie man die Verhältnisse ändern könnte." (Klett V,S. 52)

Allein aus den oben angeführten Gründen habe er dann „in völliger Verborgen-heit . . . ein System schwieriger und verwickelter Gedanken" (Klett II, S. 56)entwickelt, „die die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen im20. Jahrhundert mehr bestimmen sollten als alle Kriege und Staatsaktionen."(Klett II, S. 56)

Diese Darstellung des persönlichen Werdegangs Karl Marx' be-schränkt sich also im wesentlichen auf die Aneinanderreihung wichti-ger und für den Entwurf seiner Theorie durchaus relevanter Fakten.Die Kritik muß deshalb zunächst gerade an dem Punkt ansetzen, daßin der oben skizzierten, in ihren Hauptzügen in jedem untersuchtenSchulbuch wiederzufindenden Darstellung wesentliche Zusammen-hänge nicht enthalten sind. Es läßt sich zeigen, daß das Unvermögender Schulbuch-Autoren, die wesentlichen Zusammenhänge sowohlhinsichtlich der Entwicklung Marxens als auch seiner Theoriebildungzu erkennen, notwendig zu deren Fehlrezeption führt. Das heißt: erstdurch das, was die Autoren im Zusammenhang der Biographie Mar-xens nicht darstellen, wird das, was sie darstellen, falsch. Die ober-flächliche und rein faktenmäßige Aussage wird durch Herstellung fal-scher Zusammenhänge ideologisch. Aus den ideologischen eigenen, diewirklichen Zusammenhänge entstellenden Verknüpfungen werden

172

Page 173: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

schließlich folgenschwere Fehlschlüsse auf den Marxismus insgesamtgezogen.

Im folgenden soll nun versucht werden, diese These an Hand derTexte zu belegen.

Da die Schulbuchautoren den Marxschen Bildungsweg nicht als ge-sellschaftlich vermittelten begreifen, ihn herauslösen sowohl aus denrealen gesellschaftlichen Bewegungen seiner Zeit im allgemeinen alsauch aus der Entwicklung der Klasse, der er entstammt, im besonde-ren, muß ihnen die marxistische Theorie notwendig als etwas Zufäl-liges und allein in der besonderen — subjektiven — Veranlagung Mar-xens Begründetes erscheinen. Seine Herkunft aus der Familie einesjüdischen Rechtsanwalts bleibt entweder ein isoliertes Faktum oderfließt suggestiv zwischen den Zeilen ein als diffuser Nährboden seines„unruhigen Geistes", wie im folgenden Zitat:

„Als Enkel von Rabbinern war Karl Marx von dem fanatischen Willen erfüllt,die bestehende Welt des Unrechts nicht nur zu deuten und zu kritisieren, son-dern zu verändern." (Schroedel/Schöningh IX, S. 151)

Hier wird — auf den unverkennbaren antisemitischen Untertonbraucht wohl nicht näher eingegangen zu werden — die Marxsche Ka-pitalismus-Kritik also aus einer obskuren jüdischen Erbmasse, aus demBlut seiner jüdischen Vorväter hergeleitet — ein wahrlich beredtesZeugnis totaler Geschichtslosigkeit der Schulbuchverfasser. Zweifelloswar seine soziale Herkunft entscheidend für die Entwicklung des jun-gen Marx zum Revolutionär, jedoch in einem ganz anderen als demhier suggerierten (biologischen) Zusammenhang. Die Klasse, der er an-gehörte, die Bourgeoisie, befand sich zur Zeit seiner Jugend in einemheftigen Emanzipationskampf gegen die Feudalherrschaft in Deutsch-land. Marx stammte zudem aus einer Gegend Preußens, wo sich dieaufstrebende Industriebourgeoisie konzentrierte und sich daher diefeudalen Schranken am klarsten gezeigt und der Widerstand derBourgeoisie am stärksten ausgeprägt hatten. Die revolutionäre Bewe-gung seiner Klasse gehörte also zur realen Lebenserfahrung des jungenMarx. Dieser Zusammenhang muß allerdings den Schulbuchautorenentgehen, da sie Marx — wie alle „großen Männer" der Geschichte — als über der Gesellschaft schwebendes Subjekt behandeln, das die Mo-tive seines Handelns aus sich selbst (bzw. der Erbmasse) schöpft. Stattnach der realen gesellschaftlichen Erfahrung zu fragen, berufen siesich auf eine obskure subjektive Veranlagung.

Wenn sich bei der Darstellung der intellektuellen Entwicklung desjungen Marx die richtige Feststellung anschließt, daß dieser wesentlichvon Hegel beeinflußt worden sei, so unterbleibt jedoch jede Erklärung für diese geistige Affinität. Es wäre hier allerdings notwendig festzu-stellen, daß sich beinahe die gesamte fortschrittliche bürgerliche Intel-ligenz zu jener Zeit der Philosophie Hegels verpflichtet fühlte, und dasaus objektiven Gründen. Da sich auf Grund der spezifischen histori-schen Bedingungen die politische Entwicklung des deutschen Bürger-tums verzögerte, vollzog sich dessen Emanzipation zunächst primär

173

Page 174: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

ideell. In diesem Zusammenhang stellte die Hegeische Philosophie denfortgeschrittensten Ausdruck der bürgerlichen Klasseninteressen dar,und hieraus erklärt sich ihr Einfluß auf die junge (bürgerliche) Intelli-genz, unter ihnen Marx. Auf der anderen Seite enthielt jedoch dieHegeische Philosophie den Keim jenes Klassenkompromisses zwischenBourgeoisie und Adel in sich, der sich bereits vorder 1848er Revolu-tion in der realen gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland abzu-zeichnen begann und dann nach 1871 im Kaiserreich seinen Ausdruckfand. Hier liegen die realen Wurzeln der Marxschen Kritik an Hegel.Vor diesem — hier nur angedeuteten — Hintergrund enthält folgenderSatz aus einem Schulbuch erst einen Sinn:

,,Zu Anfang war er begeisterter Hegelianer, doch dann empfand sein kritischer Geist, daß die von Hegel behauptete vollendete Versöhnung von Idee und Wirk-lichkeit im Staat im krassen Widerspruch zur Praxis in Staat und Gesellschaftstehe." (Klett II, S. 56)

Da die Zusammenhänge zwischen den Widersprüchen des Hegel-schen Systems und den erfahrbaren gesellschaftlichen Widersprücheneinerseits und dem Marxschen Lernprozeß andererseits nicht ins Blick-feld geraten, müssen die Autoren auf den „kritischen Geist" Marx'rekurrieren. Das Herausfallen des Zusammenhangs zwischen individu-eller Erfahrung und gesellschaftlicher Entwicklung führt so folgerich-tig zu der Feststellung der Genialität des Individuums, ohne daß dieseletztere abgeleitet werden kann (Personalisierung). Da Marx nicht alsVertreter der radikaldemokratischen deutschen Intelligenz gesehenwird, kann auch seine Weiterentwicklung über die Hegeische Philoso-phie hinaus nur aus seiner persönlichen „Genialität" heraus erklärtwerden. Welche spezifischen Bedingungen es Marx ermöglichten, allenanderen fortgeschrittenen Denkern seiner Klasse so weit vorauszuei-len, können wir hier nicht erörtern. Es soll nur festgestellt werden,daß in der Geschichte immer ein Zusammenhang zwischen dem Trans-parentwerden von wissenschaftlichen Problemen und dem realen ge-sellschaftlichen Prozeß nachweisbar ist, so vermittelt dieser auch imeinzelnen sein mag.

Die Nichtbeachtung dieses Problems hat dann auch bedeutsameKonsequenzen für die Ableitung des Marxschen Engagements für dieArbeiterklasse seitens der Schulbuchautoren. Zwischen Marx' sozialerSituation und seinem Verhältnis zur Arbeiterklasse wird in den Ge-schichtsbüchern ein Gegensatz konstruiert. Der Intellektuelle Marx,obwohl aus einer bürgerlichen Familie stammend, mit einer Frau ade-liger Herkunft verheiratet, habe sich „ein Leben lang für die Arbeiter-klasse eingesetzt". Auch sein Freund Engels, obwohl Fabrikanten-sohn, wie immer wieder hervorgehoben wird, habe „sein Leben dennotleidenden Arbeitern widmen" (Klett V, S. 60) wollen. Damit wirdsuggeriert, daß Marx' eigene Entwicklung seiner Theorie widerspreche,da er doch selbst nur in der Arbeiterklasse das revolutionäre Subjektgesehen habe. Diese Darstellungsweise läßt folgende entscheidendeTatsache außer acht: Das Bürgertum war zu dem Zeitpunkt, als Marx

174

Page 175: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

seine Theorie entwickelte, diejenige Klasse, für die die revolutionäreUmwälzung der Feudalordnung auf der Tagesordnung stand, wie sie inFrankreich schon 1789 vollzogen war. Das Proletariat war um die Mit-te des 19. Jahrhunderts in Deutschland erst sehr schwach entwickelt.Darum begann Marx, wie oben schon erwähnt, als bürgerlicher Radi-kaldemokrat. Allerdings hatte sich der Klassengegensatz zwischenProletariat und Bourgeoisie auf Grund der deutschen Spätentwicklungschon so weit herausgebildet, daß eine gemeinsame Kampffront dieserbeiden von der feudalen Unterdrückung gleichermaßen betroffenenKlassen — wie sie in der Französischen Revolution noch möglich ge-wesen war — nicht mehr zustande kam. Die Bourgeoisie schreckte vordem zusehends anwachsenden Proletariat, in dem sie den zukünftigen„Totengräber" der bürgerlichen Gesellschaft sehen mußte, zurück undzog einem antifeudalen Bündnis den Klassenkompromiß mit dem Adelgegen das Proletariat vor. Marx erkannte bei seiner zunächst vorwie-gend philosophischen Auseinandersetzung mit dieser gesellschaft-lichen Situation, daß seine eigene bürgerlich-radikaldemokratischeAusgangsposition ebenso wie die aller anderen fortschrittlichen Bür-ger, die die revolutionären Forderungen ihrer Klasse beim Wort nah-men, auf einer Selbsttäuschung beruhte, da das Bürgertum seinen re-volutionären Anspruch nicht einlösen konnte (bzw. wollte). Die Hin-wendung zum Proletariat war nur die natürliche Konsequenz aus die-ser Erkenntnis: das Proletariat war die einzige Klasse in Deutschland,welche in der Lage war, die Forderungen der bürgerlichen Revolutiondurchzusetzen und sie weiterzutreiben in eine wirkliche, gesellschaft-liche Demokratie. Die Unterschlagung dieses hier angedeuteten Zu-sammenhangs wird von den Schulbuchautoren wiederum durch Perso-nalisierung und Psychologisierung kompensiert. An die Stelle einerwissenschaftlichen Herleitung tritt die Erwähnung einer nicht weiterbegründeten Neigung Marxens als „leidenschaftlicher Weltverbes-serer", d. h. wohl aus moralischen Motiven, „die bestehende Welt desUnrechts" verändern zu wollen. Es wird suggeriert, daß er sich der Ar-beiterklasse „gewidmet" habe, da sich in ihr eben die Ärmsten der Ar-men fänden.

„Zu seiner Zeit sah Marx die Unterdrückten in den Arbeitern, den ,Prole-tariern', den von der herrschenden ,Bourgeoisie' alles vorenthalten wird, woraufsie durch ihre Arbeit Anspruch haben." (Diesterweg II, S. 235)

Weil man hinsichtlich der wirklichen historischen Zusammenhängebegriffslos im dunkeln tappt, erscheint Marx in falschem, d. h. in demLichte, in das ihn die Autoren auf Grund ihres idealistischen Ge-schichtsbildes notwendig stellen müssen. Marx wird als Idealist ge-zeichnet. Er

„verurteilt die egoistischen Motive der Besitzer von Kapital . . . und empörtsich über die Hilflosigkeit derer, die kein Teil daran haben." (Klett VIII, S. 73)

Der Philanthrop Marx, der zudem noch praktische Konsequenzenaus seiner humanitären Haltung zog, wird sodann nach bewähr-tem Schema feinsäuberlich vom Wissenschaftler Marx abgetrennt.

175

Page 176: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Zwischen beiden wird ein unauflösbarer Widerspruch konstruiert, derdann nur noch auf die gespaltene Psyche Marxens zurückgeführt wer-den kann:

„Zwei Seiten seines Wesens gilt es zu erfassen: den kühlen, überkritischen Ver-standesmenschen und den leidenschaftlichen Kämpfer, der gewillt war, die be-stehenden Verhältnisse umzugestalten . . . " (Klett II, S. 57)

Dieser Darstellungsweise liegt eine positivistische Trennung von Wis-senschaft und Moral, Objektivität und Parteilichkeit zugrunde. DieAutoren vermögen noch nicht einmal nachzuvollziehen, in welchemVerhältnis Sachurteil und Werturteil innerhalb der marxistischen The-orie selbst gesehen werden. Letzteres sei hier nur kurz angerissen:Marx' Parteinahme für die Arbeiterklasse erklärt sich nicht aus einemkategorischen Imperativ, für den man sich in einem individuell volun-taristischen Akt entscheidet oder nicht. Dies ist vielmehr die Moral-vorstellung des bürgerlichen Individuums, für das Einzel- und gesamt-gesellschaftliches Interesse notwendig auseinanderfallen müssen undfür welches Moral sich nicht herleitet aus objektiven gesellschaftlichenTendenzen und Möglichkeiten, sondern aus je individuellen Setzun-gen. Marx kam auf Grund längerer historischer und ökonomischer Un-tersuchungen zu dem Ergebnis, daß das Versprechen der bürgerlichenRevolution, die Gesellschaftsordnung auf das Allgemeininteresse zugründen (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit), nicht in einer Gesell-schaft eingelöst werden konnte, die weiterhin wesentlich durch dieAusbeutung der einen Klasse durch die andere bestimmt war. Solangedas Profitinteresse der Kapitalisten Zweckbestimmung der gesell-schaftlichen Produktion ist, muß der Anspruch dieser Gesellschaft, imSinne des Allgemeininteresses zu funktionieren, eine Farce bleiben.Dieser Widerspruch verschärft sich im Laufe der Entwicklung des Ka-pitalismus in dem Maße, wie die Zahl der Besitzer der Produktionsmit-tel immer mehr zusammenschrumpft. (Zentralisation des Kapitals,Monopole.) Die im selben Maße anwachsende Masse der Lohnab-hängigen kann sich mit immer größerem Recht als Allgemeinheit emp-finden. Wie in keinem Stadium der Menschheitsgeschichte vorher,kann die Arbeiterklasse mit vollem Recht ihr Klasseninteresse — Auf-hebung der Ausbeutung — mit dem Allgemeininteresse identifizieren.Ihr Kampf um Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ist der Kampfum substantielle Freiheit, Gleichheit und Solidarität aller Menschen:die proletarische Revolution soll die Befreiung der Arbeit selbst er-möglichen, d. h. die Aufhebung dessen, was alle bisherige Geschichtekennzeichnete: der Herrschaft der Produktionsbedingungen über dieProduzenten, die sich darstellte in den jeweiligen historischen Formenherrschaftsvermittelter Arbeit. In der bisherigen Geschichte — einerGeschichte von Klassengesellschaften — waren die unmittelbaren Pro-duzenten — die arbeitende Klasse, sei es Sklave, Leibeigener oderLohnarbeiter — stets die Beherrschten und Erniedrigten. Aller bis-heriger Fortschritt mußte ein antagonistischer sein, da die fortschrei-tende Naturbeherrschung gesamtgesellschaftlich unbeherrscht blieb

176

Page 177: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

und daher die Herrschaft über Menschen einschloß. Diese Entwicklunghat im Kapitalismus nach Marx ihren Höhepunkt (Entfremdung, Ver-dinglichung) und zugleich erstmals ein Stadium erreicht, das die wirk-liche Emanzipation der Menschen objektiv möglich macht. Die Mög-lichkeit kann nur durch gesellschaftsverändernde Praxis, d. h. durchAufhebung der Herrschaft der Produktionsbedingungen (des Kapitals)über die (entfremdete) Arbeit verwirklicht werden. Träger dieser Um-wälzung muß notwendigerweise — Marx leitet das im einzelnen ausder spezifischen Struktur des Kapitalverhältnisses ab — der Träger derentfremdeten Arbeit sein: das Proletariat. Voraussetzung ist die Er-kenntnis des Wesens der kapitalistischen Gesellschaft, ihrer Geschicht-lichkeit und ihrer Veränderbarkeit. Von daher muß auch die Theorieder Arbeiterklasse der apologetischen Verklärung kapitalistischer Ver-hältnisse zur ewigen und natürlichen Seinsgegebenheit diametral ent-gegengesetzt sein. Im Gegensatz zu jeder Ausbeuterklasse, die ihreSituation zu verewigen und deshalb zu verschleiern trachtet, muß dasProletariat zu seiner Befreiung sich selbst als Klasse aufheben. Um dieeigene Situation aufzuheben, muß sie jedoch erkannt und denunziertwerden. Der Marxismus ist die theoretische Negation des Kapitalver-hältnisses, wie die Arbeiterklasse potentiell seine wirkliche Negation darstellt. Tragender Gedanke Marxens war es deshalb — wie AlfredSchmidt zu Recht hervorhebt — „die bestehenden Strukturen als ge-worden und werdend transparent zu machen, mit — praktischer — Subjektivität zu ve rmi t t e ln" 3 2 1 . Damit sind Zweck und Inhalt deswissenschaftlichen Sozialismus, des historischen Materialismus be-nannt.

Die Hinwendung Marxens zur Arbeiterklasse ist also letztlich aufsein emanzipatorisches Interesse zurückzuführen, das in seiner Theoriedie erforderliche wissenschaftliche Begründung gefunden hat (Prole-tariat als Negation des Kapitalismus). In diesem Sinne fallen wissen-schaftliche Objektivität und moralische Parteinahme für die Arbeiter-klasse in eins. Der von den Schulbuchautoren zwischen dem Wissen-schaftler und dem Moralisten Marx konstruierte Widerspruch ist nichtexistent. Das Zurückführen beider Momente und ihres scheinbarenWiderspruchs auf die Gespaltenheit der Marxschen Psyche ist nichtnur konsequenter Ausdruck der Gedankenlosigkeit der Schulbuchau-toren, sondern auch ein besonders typischer Fall von Personalisierungund Psychologisierung: eine Theorie, die gesellschaftliche Widersprü-che aufzeigt, wird nicht etwa wissenschaftlich zu widerlegen versucht,sondern von vornherein zu einem psychologischen Problem des Men-schen Marx erklärt. Die gesellschaftswissenschaftlichen Ergebnisse desMarxismus können auf diese Weise zu subjektiven Anschauungen eines„Weltverbesserers" verdreht werden. Sein Anspruch auf Synthese vonParteilichkeit und Objektivität wird dann noch gegen die Glaubwür-digkeit selbst seines Weltverbesserertums gewendet. Diese Reduzie-rung des historischen Materialismus auf frei erfundene Widersprücheder Marxschen Psyche führt zu tiefgreifenden Entstellungen der

177

Page 178: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

marxistischen Theorie in den Schulbüchern. So heißt es in einemSchulbuch:

„Für seine Lehre trat er in jedem Falle ein: wer andere ,falsche' Ansichtenvertrat, den haßte, verachtete und verfolgte er. Von seinen Anhängern forderteer bedingungslosen Gehorsam. Mit selbständigen Naturen wie Lassalle und Baku-nin . . . mußte es zum Bruch kommen. So beleidigend und überheblich er aberden meisten Menschen gegenüber auftrat, im Umgang mit Frau und Kindern warer liebenswürdig und rücksichtsvoll." (Klett II, S. 57)

Hier ist die Psychologisierung der Theorie auf die Spitze getrieben.Parteilichkeit als wissenschaftliches Prinzip des Sozialismus erscheintals Objektivation der persönlichen Arroganz des Karl Marx; dieKampfansage des Marxismus gegen den bürgerlichen Wissenschafts-pluralismus als Ausdruck von dessen despotischer Charakterstruktur.Die Differenz zwischen seiner Gesellschaftsanalyse und der Lassallesbzw. Bakunins und seine politische Abgrenzung gegen Reformismusauf der einen und Anarchismus auf der anderen Seite werden als Aus-druck des Marxschen Größenwahns sowie seiner Unduldsamkeit ge-genüber ihm charakterlich gewachsenen Naturen dargestellt. Hier han-delt es sich allerdings möglicherweise nicht mehr um eine aus objekti-ven Erkenntnisschranken der Autoren resultierende Fehlinterpreta-tion, sondern um bewußte Diffamierung. — Insgesamt läßt sich zusam-menfassen: Die oben beschriebene Darstellung der Marxschen Persön-lichkeit erhält bei der Darstellung der marxistischen Theorie ihreFunktion. Der Marxismus erscheint jetzt nicht mehr als Ausdruck ei-nes objektiven gesellschaftlichen Zusammenhanges, sondern immerschon als individuelles Gedankenkonstrukt der besonderen Persönlich-keit Karl Marx'.

Dies findet ein ergänzendes Moment in der sprachlich erzeugten Di-stanz, in die alles „Marxistische" in den Schulbüchern gebracht wird.So wird der Marxismus entweder im Konjunktiv oder mit Verwen-dung von Formulierungen wie „Marx war der Überzeugung", „Marxglaubte", „nach Marx' Auffassung" oder auch „angeblich" dargestellt.Dadurch wird die marxistische Theorie als die persönliche Meinungihres Begründers ausgegeben und ihr Anspruch auf Wissenschaftlich-keit von vornherein diskreditiert. Marx und Engels „werden alsAußenseiter abqualifiziert, noch bevor ihre Argumentation auf denLeser Eindruck machen k ö n n t e " 3 2 2 . Sie kann es allerdings sowiesonicht, da sie, wie oben darzulegen versucht, grundsätzlich gar nicht inden Schulbüchern auftaucht.

5. Die „Widerlegung" des Marxismus in den Schulbüchern und ihreFunkt ion

Die Widerlegungen des Marxismus seitens der Schulbuchautoren tref-fen — wie aus unserer obigen Untersuchung hervorgeht — nicht dieMarxsche Lehre, sondern die Vorstellungen der Autoren von dersel-ben.

178

Page 179: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Dies trifft auch auf das von den Widerlegungsstrategen bevorzugteTheorem — die Verelendungstheorie — zu. Da diese im Gegensatz zuanderen Teilen des mechanistisch zergliederten Marxismus (zergliedertin: Krisen-, Mehrwert- und Akkumulationstheorie etc.) in fast allenuntersuchten Büchern behandelt und einheitlich beurteilt wird, seidieser Punkt näher beleuchtet.

Die Schulbuchautoren fassen Verelendung durchgängig als absoluteLohnverelendung auf. Dies sei zunächst dokumentiert:

„Eine seiner Hauptthesen war, daß die Verelendung der Proletarier unaufhalt-sam sei und immer weitere Schichten der Bevölkerung ergreifen werde."(Schroedel/Schöningh IX, S. 152)

„Deshalb kauft der Kapitalist die menschliche Arbeitskraft zu so einem niedri-gen Preis, das dieser gerade noch die Kosten der nackten Existenz des Arbeitersdeckt . . . Die Verelendung des Proletariats ist unvermeidlich." (Schroedel/Schöningh IV, S. 153)

„Entscheidende Voraussagen von Karl Marx haben sich nicht erfüllt . . . Auchist die große Mehrheit in den ,kapitalistischen' Ländern nicht verelendet." (KlettVIII, S. 166)

„Hingegen ist die Verelendung des Proletariats nicht eingetreten . . . " „AlsKritik am Kapitalismus entwickelten Marx und Engels vor allem zwei Theo-rien . . . Die Theorie vom Mehrwert und die Verelendungstheorie." (Schroedel/Schöningh II, S. 57)

„ . . . das soziale Elend hat die Arbeiterklasse nicht zur Revolution getrieben."(Klett II, S. 60)

„Es lag ihm gar nicht daran, eine allmählich fortschreitende Verbesserung derLebensverhältnisse für die Arbeiter zu erreichen; er leugnete, daß dies in derWelt des Kapitalismus überhaupt möglich sei." (Diesterweg II, S. 236)

Die Absicht ist klar: „Verelendung wird hier als durchgängige undgradlinige Lohnverelendung gedeutet; und in den Triumphruf, daß ei-ne solche unter den Bedingungen der ,Wohlstandsgesellschaft' nichtmehr nachzuweisen sei, schwingt die stille Aufforderung mit, zusam-men mit der Verelendungstheorie die Lehre vom Kapitalismus, von,Ausbeutung' und ,Mehrwert' überhaupt ins Beinhaus der Denkge-schichte zu verweisen ." 3 2 3 Ist der Zweck der Unternehmung, denWerner Hofmann so treffend beschreibt, auch offensichtlich, so mußdennoch inhaltlich auf diese Kritik geantwortet werden. Hofmann hatdies in bezug auf die Verelendung in zweifacher Weise getan. Zum ei-nen bestimmt er ihren Stellenwert innerhalb des Marxschen Systems.Ergebnis: nicht z e n t r a l . 3 2 4

Zum anderen zeigte er eine, durch die veränderte gesellschaftlicheSituation bedingte Verschiebung der Verelendung auf. Früher: mehrphysisch-psychische Verelendung; heute: mehr psychisch-mentale Ver-e lendung. 3 2 5

Im Gegensatz dazu ist für die Schulbuchautoren die „Verelendungs-theorie" zentral: „Eine seiner Hauptthesen", „Entscheidende Voraus-sagen" etc. Das Moment der psychisch-mentalen Verelendung wirdüberhaupt nicht in die Betrachtung einbezogen. Gibt es aber über-haupt bei Marx die „Verelendungstheorie", welche ausdrückt, daß derLohn bis auf ein Minimum zur Erhaltung der „physiologischen" Exi-

179

Page 180: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

stenz gedrückt werde? „Mitnichten. Dagegen spricht schon die Tat-sache, daß der Verfasser des ,Kapital' so energisch die Konzeption desphysiologischen Existenzminimums' (und daher auch, das ,eherneLohngesetz' Lassalles) bestritt. Ohne die Konzeption des ,physiologi-schen Existenzminimums' aber läßt sich die Theorie von der unver-meidlichen absoluten ,Verelendung' der Arbeiterklasse gar nicht den-ken. Eines von beiden also: Entweder gibt man zu, daß Marx die Kon-zeption des ,physiologischen Existenzminimums' ablehnte, und mandarf ihm nicht die sogenannte Verelendungstheorie in die Schuheschieben; oder aber man hält an der letzteren Annahme fest, und dannmuß man Marx — wider besseres Wissen und Gewissen — zum Anhän-ger des ,ehernen Lohngesetzes' stempeln . . . Und gerade das ist es,was die Verkünder der Legende von der Marxschen ,Verelendungsthe-orie' tun und seit jeher t a t e n . " 3 2 6 Im Gegensatz zu Roman Rosdols-ky, der hier so energisch die „Verelendungstheorie" für den Marx des,Kapitals' bestreitet, wollen wir den Schulbuchautoren (und auchsonstigen bürgerlichen Literaten) gar nicht erst „besseres Wissen" un-terstellen, sondern nehmen einmal an, daß einfach schlichte Unkennt-nis vorliegt.

Da es sich bei der „Verelendungstheorie" um eines der meistge-brauchten „Argumente" handelt, die gegen die Marxsche Lehre insFeld geführt werden, ist es notwendig, auf das Marxsche Werk selbstzurückzugreifen und aufzuzeigen, daß Marx und Engels spätestens abEnde der 50er Jahre eine solche Auffassung (absolute Verelendung)nicht vertreten haben.

In den „Grundrissen" von 1857 /58 , den Vorarbeiten zum ,Kapital',wird dies ganz offenkundig. Marx stellt hier fest, daß der ,Wert derArbei tskraf t ' 3 2 7 sich aus zwei Elementen zusammensetzt: einemmehr konstanten Element, des physischen, und einem variablen Ele-ment, dem historisch-gesellschaftlichen.

Hier wird einer Theorie des Lohnes als physisches Minimum zur Er-haltung der Existenz der Boden entzogen. Für Marx bildet das physi-sche Element lediglich die unterste Grenze (die logische Grenze), aufdie der „Wert der Arbeitskraft" (Lohn) reduziert werden kann. In sei-nem Vortrag vor dem Generalrat der Internationalen Arbeiterassozia-tion (1865) , in dem er für den ökonomischen Kampf der Gewerk-schaften eintrat, sagte er: , , . . . Außer durch dies rein physische Ele-ment ist der Wert der Arbeit in jedem Land bestimmt durch einentraditionellen Lebensstandard. Er betrifft nicht das rein physische Le-ben, sondern die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse, entspringendaus den gesellschaftlichen Verhältnissen, worein die Menschen gestelltsind und unter denen sie aufwachsen . . . " 3 2 8

Die tatsächliche Höhe des Arbeitslohnes liegt zwischen diesemphysischen Minimum und dem Maximum, welches seine Grenzen indem Profitinteresse des Kapitals findet, das heißt dem Kapital noch soviel Profit erlaubt, daß es interessiert ist, Arbeitskraft zu dingen. Diefaktische Höhe des Arbeitslohnes löst sich damit auf „in der Frage nach

180

Page 181: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

dem Kräfteverhältnis der Kämpfenden". Ihre Bestimmung erfolgt,,durch . . . das unaufhörliche Ringen zwischen Kapital und Ar-b e i t " 3 2 9 .

Es zeigt sich hier eindeutig, daß Marx in seinen späteren, wissen-schaftlich reiferen Werken keine absolute Verelendungstheorie ver-tritt, lediglich eine relative, die darin besteht, daß die Löhne wenigerrasch steigen als die Profite. Letzteres bestätigen die amtlichen Stati-stiken der Bundesrepublik für die Lohnentwicklung seit der Währungs-r e f o r m . 3 3 0 Marx kann daher im ,Kapital' schreiben: „Es folgt daher,daß im Maße wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechternm u ß . " 3 3 1 Und Friedrich Engels schließlich machte (1891) zu demSatz des Erfurter Programmentwurfs der deutschen Sozialdemokratie„Immer größer wird die Zahl und das Elend der Proletarier" folgendeBemerkung: „Dies ist nicht richtig, so absolut gesagt. Die Organisationder Arbeiter, ihr stets wachsender Widerstand wird dem Wachstum desElends möglicherweise einen Damm entgegensetzen. Was aber sicher wächst, ist die Unsicherheit der Existenz. Das würde ich hinein-s e t z e n . " 3 3 2

Dieser Satz Engels' bezeichnet auch zugleich den Wert, der den Aus-führungen der ,Verelendungstheorie'-Widerlegern beizumessen ist,wenn sie als wichtigste Ursache für das Nicht-Eintreten einer zuneh-menden (absoluten) Verelendung den Kampf der Organisationen derArbeiter angeben — was richtig ist — und Marx vorwerfen, er habedurch seine Einseitigkeit dies nicht gesehen.

Zunehmende Verbesserung der materiellen Verhältnisse (materielleVerhältnisse im Sinne der Schulbuchautoren verstanden) widerlegt dieMarxsche Theorie nicht, ist vielmehr von ihr mitreflektiert.

Was die Autoren nicht verstehen, ist die Marxsche Einsicht, daß mitder Verbesserung der materiellen Lage des Arbeiters eine Ver-schlechterung seiner gesellschaftlichen Situation einhergehen kannund auch einhergegangen ist . . . In Marx' Worten: „Die materielle La-ge des Arbeiters hat sich verbessert, aber auf Kosten seiner gesell-schaftlichen Lage. Die gesellschaftliche Kluft, die ihn vom Kapitali-sten trennt, hat sich e rwei te r t . " 3 3 3 Was Marx also alles nicht gesehenhaben soll, hat er durchaus gesehen. Darüber hinaus hat er auch be-reits beschrieben jene bürgerliche Ideologie, die er „Sozialismus derBourgeoisie" bezeichnet hat, deren Hauptaufgabe darin besteht, alleszu tun, um die Arbeiterklasse von der Revolution abzuhalten — sei esdurch Reformen, die das kapitalistische System in seiner Struktur un-angetastet lassen, sei es durch Manipulation und Fälschung oder derpolitisch-moralischen Verurteilung von Revolutionen (besonders derproletarischen). Aller dieser Mittel — Manipulation, falsche Darstel-lung (beabsichtigt oder unbeabsichtigt), Verurteilung der Revolution— befleißigen sich die Autoren in ihrer Apologetik des „Bourgeoisieso-zialismus", um, wie Marx im „Manifest" schreibt, „der Arbeiterklassejede revolutionäre Bewegung zu verleiden durch den Nachweis, wie

181

Page 182: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

nicht diese oder jene politische Veränderung, sondern nur eine Ver-änderung der materiellen Lebensverhältnisse ... ihr von Nutzen seinkönne. Unter Veränderung der materiellen Verhältnisse versteht dieserSozialismus aber keineswegs Abschaffung der bürgerlichen Produk-tionsverhältnisse, die nur auf revolutionärem Wege möglich ist, son-dern administrative Verbesserungen, die auf dem Boden dieser Pro-duktionsverhältnisse vor sich gehen, also an dem Verhältnis von Lohn-arbeit und Kapital nichts ändern, sondern im besten Fall der Bour-geoisie die Kosten ihrer Herrschaft vermindern und ihren Staatshaus-halt vere infachen." 3 3 4 Kurzum: „Der Sozialismus der Bourgeoisie be-steht eben in der Behauptung, daß die Bourgeois Bourgeois sind — im Interesse der arbeitenden K l a s s e . " 3 3 5 Dies den Schülern in derAuseinandersetzung mit Marx zu vermitteln, ist die Hauptaufgabe derSchulbuchautoren. Damit dies aber gelingen kann, ist es notwendig,Marx gehörig zu präparieren, was den Autoren leichtfällt, da ihr ver-knöchertes bürgerliches Bewußtsein, wie wir gezeigt haben, es ihnenvon vornherein unmöglich macht — vor jeder expliziten Kritik desMarxismus — diesen überhaupt zu verstehen. Sie treten daher mit be-stem Gewissen, aber ohne Wissen vor die Schüler.

Wie sollte man besser im Sinne der Kapitaleigner funktionieren?

Page 183: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Zweites KapitelSystematisierung

Wer die Ergebnisse der bisherigen Analyse der Schulgeschichtsbüchernoch einmal rekapituliert, wird schnell feststellen, daß die Untersu-chung der verschiedenen historischen Epochen und Ereignisse nichtständig neue Kritikpunkte erbracht hat. Vielmehr prägten bestimmteDenkmuster die Schulbuchdarstellung aller Epochen und Ereignisse — wenn auch in jeweils unterschiedlicher Intensität —, so daß auch unse-re Kritik der Schulbücher immer wieder auf ähnliche ideologischeMotive und methodische Mängel aufmerksam machte. Vor allem vierDenkmuster haben sich als durchgängig und konstitutiv für die Schul-geschichtsbücher erwiesen: die Vorstellung, daß Geschichte von eini-gen „großen" Individuen gemacht wird, denen die Volksmassen gefäl-ligst die Staats- und Wirtschaftsgeschäfte zu überlassen haben (Perso-nalisierung, damit verbunden: Psychologisierung); die Verabsolutie-rung von Ideen, die als treibende Kraft der Geschichte angesehen wer-den, losgelöst von der Gesellschaft, in der sie entstehen und den so-zialen Interessen, denen sie nützen (Ideengeschichtliche Darstellung); die Annahme einer dem Geschichtsverlauf zugrunde liegenden unver-änderlichen Menschennatur, die angeblich bestimmte Konstanten(Egoismus usw.) aufweist und dadurch Geschichte auf gewisse engeEntwicklungsmöglichkeiten begrenzt (Anthropologisierung) und an-dere Möglichkeiten als naturwidrig und unsinnig ausschließt; schließ-lich und in engem Zusammenhang mit der Anthropologisierung dieAnnahme bestimmter Konstanten auch der Gesellschaftsstruktur, wasauf die Hypostasierung der bürgerlichen Gesellschaft zur einzig mög-lichen, natürlichen und somit unabänderlichen Form menschlichenZusammenlebens zurückgeht (Ontologisierung).

Für die aktuelle politische Funktion der Schulgeschichtsbücher istes besonders wichtig zu untersuchen, in welche Vorstellungen bzw.Theorien über die gegenwärtigen gesellschaftlichen Systeme und Aus-einandersetzungen die erwähnten grundlegenden Denkmuster — eswird noch zu zeigen sein, daß es sich dabei um Momente gesellschaft-lich bedingten falschen Bewußtseins handelt (bürgerliche Ideologie) — münden. Die Untersuchung der Schulbücher hat ergeben, daß in bezugauf die Darstellung der BRD die Schulbücher ein Modell reproduzie-ren, nach dem die Gesellschaft aus einer Vielzahl qualitativ gleicher,nach quantitativen Kriterien (Einkommen etc.) allerdings verschiede-ner Individuen zusammengesetzt ist (Schichttheorie); die beidenGruppen, die auch nach Schulbuchauffassung noch im 19. Jahrhun-dert den grundlegenden Interessengegensatz der kapitalistischen Ge-sellschaft bildeten (Arbeiter und Unternehmer), erscheinen in derSchulbuchdarstellung der BRD als (Sozial-)Partner . . . Die sozialisti-schen bzw. kommunistischen Länder und Bewegungen dagegen wer-den in den Schulbüchern mit faschistischen Kräften und Herrschafts-

183

Page 184: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

systemen auf eine Stufe gestellt und als totalitär denunziert (Totalita-rismustheorie). Im folgenden sollen die hier angesprochenen Ergebnis-se der bisherigen Untersuchung, also sowohl die vier Grundmusterbürgerlichen Denkens als auch die Schicht-, Sozialpartnerschafts- undTotalitarismustheorie, noch einmal aufgegriffen und daraufhin über-prüft werden, welchen Erkenntniswert sie für ein wirkliches Verständ-nis der Geschichte und der Gegenwart besitzen.

Da im ersten Teil gelegentlich auch auf die Funktion bestimmtersprachlicher Elemente der Schulbuchdarstellung eingegangen wurde,sollen die Ergebnisse dieser Sprachkritik im folgenden ebenfalls insystematisierter Form dargelegt werden.

A. Ontologisierung/Anthropologisierung

Insbesondere im Abschnitt über die Darstellung des Marxismus in denSchulbüchern stießen wir immer wieder auf eine eigentümliche Vorge-hensweise der Schulbuchautoren: bestimmte, einer ganz spezifischenhistorischen Formation angehörende gesellschaftliche Verhältnisse,konkret: Verhältnisse, die die kapitalistische Gesellschaftsformation — und ausschließlich diese — (Kapital, entfremdete Arbeit, Arbeitswert-theorie) ausmachen, werden von den Schulbuchautoren unreflektiertals seinsgegebene (ontologische), übergeschichtliche Kategorien ver-wandt. Wesentlich historisch Entstandenes wird als Ewig-Seiendes, Na-türliches begriffen. Auf diese Weise kann Geschichte als Fortschreitengesellschaftlicher Totalität nicht nur nicht erfaßt werden — denn eswerden permanent die als natürlich betrachteten kapitalistischen Ver-hältnisse in frühere Epochen zurückprojiziert, wobei deren spezifischegesellschaftliche Qualität (etwa des Feudalismus) verlorengehen muß—, sondern Geschichte wird buchstäblich entgeschichtlicht: es gibt überhaupt keine wirkliche Geschichte mehr. Indem Geschichte alsFortschreiten des Immergleichen vorgestellt wird, ist ihre Liquidie-rung als Geschichte bereits vollzogen.

So schroff diese Feststellung zunächst klingen mag, so leicht läßt siesich an den Geschichtsbuchanalysen im ersten Teil dieses Buches er-härten. Es sei nur an ein Beispiel für diese Austilgung der Geschicht-lichkeit erinnert: Im Abschnitt über die Französische Revolutionkonnte gezeigt werden, daß die Schulbuchautoren die unhistorischenBegriffe und Vorstellungen der Aufklärungsdenker vollständig über-nehmen. Beispielsweise wurde der aus der großbürgerlichen Phalanxder Aufklärungsphilosophen (Locke, Voltaire usw.) offensichtlich her-ausfallende Rousseau mit Begriffen — z. B. Freiheit — abgewehrt undverurteilt, die jedweder historisch-gesellschaftlichen Bestimmung vonvornherein entzogen zu sein scheinen: „die Freiheit wird durch die Gleichheit erschlagen." Es handelt sich offensichtlich um ewig-menschliche, also überhistorische „Werte", die von Rousseau, Robes-

184

Page 185: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

pierre usw. verletzt werden. Tatsächlich besitzen die Schulbuchauto-ren jedoch eine ganz konkrete inhaltliche Vorstellung von diesen Be-griffen, wie aus ihrer Anwendung — beispielsweise der VerurteilungRousseaus, der republikanischen Verfassung von 1793 usw. — unzwei-deutig hervorgeht. Rousseau wird in den Schulbüchern nicht verur-teilt, weil er gegen Freiheit schlechthin sei — er wollte ja gerade Frei-heit verwirklichen —, sondern weil er darunter etwas anderes verstandals Voltaire, Locke und die Schulbuchautoren heute: Rousseau spürtedie verhängnisvolle Verbindung zwischen der Freiheitsvorstellung derAufklärung und der Freiheit der Kapitalisten, Arbeiter auszubeuten,und lehnte diese Freiheit ab. Eben deshalb verurteilen ihn die Schul-buchautoren, da sie die kapitalistische Form der Freiheit für die einzigdenkbare, für die natürliche Freiheit halten. So können sie Rousseauguten Gewissens vorwerfen, er wolle „die Freiheit" erschlagen.

Die Negation der Geschichte manifestiert sich auf jeder Schulbuch-seite in Begriffen, die im Grunde bestimmte gesellschaftliche Verhält-nisse ausdrücken, hier aber zu Bezeichnungen seinsgegebener Tatbe-stände verdinglicht sind (etwa ,Kapital'). Die Begriffslosigkeit ist alsogewissermaßen die Erscheinungsform der Ontologisierung kapitalisti-scher Verhältnisse. Sie führt notwendigerweise zur Unfähigkeit, revo-lutionäre Veränderungen zu erfassen. Es sei nur an die kläglich ge-scheiterten Versuche der Schulbuchverfasser erinnert, die Ursachen„neuer Ideen", der Französischen Revolution, der industriellen Revo-lution und der Entstehung der Arbeiterklasse anzuführen.

In dieser Lage bleibt den Autoren nichts anderes übrig, als sich inPersonalisierungen und Psychologisierungen zu flüchten.

Grundannahme ist auch hier die Abstraktion von der realen Ge-schichte: die Vorstellung einer überhistorischen, ewiggleichen Men-schennatur — die Hypostasierung des bürgerlichen Individuums zumMenschen schlechthin (Anthropologisierung). Auch hier treten dieSchulbücher in die Fußstapfen der frühbürgerlichen — damals aller-dings noch progressiven, weil antifeudalen! — Ideologie: schon beiLocke war der bürgerliche Privateigentümer der ,natürliche' Mensch.

Kennzeichen dieses mit Seinesgleichen in Konkurrenz stehendenbürgerlichen Privateigentümers (insbes. des Kapitalisten) ist jener in-dividuelle Egoismus, den die Schulbuchautoren infolge ihres verding-lichten Bewußtseins flugs zur menschlichen Wesensnatur erklären. Wirerinnern uns an die oben zitierte Stelle aus einer Didaktik, wo denSchülern unumwunden gegenüber der anderslautenden ArgumentationRousseaus eingeredet wird, „daß es zum Wesen des Menschen gehöre,zunächst an sich zu denken" (Schroedel/Schöningh VII , S. 4 7 ) . Hierhandelt es sich — wie aus dem Kontext, nämlich der Verurteilung derRousseauschen Gleichheitsforderungen, unzweifelhaft hervorgeht — um die offene Rechtfertigung der kapitalistischen Konkurrenzgesell-schaft, gegen die sich Rousseau wandte, mit Hilfe ihrer Erhebung inden Bereich der Naturnotwendigkeit. Die Anthropologisierung ist alsoein bestimmtes Moment der Ontologisierung. Wie diese die historisch

185

Page 186: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

entstandenen und durchaus aufhebbaren kapitalistischen Verhältnisseals ,Natur' erscheinen läßt, verabsolutiert jene den Menschen der ka-pitalistischen Gesellschaft zum natürlichen Menschen, zum Menschenschlechthin. Von diesem Standpunkt aus kann politischer Radikalis-mus, der sich gegen eben diese mit dem Glorienschein des Natürlichenumhüllten gesellschaftlichen Verhältnisse wendet, nur als gefährlicheVerblendung abgewiesen werden. Der gesellschaftliche Status quo istgegen jede grundlegende Veränderung gefeit. Wer wollte sich an derNatur vergreifen? !

Personalisierung, Psychologisierung, Verabsolutierung der Ideen(auf die dann ,Geschichte' reduziert wird: der Mensch bleibt wesens-gleich, nur seine Ideen und die Ausprägung bestimmter Wesenszüge,wie Machttrieb usw., verändern sich) resultieren genauso aus diesermethodischen Grundkonzeption wie Totalitarismus-, Sozialpartner-schafts- und Schichttheorie (denen allen die Abstraktion von demkonkreten, historisch-gesellschaftlich bestimmten Lebensprozeß derMenschen, insbesondere von dem Verhältnis der Menschen zu denobjektiven Bedingungen ihrer Arbeit gemeinsam ist) sowie das Unver-ständnis gegenüber der Marxschen Theorie. Die Grundlage ist die „Ent-geschichtlichung des Gesellschaftsbildes."1

B. Verabsolutierung von Ideen

„Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendigeSublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren . . . Lebenspro-zesses. Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie unddie ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nichtlänger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, siehaben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion undihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen entwickeln mitdieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Den-kens." (Marx/Engels)2

Über die eigentümliche Behandlung der menschlichen Vorstellungenals ihrer Entstehung nach übergesellschaftliche Phänomene, die nuraus anderen Ideen erklärt werden könnten, ist hier schon einiges gesagtworden. Die Unzulässigkeit der Annahme, es gäbe eine „reine Imma-nenz ideeller Abläufe"3 liegt auf der Hand, wenn man sich nur derTatsache vergewissert, daß es eine durchgängige historische Konti-nuität von Ideen gar nicht gibt. Die italienische Renaissance besannsich auf die Antike und legte den mittelalterlichen Klerikalismus, derdie anthropozentrische Philosophie der Antike weitgehend erstickthatte, beinahe über Nacht ad acta. Woher dieser plötzliche Umbruch,diese Rückbesinnung auf fast Verschollenes in der Geschichte desmenschlichen Denkens? Warum ausgerechnet in den norditalienischenStädten und zu dieser Zeit? — Diese Fragen stellen, heißt, die Vorstel-

186

Page 187: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

lung einer reinen Immanenz ideeller Abläufe ablegen und sich einerwissenschaftlichen Erklärung zuwenden. Wenn es nicht den antikenIdeen immanent sein konnte, während des Hochfeudalismus großen-teils in Vergessenheit zu geraten und mit dem Aufschwung der Han-delsbourgeoisie in Norditalien seit dem 13. Jahrhundert neue Bedeu-tung zu erlangen, dann muß dieser Ideenumbruch etwas mit den ge-wandelten gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun haben — in diesemFall mit dem ökonomischen und politischen Aufstieg der norditalieni-schen Handelsbourgeoisie. Tatsächlich hat es etwa in Deutschland, woes in dieser Zeit ein relevantes Bürgertum gar nicht gab, auch keinedem Nachbarland vergleichbare Renaissance gegeben. Derartige Zu-sammenhänge müssen einem Geschichtsbewußtsein äußerlich bleiben,das gerade durch die Abstraktion von der realen Geschichte gekenn-zeichnet ist, der Abstraktion vom materiellen Lebensprozeß der kon-kreten gesellschaftlichen Individuen. Diese Abstraktion ist eine dop-pelte: zum einen die Abstraktion des bürgerlichen Bewußtseins vonder gesellschaftlichen Genesis und Funktion vergangener Ideen, zumandern die Blindheit des abstrakten bürgerlichen Bewußtseins gegen-über der eigenen gesellschaftlichen Genesis und Funktion.

Da sich bürgerliche Geschichtswissenschaft als unabhängig von ih-rer materiellen Grundlage versteht und die gesellschaftliche Form derArbeit als immergleich, naturgegeben auffaßt (Identität von Ontolo-gisierung und Idealisierung), muß sie Geschichte „nach einem außerihr liegenden Maßstab" schreiben; „die wirkliche Lebensproduktionerscheint als urgeschichtlich, während das Geschichtliche als das vomgemeinen Leben Getrennte, Extra-Überweltliche erscheint. Das Ver-hältnis der Menschen zur Natur ist hiermit von der Geschichte ausge-schlossen . . . " Sie kann „daher in der Geschichte nur politischeHaupt- und Staatsaktionen und religiöse und überhaupt theoretischeKämpfe sehen . . . und (muß) speziell bei jeder geschichtlichenEpoche die Illusion dieser Epoche tei len." 4

C. Personalisierung

Die Untersuchung der Texte im vorhergehenden Kapitel hat gezeigt,daß die Schulbuchautoren immer wieder dazu tendieren, den „großenMännern" als Gestalter der Geschichte die maßgebliche Rolle zuzu-schreiben. Die „Darstellung historischer Sachverhalte an ,großen Per-sönlichkeiten', die nach einem Wort des preußischen Historikers Hein-rich von Treitschke ,Geschichte machen '" 5 , wird im folgenden als Per-sonalisierung bezeichnet. Bevor wir auf die Herkunft, Funktion und Be-wertung dieser Art von Geschichtsbetrachtung eingehen, sollen ihre un-terschiedlichen Ausdrucksformen noch einmal kurz dargestellt werden.

Die extremste Form der Personalisierung finden wir dort vor, woder geschichtliche Vorgang unmittelbar als Produkt der autonomen

1 8 7

Page 188: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Handlung und Leistung eines einzelnen Menschen erklärt wird.„Zugleich erstand aus dem innerlichen Erlebnis eines unbekannten Mönches

eine religiöse Bewegung . . . " (Klett III)„Überall im Lande richtete Robespierre Revolutionstribunale ein . . . Nach

dem Tode Robespierre nahm der Terror ein Ende." (Diesterweg II)„Ihm (Lenin, Anm. d. Verf.) gelang es, die . . . Massen gegen die Regierung

aufzuwiegeln." (Schroedel/Schöningh V)Die großen Persönlichkeiten, ob sie nun je nach dem politischen

Standort der Schulbuchautoren positiv oder negativ gezeichnet wer-den, handeln scheinbar völlig unabhängig von den politischen, sozialenund ökonomischen Bedingungen ihrer Zeit. Ihre Fähigkeit, „Geschich-te zu machen", resultiert entweder aus der Transzendenz oder dem-agogischer Begabung, Rücksichtslosigkeit oder Raffinesse. Für dieSchüler — jedoch nicht nur für sie — ist nicht erkennbar, warum Lu-ther, Robespierre und Lenin wirklich geschichtswirksam werden konn-ten. Diese Form der expliziten Erklärung geschichtlicher Ursachen ausdem Handeln von Individuen findet sich noch relativ häufig, wird aberzunehmend durch differenziertere Varianten ersetzt. Eine solche dif-ferenzierte Variante von Personalisierung ist zum Beispiel, daß die gro-ßen Personen durch den gesamten Text hindurch als die handelndenKräfte auftreten, ohne daß sie ausdrücklich zu Urhebern und Gestal-tern der Geschichte ernannt werden. Da jedoch nur sie zielstrebig agie-ren — in positiver Gegenüberstellung zu den chaotischen Verhaltens-weisen der Massen —, entsteht der gleiche Eindruck wie in der erstenVariante.

In erster Linie wird beschrieben, was die Hauptakteure jeweils dach-ten, meinten, sagten und taten.

„Luther verkündete . . . " , „Luther sucht . . . " , „Luther vor Kaiser und Reich",„Wird Luther widerrufen? " (Klett IV)

„Mirabeau arbeitete einen Plan aus, . . . " „Robespierre träumte . . . " (Schroe-del/Schöningh IV)

„General Ludendorff rechnete sich für Deutschland Vorteile aus. . ." (KlettX)

„Kerenskij . . . wünschte einen baldigen Frieden ohne ,Annexionen und Kon-tributionen', konnte aber die Entente nicht dazu bewegen . . . " (Klett II)

Das Wirken der großen Persönlichkeit wird so entweder über die ge-samte Darstellung verteilt, oder es lösen sich mehrere große Männerim Auftritt ab, falls der Geschichtsablauf in seiner offensichtlichenKomplexität diese Reduktion ad absurdum führen würde (vgl.Franz. Revolution). Die Geschichte erscheint in beiden Fällen als einMachtkampf der „Großen" unter sich.

Die dritte Möglichkeit, geschichtliche Abläufe überwiegend aus demWirken der großen Männer zu erklären, bietet der biographische Ab-riß. Dieser wird fast immer durch ganzseitige Abbildungen markigerCharakterköpfe ergänzt. In diesen kürzeren oder längeren biographi-schen Ausführungen wird jeweils die Herkunft, der geistige und politi-sche Lebensweg der betreffenden Persönlichkeit beschrieben und eineCharakterisierung vorgenommen. Soweit es sich um die Entwicklung

188

Page 189: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

des politischen Bewußtseins handelt, wird erwähnt, durch welche Vor-gänger eine Inspiration stattgefunden hat (Robespierre durch Rous-seau, Marx durch Hegel, Lenin durch Marx etc.). Die ideologischeWirksamkeit dieser biographischen Darstellungen liegt vor allem darin,daß die Entwicklung der Persönlichkeit isoliert von ihren Beziehungenzur gesellschaftlichen Situation betrachtet wird. Die Entwicklung desDenkens und der Praxis von Luther, Marx und Lenin wird nicht be-griffen als Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Problemenihrer Zeit, wie wir zum Beispiel im Abschnitt „WissenschaftlicherSozialismus" (S. 151 ff.) exemplarisch gezeigt haben. Die Fakten, dieetwas darüber aussagen konnten, warum es z. B. Marx möglich war,das Verhältnis von Proletariat und Bourgeoisie zu bestimmen und sichals Bürger auf die Seite des Proletariats zu stellen, fehlen in diesen Bio-graphien. Letztere liefern allenfalls moralische Begründungen:

„Der Advokat Maximilien Robespierre . . . war einer der Abgeordneten desDritten Standes gewesen. Bald wurde er überzeugter Republikaner, der für denTod des Königs stimmte und die Politik der Girondisten bekämpfte. Er war Mit-glied der gesetzgebenden Nationalversammlung, dann des Konvents, der PariserKommune und vor allem des Wohlfahrtsausschusses. Bald war er in den Ruf des,Unbestechlichen' gekommen. Er blieb unberührt von menschlichen Gefühlenund blind für den farbigen Glanz des Lebens. Tugend war eines seiner Lieblings-worte." (Schroedel/Schöningh IV)

Dieses Zitat verdeutlicht die Vorgehensweise der Schulbücher inexemplarischer Weise: Indem die Entwicklung Robespierres abge-trennt wird von der Entwicklung der revolutionären Situation inFrankreich, erscheinen die verschiedenen Stadien seiner individuellenEntwicklung eher als Ausdruck einer unberechenbaren fanatischenPersönlichkeit, denn als Reaktion eines Mannes — mit allerdings klarerpolitischer Konzeption — auf die je veränderte historisch-gesellschaft-liche Situation. Die verkürzte Art und Weise, in der hier sein Eintretenfür die Hinrichtung des Königs erwähnt wird, suggeriert gewiß eher dieAnnahme, es habe sich hier um eine voluntaristische Entscheidung ge-handelt, deren Ursprung primär im Kopf des Robespierre zu suchensei; auf keinen Fall vermag diese Darstellungsweise einen Zusammen-hang herzustellen zwischen Robespierres Verhalten und der objekti-ven historischen Rolle des Königs und der Konterrevolution sowiederen Auswirkungen auf die Lage der Pariser Massen. Auch die Anfüh-rung des Beinamens „Unbestechlicher" trägt nicht zur Klärung bei,sondern isoliert die Person Robespierres vom Gesamtzusammenhangder historischen Konstellation. Die letzten beiden Sätze treiben dieMoralisierung und Individualisierung vollends auf die Spitze: Wer sichmit dem „farbigen Glanz des Lebens" am Versailler Hof des 18. Jahr-hunderts und der Lage der hungernden Massen zu dieser Zeit einmaleingehend beschäftigt hat, wird ziemlich schnell zu einer differenzier-ten Erklärung der Robespierreschen „Tugendhaftigkeit" gelangen, alssie in jenen Schulbuchphrasen zum Ausdruck kommt. Allzu eindeutigwird hier jedoch klar, daß Aufklärung über den Gang der Geschichtegar nicht intendiert ist, sondern die negative Mystifizierung einer

189

Page 190: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

historischen Persönlichkeit im Sinne des Geschichtsbildes der Verfas-ser.

Die bürgerliche Geschichtswissenschaft und Didaktik selbst versu-chen, die Personalisierung mit unterschiedlichen Argumenten zu be-gründen. In der Geschichtswissenschaft reicht der Bogen derjenigenHistoriker, die die großen Persönlichkeiten als Gestalter der Geschich-te verteidigen, vom Engländer Thomas Carlyle über Friedrich Nietz-sche, Heinrich von Treitschke bis zu Theodor Schieder6 und GoloMann 7 . Die Begründungen für diese Auffassung liegt bei Carlyle z. B.in der „intellektuellen Überlegenheit" und den „moralischen Qualitä-ten" 8 der großen Männer. Dabei ist interessant, daß der gleiche Histo-riker ungewollt zugibt, daß „erst das Bedürfnis nach Heldenverehrung,Helden' schaffe" 9 . Der Frage, wodurch dieses Bedürfnis gewecktwird, ist diese Geschichtswissenschaft jedoch noch nicht nachgegan-gen. Die Begründungen anderer Historiker für die Notwendigkeit despersonalisierenden Geschichtsbildes liegen auf der gleichen Ebene wiebei Carlyle: die großen Persönlichkeiten werden zu Persönlichkeitendurch ihre individuellen Fähigkeiten oder höhere Berufung; sie sindnotwendiger Gegensatz zu den Massen, denen sie als immerwährendesVorbild im positiven oder negativen Sinn vor Augen stehen sollen.

An diese Vorstellungen knüpfen auch die bis heute noch gültigenDidaktiken und Richtlinien der meisten Bundesländer an. Die großePersönlichkeit und ihr Wert für die Geschichte und Erziehung in derGegenwart, wird in ihrem Einfluß auf die „charakterliche Formungund sittliche Haltung" 1 0 des Jugendlichen gesehen. Diese allgemeingehaltenen Formulierungen müssen im Zusammenhang mit den inhalt-lichen politischen Forderungen der Didaktiken gesehen werden, wenndie ihnen zugrunde liegenden Wertvorstellungen überprüft werden sol-len. So soll der Geschichtsunterricht nicht nur Verständnis vorberei-ten „für die außenpolitische Wirklichkeit, sondern auch für die innen-politische, in Besonderheit für die demokratische Staatsform, diedurch die Rivalität politischer Kräfte gekennzeichnet ist, die die Aus-einandersetzung zwischen diesen, also den Kampf um Macht, zur Vor-aussetzung hat, die zugleich aber erlaubt, ungefährdet am politischenMachtkampf teilzunehmen und sich für die eigenen Ordnungsvorstel-lungen einzusetzen" 1 1 . Daß allerdings der personalisierende Ge-schichtsunterricht in hervorragender Weise dazu geeignet ist, undemo-kratisches und autoritätsfixiertes Denken zu konstituieren, habenFriedeburg und Hübner bereits 1964 in einer Auswertung von Schüler-befragungen gezeigt. Die Didaktiken versuchen, die Personalisierungunter anderem auch mit den Forschungsergebnissen der älteren Ent-wicklungspsychologie zu legitimieren. Diese hatte die biologische Ent-wicklung des Kindes und Jugendlichen in Phasen eingeteilt unddamit auch die Entwicklung des Geschichtsbewußtseins für jedePhase festgelegt. 1 2 So wird einem Dreizehnjährigen nicht zugetraut,„staatliche Ordnungen, nationale und politische Zusammenhänge"1 3

erkennen zu können. Deshalb seien, „entsprechend der seelischen

190

Page 191: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Eigenart und Interessenlage des Schülers . . . die geschichtlichenTriebkräfte und Bedeutsamkeiten am handelnden Menschen, insbe-sondere an der bedeutenden Persönlichkeit, die ihre Epoche reprä-sentierte und den Gang des Geschehens entscheidend beeinflußte,einsichtig zu m a c h e n " 1 4 .

Diese Phasen- und Stufentheorie gilt jedoch inzwischen als durchdie Ergebnisse der bürgerlichen Sozialisationsforschung selbst wider-legt, da sie von falschen Prämissen ausging und darum zu falschenSchlüssen gekommen ist. Dieser älteren Psychologie lag ein idealisti-sches Entwicklungsmodell zugrunde, das Entwicklung als Entfaltungvon Anlagen begriff, die im Kinde bereits keimhaft angelegt sind undsich nur noch in bestimmten Entwicklungsphasen schubweise ent-wickeln. Demgegenüber hat die neuere Sozialisationsforschung festge-stellt, daß postnatale soziokulturelle Faktoren die Entwicklung desIndividuums wesentlich stärker beeinflußen als pränatale. 1 5 Eine Ent-wicklungspsychologie, die die schlechte Praxis zum Ausgangspunktihrer Untersuchung macht, indem sie die Bestandsaufnahme zur an-thropologischen Konstante erhebt, trägt nur dazu bei, eben dieseschlechte Praxis zu perpetuieren. Die Hervorhebung des Individuums,der großen Persönlichkeit, forderte nicht nur deren Gegensatz zu densozialen Gruppen, Schichten und Klassen, sondern implizierte die Dis-kriminierung der Klassen, die die unterdrückte Mehrheit des Volkesausmachten. Der Gegensatz von Individuum und Masse mit der ent-sprechenden Bewertung bestimmt auch den Demokratiebegriff. De-mokratie wird dann nicht mehr im eigentlichen Sinne des Wortes(Volksherrschaft) verstanden, sondern auf ein System reduziert, indem gewählte Repräsentanten die politischen Entscheidungen treffen,deren Kontrolle durch die Bevölkerung — die der Objektrolle verhaf-tet bleibt — letztlich unmöglich ist. Der gesamte Bereich außerhalbder politischen Willensbildung — Wirtschaft, Arbeitswelt —, der daswirkliche Leben entscheidend bestimmt, bleibt ohnehin außerhalbdessen, was hier unter Demokratie verstanden wird.

Die Personalisierung im Geschichtsunterricht bleibt natürlich nichtohne Auswirkung für das politische Bewußtsein der Schüler. Die Fixie-rung auf die scheinbar übermächtigen historischen und politischenAutoritäten verbaut den Einblick in die differenzierte gesellschaftlicheStruktur. Die Bedingungen, die es erst ermöglichen, daß Persönlichkei-ten hervortreten, sind nicht durchschaubar, denn sie werden „als sub-jektive Motive historisch Handelnder gefaßt, so daß Motiv und Ergeb-nis in der historischen Persönlichkeit zusammentreffen"1 6 .

Praktische Konsequenz dieser Personalisierung ist, daß die Teilnah-me der Mehrheit des Volkes an den politischen Entscheidungen aufdie Stimmabgabe am Wahltag reduziert bleibt. Bei einer Meinungsum-frage waren u. a. 66 % der Befragten der Ansicht, daß „die ganze Poli-tik (manchmal) so kompliziert (ist), daß jemand wie ich gar nicht rich-tig versteht, was vorgeh t" 1 7 . 64 % meinten: „Leute wie ich haben sooder so keinen Einfluß darauf, was die Regierung t u t " 1 8 .

191

Page 192: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

„Wer ,denen da oben' . . . als Folgen auch eines falsch konzipiertenGeschichtsunterrichts oder eines absichtlich so angelegten Geschichts-unterrichts Politik als Domäne überläßt und sie als spezialisierte undberufene Sachwalter relativ unkontrolliert wirken läßt, der wird zu-gleich mit Negation der eigenen Einflußmöglichkeiten jede Mitverant-wortung für das politische Geschehen leugnen und in den ,großenMännern' ein Alibi für seine eigene politische Fehlhaltung suchen undfinden." 1 9

Personalisierung dient also der Entpolitisierung der Bevölkerung,ihrer autoritären Fixierung auf die Mächtigen. Indem die Herrschaftder Persönlichkeit nicht auf ihre gesellschaftlichen Bedingungen zu-rückgeführt wird, erscheint auch keine Möglichkeit für die Beherrsch-ten, diesen Zustand zu ändern und wirkliche Volkssouveränität zu er-kämpfen. Die ideologische Bindung an die großen Männer dient alsoder Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Status quo und beläßtdie Demokratie im Stadium der bloß bürgerlichen Demokratie. Ausder bisherigen Argumentation darf nicht gefolgert werden, daß diePersönlichkeit in der Geschichte keine Rolle spiele. Die Kritik zielteauf die Ansicht, daß die großen Persönlichkeiten die Schöpfer der Ge-schichte sind, d. h. faktisch aus dem passiven Material „Masse" die Ge-schichte gestalten.

Die wirkliche Bedeutung der Persönlichkeit ist gerade aus ihremVerhältnis zur sozialen Basis zu erklären. Damit das Individuum politi-sche Problemstellungen und Lösungsmöglichkeiten formulieren kann,muß die Voraussetzung erfüllt sein, daß eine bestimmte Übereinstim-mung zwischen seinen Vorstellungen und den Bedürfnissen und Inter-essen relevanter sozialer Gruppen und Klassen besteht. Diese Auffas-sung wird auch durch die Fakten belegt, die unsere Geschichtswissen-schaft zutage fördert. Marx hätte nichts über das Verhältnis von Prole-tariat und Bourgeoisie und die geschichtliche Bedeutung dieses Ver-hältnisses sagen können, wenn diese beiden Klassen sich nicht alsreale, gesellschaftsbestimmende Kräfte herausgebildet hätten. SeineKritik der politischen Ökonomie konnte nur deshalb bei großen Tei-len der Arbeiterbewegung auf fruchtbaren Boden fallen, weil er mitihr die Theorie ihrer möglichen Interessenvertretung formulierte.Luthers Kritik hätte keine Wirksamkeit erzielen können, wenn er da-mit nicht die sozialpolitischen Interessen aller vom Papsttum geschä-digten Klassen ausgedrückt hätte. Die gleiche Argumentation gilt — wie gezeigt wurde — für Männer wie Robespierre oder Lenin und sieließe sich auch für Bismarck, Hitler usw. als richtig erweisen.

Die Rolle der politischen Führerpersönlichkeit beschränkt sich je-doch nicht darauf, nur reaktiv das auszudrücken, was relevante sozialeKräfte ohnehin wollen. Indem sie deren Wünsche und Interessen for-muliert, Gegner und Bundesgenossen, Ursachen und Ziele benennt,kann sie deren Mobilisierung vorantreiben, umgekehrt aber auch zuderen Irreführung beitragen.

Hiermit sei nur ein allgemeiner Rahmen abgesteckt, innerhalb des-

192

Page 193: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

sen man die Rolle der historischen Persönlichkeit differenzierter un-tersuchen müßte, als dies in den von uns untersuchten Schulbücherngeschieht. Damit soll keineswegs einer Auffassung der völligen Bedeu-tungslosigkeit der historischen Persönlichkeit das Wort geredet wer-den. Im Gegenteil — erst aus dieser hier angedeuteten Perspektive isteine wirkliche Analyse der Rolle des Individuums in der Geschichtemöglich. Eine solche Verfahrensweise wäre allerdings der hier kritisier-ten diametral entgegengesetzt: Statt das übermächtige Individuum vonvornherein zu hypostasieren, um von hier aus alle Bewegungen dermenschlichen Geschichte ,abzuleiten' (bzw. zurechtzustutzen), müßteeine solche Geschichtsbetrachtung gerade ansetzen an den konkretenBewegungen der jeweiligen historischen Situation, um unter Berück-sichtigung aller sozialökonomischen, politischen und kulturellen Fak-toren die Funktion und wirkliche Bedeutung der historischen Persön-lichkeit zu bestimmen. Indem die Entscheidungsfreiheit der histori-schen Persönlichkeit nicht mehr als voluntaristische Setzung begriffenwird, sondern als jeweils mehr oder weniger sinnvolles Planen undRealisieren der historisch konkreten Möglichkeit (die immer eine be-grenzte ist), kann der Anteil von einzelnen Personen an der Realisie-rung historischer Möglichkeit sehr viel präziser erkannt, gewürdigtoder kritisiert werden.

Eine mögliche Identifikation mit der historischen Persönlichkeit hättedann ganz anderen Charakter als den vom bisherigen Geschichtsunter-richt intendierten, indem sie sich nicht mehr über irrationale, psychi-sche Instanzen vermittelte, sondern über den Kopf. Abschließend seihier Klaus Bergmanns Zusammenfassung der Kritik am personalisie-renden Geschichtsunterricht zitiert: „Ein solcher Geschichtsunterrichtbirgt, indem er Geschichte als das Entscheidungs- und Handlungsfeldübermächtiger Subjekte darstellt und gesellschaftliche und ökonomi-sche Prozesse biologisch auflöst, folgende Gefahren:

1. Er vermittelt Politik als Domäne von berufenen Spezialisten, alsGeschäft dazu berufener Profis, kann zu einer Identifikation mit denHerrschenden führen und eine unreflektierte Untertanengesinnung be-günstigen und dauernd reproduzieren.

2. Er wirkt einer Resignations- und fatalistischen Haltung in poli-ticis nicht entgegen, fördert sie eher und ermöglicht Leugnung undVerdrängung einer Mit-Verantwortlichkeit.

3. Er lehrte Geschichte und Politik sehen als Feld eines politischenDarwinismus, auf dem nur das Bedeutung hat, was sich durchgesetztund Erfolg hat.

4. Er verhindert den Blick auf gesellschaftliche Funktionszusam-menhänge und auf den Selbstlauf dieser gesellschaftlichen und wirt-schaftlichen Prozesse und damit auf wichtige systemimmanente Struk-turmomente, die historisch-politisches Handeln fremdbestimmenkönnen.

5. Er fördert und verstärkt ein undifferenziertes Denken, das sich inpauschalen Schwarz-Weiß-Kontrastierungen, in der stereotypen Re-

193

Page 194: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

produzierung einfachster sozialer Ordnungsschemata erschöpft.6. Er löst historische und politische, gesellschaftliche und wirt-

schaftliche Prozesse durch Kategorien des privaten Lebens auf undverfehlt damit Historisch-Politisches.

7. Er entpolitisiert — soweit er ,große Wohltäter' isoliert insZentrum stellt — Geschichte.

8. Er verstärkt ein Geschichtsbild und ein politisches Bewußtsein,die beliebig manipulierbar sind: Vorbilder und Leitbilder sind aus-tauschbar, totale Entmündigung ist eine unschwer anzielbare und er-reichbare Konsequenz.

9. Er fördert ausgerechnet bei Kindern der Unterschicht, die vonihrem sozialen und familiären Milieu der ohnehin für einfache sozialeDeutungsmodelle mit stark fatalistischer Tendenz (,die da oben' — ,wir hier unten') anfällig sind, ein personalisierendes Deutungsschema,zumal die schichtenspezifische Sprache der Unterschicht von ihrerStruktur her die Rezeption und den Gebrauch dieses einfachen undscheinbar plausiblen Deutungsschemas historisch-politischer Sachver-halte noch in besonderem Maße begünstigt."2 0

D. Schichttheorie

Wir haben oben gezeigt, daß bürgerliche Geschichts- und Gesellschafts-wissenschaft nicht in der Lage ist, den Grundwiderspruch von Lohn-arbeit und Kapital im Kapitalismus zu erkennen. Da ihre Betrachtungder Oberfläche, der Erscheinungsebene der Gesellschaft verhaftetbleibt, begreift sie die Gesellschaft als Summe qualitativ gleicher, nurquantitativ voneinander unterschiedener Individuen. Die sozialeStruktur einer Gesellschaft wird also je nach der quantitativ-statisti-schen Häufigkeitsverteilung bestimmter Merkmale wie Berufstätigkeit,Einkommen, Bildung, Statusselbsteinschätzung oder Rollenverteilungin Form einer hierarchisch angeordneten Schichtungspyramide darge-stel l t . 2 1 Bürgerliche Schichtkonzepte zur Analyse der Sozialstrukturder BRD sind immanenter Theoriebestandteil in den von uns unter-suchten Schulgeschichtsbüchern:

„Die Arbeitnehmer, die zur bei weitem stärksten Schicht wurden, sind alssoziales Gebilde sehr differenziert . . . Lohngefälle . . . Grenzen zwischen den,Klassen' weithin verwischt . . . soziale Aufstiegs- und Abstiegsprozesse . . . daßwir in den meisten Industriestaaten von einer .nivellierten Mittelstandsgesell-schaft' sprechen können." (Schroedel III, S. 106)

Im Rahmen der angesprochenen Schichtungstheorie wird einesozialstatistische Pyramide aufgebaut, derzufolge es ein Oben und Un-ten, Arm und Reich, hohe und niedrige Einkommen gibt. Das Modellergibt also durchaus ein partiell richtiges Bild der gesellschaftlichenRealität: die Masse der abhängig Arbeitenden wird — mit in sich starkdifferenzierter Sozialstruktur — als „stärkste Schicht" begriffen, überdie sich eine relativ breite Mittelschicht und eine zahlenmäßig kleine

194

Page 195: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Oberschicht erhebt. Aber diese Schichtungspyramide beschreibt nurdie Oberfläche der Gesellschaft: Es läßt sich nämlich nachweisen,daß die Einkommensverteilung Erscheinungsform zugrunde liegenderVerhältnisse ist. Die Basis ist das fortwährend sich reproduzierendeKapitalverhältnis: Dem ständigen Zwang zum Wiederverkauf derArbeitskraft entspricht auf der anderen Seite die ständige Vergrö-ßerung des Kapitals. Auf dieser Grundlage ist die Verteilung derEinkommen zwischen Lohnarbeitern und Kapitalisten zu ent-wickeln, die im einzelnen von dem jeweiligen Kräfteverhältnis zwi-schen den beiden Klassen modifiziert wird. Wenn bürgerliche Wis-senschaft umstandslos bei den Individuen ansetzt, anstatt auf denzugrunde liegenden Klassengegensatz zurückzugehen, dann sitzt sieungewollt dem realen Schein der Gleichheit von Warenbesitzern auf,wie er sich im Arbeitsvertrag zwischen Lohnarbeiterindividuum undKapitalistenindividuum tatsächlich dem ersten Blick darbietet. Eswird nicht begriffen, daß rechtliche Gleichheit und Ungleichheit im Produktionsprozeß sich gegenseitig bedingende Momente kapitali-stischer Produktion sind. (Vgl. S. 243. )

Historisch entspricht die individualistisch-elemantaristische Betrach-tungsweise dem Konkurrenzprinzip der klassisch-liberalistischen Öko-nomie seit Adam Smith, demzufolge aus der individuellen Konkurrenzprinzipiell gleicher Warenproduzenten ein allgemeines, krisenfrei-har-monisches Interessengleichgewicht ents teht . 2 2 ökonomisch-sozialeProzesse werden nur im Verhältnis von Individuum und Natur begrif-fen, die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zueinander imProzeß der Aneignung der Natur hingegen nicht erfaßt. Die Sozialbe-ziehungen der Menschen erscheinen als mehr oder weniger zufälligeinterpersonelle Beziehungen, nicht aber als Resultat sozialer Klassen-beziehungen im Prozeß der Produktion und Reproduktion vergesell-schafteten menschlichen Lebens.

Im zweiten Teil des zitierten Satzes aus dem Schulbuch (SchroedelIII) wird das Schichtungsproblem aus der statischen Momentaufnah-me herausgeführt: Die sozialen Mobilitätsprozesse dynamisieren dieSozialbeziehungen und verwischen die Grenzen zwischen den ,Klas-sen'. Die Schulbuchautoren verwenden den Begriff der Klasse (wennauch in Apostrophierung), kennzeichnen damit grundlegende Interes-sengegensätze, lösen aber diese Begrifflichkeit im gleichen Satz wiederauf: Die sozialen Auf- und Abstiegsprozesse konstituieren das Bild ei-ner „nivellierten Mittelstandsgesellschaft". Die Theorie von der „ni-vellierten Mittelstandsgesellschaft" ist von dem einflußreichen konser-vativen Soziologen Helmut Schelsky in den 50er Jahren entwickeltworden, um den gesamtgesellschaftlichen Nivellierungsprozeß (sozialeMobilität) und die partielle Anhebung des Lebensstandards der Arbei-tenden („Wirtschaftswunder") zu beschreiben. Die Einebnung derKlassengegensätze in dieser Formel widerspricht der historischenRealität: Die Ungleichheit der Bildungschancen, die Ungleichheit inder Einkommens- und Vermögensverteilung und in den Lebenschan-

195

Page 196: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

cen generell (z. B. in der Gesundheitsversorgung, im Wohnungswesenusw.) deuten eher auf eine Weiterexistenz der Klassengesellschaft inanderem Gewände h i n ; 2 3 dies drückt sich auch aus in der wachsendenBereitschaft der Arbeiterklasse in allen kapitalistischen Staaten, fürihre Interessen zu kämpfen.

Wir haben also im Uberblick zu begründen versucht, warum gesell-schaftliche Theorien, die als Schichtungstheorien konzipiert sind, dasWesen einer je konkreten Gesellschaftsformation nicht erkennenkönnen. Nach dem Vorbild der Theorien bürgerlicher Soziologie ent-wickeln die Schulbuchautoren eine sozialstrukturelle Schichttheorie,die als „Ideologie der von der Häufigkeitsverteilung sozialer Merkmaleabzuleitenden sozialen Schichtung der Bevölkerungsmitglieder"2 4

charakterisiert werden kann. Die Verabsolutierung der Distributions-ebene gegenüber der Sphäre der materiellen Produktion, die mehroder weniger zufällige Auswahl von Häufigkeitsmerkmalen und dieauf der Grundlage rein subjektiver Elemente (die Statusselbsteinschät-zung) vorgenommene Schichtungshierarchie machen den falschenCharakter aller Varianten aus. Der Rekurs auf subjektive Faktoren derEinschätzung der eigenen Soziallage (Fragebogentechnik) vergißt, daßdas Bewußtsein der Befragten nicht mit deren wirklicher Soziallageübereinstimmen muß, sondern Resultat gesellschaftlicher Manipu-lation bzw. falschen Bewußtseins (Ideologie!) sein kann. Auf Grundsolcher — durch die Fragestellung bereits im Ergebnis weitgehend fest-gelegten — Forschungsweisen kommen G. Gallup und andere in einerempirischen Untersuchung von 1939 zu dem Ergebnis, daß sich 88 % der Befragten zur Mittelklasse zählten, nur 6 % hingegen sich jeweilsals Angehörige der unteren, bzw. oberen Klassen fühlten. In späterenUntersuchungen, z. B. der des amerikanischen Soziologen Centers von1940, hatte sich das Ergebnis im Verhältnis von Mittelklassen undUnterklassen auf Grund unterschiedlicher Fragebogenformulierungerheblich verändert: die Anzahl der Befragten, die sich zur Mittelklas-se rechnete, lag bei 43 %, die der Arbeiterklasse bei 51 %. Der Unter-schied beider Analysen bestand darin, daß Gallup zwischen unteren,mittleren und oberen Klassen wählen ließ, Centers hingegen wählteden Begriff der arbeitenden Klasse („working class") als eine möglicheAntwort . 2 5

Es ist also offensichtlich, daß die Methoden empirischer Sozialfor-schung in der bürgerlichen Soziologie der USA — im übrigen bis aufden heutigen Tag — von relativ willkürlichen theoretischen Begriffs-instrumentarien ausgehen. Die bürgerliche Soziologie in der BRD geht— wie bereits gezeigt — mit ähnlichen subjektivistisch-elementaristi-schen Methoden vor. Demgegenüber muß betont werden, daß esdurchaus eine Möglichkeit gibt, die Sozialstruktur nach objektivenKriterien zu analysieren. Eine solche Analyse der Sozialstruktur mußauf die Grundverhältnisse und die Entwicklungsformen des zu unter-suchenden gesellschaftlichen Gesamtsystems bezogen se in . 2 6 Derwirkliche Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung gesell-

196

Page 197: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

schaftlicher Verhältnisse gründet im Prozeß der Produktion und Re-produktion des vergesellschafteten menschlichen Lebens. In diesemProzeß gehen die Menschen bestimmte Beziehungen zueinander einund entwickeln ihre materiellen und ideellen Produktivkräfte.

In der kapitalistischen Klassengesellschaft bestimmt sich das grund-legende Bewegungsgesetz durch den Widerspruch zwischen der gesell-schaftlichen Produktion und der privaten Aneignung der Bedingungenund Ergebnisse des Produktionsprozesses. Der damit bezeichnetegrundlegende Interessenantagonismus von Lohnarbeit und Kapitalkennzeichnet die Hauptklassen dieser Gesellschaft: lohnabhängigeProduzenten und kapitalistische Produktionsmittelbesitzer. Die Stel-lung der Zwischen- oder Mittelklassen kann nur im Zusammenhangdes Grundwiderspruchs und dessen Entwicklung analysiert werden:die soziale Lage der Angestellten, Beamten, der wissenschaftlichen In-telligenz usw., kann daher nicht nach ihrer eigenen subjektiven „Sta-tusselbsteinschätzung" ermittelt werden, sondern resultiert aus ihrerStellung und Funktion im kapitalistischen Produktions- und Repro-duktionsprozeß. 2 7

Die bürgerliche Schichttheorie und ihre politisch-ideologische Funk-tion — auf dem Hintergrund realer Klassenauseinandersetzungen — be-stimmt sich in und durch ihre Auseinandersetzung mit der marxisti-schen Klassentheorie. Indem die verschiedenen Schichtkonzepte dietatsächlichen Sozialstrukturen durch subjektive oder andere willkür-liche, weil sekundäre, Merkmale verschleiern, besteht ihre objektivepolitische Funktion in der Verschleierung der Klassengegensätze.

E. Sozialpartnerschaftstheorie

In engem Zusammenhang mit der Schichttheorie und ihrer sozial-integrativen Funktion stehen weitere ideologische Varianten: die Plu-ralismustheorie und vor allem die Konzeption der Sozialpartnerschaft.Der Pluralismusbegriff hat seine Berechtigung in der Beschreibung derExistenz einer Vielfalt von Interessengruppen unserer Gesellschaft,leugnet aber zugleich die antagonistischen Interessenstrukturen auf ge-samtgesellschaftlicher Ebene. Pluralismus knüpft also — ähnlich wieder Schichtbegriff — an den Oberflächenerscheinungen objektiver ge-sellschaftlicher Prozesse an. Wie im Kapitel „Arbeiterbewegung" be-reits eingehend dargestellt wurde, wird mit dem Begriff des Pluralis-mus der Eindruck erweckt, als ob die verschiedenen politischen, so-zialen und weltanschaulichen Gruppierungen, darunter die Organi-sation der Lohnabhängigen und die der Unternehmer ebenso wie Kir-chen, Berufsverbände und andere Vereinigungen, alle auf der gleichenEbene lägen und die gleichen Chancen hätten, den politischen Willens-bildungs- und Entscheidungsprozeß zu beeinflussen. Die Geschichteder Arbeiterbewegung beweist, wie die ungeheure Konzentration und

197

Page 198: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Zentralisation des Kapitals seit 1870 in Deutschland immer zu einerentsprechenden politischen Konzentration der Macht — wenn auchsehr vermittelt über Parteien, Parlamente, Organisationen der Unter-nehmer, Staats- und Ministerialbürokratien — auf der Seite des Kapi-tals geführt hat. Pluralismus als der Wettstreit vieler Meinungen undInteressen ist jedoch nur möglich auf der Basis des bürgerlich-kapita-listischen Klasseninteresses und wird — wie die Abschaffung der De-mokratie von Deutschland 1933 bis Griechenland 1967 zeigt — nurgeduldet, soweit der Kapitalismus als System nicht gefährdet wird.Pluralismus erweist seinen ideologischen Stellenwert also in der Be-schränkung auf den bürgerlichen Pluralismus: dieser faktische „Mono-polpluralismus" (M. v. Brentano) der bürgerlichen Gesellschaft reali-siert sich in allen gesellschaftlichen Teilbereichen von der Wissenschaftbis zum Be t r i eb . 2 8

Während die Pluralismustheorie in den Schulbüchern mehr oderweniger im Zusammenhang mit der Herstellung des „Allgemeinwohls"auf der Grundlage eines „pluralistischen Interessenausgleichs" er-wähnt wird (vgl. z. B. Klett II, S. 184; Diesterweg III, S. 274 , S. 275 ;Schroedel III, S. 59 ; Klett II, S. 226 ) , wird die Konzeption der „So-zialpartnerschaft" als Instrument der Versöhnung in den Klassenaus-einandersetzungen stark hervorgehoben:

„Das heutige Unternehmertum geht mit neuen Maßstäben in die Betriebe hin-ein. Nicht mehr der persönliche Vorteil, sondern vor allem das Wohl des Betrie-bes ist entscheidend. Den Werktätigen behandeln sie als geachteten Mitarbeiter."(Diesterweg VI, S. 108)

In diesem Zitat wird die Fortschrittlichkeit des modernen Unter-nehmertums betont: im Gegensatz zum 19. Jahrhundert, wo der per-sönliche Vorteil im Betrieb vorherrschte, sei das heutige Unternehmer-tum vor allem auf das Wohl des Betriebes bedacht. Wie aber sehen die„neuen Maßstäbe" im Betrieb aus?

Der einzelne Arbeiter wird als „geachteter Mitarbeiter" geschätzt,d. h. man respektiert seine betriebliche Mitarbeit im Rahmen der ge-samtbetrieblichen Profitsteigerung. Die Produktionsbedingungen, dieden vielgeachteten Mitarbeiter zum Objekt des Arbeitsprozesses ma-chen, da er von einer realen Mitbestimmung ausgeschlossen ist, wer-den unkritisch als vorgegeben vorausgesetzt und damit auch der „per-sönliche Vorteil", d. h. der Profit des Unternehmers, der aus der An-eignung unbezahlter Mehrarbeit resultiert. Die Absolutsetzung der Un-ternehmerideologie bestimmt die inhaltliche Darstellungsweise derSchulgeschichtsbücher, wobei jeweils auf den entscheidenden Unter-schied des 20 . Jahrhunderts gegenüber den industriekapitalistischenAusbeutungsmethoden des 19. Jahrhunderts verwiesen wird. Dabeiwird von dem unleugbaren Tatbestand abstrahiert, daß die Grund-struktur kapitalistischer Produktionsweise noch heute voll erhaltenist. Das Problem der Demokratie, besonders der innerbetrieblichenDemokratie wird durch die Behauptung aus der Welt geschafft, in denwestlichen Ländern gäbe es keine soziale Frage mehr:

198

Page 199: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

„In Deutschland ist zur Zeit das Maß des Mitbestimmungsrechtes des Arbei-ters in der Fabrikleitung hart umstritten. Auch in England versucht man dieseFrage zu klären. Abschließend muß man feststellen, daß es in den westlichenLändern eine soziale Frage im Sinne von Marx und Engels nicht mehr gibt."(Diesterweg VI, S. 109)

Es zeigt sich gerade in den Auseinandersetzungen um die Mitbestim-mung zwischen Parteien, Gewerkschaften und Unternehmerverbän-den, daß die „soziale Frage im Sinne von Marx und Engels" noch kei-neswegs gelöst ist. Der Diskussion um die Mitbestimmung kommt imRahmen der Verwirklichung der vom Grundgesetz verlangten Demo-kratie (Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, sozialeDemokratie) eine hohe Bedeutung zu. Bisherige Mitbestimmungsmo-delle — vor allem in den 50er und den beginnenden 60er Jahren sahennicht einmal die Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit vor. De-mokratisierung meint in diesem Zusammenhang ein dreifaches:

1. Umfassende Information aller Beteiligten auf der Grundlage derTransparenz von Entscheidungsprozessen;

2. Kontrolle der Schaltstellen und Herrschaftsapparate, durch die je-weils Betroffenen selbst oder deren unmittelbar gewählten Interessen-vertreter;

3. Teilnahme an den Entscheidungsprozessen auf allen Ebenen zurDurchsetzung der eigenen Interessen.

Die hier umrissene Mitbestimmungskonzeption richtet sich nicht al-lein auf die Veränderungen von Herrschaftsformen, sondern auch de-ren Inhalte. Mitbestimmung darf deshalb auch nicht als ein isoliertesElement zur Durchsetzung betrieblicher Mitbestimmung angesehenwerden: über die unmittelbare Mitbestimmung im Bereich der mate-riellen Produktion hinaus muß die Stellung der Massen, die als „Volk"nach dem Grundgesetz der Souverän sein sollen, in der Gesamtgesell-schaft gestärkt werden; das bedeutet, Mitbestimmung als Strategie ge-samtgesellschaftlicher Demokratisierung muß alle gesellschaftlichenLebensbereiche erfassen.

Es ist bezeichnend, daß die Schulbuchautoren das Mitbestimmungs-problem als ein überholtes Problem betrachten. Sie reihen sich damitein in die große Schar der Unternehmerrepräsentanten, der Vertreterder Bundesregierung und der Massenmedien, die entweder Mitbestim-mungsforderungen für überflüssig halten — weil sie angeblich schonlängst verwirklicht sei — oder aber Mitbestimmung als Instrument derKapitalistenklasse (vgl. Biedenkopf-Gutachten!) einsetzen wollen. Eswurde bereits betont, daß der Kampf um die Mitbestimmung der Ar-beiterklasse nur ein Element im schrittweisen Kampf um die Erhal-tung und Erweiterung demokratischer Positionen ist. Die Kontrollegroßer Unternehmen darf nicht auf bloße Verbesserung der sozial-ökonomischen Lage der Arbeiter beschränkt bleiben, sondern mußüber den Einfluß auf die Verteilungssphäre (durch Lohn- und Tarif-politik) hinaus den Kampf um die Gestaltung der Produktionsbedin-gungen selbst - ihre Vergesellschaftung - führen. Mitbestimmungsfor-

199

Page 200: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

derungen sind daher nicht isolierter Teil ökonomischer Machtkämpfe,sondern zielen ab auf die Erweiterung der politischen Rechte der Mas-se der Lohnabhängigen. In diesem Zusammenhang sind auch die Kon-zepte einer „qualifizierten Mitbestimmung" einzuordnen, die von derparitätischen Besetzung der Aufsichtsgremien die Institutionalisierungeiner gewerkschaftlichen Gegenmacht erwarten. Die formale Gleich-stellung von Kapital und Arbeit widerspricht der realen Ungleichheit:die über 80 % der Bevölkerung umfassenden Lohnabhängigen werdenformal gleichgestellt mit den Repräsentanten des Kapitals, die bevöl-kerungsmäßig nur einen verschwindend kleinen Prozentsatz ausma-chen. Es zeigt sich an diesem Beispiel, daß die scheinbar ungeheuerprogressive Vorstellung von der „paritätischen Mitbestimmung" vomPrinzip der Demokratie, das gleiche Rechte voraussetzt, noch weitentfernt ist. Von einer realen Sozialpartnerschaft, wie dies die Ideolo-gen der herrschenden Klasse zu suggerieren versuchen, kann also ange-sichts der realen Machtverhältnisse in Betrieb und Gesellschaft keineRede sein. Eine Geschichtsdidaktik versucht deshalb, das Problem desobjektiven Interessenantagonismus auf die Ebene des freundschaftli-chen Miteinander zu verlagern:

„Wie bezeichnet man die Kapitalisten heute? Unternehmer, Arbeitgeber,,Sozialpartner'." (Klett VII, S. 21)

Die begriffliche Fassung der Sozialpartnerschaft stellt den Versuchdar, den realen Interessengegensatz durch eine ideologische Formelaus der Welt zu schaffen: die antagonistischen Klassengegner werdeneinfach zu Partnern erklärt. Daß die Interessen gegensätzlicher Natursind, zeigt sich in mehrfacher Hinsicht:

1. Für den Unternehmer bedeuten Löhne Kosten, die er möglichstniedrig halten muß, wenn er Profite erzielen und im Konkurrenz-kampf bestehen will. Für den Arbeiter und Angestellten dagegen be-deuten sie die Existenzgrundlage; er ist also, um seine elementaren Be-dürfnisse besser befriedigen zu können, auf höhere Löhne angewiesen.Bei jedem Lohnkampf und jedem Streik wird dieser Interessengegen-satz offenbar.

2. Der Unternehmer ist generell daran interessiert, bei möglichst ge-ringen Kosten möglichst viel aus der Arbeitskraft herauszuholen. Dasbetrifft die Kosten für sanitäre Einrichtungen und Sozialleistungenebenso wie die Fließbandgeschwindigkeit, die Lehrlingsausbildungund die eventuelle Entlassung von Arbeitskräften. Der Arbeiter undAngestellte dagegen ist an der Erhaltung seiner Arbeitskraft, an derSicherheit seines Arbeitsplatzes, an einer guten Ausbildung und an hu-manen Arbeitsbedingungen interessiert. Die hohen Zahlen der Unfälleam Arbeitsplatz, der Frühinvalidität und der Verletzung des Jugend-schutz- und Ausbildungsgesetzes sprechen hier eine deutliche Sprache.

3. Selbstverständlich liegt das Interesse des Unternehmers darin, daskapitalistische System, das ihm die Ausbeutung fremder Arbeitskraftund damit politische und gesellschaftliche Macht und soziale Privile-gien garantiert, aufrechtzuerhalten. Dagegen können Arbeiter und An-

200

Page 201: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

gestellte soziale Gerechtigkeit und Sicherheit und die freie Entfaltungihrer Persönlichkeit nur erreichen, wenn sie das System der Lohnar-beit überhaupt abschaffen.

Politisch setzte sich diese Ideologie in der Geschichte der BRD nachder Restauration des westdeutschen Kapitalismus und dem Abschlußder Klassenkämpfe um das Betriebsverfassungsgesetz ( 1 9 5 2 ) 2 9 all-mählich durch und wurde dann Mitte der 60er Jahre von Ludwig Er-hard in seinem Konzept der „Formierten Gesellschaft" ideologischüberhöht. Nach dem aus dem Obrigkeitsstaat übernommenen Muster„Wir sitzen alle in einem Boot" wurden ständisch-korporative Ge-meinschaftsideologeme entwickelt, die grundsätzliche Interessenge-gensätze zwischen verschiedenen sozialen Klassen und Gruppen leug-ne ten . 3 0 Karl Schillers „Konzertierte Aktion" war eine konsequente,wenn auch gemilderte Weiterentwicklung dieser Vorstellungen; sie ver-stärkte darüber hinaus das staatliche Gewicht im Konzert der Sozial-parteien zugunsten der Unternehmer. 3 1

Konfrontiert man nun die gesellschaftliche Realität der 3undesre-publik mit der „Sozialpartnerschaftsideologie", so zeigt sich: „Der in-haltliche Kern der Konzertierten Aktion kommt in den Zahlen zumAusdruck, die Schiller den Repräsentanten der Wirtschaftsverbändebei den ersten Gesprächen (nach dem Eintritt in die ,Große Koali-tion', d. Verf.) als Zielprojektionen der Bundesrepublik vorlegte. Nachdieser ,Wunschvorstellung' sollte 1967 das Volkseinkommen um3,1 %, die Löhne und Gehälter um 2,4 %, Einkommen aus Unterneh-mertätigkeit und Vermögen um 5,3 % und die nicht entnommenenGewinne um 22 % steigen . . . Auch die nicht entnommenen Gewinnefallen hierbei den Unternehmern zu, da sie in den Betrieben bleibenund deren Vermögenssubstanz erhöhen." 3 2 Die Erhöhung der Unter-nehmergewinne und die anteilsmäßige Erhöhung der Unternehmerein-kommen am Volkseinkommen, auf der anderen Seite die relative Sen-kung der Löhne und Gehälter (bezogen auf den Anteil am Sozialpro-dukt), das macht den materiellen Inhalt der Konzertierten Aktion aus.Ausdruck dieser objektiven Entwicklungstendenz ist die zunehmendeStreikbereitschaft unter der westdeutschen Arbeiterschaft. Septem-berstreiks, Chemiearbeiterstreiks und Metallerstreik (Württemberg)deuten an, daß große Teile des Kerns der Arbeiterklasse — besondersangesichts der supranationalen Konzernbildungen in Europa — ein Be-wußtsein von ihrer tatsächlichen Soziallage entwickeln und bereitsind, für diese Interessen praktisch einzutreten. Daran wird deutlich,daß die Sozialpartnerschaftsideologie durch die Arbeiter selbst nichtmehr anerkannt wird. Der konkrete politisch-ideologische Stellenwertder Sozialpartnerschaftsideologie läßt sich verdeutlichen am Beispielder jüngsten Tarifauseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften undUnternehmerverbänden. Von unternehmerfreundlichen Massenmedienz. B. wurde die Tarifpolitik der Gewerkschaften als „egoistisch", dem„Gemeinwohl abträglich" und als „übersteigert" bezeichnet. Demge-genüber muß festgestellt werden: Die im Frühjahr 1973 ausgehandelte

201

Page 202: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

8 1/2 %ige Lohnerhöhung bedeutet kaum mehr als eine 6 %ige Reallohn-erhöhung, da mit dem Ansteigen der Löhne auch die Sozialabgaben undSteuern progressiv steigen. Bezieht man die längerfristigen Laufzeitender Tarifverträge zudem auf die 6 1/2 %ige Inflationsrate, dann ergibtsich eine reale Senkung des Einkommens der Arbeiter — nicht nur re-lativ, bezogen auf den Anteil am Sozialprodukt, sondern auch absolut.Die bei oberflächlicher Betrachtung also ziemlich hoch erscheinendeLohnforderung von 11 1 / 2 % war deshalb keineswegs „übersteigert",sondern hätte gerade die gegebene materielle Lage der Arbeiter erhal-ten. Hinzu kommt die Tatsache, daß jede Lohnerhöhung im Kapitalis-mus von den Arbeitern und ihren Organisationen hart erkämpft wer-den muß, ihnen also nicht als Geschenk des mächtigen Kapitalpartnersgroßzügig gewährt wird. Die in der Öffentlichkeit weit verbreiteteVorstellung von der Lohn-Preis-Spirale, derzufolge fast ausschließlichdie hohen Lohnforderungen der Gewerkschaften für das Anheizen derInflation verantwortlich gemacht werden, bedarf also einer knappenErläuterung und Widerlegung:

1. Eine 10 %ige Lohnerhöhung zieht selbst nach der Rechnung desUnternehmers keine 10 %ige Kostenerhöhung nach sich, weil der An-teil der Lohnkosten an den Gesamtkosten relativ gering ist. D. h.:höchstens eine 2—3 %ige Preiserhöhung wäre gerechtfertigt; wennman — wie der Unternehmer — voraussetzt, daß die Profite um keinenPreis angegriffen werden dürfen.

2. Preissteigerungen beziehen sich primär auf die Bereiche der Kon-sumgüterindustrie, während die Preise im Produktionsgütersektor rela-tiv langsam steigen. Das bedeutet, daß die Lohnabhängigen ganz be-sonders zur Kasse gebeten werden, während die Unternehmer selbstrelativ verschont bleiben.

3. Schon bei gleichbleibenden Preisen steigen normalerweise die Pro-fite, nämlich durch Produktivitätssteigerungen, Rationalisierung e t c . 3 3

4. Während Lohnerhöhungen durch harte Kämpfe und gegen dasProtestgeschrei in den Medien der veröffentlichten Meinung, die jagrößtenteils in den Händen des großen Kapitals sind, durchgesetztwerden müssen, können die Unternehmer die Preise erhöhen, ohne ir-gend jemanden fragen zu müssen — und das tun sie dann auch ständig,weil sie damit ihre Profite leichter erhöhen können als z. B. durchLohnsenkungen, gegen die die Arbeiter kollektiv kämpfen würden.

5. Daß die gegenwärtige Verteilung der Einkommen und Vermögengerecht sei, wird niemand behaupten können. Die Lohnabhängigenaber können einen höheren Anteil am Sozialprodukt nur erkämpfen,wenn sie durchsetzen, daß die Löhne eindeutig schneller steigen alsdie Profite. Das setzt allerdings eine Mitbestimmung voraus, die ihnenauch maßgeblichen Einfluß auf die Preisgestaltung garantiert, sonstwälzen die Unternehmer — wie bisher — jede Lohnerhöhung durchPreissteigerungen auf die Massen ab, um ihre Profitrate zu halten.

202

Page 203: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

F. Totalitarismus-Theorie

„Die Behandlung des 20. Jahrhunderts im politischen und histori-schen Unterricht steht folgerichtig unter dem Zeichen der Totalitaris-mus-Theorie. Ihre Spuren und Modifikationen im Schulgeschichts-buch nachzuweisen, heißt im gewissen Sinne den archimedischen Punkt der Schulgeschichtsideologie gefunden zu haben, auf den alledidaktischen Bemühungen hinauslaufen."3 4

Die Totalitarismustheorie besagt in ihrer Kernthese, daß faschisti-sche und kommunistische Gesellschaftssysteme durch gemeinsame„totalitäre" Züge wesentlich gekennzeichnet sind.3 5 Auch faschisti-sche und kommunistische Parteien werden als „totalitäre" und „radi-kale" Parteien zusammengefaßt. Im ersten Teil dieses Buches wurdegezeigt, daß die Totalitarismustheorie große Teile der Schulbuchge-schichtsschreibung durchzieht. So wird sie auf die Darstellung derFranzösischen Revolution angewendet; die radikaldemokratische Pha-se der Revolution (die Jakobiner-Herrschaft) gilt in einigen Schulbü-chern als die erste totalitäre Herrschaft, Robespierre als der erste Ver-treter des Totalitarismus. Für den Untergang der Weimarer Republik machen die Schulbuchautoren die „radikalen Parteien von rechts undlinks" verantwortlich, beide werden als in gleicher Weise antidemokra-tisch dargestellt. Der deutsche und italienische Faschismus schließlichwird mit der Sowjetunion und den nach 1945 entstandenen sozialisti-schen Gesellschaften verglichen und unter dem Oberbegriff „Totalita-rismus" gleichgesetzt. Eine Didaktik benennt die Totalitarismustheo-rie explizit als Unterrichtsziel:

„Die Schüler sollen . . . durch einen Vergleich von Faschismus und Bolschewis-mus Wesensmerkmale des Totalitarismus erarbeiten." (Schroedel/SchöninghVIII, S. 67).

Die Totalitarismustheorie liegt nicht nur den Schulbüchern zugrun-d e . 3 6 Sie ist darüber hinaus offizieller Bestandteil der politischen Bil-dung in der Bundesrepublik. So existiert ein Beschluß der Kultusmi-nisterkonferenz aus dem Jahre 1962, mit dem „Richtlinien für die Be-handlung des Totalitarismus im Unterr icht" 3 7 erlassen worden sind.In diesen Richtlinien, die auch heute noch uneingeschränkt gültigsind, heißt es programmatisch:

„Die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus gehört zu den we-sentlichen Aufgaben der politischen Bildung unserer Jugend. Die Leh-rer aller Schularten sind daher verpflichtet, die Schüler mit den Merk-malen des Totalitarismus und den Hauptzügen des Bolschewismus unddes Nationalsozialismus als den wichtigsten totalitären Systemen des20. Jahrhunderts vertraut zu machen . " 3 8

Dieser Erlaß, der eine einzige, von Anfang an wissenschaftlich um-strittene Lehrmeinung für Lehrer zur einzig zulässigen erklärt, zeigtzugleich, wie die im Grundgesetz garantierte Lehr- und Meinungsfrei-heit in der Praxis vom Staat eingeschränkt wird.

Daß sich die Totalitarismustheorie in dieser Form nach wie vor in

203

Page 204: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

ministeriellen Erlassen und Schulbüchern findet, ist recht erstaunlich,wenn man die Haltung der neueren Gesellschafts- und Geschichtswis-senschaft in der BRD gegenüber der Totalitarismustheorie untersucht.Es zeigt sich nämlich, daß die bürgerliche Wissenschaft selbst die Tota-litarismustheorie in den letzten Jahren einer eingehenden Kritik unter-zogen hat, und sie weitgehend durch andere Gesellschaftstheorien er-setzt.

Die Totalitarismustheorie, die bereits in den 20er Jahren entstandenwar , 3 9 hat ihre eigentliche „Blütezeit" nach 1945 in der Zeit des Kal-ten Krieges erlebt. Zu Anfang der 50er Jahre wurden in den westlichenLändern — vor allem in den USA und der BRD — zahlreiche Schriftenüber den Totalitarismusbegriff verfaßt ; 4 0 die Totalitarismustheoriewurde in diesen Jahren in der bürgerlichen Wissenschaft als Theoriezur Analyse der sozialistischen Staaten allgemein anerkannt. Paralleldazu setzte sie sich auch im Gedankengut und Sprachgebrauch der Po-litiker, der Massenmedien und der politischen Bildung durch. Die To-talitarismustheoretiker der 50er Jahre behaupteten in ihrer Mehrheit,daß Faschismus und Kommunismus grundsätzlich wesensverwandt sei-en. An dieser These erhob sich im Laufe der 60er Jahre in der Wissen-schaft der westlichen Staaten zunehmend Kritik. Die Kritiker argu-mentierten von sehr verschiedenen wissenschaftstheoretischen und po-litischen Positonen, stimmten aber darin überein, daß das Totalitaris-musmodell nicht in der Lage sei, die gesellschaftliche Wirklichkeit dersozialistischen Länder in ihrer Gesamtheit und Entwicklung zu erfas-sen. Heute kann man davon ausgehen, daß die „klassische" Totalitaris-mustheorie der 50er Jahre innerhalb der Wissenschaft der westlichenLänder als widerlegt bzw. unbrauchbar gilt, sei es, daß der Totalitaris-musbegriff nur noch auf eine historisch begrenzte Phase der sowjetrus-sischen Geschichte, den „Stalinismus", angewandt w i r d 4 1 , sei es, daßman die sozialistischen Länder zusammen mit den kapitalistischen un-ter den Begriff der „Industriegesellschaft" subsumiert 4 2 , oder sei es,daß man grundsätzlich die formal bleibende Methode der Totalitaris-mustheoretiker ab lehnt 4 3 und als an bestimmte Herrschaftsinteressengebunden erweist 4 4 — die alte These, Kommunismus und Faschismusseien „in ihren wesentlichen Zügen gleich" (s. o.) vertritt heute in derBRD kein ernstzunehmender Wissenschaftler mehr.

Nichtsdestoweniger beherrscht die Totalitarismustheorie aber, wiewir gezeigt haben, nach wie vor die Geschichtsschreibung in denSchulbüchern und Richtlinien; ebenso prägt die Gleichsetzung von„links-" und „rechtsradikal" auch heute noch die Denkweise und denSprachgebrauch der „großen" politischen Parteien und der Medien derveröffentlichten Meinung in der BRD. Die offizielle politische Bildungweist offensichtlich einen eklatanten Rückstand zur wissenschaftli-chen Forschungslage auf: „Eine wissenschaftliche Hypothese, die be-kanntlich auch innerhalb der Politologie und Geschichtswissenschaftweitgehend aufgegeben wurde, hält sich weiterhin aufrecht und gehtals der wesentliche Bestandteil in Lehrpläne und ministerielle Verord-

204

Page 205: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

nungen e i n . " 4 5

Um die Totalitarismustheorie an dieser Stelle einer inhaltlichen Kri-tik zu unterziehen, wollen wir die programmatische Definition totali-tärer Herrschaft in den erwähnten „Richtlinien . . . " zugrunde legen.Dort heißt es: „Bei der Darstellung des kommunistischen und des na-tionalsozialistischen Totalitarismus sind ihre verwerfliche Zielsetzung und ihre verbrecherischen Methoden deutlich zu m a c h e n " 4 6 .

„Verwerfliche Zielsetzung" und „verbrecherische Methoden" wer-den also als die zwei grundlegenden Gemeinsamkeiten von Faschismusund Kommunismus angesehen.

Was die Autoren mit „verbrecherischen Methoden" meinen, habensie an anderer Stelle in den Richtlinien erklärt: „Der Totalitaris-mus . . . herrscht mit systematischem, politischem, geistigem und see-lischem Terror . . . " 4 7

Der Terror oder, neutraler ausgedrückt, die systematische Anwen-dung von Gewalt wird nun nach Auffassung der Totalitarismustheore-tiker in den Dienst einer „verwerflichen Zielsetzung" gestellt, sie die-ne der „Alleinherrschaft einer Pa r t e i " 4 8 und der Erlangung der „Welt-herrschaf t" 4 9 . Der ganze Totalitarismus gründe sich schließlich „aufeine Ideologie, die den Charakter einer Ersatzreligion und Heilslehreh a t " 5 0 .

Richtig an diesen Behauptungen ist zunächst, daß in den faschisti-schen Herrschaftssystemen und in bestimmten Phasen der sowjetrussi-schen Geschichte Gewalt als Herrschaftsinstrument angewandt wurde.Diese Feststellung allein besagt jedoch noch wenig, es muß vielmehrgleichzeitig gefragt werden, wer gegenüber wem in wessen Interesseund zu welchem Zweck zu Gewaltmitteln greift, d. h. es muß nach derhistorischen und sozialen Funktion der Gewaltanwendung gefragtwerden. Nur wenn man prüft, in welchem Interesse Kommunisten undFaschisten Gewalt anwandten, ist es möglich, ein wissenschaftlich be-gründetes Urteil über die Gewaltanwendung zu fällen, denn „wer alleDemonstrationen nur nach ihren Methoden beurteilt, ohne nach ihrerZielsetzung zu fragen, und so kritische Studenten nicht von der S.A.unterscheiden kann, wer Gewaltanwendung grundsätzlich als illegitimbezeichnet und so die Gewalt Hitlers und die Stauffenbergs gleichbeurteilen muß, dokumentiert in anschaulichster Weise die Grenzenseines Differenzierungsvermögens"5 1. Diese Frage nach der Funktionder Gewaltanwendung wird in den Richtlinien und Schulbüchern ent-weder ausgespart oder aber unter Verfälschung der realen Geschichtebeantwortet — notwendigerweise, denn mit dieser Frage steht undfällt die Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus und damitdie ganze Totalitarismustheorie. Es läßt sich leicht nachweisen, daßsowohl die programmatischen Zielsetzungen als auch deren Reali-sierung bei Faschisten einerseits und Kommunisten andererseitsgrundsätzlich unterschiedlicher, ja sogar entgegengesetzter Art waren.

„Während die Kommunisten die Enteignung der Kapitalisten, dieÜberführung der Wirtschaft in der Verfügungsgewalt der Gesamtgesell-

205

Page 206: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

schaft und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft verlangten,ging es dem Faschismus gerade um die Sicherung des Privateigentumsund die Zerschlagung aller Organisationen, die es antasten wollten, umdie Betonung der sozialen Hierarchie und des Führerprinzips — auchund gerade in der Wirtschaft ." 5 2

Der Nationalsozialismus ließ also die bürgerlichen Produktions- undBesitzverhältnisse und damit die Privilegien und Herrschaftsbefugnisseder Kapitalbesitzer gegenüber den Lohnabhängigen unangetastet undersetzte die politischen Institutionen der bürgerlich-parlamentarischenDemokratie durch seinen Führerstaat. Er handelte im Interesse derherrschenden Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, gegen die sozialenInteressen der großen Mehrheit der Bevölkerung, was sich „auch imsozialen Detail — Vermögensverteilung, Lohnentwicklung, Arbeitszeit,Ausbeutungsrate, Bildungschancen, Bildungsinhalte — aufzeigenl ä ß t " 5 3 . Terror im Nationalsozialismus war also nicht „Mittel zur ge-sellschaftlichen Revolutionierung", sondern „bloßes Mittel der Op-pression, der Herrschaftssicherung"5 4. Der Faschismus erweist sich alsein System der Beharrung bzw. (vom Standpunkt der bürgerlich-parla-mentarischen Demokratie) sogar als historischer Rückschritt. Faschi-stischer Terror ist darüber hinaus nicht nur ein Instrument der Herr-schaftssicherung einer Minderheit, sondern hat, wie die gesellschaftli-chen Erfahrungen zeigen, die Tendenz, sich von seinem Zweck zu ver-selbständigen: die Faschisten üben Terror um des Terrors willen aus.Ein grausamer Beweis dafür ist die Geschichte der Judenverfolgung imDritten Reich; die Millionen jüdischer Opfer lassen sich nicht alleinmit ökonomischen und politischen Motiven erklären (wie dem erhöh-ten Profit aus der in den KZs geleisteten Zwangsarbeit), vielmehrspielten offensichtlich irrationale Ursachen wie Sadismus u. a. eineR o l l e . 5 5

Die Faschisten bedrohen also, um dies noch einmal festzuhalten, diebürgerliche Demokratie; an die Macht gelangt gehen sie dazu über, diebürgerliche Demokratie zu liquidieren. Die Kommunisten sind in ge-wissem Sinne ebenfalls eine „Bedrohung" der bürgerlichen Demokra-tie, sie wollen diese allerdings nicht liquidieren, sondern aufheben imHegeischen Dreifachsinn: beseitigen, bewahren, auf ein höheres Ni-veau heben. Ziel der Kommunisten ist es, durch eine grundlegendeVeränderung sowohl der ökonomischen als auch der politischen Ord-nung die bürgerliche Demokratie zur sozialistischen weiterzuent-wickeln.56 Sozialistische Demokratie beinhaltet dabei den Anspruch,sowohl die formale Gleichstellung der Individuen in der politischenSphäre der bürgerlichen Demokratie als auch die offene Ungleichheitder Menschen im Bereich der materiellen Produktion der bürgerlichenGesellschaft aufzuheben zugunsten einer schrittweise realisierten kol-lektiven Selbstbestimmung der Gesellschaftsmitglieder. Die Fragenach dem Grad sozialistischer Demokratie muß also lauten: „Inwie-weit sind die Produzenten institutionell berechtigt und durch gesell-schaftliche Maßnahmen qualifiziert und bereit, die Produktion und

206

Page 207: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Reproduktion ihrer Lebensbedingungen in gemeinschaftlichem, ge-samtgesellschaftlichem Zusammenwirken selbständig und bewußt zuorganisieren und diesem bewußten Prozeß auch politisch Ausdruck zuverleihen? " 5 7 Dies also ist das grundlegende Ziel kommunistischerPolitik — wieso die Verfasser der „Richtlinien" von „verwerflicherZielsetzung" (s. o.) der Kommunisten reden, bleibt ihr eigenes Ge-heimnis — es sei denn, sie sähen in der Abschaffung sozialer Vorrechteein Verbrechen. Zu fragen bleibt, wie die an die Macht gelangten kom-munistischen Parteien in der Praxis den eben formulierten Anspruchrealisiert haben. Die Schulbuchautoren legen den Schwerpunkt ihrerDarstellung der sozialistischen Länder auf die Zeit des sogenanntenStalinismus. Daß sie dabei mit unzulässigen Maßstäben an die Betrach-tung der sozialistischen Systeme herangehen, ist an anderer Stelle indiesem Buch bereits exemplarisch gezeigt worden (vgl. S. 86 ff). DieSchulbuchdarstellung trifft insofern zu — wobei sie sich, wie erwähnt,aber eben auf die Erscheinungsseite beschränkt —, als tatsächlichwährend der Phase des Stalinismus besonders in der sowjetrussischenGeschichte Herrschaftsmethoden praktiziert wurden, die dem An-spruch sozialistischer Demokratie widersprachen (zeitweiliger Fortfallder Kontrolle über die Staatsführung; physische Liquidierung innenpo-litischer Gegner usw.). Während aber in der Totalitarismustheorie desKalten Krieges die stalinistische Herrschaftsform zum Wesen jedes so-zialistischen Systems erklärt wird, kommen differenziertere wissen-schaftliche Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß der Stalinismus einezeitweilige Fehlentwicklung beim Aufbau der sozialistischen Gesell-schaft war, die auf konkrete Ursachen in Vorgeschichte und Strukturder jeweiligen Gesellschaft zurückzuführen i s t . 5 8

Selbst im Stalinismus aber diente die Anwendung von Gewalt nichtwie im Faschismus dem sozialen Interesse einer kleinen herrschendenMinderheit, sondern beschleunigte die Entwicklung des Landes undschuf damit die materiellen Voraussetzungen für den innergesellschaft-lichen Wandel, der seit dem Ende des Stalinismus die zunehmendeEinlösung des sozialistischen Anspruchs beinhaltet.

Eine differenzierte Betrachtung zeigt also, daß die Totalitarismus-theorie die gesellschaftliche Realität der faschistischen und kommuni-stischen Systeme nicht zu erfassen vermag, weil sie im wesentlicheneine formale Betrachtungsweise ist. Die ihr zugrunde liegende Metho-de beruht darauf, „die Form für das Wesen der Sache auszugeben undden Inhalt zu verschweigen: Man weist auf Gemeinsamkeiten im Agi-tationsstil hin (Massenpropaganda, Massenaufmärsche) und ver-schweigt, daß dieser nur Mittel zu einem politischen Zweck und alsonur von diesem her richtig einzuschätzen ist . . . man hebt formale Ge-meinsamkeiten in den Herrschaftsmethoden hervor (z. B. Einparteien-system, Propagandamonopol, Anwendung von Terror) und unter-schlägt auch hier den politischen Zweck, in dessen Dienst solche Herr-schaftsmethoden s tehen." 5 9

Die politische Funktion der Totalitarismustheorie in der BRD ist

207

Page 208: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

seit ihrer Blütezeit im Kalten Krieg grundsätzlich gleich geblieben. Ne-ben der Verteufelung sozialistischer Länder dient sie vor allem derDenunzierung derjenigen, die die bürgerliche Gesellschaft als histo-risch überholte Klassengesellschaft begreifen und ihre Überwindungfordern.

Mit der Totalitarismustheorie läßt sich aber auch die gesellschaftli-che Struktur des Faschismus nicht adäquat erfassen; insbesondere dieKontinuität der bürgerlichen Eigentumsordnung vom Nationalsozialis-mus zur BRD wird durch die Totalitarismustheorie verschleiert; dieTotalitarismustheorie ist darum eine Variante des „hilflosen Anti-faschismus" 6 0 , der die herrschende Gesellschafts- und Geschichtswis-senschaft in der BRD prägt.

Die betont antisozialistische und antikommunistische Stoßrichtungder Totalitarismustheorie ist im übrigen von ihren Verfechtern mit al-ler Brutalität ausgesprochen worden. C. J. Friedrich z. B. hat offengefordert, daß der Totalitarismus (gemeint ist — 1957 — vor allem des-sen „kommunistische Variante") mit militantesten Mitteln bekämpftwerden soll: „Es ist . . . sehr deutlich, daß die Möglichkeit friedlicherKoexistenz der Völker auf dieser Erde das Verschwinden totalitärer Diktatur zur Voraussetzung hat. Da nach ihren eigener laut verkünde-ten Erklärungen die totalitäre Diktatur insbesondere der Sowjets dieganze Welt umfassen muß, so bleibt denen, die den Kommunismus ab-lehnen, nichts anderes übrig, als auf den Untergang dieses Totalitaris-mus hinzuarbeiten."61 Durch solche Appelle zum gemeinsamenKampf gegen den „Totalitarismus von rechts und links" (gemeint istseit 1945 stets in erster Linie der von l i n k s 6 2 ) wird zugleich eine inte-grierende Wirkung auf die eigene Gesellschaft ausgeübt: die innenpoli-tische Linke wird als antidemokratisch denunziert und verfolgt; 6 3 in-nergesellschaftliche Widersprüche werden entweder gar nicht erst alssolche erkannt, sondern, wie z . B . der grundlegende Klassengegensatzder bürgerlichen Gesellschaft, ideologisch auf eine „Klassenkampf-idee", ein Hirngespinst, reduziert, bzw. als reine Propagandalüge der„totalitären" Staaten bezeichnet, oder aber gegenüber dem gemeinsa-men Kampf gegen den Hauptfeind, den Totalitarismus, als sekundärbetrachtet. Die Totalitarismustheorie wirkt damit herrschaftsverschlei-ernd und -stabilisierend; sie ist theoretisches Konstrukt bürgerlicherIdeologie.

AnmerkungWir müssen an dieser Stelle auf Meinungsverschiedenheiten innerhalbunserer Arbeitsgruppe hinweisen, die sich im Zusammenhang mit derBeurteilung der bisherigen Politik der sozialistischen Staaten Osteuro-pas, insbesondere der Sowjetunion, herausstellten. Da es an diesemOrt vor allem um die Kritik der Totalitarismustheorie ging, konnte dieArgumentation oberhalb der kontroversen Ebene erfolgen. Die bürger-liche Einschätzung und Darstellung des Stalinismus nach dem Totali-tarismusschema „rot = braun" ist bar jeder Wissenschaftlichkeit und

208

Page 209: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

besitzt eindeutige Legitimations- und Integrationsfunktion für diebürgerliche Gesellschaft — daran ist nicht zu rütteln.

G. Manipulation durch Sprache

Im ersten Teil dieses Buches, der konkreten Analyse der Schulge-schichtsbücher, wurde an zahlreichen Stellen auf die Funktion be-stimmter sprachlicher Mittel der Schulbuchautoren eingegangen. Dortwurde gezeigt, daß die von uns ideologisch genannte inhaltliche Dar-stellung in den Schulbüchern durch sprachliche Mittel unterstützt wird. Sprache ist demnach kein von den jeweiligen Inhalten losgelöstzu betrachtendes Manipulationsinstrument, sondern gewinnt ihrenStellenwert erst im Rahmen eben dieser Inhalte. Darum soll hier auchnicht in erster Linie Sprachkritik betrieben werden, sondern Ideolo-giekritik, die die Kritik der Sprache als eines ihrer Elemente begreift.

Sprache kann deshalb als Manipulationsinstrument fungieren, weilihre Wirkung dem Leser des Schulbuchs im Normalfall nicht bewußtwird. Relativ unwichtig für die Funktion von Sprache ist dabei dieFrage, ob den Verfassern der Schulbücher die manipulierende Wirkungihrer Ausdrucksweise bewußt ist oder nicht. Manipulation meint hieralso nicht unbedingt die bewußte „Steuerung" der Schulbuchleser;entscheidend ist vielmehr das Ergebnis, das durch die eingesetztenMittel tatsächlich erreicht wird.

Im folgenden soll an Hand einiger Beispiele zusammengefaßt wer-den, welche Typen sprachlicher Manipulation sich in den Schulbü-chern finden.

a) Ein wesentliches Mittel sprachlicher Manipulation sind Begriffs-bildungen, die schon von sich aus, ohne Argumente zur Sache zu ent-halten, bestehende gesellschaftliche Verhältnisse in ein rosiges Lichtrücken. Diese Begriffsbildungen verschleiern oder verzerren die tat-sächliche gesellschaftliche Realität.

Ein — mittlerweile häufig kritisiertes6 4 — Beispiel dafür ist das in derBRD zum offiziellen Sprachgebrauch gehörende Begriffspaar „Arbeit-geber" — „Arbeitnehmer". Das Begriffspaar suggeriert, daß die Unter-nehmer = „Arbeitgeber" diejenigen sind, die den Arbeitern etwas geben(nämlich Arbeit), während scheinbar die Arbeiter = „Arbeitnehmer" dieArbeit von den Unternehmern nehmen; die Unternehmer scheinen da-mit als (großzügig) Gebende, was sie in ein positives Licht rückt, beson-ders für christlich sozialisierte Leser („Was du gegeben hast einem derGeringsten . . . " ) ; d i e Arbeiter dagegen bekommen etwas, haben also al-len Grund, den Unternehmern dankbar zu sein.

Tatsächlich verhält es sich so, daß in der kapitalistischen Produk-tionsweise die Klasse der Arbeiter aus „freien Lohnarbeitern" besteht,„frei" im doppelten Sinne: zum einen persönlich frei (z. B. von derLeibeigenschaft, von den Zunft- und Fronzwängen der feudalistischen

209

Page 210: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Produktionsweise), zum anderen „frei" vom Besitz an Produktionsmit-teln. Um leben zu können, müssen darum die Arbeiter ihre Arbeits-kraft an die Klasse verkaufen, die die Produktionsmittel besitzt, dieKapitalisten. Der Kapitalist kauft also die Arbeitskraft des Arbeiters;im Arbeitsvertrag (heute in Form eines Tarifvertrages) wird festgelegt,welchen Kaufpreis (Lohn) der Kapitalist zahlt. Er erwirbt mit demKauf das Recht, die Arbeitskraft des Arbeiters mit seinen, des Kapita-listen, Produktionsmitteln arbeiten zu lassen, und zwar für eine be-stimmte, vertraglich festgelegte Zeit. Der Arbeiter produziert in dieserZeit mehr, als der Kapitalist ihm in Form des Lohnes zurückzahlt; erproduziert ein Mehrprodukt, welches vom Kapitalisten angeeignetwird . 6 5 „Arbeitgeber" im eigentlichen Sinne ist also der Arbeiter,denn er „gibt" seine Arbeitskraft; diese „nimmt" der Unternehmer,der sich zugleich den Mehrwert aneignet.

Was dagegen der Kapitalist in der Tat gibt, ist nicht die Arbeit, son-dern der Arbeitsplatz, oder besser gesagt die Produktionsmittel; „ge-ben" allerdings in einem sehr eingeschränkten Sinne, denn wenn tat-sächlich die Unternehmer den Arbeitern die Produktionsmittel gebenwürden („geben" im Sinne von „Gabe", d. h. als Besitzübertragung),würden sie sich selbst enteignen. Die Unternehmer „geben" also auchnicht die Produktionsmittel (Arbeitsplätze), sondern stellen sie denArbeitern zur Verfügung bzw. lassen sie mit oder an ihnen arbeiten.Und zwar deshalb, weil die Produktionsmittel nur so ihren Zweck fürden Kapitalisten erfüllen, also Profit bringen. Ganz konkret gesagt,„geben" die Kapitalbesitzer den Arbeitern lediglich den Lohn, woge-gen sie die Arbeitskraft einhandeln, die sie nun ihrerseits in Form dermit den — kapitalistischen — Produktionsmitteln tätigen Arbeitslei-stung vernutzen, um sie auszubeuten. Im Begriffspaar „Arbeitgeber"/„Arbeitnehmer" ist das wirkliche Verhältnis also total auf den Kopfgestellt: derjenige, der sich für eine bestimmte Geldsumme (Lohn) vonanderen ihre Arbeit — zwecks Ausbeutung — geben läßt, heißt „Ar-beitgeber", derjenige, dem seine Arbeit für Lohn genommen wird,heißt „Arbeitnehmer" — ein besonders schlagendes Beispiel bürgerli-cher Ideologie. So also verhält es sich mit der Bereitschaft der Unter-nehmer zu „geben", die der gängige Ausdruck „Arbeitgeber" suggerie-ren will.

Ein anderer Begriff, der die Erkenntnis realer gesellschaftlicher Ver-hältnisse von vornherein blockieren muß, ist das gängige Wortgebilde„Soziale Marktwirtschaft". Das Attribut „sozial" rückt von vornher-ein das, was mit dem Begriff bezeichnet werden soll — nämlich daskapitalistische Wirtschaftssystem der BRD —, in ein positives Licht:wer könnte etwas gegen ein Wirtschaftssystem haben, das sozial ist?Zugleich impliziert die Begriffsbildung „Soziale Markwirtschaft",daß es auch andere, nicht-soziale Formen der Marktwirtschaft gibtoder doch gegeben hat; gemeint ist, wie die Analyse der Schulbü-cher gezeigt hat, daß es im 19. Jahrhundert den Kapitalismus undals dessen Produkt die „Soziale Frage" gegeben habe, während im

210

Page 211: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

20. Jahrhundert die „Soziale Marktwirtschaft" den Kapitalismus er-setzt und die „Soziale Frage" gelöst habe. Daß in beiden Jahrhunder-ten die Kontinuität der kapitalistischen Produktionsverhältnisse erhal-ten geblieben ist, wird mit den Begriffen der Schulbuchautoren eben-so verschleiert wie die Tatsache, daß von sozialer Demokratie und so-zialer Gerechtigkeit in der BRD noch keine Rede sein kann. Der Be-griff „Soziale Marktwirtschaft" gibt ideologisch vor, daß Unausge-machtes schon ausgemacht, Ungelöstes bereits gelöst sei. Genauso ver-hält es sich mit Begriffen wie „Freiheit", „Demokratie" usw.

b) Ein zweites wichtiges Mittel sprachlicher Manipulation ist dieVerwendung pejorativer und meliorativer Attribute und deren Häu-fung; d. h. die Benutzung von Beiwörtern, die den bezeichneten Ge-genstand mit rein sprachlichen Mitteln, also ohne inhaltliche Argu-mentation, als negativ (pejorativ) oder positiv (meliorativ), als gutoder schlecht qualifizieren.

Ein Beispiel dafür ist die Bezeichnung der Kommunisten als „anti-demokratisch", der Effekt ist offensichtlich: wer als Feind der Demo-kratie hingestellt wird, von dem wird sich jeder Leser distanzieren.Entscheidend ist, daß die Denunzierung der Kommunisten nichtdurch nachprüfbare inhaltliche Argumente aufgefüllt wird; die Schul-buchautoren verfahren vielmehr nach dem Motto: wenn die Beschul-digung, die sich als Sachaussage ausgibt, oft genug wiederholt wird, sowird sie ihre Wirkung nicht verfehlen. Im Kapitel über das Ende derWeimarer Republik z. B. haben wir versucht zu zeigen, wie verbreitetdiese Methode in den untersuchten Schulbüchern ist.

Eine besonders wirksame Form der hier gemeinten Manipulationliegt vor, wenn pejorative und meliorative Attribute in einem Satz alsdirekte Konfrontation von „guten" und „bösen" Kräften benutztwerden. Ein Beispiel:

„Den Revisionisten erschienen jedoch . . . praktische Teilerfolge wichtiger alseine illusionäre chiliastische Heilserwartung (der Marxisten, d. Verf.)". (Schroe-del/Schöningh II, S. 62)

Auf der einen Seite also praktisches Handeln und Erfolge — auf deranderen Illusionen, Irrationalismus und bloßes Abwarten; auf wessenSeite sich der Leser zu stellen hat, ist offensichtlich.

c) Als dritte sprachliche Manipulationsform findet man in denSchulbüchern die ahistorische Verwendung von politischen Begriffen, die nach dem herrschenden Sprachgebrauch mit negativen Assoziatio-nen verbunden sind, obwohl diese „Reizwörter" ihrer eigentlichenWortbedeutung und ihrer historischen Herkunft nach eher positive In-halte bezeichnen.

Der Begriff „radikal" ist dafür ein Beispiel. Er wird in den Schulbü-chern, anknüpfend an den in der BRD in der Propaganda der großenParteien und den Medien der veröffentlichten Meinung herrschendenSprachgebrauch, zur Denunzierung der politischen Linken von Müntzerbis zur DKP gebraucht. Wer als „Radikaler" bezeichnet wird, ist vonvornherein negativ abqualifiziert.

211

Page 212: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Im Gegensatz zu dieser Verwendung meint „radikal" seiner etymo-logischen Bedeutung nach solche, die einen gesellschaftlichen Miß-stand mit der Wurzel (lat. radix = Wurzel) beseitigen wollen, die nichtnur die Folgen des Mißstandes beheben, sondern dessen Ursachen aus-räumen wollen (s. o.). In dieser Weise, also positiv wertend, wurde derBegriff auch in der deutschen Geschichte gebraucht: Der scharfzüngi-ge Humanist Walter Jens hielt jüngst ein flammendes Plädoyer für denRadikalismus: „Als ob das verurteilenswert wäre: radikal zu sein! Alsob ,radikal' nicht ein Ehren-Wort der Aufklärer war und mit dem Be-griff ,Radikaler' sich Bürger ausgezeichnet sahen, die dem Übel an dieWurzel gingen, statt nur Symptome zu heilen. ,Daher muß eigentlichein jeder, welcher die Unvollkommenheit eines gegebenen Zustandeserkennt und auf Heilung derselben denkt, ein Radikaler sein': Zitataus Brockhaus' Conversationslexikon von 1836, ein Satz aus einemArtikel, der, von bürgerlichem Freisinn zeugend, radikale Reform mitder Veränderung auf verfassungsmäßigem Weg identifiziert.

So sprach man einst . . . und wenn man heute anders spricht undglaubt, sich von den Linken zu trennen, dann trennt man sich inWahrheit von den fortschrittlichen Elementen bürgerlicher Überliefe-rung, zerschneidet den Faden, der zum Freiheitsdenken der Aufklä-rung führt, weil man fürchtet — und dies zu Recht —, daß in der sozia-len Demokratie für alle verwirklicht werden könnte, was die liberale Einzelnen versprach!" 6 6

Page 213: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Drittes KapitelZum Ideologiebegriff

Ideologiekritische Untersuchungen werden in der letzten Zeit immerzahlreicher. Dabei wird der Anspruch, Ideologiekritik zu betreiben,von Autoren ganz unterschiedlicher politischer und wissenschaftstheo-retischer Provenienz erhoben, so daß es uns an dieser Stelle notwendigerscheint, unser eigenes Verständnis von Ideologiekritik, das unsererSchulbuchanalyse zugrunde liegt, ausführlicher darzustellen.

Diese Darstellung kann — nach dem Vorbild Marxens — nur als Kri-tik falschen Bewußtseins, d. h. in diesem Zusammenhang als Kritikdes falschen bürgerlichen Ideologiebegriffs, erfolgen.

Schon im Abschnitt über die Französische Revolution stießen wirauf den Ideologiebegriff, der den meisten Schulbüchern zugrundeliegt: Ideologie als radikale Theorie mit Ausschließlichkeitsanspruch.Als solche ist sie ein entscheidendes Kriterium für die Bestimmung ei-nes totalitären Systems. Entsprechend heißt es in der Didaktik vonSchroedel/Schöningh (VII, S. 72) , dem Schüler müsse einsichtig ge-macht werden,

„auf welche Weise das Bestreben, eine Ideologie zu verwirklichen, zu totalerHerrschaft mit der Konsequenz der physischen Vernichtung des Gegners führenkann."

Ideologie wird hier also als eine Art Vision verstanden, für die fana-tische Anhänger über Leichen gehen. Als Gegenbild fungieren die bei-den bürgerlichen Kardinaltugenden Pragmatismus und Toleranz unddie Vorstellung, daß ihre Träger — die Schulbuchautoren zählen sichdeutlich dazu — grundsätzlich gegen Ideologieanfälligkeit gefeit seien.

Es bedarf nach dem bisher Gesagten wohl kaum noch einer weiterenErörterung, daß dieser Anspruch auf Ideologielosigkeit selbst ideolo-gisch ist — ideolologisch hier zunächst nur verstanden als herrschafts-stabilisierend. Die aus dem Geist der ,Ideologielosigkeit' entsprungeneTotalitarismustheorie verschleiert und stabilisiert die fortbestehendekapitalistische Klassengesellschaft. Wer sie grundlegend kritisiert, ver-fällt dem Verdikt der Radikalität und Ideologiegläubigkeit; er wird da-mit Opfer dessen, was die angeblich Ideologielosen den angeblichenIdeologen vorwerfen: Des Absolutheitsanspruchs. Berufsverbote für ra-dikaldemokratische Lehrer und Professoren sprechen eine deutlicheSprache.

Mit diesem Kampf gegen eine radikaldemokratische Emanzipations-bewegung im Namen der Ideologielosigkeit ist die spätbürgerliche Ge-sellschaft ihres ehemals emanzipatorischen Anspruchs, der sich in derradikalen Kritik der Aufklärung an der Feudalordnung und derenreaktionärem Weltbild manifestierte, gründlich verlustig gegangen.Heute werden gerade diejenigen als Ideologen abgetan, die das bürger-liche Bewußtsein derselben unbefangenen Kritik unterziehen, mit dersich das ehemals revolutionäre Bürgertum erst der feudalen Fesseln zu

213

Page 214: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

entledigen vermochte.Bacons Parole „Wissen ist Macht" läutete einen jahrhundertelangen

Kampf des fortschrittlichen Bürgertums ein gegen die verfestigten undder Irrationalität bezichtigten Gesellschafts- und Bewußtseinsstruktu-ren der Feudalität: Kampfmittel war die rationale Wissenschaft (s. o.,S. 17 f.).

Die frühbürgerliche Kritik des falschen feudalen Bewußtseins, soemanzipatorisch sie zweifellos war, verblieb jedoch dem spezifischbürgerlichen Erkenntnisinteresse verhaftet und von vornherein auchmethodisch so angelegt, daß sie nicht ohne weiteres in eine Kritikauch des falschen Bewußtseins einer bürgerlichen Gesellschaft hätteumschlagen können. Wir haben es oben angedeutet: Ihr Richterstuhlder Vernunft war bürgerlich. (Darin liegt die gesellschaftliche Formbe-stimmtheit jener ,Vernunft'.) Diese — klassenbedingte — methodischeBeschränktheit manifestiert sich in den im vorigen Kapitel aufgezeig-ten grundlegenden Denkmustern bürgerlichen Denkens, die es vonvornherein unmöglich machen, die historisch-gesellschaftliche Genesisdes falschen Bewußtseins zu begreifen. Die aufklärerische Bewußt-seinskritik erschöpfte sich zumeist darin, bestimmte Bewußtseinsin-halte der immanenten Fehlerhaftigkeit zu überführen, religiöse undmetaphysische Vorstellungen lediglich als — subjektive — Irrtümer zubegreifen, die sich in dem Moment in ein Nichts auflösen, in dem siesich als wissenschaftlich unhaltbar, d. h. ,vernunftwidrig' erwiesen.

Einen Schritt weiter gingen die linken Enzyklopädisten Helvetiusund Holbach, die Hauptrepräsentanten des bürgerlichen Materialismusin Frankreich. Sie gelangten zu der Einsicht, daß die Ursachen ver-nunftwidriger Vorurteile nicht allein in der Unkenntnis und Unwissen-heit über die Wirklichkeit zu suchen seien, sondern daß die Hart-näckigkeit irrationaler Ideen noch in einem ganz anderen Tatbestandwurzelte, nämlich in dem apologetischen, auf Rechtfertigung der über-kommenen feudalen Sozialstrukturen gerichteten Herrschaftscharak-ter des mittelalterlichen Weltbildes.

Die Marxsche Erkenntnis, die herrschenden Gedanken seien stetsdie Gedanken der Herrschenden, findet sich im Keim schon bei Helve-tius: „Die Vorurteile der Großen sind die Gesetze der Kleinen."1 Ander Verbreitung der Vorurteile konnten nur Gruppen interessiert sein,die sich von einem verbreiteten falschen Bewußtsein eigene Vorteileerhofften. „Man kann nicht leugnen", schrieb Holbach, „ . . . daß die-ses Dogma (des Fortlebens nach dem Tode, d. Verf.) für diejenigenvon großem Nutzen war, die dem Volk Religionen gaben und sich zuPriestern machten; es wurde die Grundlage ihrer Macht, die Quelle ih-rer Reichtümer und die beständige Ursache von Blindheit undSchrecken, in denen sie die menschliche Gattung festhalten woll-ten." 2

Bürgerliche Kritik falschen Bewußtseins, die sich im wesentlichenauf Religionskritik beschränkte, da es vor allen Dingen die christlicheLehre war, die zur ideologischen Legitimation des herrschenden feu-

214

Page 215: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

dalklerikalen Systems diente, erhielt damit eine methodisch neue Va-riante, die ,Priestertrugstheorie', der die Vorstellung zugrunde -liegt,daß eine Verschwörung der Herrschenden mit den Priestern das Volkzwecks Aufrechterhaltung ihrer eigenen Macht durch systematischeVerdummung in Unmündigkeit hielt.

So eindeutig diese Theorie einen Fortschritt gegenüber der reinenVorurteilstheorie darstellt — sie bezieht die Gesellschaft mit in dietheoretische Kritik ein und erkennt den Rechtfertigungscharakter vonIdeologie —, so deutlich bleiben ihre Schranken. Die Priestertrugstheo-rie reduziert gesellschaftlich notwendig bedingtes falsches Bewußtsein(Ideologie) auf eine raffinierte Manipulation der Herrschenden. Die„Einsicht in den objektiven Ursprung und die Objektivität sozialerFunktion von Ideologien" wird durchweg nicht erreicht.3

Die Religionskritik der Aufklärung beinhaltet also — das sei hierfestgehalten — zwei grundlegende Fragestellungen und Antworten:

1. Frage: Ist die Religion usw. vernünftig?Antwort: Nein. Sie beruht auf Irrtümern und Vorurteilen.2. Frage: Warum ist sie trotzdem weit verbreitet?Antwort: a) Weil ,der' Mensch zu Irrtümern und Vorurteilen neigt,

solange er sich nicht um wissenschaftliche Genauigkeit bemüht (Baconu. a.) — Anthropologisierung.

b) Weil die Herrschenden das Volk manipulieren (franz. Materiali-sten) — interessenpsychologische Erklärung, die von der Annahme ei-ner „prinzipiell unveränderlichen Struktur des Menschen" ausgeht(wie oben: Anthropologisierung).4

Eine neue (die höchste) Stufe bürgerlicher Religionskritik stellt diePhilosophie Ludwig Feuerbachs dar.

Feuerbach stellt die Frage nach der Genesis religiöser Vorstellung(und der idealistischen Philosophie) und kommt zu folgendemSchluß: „Das göttliche Wesen ist nichts anderes als das menschlicheWesen . . . abgesondert von den Schranken des individuellen, d. h.leiblichen Menschen, vergegenständlicht, d. h. angeschaut und ver-kehrt als ein anderes, von ihm unterschiedenes, eigenes Wesen."5

Die Religion erweist sich demnach als die Projektion des in der irdi-schen Wirklichkeit nicht zu realisierenden Eigenschaften, Potenzenund Wünsche in den Himmel, wo sie in einem menschlichen Idealbildscheinbar subjektive Gestalt annehmen (persönlicher Gott) . Die Reli-gion ist ein Produkt der Verdoppelung des Menschen in einen irdi-schen und einen himmlischen — wobei die himmlische Erscheinungs-form seiner selbst dem weltlichen Menschen ein Trostpflaster für Notund Entbehrung im irdischen Dasein bieten soll. Diese Verdoppelungverhindert nach Feuerbach aber gerade die Verwirklichung des leben-digen Menschen (da er sich damit zufriedengibt, sich in der Phantasiezu verwirklichen); darum solle der Mensch sein in den Himmel proji-ziertes Wesen wieder in sich zurücknehmen und sich damit bereichernund befreien.6

Dies ist der entscheidende Anknüpfungspunkt für die Entwicklung

215

Page 216: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

des klassischen Ideologiebegriffs durch Karl Marx. Feuerbach erkenntdie Form des religiösen Bewußtseins als Produkt der Selbstentfrem-dung des Menschen. Marx begnügt sich nicht mit dieser abstrakten Er-kenntnis, sondern fragt weiter: Woher kommt diese menschlicheSelbstentfremdung?

Die Menschen produzieren ihre Hirngespinste selbst (dies hat auchFeuerbach erkannt, allerdings versteht er ,produzieren' allein als geisti-ge Tätigkeit), aber sie tun dies nicht als außerhalb des wirklichen Le-bensprozesses hockende menschliche Gattungswesen, sondern sietun es als konkrete Individuen innerhalb bestimmter gesellschaftlicherVerhältnisse, die ihrem Tun eine spezifische Form verleihen. Es gehtalso um die Ableitung der Form des entfremdeten Bewußtseins ausder Struktur der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die entfrem-deten Menschen leben und die sie selbst reproduzieren. Während Feu-erbach ,Entfremdung' als rein geistige Tätigkeit (Projektion) verstand,faßt Marx diesen Begriff als ,praktische Entfremdung', als ,Entfrem-dung der Arbeit'. Ihre Kritik muß deshalb eine praktische Kritik sein,d. h. die revolutionäre Aufhebung der Verhältnisse, in denen die realeEntfremdung herrscht. Die Religion ist nur die phantastische Zurück-nahme der realen Entfremdung, ihre Verschleierung. Die Kritik derReligion erweist sich damit als Kritik eines Symptoms. Deshalb mußes darum gehen, das falsche Bewußtsein bei seinen gesellschaftlichenWurzeln zu packen: Ideologiekritik muß in Gesellschaftskritik, diesein praktische Gesellschaftsveränderung umschlagen.

Hierzu schreibt Marx: „Das Fundament der irreligiösen Kritik (Feu-erbach, d. Verf.) ist: Der Mensch macht die Religion, die Religionmacht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbe-wußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entwedernoch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber derMensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. DerMensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat,diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußt-sein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeineTheorie dieser Welt . . . , ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion,ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungs-grund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen We-sens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt.Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jeneWelt, deren geistiges Aroma die Religion ist . . .

Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt ei-ner herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist dasOpium des Volkes. Die Aufhebung der Religion als des illusorischenGlücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die For-derung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forde-rung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritikder Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertals, dessen Heili-genschein die Religion is t ." 7

216

Page 217: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Diese emphatische Prosa des jungen Marx gibt das auf menschlicheEmanzipation abzielende Erkenntnisinteresse an, das seinem gesamtenwissenschaftlichen Werk zugrunde liegt. Vor allem im „Kapital" ent-wickelt Marx eine Methode, die es erlaubt, die jeweiligen Vorstellun-gen und Illusionen der Menschen aus ihrer konkreten Lebenstätigkeit,aus der Struktur der von den Menschen selbst produzierten gesell-schaftlichen Verhältnisse, abzuleiten.

Fassen wir zusammen:Der wirklich revolutionäre Neuansatz der Marxschen Ideologiekritik

liegt in der Erkenntnis, daß es nicht ,der' Mensch — verstanden alsüberhistorisches abstraktes Gattungswesen — ist, der sich seine Vor-stellungen qua geistiger Tätigkeit zulegt — von dieser Konzeption gehtdie gesamte bürgerliche Wissenschaft von Bacon über Feuerbach bis zuden Schulbuchautoren aus —, sondern daß jenes Bewußtsein vermit-telt ist durch die jeweilige gegenständliche gesellschaftliche Tätigkeitder konkreten historischen Individuen (die historische Formbe-stimmtheit ihrer Arbeit). Die bürgerliche Anthropologie, die immerzugleich idealistisch ist — in dem Sinne, daß sie von der materiellenPraxis der konkreten Individuen abstrahiert —, erweist sich damitselbst als falsches Bewußtsein, als Ideologie. Auf Feuerbach bezogen:Die Feuerbachsche Ideologiekritik bleibt, da sie in der bloßen An-schauung verharrt, der Entfremdung verhaftet, die aufzulösen Feuer-bach angetreten war. Ernst Bloch hat in seiner Interpretation derMarxschen Feuerbachthesen das Wesentliche der Marxschen Ideologie-kritik wie folgt charakterisiert:

„Marxens Fortführung der Feuerbachschen Anthropologie, als einerKritik der religiösen Selbstentfremdung, ist daher nicht nur Konse-quenz, sondern erneute Entzauberung, nämlich Feuerbachs selbstoder der letzten, der anthropologischen Fetischisierung. So führt Marxvom generell-idealen Menschen, über bloßen Individuen, auf den Bo-den der wirklichen Menschheit und möglichen Menschlichkeit. Dazuwar der Blick auf die Vorgänge vonnöten, die der Entfremdung wirk-lich zugrunde liegen. Die Menschen verdoppeln ihre Welt nicht nurdeshalb, weil sie ein zerrissenes, wünschendes Bewußtsein haben. Viel-mehr entspringt dieses Bewußtsein, samt seinem religiösen Wider-schein, einer viel näheren Entzweiung, nämlich einer gesellschaftli-chen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse selber sind zerrissen und ge-teilt, zeigen ein Unten und Oben, Kämpfe zwischen diesen beidenKlassen und dunstreiche Ideologien des Oben, von denen die religiösenur eine unter mehreren ist. Dieses Nähere der weltlichen Grundlagezu finden, war für Marx eben die Arbeit, die der Hauptsache nachnoch zu tun blieb — selber ein Diesseits gegenüber dem abstraktanthropologischen Diesseits von Feuerbach. Dafür hatte der ge-schichtsfremde, undialektische Feuerbach keinen Blick, aber dieThese 4 (d. h. Marxens 4. These über Feuerbach, d. Verf.) gewinntihn:

,Die Tatsache nämlich, daß die weltliche Grundlage sich von selbst

217

Page 218: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

abhebt und sich, ein selbständiges Reich, in den Wolken fixiert, isteben nur aus der Selbstzerrissenheit und dem Sich-selbst-Widerspre-chen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muß alsoerstens in ihrem Widerspruch verstanden und sodann durch Beseiti-gung des Widerspruchs praktisch revolutioniert werden . . . ' Die Kritikder Religion verlangt also, um wahrhaft radikal zu sein, das ist, nachMarxens Definition: um die Dinge an der radix, der ,Wurzel' zu fassen,die Kritik der dem Himmel zugrunde liegenden Verhältnisse, ihresElends, ihrer Widersprüche und ihrer falschen imaginären Lösung derWidersprüche."8

Hier ist das Hauptkriterium des Marxismus erneut benannt: Die Ein-heit von Theorie und Praxis. Wenn das falsche Bewußtsein Ausdruckeiner falschen gesellschaftlichen Praxis der Menschen ist, dann muß esdarum gehen, diese falsche Praxis selbst zu revolutionieren. „An dieserStelle fügen sich Ideologien- und Revolutionslehre zu einem . . . Kreis,in dem wechselseitig eine die Voraussetzung der anderen liefert, zu-sammen . . . Was ist, läßt sich feststellen nur im Hinblick auf das, wasmöglich ist. Eine ihrem Gegenstand angemessene historische Theoriedes Bestehenden ist Theorie seiner Veränderung."9

Nach den bisherigen Darlegungen kann man als These formulieren:Die Kehrseite der bürgerlichen Geschichtsfremdheit ist die bürgerlichePerspektiv- und Zukunftslosigkeit. Eine ihrem Gegenstand angemesse-ne Aufarbeitung des Vergangenen, das zum Bestehenden führte, be-darf der Theorie der Veränderung des Status quo. Dies, weil erstdurch die theoretische Auflösung des ideologisch erstarrten Bestehen-den (Ontologisierung des Kapitalverhältnisses, s. o.) in Geschichte, indie historische Bewegung, Vergangenheit überhaupt erst als sich verän-dernde historisch-gesellschaftliche Praxis der Menschen erkannt wer-den kann. (Darauf ist im nächsten Abschnitt zurückzukommen).

Es wurde bereits erwähnt, daß die Marxsche Ideologie- und Gesell-schaftskritik immer Kritik der bürgerlichen Gesellschaft (des Kapitalis-mus) ist. Dennoch finden sich bei ihm auch einzelne Ausführungen zuden Ursachen falschen Bewußtseins vorkapitalistischer Gesellschafts-formationen. Grundlage für die Marxsche Betrachtungsweise ist auchhier sein perspektivistischer Blick auf die Aufhebung der die ganze bis-herige Geschichte kennzeichnenden Herrschaft der Produktionsbedin-gungen über die Produzenten. Die Menschen haben ihre Geschichteselbst gemacht, aber unter einem „Überhang an gesellschaftlicher Ob-jek t iv i t ä t " 1 0 . So bemerkt Marx im „Kapital" zu den gesellschaftli-chen Verhältnissen der älteren Geschichte: „Sie sind bedingt durcheine niedrige Entwicklungsstufe der Produktivkräfte der Arbeit undentsprechend befangene Verhältnisse der Menschen innerhalb ihresmateriellen Lebenserzeugungsprozesses, daher zueinander und zurNatur. Diese wirkliche Befangenheit spiegelt sich ideell wider in denalten Natur- und Volksreligionen. Der religiöse Widerschein der wirk-lichen Welt kann überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnissedes praktischen Werkeltaglebens den Menschen tagtäglich durchsichtig

218

Page 219: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen. Die Ge-stalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, d. h. des materiellen Pro-duktionsprozesses, streift ihren mystischen Nebelschleier ab, sobaldsie als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußterplanmäßiger Kontrolle steht. Dazu ist jedoch eine materielle Grundla-ge der Gesellschaft erheischt oder eine Reihe materieller Existenzbe-dingungen, welche selbst wieder das naturwüchsige Produkt einer lan-gen und qualvollen Entwicklungsgeschichte s ind." 1 1

Ein wesentliches Merkmal dieser „qualvollen Entwicklungsgeschich-te" ist unter anderem die naturwüchsige Arbeitsteilung (die nichtidentifiziert werden darf mit der planmäßigen Arbeitsteilung). Siebegünstigt die Verselbständigung der Teilgebiete gegenüber demGanzen, also z. B. der Ideologie gegenüber ihrer materiellen Grund-lage. Innerhalb der naturwüchsigen Arbeitsteilung, wie sie die bis-herigen Gesellschaftsformationen einschließlich der bürgerlichen be-herrscht, spielt die Trennung von Kopf- und Handarbeit einebesondere Rolle. „Die Teilung der Arbeit wird erst wirkliche Teilungvon dem Augenblick an, wo eine Teilung der materiellen und geistigenArbeit eintritt. Von diesem Augenblick an kann sich das Bewußtseinwirklich einbilden, etwas anderes als das Bewußtsein der bestehendenPraxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vor-zustellen . . . " 1 2 Damit ist prinzipiell die Möglichkeit für ideologischesDenken gegeben, d. h. für solches Denken, „dem die Fähigkeit, zurEinsicht in den unauflöslichen Zusammenhang seiner eigenen Bewe-gungen mit denen der sozialen Kräfte abgeh t " 1 3 . Solange also geistigeund materielle Tätigkeit in einer Gesellschaft verschiedenen Indivi-duen zufallen, d. h. so lange nicht allen Menschen gleichermaßen dieMöglichkeiten universeller Bildung und damit die Voraussetzungenzur erkenntnismäßigen Durchdringung von Natur und Gesellschaft zurVerfügung stehen, muß die Masse der arbeitenden Bevölkerung die inder Gesellschaft herrschenden Gedanken ungeprüft übernehmen undfür eine eigenständige Realität halten.

Diese herrschenden Gedanken aber sind in allen bisherigen Klassen-gesellschaften einschließlich der bürgerlichen immer die Gedanken derherrschenden Klasse gewesen, denn „die Klasse, die die Mittel zur ma-teriellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleichüber die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr im Durchschnittdie Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abge-hen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter nichtsals der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse,die als Gedanken gefaßten, herrschenden materiellen Verhältnis-se . . . " 1 4 „Löst man nun bei der Auffassung des geschichtlichen Ver-laufs die Gedanken der herrschenden Klasse von der herrschendenKlasse los, verselbständigt man sie, bleibt man dabei stehn, daß in ei-ner Epoche diese und jene Gedanken geherrscht haben, ohne sich umdie Bedingungen der Produktion und um die Produzenten dieser Ge-danken zu kümmern, läßt man also die den Gedanken zugrunde lie-

219

Page 220: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

genden Individuen und Weltzustände weg, so kann man z. B. sagen,daß während der Zeit, in der die Aristokratie herrschte, die BegriffeEhre, Treue etc., während der Herrschaft der Bourgeoisie die BegriffeFreiheit, Gleichheit etc. herrschten. Die herrschende Klasse selbst bil-det sich dies im Durchschnitt e i n . " 1 5 Sie sitzt diesem Selbstbetrug umso leichter auf, da sie und ihre Ideologen (d. h. diejenigen, die sich dieVerbreitung der Ideologie berufsmäßig zur Aufgabe gemacht haben)von der Sphäre der materiellen Produktion abgeschnitten sind undkeinen Kontakt mehr haben zu den Menschen, auf deren Schultern siestehen und die die wahren Produzenten des gesellschaftlichen Reich-tums darstellen.

Marx sah diesen Prozeß der Verselbständigung falschen Bewußtseinsund ihrer Funktionalisierung im Interesse der herrschenden Klasse je-doch nicht als ein Wesensmerkmal des menschlichen Zusammenlebensschlechthin an. Mit der Offenlegung ihrer Ursachen, zeigte er zugleichden Weg zur Überwindung der Ideologie. Er ging von der prinzipiellenMöglichkeit aus, daß die Menschen mit steigendem Grad der Beherr-schung von Natur und Gesellschaft immer mehr Teile der Wirklichkeiterkennen und sich nutzbar machen können. Die Vergesellschaftungdes Produktionsprozesses drängt zur Entfaltung der menschlichen Pro-duktivkräfte und bezieht eine stets wachsende Zahl von Individuenein in den Prozeß der geistigen wie materiellen Aneignung der Natur.Damit entstehen aber auch die Voraussetzungen zur Überwindung fal-schen Bewußtseins. So macht die intellektuelle und praktische Aneig-nung der Natur die Herrschaft der Priesterkaste, die ursprünglich zurirrationalen Bannung der Naturgewalten notwendig erschien, zunich-te. Die Erkenntnisse der Galilei, Newton, Kepler etc. schlagen den feu-dal-klerikalen Ausbeutern ihre scheinbar unantastbaren ideologischenWaffen aus der Hand. Die Vergesellschaftung der Produktion im Kapi-talismus, d. h. die Kooperation einer stets wachsenden Zahl von Indi-viduen in einem Großbetrieb vergrößert die Möglichkeit, die Gesell-schaftlichkeit der Produktion sowie deren Widerspruch zur privatenAneignung durchschaubar zu machen. Mit dem Kapitalismus entstehtdiejenige Gesellschaftsformation, in der die materiellen Voraussetzun-gen zur Emanzipation von aller Ideologie historisch am weitesten ent-wickelt sind. In dem Maße aber, wie es dem Menschen der bürgerli-chen Gesellschaft gelingt, die Natur immer umfassender in den Dienstder Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte zu stellen, ge-winnt die Form ihrer gesellschaftlichen Kooperation, die Art und Wei-se, in der sie sich in Produktion und Austausch aufeinander beziehen,ein qualitativ neues Gewicht bei der Bildung ihres Bewußtseins. Diesegesellschaftlichen Beziehungen werden den Menschen der kapitalisti-schen Gesellschaft quasi zur zweiten Natur, die sie beherrscht, stattdaß sie sie beherrschen. Die kapitalistische Form der Produktion unddes Austausches produziert eine ganz neue Art des falschen Bewußt-seins, die sich nun nicht mehr speist aus der unbegriffenen äußerenNatur, sondern aus dem spezifischen Charakter der gesellschaftlichen

220

Page 221: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Verhältnisse, in denen sich die Naturaneignung vollzieht. Die gesell-schaftlichen Beziehungen im Kapitalismus erzeugen den objektivenSchein, als seien sie bereits die Realisierung jenes vernunftregiertenGesellschaftszustandes, den die bürgerliche Aufklärung einst propa-gierte. Wo früher unmittelbare Herrschafts- und Knechtschaftsverhält-nisse herrschten, da werden jetzt Freiheit und Gleichheit etc. hochge-halten.

Aber der Kapitalismus ist der größte Formalist. Was das heißt, hatBertolt Brecht in seinem Gedicht „Drei Paragraphen der WeimarerVerfassung" sehr anschaulich ausgedrückt.1 6 Jedoch braucht mannicht erst zurückzugehen zum Alltag der Weimarer Republik; auf die-sem Formalismus beruht das Leben in der BRD heute ebenso, da dasWesen des Kapitalismus heute wie in Weimar dasselbe ist. Diesen For-malismus nennen wir die bürgerliche Ideologie. Das Besondere an die-ser Ideologie ist, daß der falsche Schein kapitalistischer Ratio, den die-se im Wesentlichen beinhaltet, notwendige Voraussetzung und für den„gesunden Menschenverstand" auch notwendiges Resultat der kapita-listischen Produktionsweise selbst ist.

Bürgerliche Ideologie wird demnach weniger bewußt erzeugt; viel-mehr sind ihr alle Individuen in der kapitalistischen Gesellschaft glei-chermaßen ausgesetzt.

Die bürgerliche Ideologie entspringt also nicht mehr wie das fal-sche' Bewußtsein vorkapitalistischer Gesellschaftsformen aus der Be-fangenheit der Menschen im Verhältnis zur äußeren Natur, sondernaus einem objektiven Schein, der sich aus der besonderen Beschaffen-heit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ergibt: „Die fertigeGestalt der ökonomischen Verhältnisse, wie sie sich auf der Oberflä-che zeigt, in ihrer realen Existenz, und daher auch in den Vorstellun-gen, worin die Träger und Agenten dieser Verhältnisse sich über diesel-ben klarzuwerden suchen, sind verschieden von, und in der Tat ver-kehrt, gegensätzlich zu ihrer inneren, wesentlichen, aber verhülltenKerngestalt und dem ihr entsprechenden Begr i f f . " 1 7

Bevor wir auf den verborgenen Entstehungsprozeß der Mystifika-tionen eingehen, die sich dem Betrachter der Oberfläche der kapita-listischen Gesellschaft unmittelbar aufdrängen, sei noch einmal in Um-rissen auf den besonderen methodischen Stellenwert der MarxschenVorgehensweise gegenüber dem Feuerbachschen Ansatz eingegangen.Feuerbach hat in den idealistischen und religiösen Bewußtseinsformenden in ihnen versteckten Inhalt entdeckt: das ,menschliche Wesen'. Ernennt sogar die Form beim Namen (und geht mit dieser Erkenntnisüber alle Vorgänger hinaus): Entfremdung durch Projektion. Er unter-läßt es jedoch, die Frage zu stellen, „warum dieser Inhalt jene Formannimmt, warum sich a l s o " 1 8 das ,menschliche Wesen' in einemhimmlischen Wesen (Gott) darstellt. Marx stellt diese Frage und leitetdamit eine erkenntnistheoretische Revolution ein. Das ,Warum' derForm eines bestimmten Bewußtseins — hier also der Selbstentfrem-dung des Menschen — kann logischerweise nicht im Bewußtsein selbst

221

Page 222: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

gefunden werden, es sei denn, man wolle das Resultat (die Projektion)aus sich selbst als Voraussetzung erklären. Es muß in der materiellengesellschaftlichen Praxis der entfremdeten Menschen aufgespürt wer-den, in deren Kontext sich Bewußtsein erst konstituiert. Die Praxisder Menschen muß so geartet sein, daß sie in den Köpfen der Beteilig-ten falsches, entfremdetes Bewußtsein hervorruft. Diese Überlegungenführen Marx zur Analyse des materiellen Lebensprozesses der Men-schen der bürgerlichen Gesellschaft und damit der Grundverhältnissedieser Gesellschaft selbst.

Eine Analyse der Ursachen des eigentümlich falschen Bewußtseins,das sich allen Individuen der bürgerlichen Gesellschaft aufdrängt — wirhaben Elemente dieses Bewußtseins in den vorangegangenen Kapitelnherausgearbeitet —, muß bei der unmittelbar ins Auge fallenden ,Ober-fläche' der bürgerlichen Gesellschaft beginnen.

Dieser zunächst selbstverständlich erscheinende Sachverhalt beinhal-tet, wie die folgende Untersuchung zeigen soll, einen spezifisch histo-risch-gesellschaftlichen Zusammenhang, von dem aus die verkehrteForm des der Warenwelt verhafteten bürgerlichen Bewußtseins (sie istihm eben selbstverständlich!) erklärt werden kann.

Exkurs 1: Grundlegende Gemeinsamkeiten aller menschlichen Gesell-schaften und Unterschied zwischen warenproduzierender Gesellschaft und anderen geschichtlichen Produktionsformen. Um zu leben, müssen die Mensehen arbeiten. Die Menschen einer Ge-sellschaft, die dieses grundlegende Gesetz — konsequent idealistischenHirngespinsten folgend — auch nur für wenige Monate mißachtenwürde, würden ganz krude, ganz unidealistisch auf diesen irdischenTatbestand gestoßen werden.

Ausgangspunkt jeder realistischen Geschichtsbetrachtung hat daherdie jeweilige Produktion einer Gesellschaft zu sein, wie man sie empi-risch feststellen kann und nicht die Vorstellungen, die die Menschensich über die Verhältnisse machen, in denen sie leben.

Um das Spezifische einer historischen Gesellschaftsformation erken-nen zu können — das, was sie von anderen historisch-sozialen Forma-tionen unterscheidet —, ist es zunächst notwendig, das herauszustel-len, was Sinn jeder menschlichen, das heißt gesellschaftlichen Produk-tion ist, die Reproduktion der Mitglieder der Gesellschaft auf glei-chem oder gestiegenem Niveau.

Dies impliziert, daß in jeder Gesellschaft ein Ausgleich zwischen denvorliegenden Bedürfnissen und der Arbeit, die auf die Produkte zurBefriedigung dieser Bedürfnisse aufzuwenden ist, hergestellt werdenmuß.

Der Modus jedoch, wie eine Korrespondenz zwischen den Bedürfnis-sen und der Gesamtarbeitskraft einer Gesellschaft (worunter wir dieSumme der Arbeitsvermögen der Einzelwesen einer Gesellschaft ver-stehen) erreicht wird, ist in den jeweiligen historischen Gesellschafts-formationen verschieden. Er hängt ab von dem Typ der Produktions-

222

Page 223: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

weise. Zwei grundlegende Modi, wie in der Gesellschaft die Korre-spondenz hergestellt wird, wollen wir hier kurz gegenüberstellen (wo-bei wir betonen, daß es in der Geschichte auch noch andere gab).

Die erste Möglichkeit: Die Menschen produzieren nach Maßgabeihrer Bedürfnisse auf Grund eines gemeinsamen Planes. Sie stellen fest,welche Arbeitszeit sie benötigen, um die verschiedenen Produkte (Ge-brauchswerte) zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse herzustellen. Nachdieser Feststellung verteilen sie die Arbeitsplätze auf die einzelnenProduktionsbereiche (auf die verschiedenen Abteilungen der Land-wirtschaft, Industrie etc.).

Ausgangspunkt ist also die Gesamtarbeitskraft, das Gemeinwesen.Die Arbeit der einzelnen erscheint als konkrete Ausprägung dieser Ge-samtarbeitskraft. Ihre Arbeit ist somit von vornherein gesellschaftlich,bewußt geplanter Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeitskraft. DieBeziehung des einzelnen zur Gesellschaft ist also unmittelbar durchdie Form der Verausgabung der Arbeit gesellschaftlich, sein Produktbesitzt logischerweise den gleichen Charakter.

Das Problem der Korrespondenz ist hier gelöst durch das bewußte,gemeinsame Vorgehen der Gesellschaftsmitglieder; Resultat eines ge-meinsamen Planes.

Anders bei der zweiten Möglichkeit: Diese Produktionsweise istzwar ebenfalls gesellschaftlich, liegt aber in dieser Form nicht unmit-telbar vor. Es handelt sich um die kapitalistische Produktionsweise,die den besonderen Gegenstand unserer Untersuchung darstellt. Diekapitalistische Produktionsweise ist gekennzeichnet — und dies unter-scheidet sie spezifisch von anderen Produktionsformen — durch zweiCharakteristika: Erstens nehmen in ihr alle Produkte (tendenziell) dieForm der Ware an. Zweitens geschieht die Produktion der Waren über-wiegend unter einem bestimmten historisch entstandenen Herrschafts-verhältnis: dem Kapitalverhältnis; ist also die Produktion nicht nurProduktion von Wert, sondern von Mehrwert. Dieser Charakter derProduktion (kapitalistische Warenproduktion) beruht auf der beson-deren Art der Gesellschaftlichkeit der Arbeit in dieser Gesellschaft.

Im Gange unserer Untersuchung schließen wir zunächst das zweiteCharakteristikum aus, betrachten also nur den Produktionsprozeß alsProduktion von Wert, nicht von Mehrwert. Erst wenn die Begriffe:Ware, Wert, Tauschwert und Gebrauchswert geklärt sind und die Kon-sequenzen für das Ideologieproblem aus dieser spezifischen Produk-tion, der einfachen Warenproduktion, herausgearbeitet sind, wendenwir uns der kapitalistischen Warenproduktion zu.

Exkurs 2: Der Warenfetisch19

Zunächst ist eine Ware ein beliebiger Gegenstand, der es vermag, ir-gendein menschliches Bedürfnis eines anderen Individuums zu befrie-digen. Diese Eigenschaft bildet seinen Gebrauchswert. Betont habenwir, daß die Ware das Bedürfnis nicht des Produzenten, sondern ir-gendeines anderen Menschen befriedigen muß. Daraus resultiert, daß

223

Page 224: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

der Gebrauchswert der Ware — im Gegensatz zum Gebrauchswertüberhaupt2 0 — immer gesellschaftlicher Gebrauchswert ist (weil er fürandere Gebrauchswert sein muß).

Ein Produkt wird also zur Ware, wenn es gegen ein anderes Arbeits-produkt getauscht wird. Als Waren produzierende Gesellschaft be-zeichnen wir die Gesellschaft, in der die Arbeitsprodukte allgemein fürden Tausch bestimmt sind, also das Arbeitsprodukt generell nicht fürden eigenen Bedarf bestimmt ist. Die Warenproduktion setzt also einebestimmte Form der gesellschaftlichen Arbeitsteilung voraus, wo diebesonderen, konkret-nützlichen Arbeiten als besondere Professionselbständiger Glieder erscheinen. Die Selbständigkeit der Produzentendrückt sich in der Einseitigkeit der konkreten Arbeit aus (der Schnei-der produziert nur Kleidungsstücke, der Bäcker Brot, der LeinenweberLeinen etc.). Auf dieser Einseitigkeit beruht die Selbständigkeit derProduzenten gegeneinander. Im Tausch drückt sich diese Selbständig-keit darin aus, daß der Tauschende Eigentümer des Produkts ist, wel-ches er veräußern will. Andererseits aber bedingt die Einseitigkeit derArbeit das allseitige Angewiesensein der Produzenten aufeinander.Denn im „System der Bedürfnisse"2 1 sind die verselbständigten Pro-duzenten sinnlich-stofflich aufeinander verwiesen. Kein Schneiderkann sich nur von Kleidungsstücken, kein Stecknadelproduzent nur vonStecknadeln sich reproduzieren. Das aber bedeutet, daß ihre Arbeit,wenngleich in der Form der Privatarbeit verausgabt, inhaltlich gesell-schaftliche Arbeit ist. Sie produzieren nicht, um ihre Produkte selbstzu konsumieren, sondern für andere, für die Gesellschaft.

Die Warenproduktion ist folglich die Produktion voneinander unab-hängiger, isolierter, privater Produzenten, deren Gesellschaftlichkeit,d. h. allseitige, tatsächliche Abhängigkeit voneinander durch die priva-te und nicht von der Gesellschaft geplante Form der Verausgabungder Arbeitskraft nicht unmittelbar positiv in Erscheinung tritt.

Da aber, wie wir gesehen haben, die Individuen nur durch die Formder privaten Arbeit als unabhängig voneinander erscheinen, in Wirk-lichkeit jedoch ihre Arbeit gesellschaftlichen Charakter besitzt (Ge-brauchswert der Ware für andere), stellt sich uns die Frage, wie diesergesellschaftliche Charakter, der nicht unmittelbar vorliegt, sonderndurch die private Form der Arbeit verdeckt ist, erscheint oder sichdarstellt.

Jeder Warenproduzent stellt Dinge her für andere, für den Markt.Auf diesem zeigt sich, ob und in welchem Maße er (der Warenprodu-zent) gesellschaftliche Arbeit geleistet hat. Da seine Arbeit nicht un-mittelbargesellschaftliche Form besitzt, muß sich letztere an ihrem Pro-dukt erweisen. Damit der Warenaustausch stattfinden kann, müssen al-le Waren etwas Gemeinsames haben. Es ist offensichtlich, daß diesesgemeinsame Element nicht in ihren verschiedenen, qualitativ unter-schiedlichen Gebrauchswerten liegen kann. Es bleibt so nur als Ge-meinsames die Eigenschaft, daß alle Waren Produkte menschlicher Ar-beit sind. Doch so verschieden, wie die vielfältigen Naturalgestalten

224

Page 225: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

der Waren sind, ist auch die in ihnen materialisierte Arbeit. ImTauschakt aber wird real — in der Gleichsetzung zweier Waren, z. B.20 E Leinwand gleich 1 Rock — abstrahiert von der Verschiedenheitder Gebrauchsgegenstände oder der Naturalform (Stofflichkeit) derWare. Folglich wird die in ihnen vergegenständlichte menschliche Ar-beit als gleiche angesehen. Die Arbeit also, soweit sie als Substanz desWertes gilt, ist die von allen konkreten Formen ihrer Verausgabungabstrahierte, gleiche, allgemein menschliche Arbeit. (Die Verausga-bung eines bestimmten Quantums an Muskel, Nerv, Hirn usw.) Als all-gemein menschliche Arbeit, als Teil der Gesamtarbeitskraft einer Ge-sellschaft liegt die Arbeit in der warenproduzierenden Gesellschaft je-doch nicht vor, im Gegensatz zu der von uns oben beschriebenen Ge-sellschaft. Der „Wert" als kristallisierter gesellschaftlicher Arbeitsauf-wand muß sich daher eine „eigene Erscheinungsform" geben. Diese„selbständige Darstellungsweise des in der Ware enthaltenen Werts" istder Tauschwert.

Der Tauschwert der Ware ist die Erscheinung des Wesens der Ware:des Werts. Warum treten aber Wesen und Erscheinung auseinander? — Implizit haben wir die Frage oben schon beantwortet: Die Arbeit inder warenproduzierenden Gesellschaft ist gesellschaftlich, wird aber inder Form der Privatarbeit verausgabt.

Folglich liegen auch ihre Produkte nicht in unmittelbarer gesell-schaftlicher Form vor, sondern müssen erst beweisen, daß sie als Wertedurch gesellschaftlich notwendige Arbeit produziert sind. Der Beweiserfolgt im Tauschakt auf dem Markt. Der Markt entscheidet dasSchicksal des Warenbesitzers. Auf ihm vollzieht sich, hinter demRücken der Produzenten, als Naturgesetz die Herstellung der Kor-respondenz von gesellschaftlich notwendigem Arbeitsaufwand undden Bedürfnissen der Gesellschaftsmitglieder. Denn da „die Gliederdes Systems der gesellschaftlichen Arbeitsteilung gegeneinander selb-ständige Warenproduzenten sind, so ist das Gleichgewicht diesesSystems mit den quantitativ wie qualitativ bestimmt gegliederten ge-sellschaftlichen Bedürfnissen . . . zufällig. Aber eine dem Umfang undQualität nach den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechende pro-portionale Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit auf die be-sonderen als Privatgeschäfte betriebenen Arbeitszweige ist notwendigeBedingung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses. Für die in-dividuellen Warenproduzenten jedoch, für die der gesellschaftliche Zu-sammenhang nur als äußerer Prozeß des Austauschs ihrer Produkte alsWaren gegeben ist, kann diese Proportion nur außer ihnen liegende, siein der Art eines Naturgesetzes beherrschende Notwendigkeit sein. Dieregellose Willkür der Warenproduzenten kann der Regel der propor-tionalen Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit nur als einem postfestum wirkenden äußeren Zwangsgesetz unterworfen werden. In derTat wird das Gesetz der gesellschaftlichen Produktion vermittelst deranarchischen Aktion der individuellen selbständigen Produzenten auf-einander, als beständige Tendenz der verschiedenen Produktionssphä-

225

Page 226: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

ren, sich ins Gleichgewicht zu setzen, d. h. die beständig auftretendenWarenproduzenten werden den Gesetzen ihres eigenen gesellschaft-lichen Lebens unabhängig von und entgegen ihrem Willen undBewußtsein unterworfen." 2 2

Wollen wir also den Ursprung der bürgerlichen Ideologie aufdeckenund sie als notwendig falsches Bewußtsein aufzeigen, müssen wir die-sen besonderen Modus der Korrespondenzherstellung untersuchen,wie er sich vermittels des Warenaustausches vollzieht, d. h., wir müs-sen das Austauschverhältnis zweier Waren analysieren. Denn dies istder einfachste Ausdruck, in welchem die Gesellschaftlichkeit der pri-vaten Arbeiten erscheint.

Die Analyse der einfachen Wertform der Ware: 20 E Lein-wand = 1 Rock stößt zum Geheimnis des Waren- und Geldfetischs vorund entlüftet so das Geheimnis des Ursprungs der bürgerlichen Ideolo-gie.

In dieser Gleichung drückt sich der Wert der Ware A (Leinwand) ineiner bestimmten Menge der Ware B (Rock) aus. Die Ware A drücktihren Wert „relativ" aus, in dem sie sich auf die Ware B bezieht. DieWare B dient ihr als „Äquivalent". In dieser Gleichung (auch wennman sie umkehrt) spielt also jede Ware eine verschiedene Rolle. Ent-weder befindet sie sich in der relativen Wertform oder in der Äquiva-lentform. Der Wertausdruck drückt also nur den Wert einer Ware aus;die zweite Ware, die in der Form des Äquivalents vorliegt, spielt nureine passive Rolle, dient der Ware A nur als Material. In der vorliegen-den Gleichung, in welcher der Rock zum Äquivalent wird, drückt sichalso der Wert (gesellschaftliche Substanz) der Leinwand im Ge-brauchswert (Naturalform) des Rockes aus. Indem die Ware A ihrenWert im Gebrauchswert einer anderen Ware ausdrückt, scheint es, alsbesitze die Ware, die sich in Äquivalentform befindet, von Natur ausdie Fähigkeit, den Wert irgendeiner Ware auszudrücken. Als käme ihrals Naturalgestalt, als Ding an sich, die Eigenschaft zu, „Wert" (gesell-schaftliche Substanz) zu sein. Die Folge ist, daß die Gesellschaftlich-keit der Individuen als gesellschaftliche Beziehung der Sachen (Waren)erscheint, die unabhängig von ihnen besteht und daß das Verhältnisder Personen zueinander als sachliche, äußere Beziehung erscheint.

Mit dieser Herleitung der Genesis der Form, in der sich der Inhalt(die Arbeit) ausdrückt, überschreitet Marx den Erkenntnishorizontbürgerlicher Ökonomie: „Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt,warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum sich also die Arbeitim Wert . . . des Arbeitsprodukts darstel l t ." 2 3 Indem Marx die Wert-form des Arbeitsprodukts selbst noch ableitet aus der spezifischenForm, in der die Arbeit in einer warenproduzierenden Gesellschaft ver-ausgabt wird, spürt er ihre Geschichtlichkeit (und damit Aufhebbar-keit) auf. „Die Wertform des Arbeitsprodukts ist die abstrakteste,aber auch allgemeinste Form der bürgerlichen Produktionsweise, diehierdurch als eine besondere Art gesellschaftlicher Produktion und da-mit zugleich historisch charakterisiert wird. Versieht man sie daher für

226

Page 227: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

die ewige Naturform gesellschaftlicher Produktion, so übersieht mannotwendig auch das Spezifische der Wertform, also der Warenform,weiter entwickelt der Geldform, Kapitalform usw . " 2 4 Die Wertformder Ware beruht auf der spezifischen gesellschaftlichen Form der — warenproduzierenden — Arbeit, d. h. dem Tatbestand, daß gesell-schaftliche Arbeit von isolierten Privatproduzenten geleistet wird. DieArbeit ist in der bürgerlichen Gesellschaft zwar gesellschaftliche Pro-duktion, aber keine bewußt gemeinschaftliche Arbeit. Der Warenformder Arbeitsprodukte steht, wie Marx kritisch anmerkt, „auf der Stirngeschrieben . . . , daß sie einer Gesellschaftsformation angehören,worin der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nichtden Produktionsprozeß bemeis te r t " 2 5 . Die spezifische Form dieserdie bisherige Geschichte ausmachenden Herrschaft der Produktionsbe-dingungen über die Produzenten manifestiert sich in der warenprodu-zierenden Gesellschaft in der Vergegenständlichung des gesellschaft-lichen Zusammenhangs gegenüber den isolierten Produzenten. Trägerdieser ,Vergegenständlichung des gesellschaftlichen Zusammenhangs'sind die Arbeitsprodukte, an denen sich auf diese Weise der wider-sprüchliche Charakter der gesellschaftlichen Arbeit ausdrückt: in derForm des ,gegenständlichen Scheins der gesellschaftlichen Charaktereder Arbei t ' . 2 6

Marx hat diese Verkehrung und ihre Notwendigkeit wie folgt be-schrieben: „Da die Produzenten erst in gesellschaftlichen Kontakt tre-ten (in der warenproduzierenden Gesellschaft, d. Verf.) durch denAustausch ihrer Arbeitsprodukte, erscheinen auch die spezifisch ge-sellschaftlichen Bestimmungen ihrer Privatarbeiten erst innerhalb die-ses Austausches. Oder die Privatarbeiten bestätigen sich in der Tat erstals Glieder der gesellschaftlichen Gesamtarbeit durch die Beziehungen,worin der Austausch vermittels derselben die Produzenten versetzt.Den letzteren erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungenihrer Privatarbeiten als das, was sie sind, d. h. nicht als unmittelbargesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst,sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesell-schaftliche Verhältnisse der S a c h e n . " 2 7

Es ist dieses „bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschenselbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhält-nisses von Dingen ann immt" 2 8 . Das falsche Bewußtsein der Agentendieser Gesellschaft korrelliert so dem objektiv gesetzten falschenSchein dieser bestimmten Produktionsweise. Es entspringt der Waren-form selbst, deren Geheimnis darin besteht, „daß sie den Menschendie gesellschaftlichen Charaktere der Arbeitsprodukte selbst als gesell-schaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daherauch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtar-beit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis vonGegenständen. Durch dieses Quidproquo werden die ArbeitsprodukteWaren, sinnlich-übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge . " 2 9 Der Fe-tischismus der Warenwelt resultiert also daraus, daß die Erscheinungs-

227

Page 228: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

form des „Werts" die Eigenschaft hat, das Wesen des „Werts" zu ver-schleiern und genau als sein Gegenteil (als Natureigenschaft einerSache) zu erscheinen. Befestigt ist dieser Schein, sobald eine Ware all-gemeines Äquivalent (Geld) wird. Dem Geld scheint als Ding die Ei-genschaft zuzukommen, „Wert" zu sein. „In der Tat bestätigt sich derWarencharakter der Arbeitsprodukte erst durch ihre Bestätigung alsWertgröße. Die letzteren wechseln beständig, unabhängig vom Willen,Vorwissen und Tun der Austauschenden. Ihre eigene gesellschaftlicheBewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unterderen Kontrolle sie stehen, statt sie zu kon t ro l l i e ren . " 3 0 Den Men-schen werden so ihre eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse zu einer„zweiten Natur", deren Gesetze sie genauso äußerlich unterworfensind, wie der ersten (Geschichte als Schicksal).

Der westdeutsche Historiker Wolfgang Mommsen hat dieses Ge-schichtsbewußtsein so charakterisiert: Das „Gefühl nach ,Geborgen-heit' im Gang der Geschichte" gehe verloren, an seine Stelle trete „dasGefühl des ,Geworfenseins', der Zufälligkeit unserer Existenz inmitteneines als chaotisch empfundenen geschichtlichen Geschehens. Ge-schichte tritt uns nicht mehr als ein von uns selbst hervorgerufenes . . .sondern weithin als blindes Faktum gegenüber."3 1

Universalisiert diese Auffassung die Organisationsform der bürgerli-chen Gesellschaft, so daß alle geschichtlichen Verhältnisse immerschon als (mehr oder weniger) bürgerliche identifiziert werden, die als„natürliche" dem geschichtlichen Wandel transzendent sind, so bildetdie Auffassung Rankes von der „Individualität" der Geschichts-epochen nur die Kehrseite der Medaille. Nach Ranke muß die Ge-schichtswissenschaft darauf bestehen, „daß jede Geschichtsepoche,Gott gleich nahe ist', d. h. den gleichen Grad der Vollendung erreichthat, daß es also eine Geschichtsentwicklung — aus entgegengesetztenGründen — wiederum nicht g i b t " 3 2 .

Geschichte wird so, wie Lukäcs betont „ein — letzten Endes — ver-nunftsloses Walten blinder Mächte, das sich höchstens in ,Volksgei-stern' oder ,in großen Männern' verkörpert, das also nur pragmatischbeschrieben, nicht aber als vernünftig begriffen werden kann. Es istnur als eine Art Kunstwerk ästhetisch organisierbar" 3 3 .

In beiden Fällen schneidet sich die Geschichtswissenschaft metho-dologisch die Möglichkeit ab, das Entstehen gesellschaftlicher Gebildezu begreifen.

Tatsächlich drücken diese beiden Auffassungen nur verschiedeneSeiten des durch die kapitalistische Warenproduktion gesetzten objek-tiven Scheins aus: Die angeblich seinsgegebenen Ohnmacht der Men-schen gegenüber einem als Naturgesetz erfahrenen verdinglichten ge-sellschaftlich-ökonomischen Zusammenhang.

Als Beispiel aus der Soziologie mag hier der Franzose Emile Durk-h e i m 3 4 stehen (vergl. auch Parson oder Pareto).

Durkheim postuliert, man solle die sozialen Tatbestände wie Dingebehandeln. Seine „Regeln der soziologischen Methode" bewahren so

228

Page 229: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

die Hegeische Idee der Gesellschaft als „zweite Natur" auf. Gesell-schaft ist dem einzelnen gegenüber das Nichtidentische, Zwang. Ausdieser Äußerlichkeit, wozu Gesellschaft im Kapitalismus — wie wir ge-zeigt haben — tatsächlich geworden ist, leitet Durkheim sein Postulatder Nichtverstehbarkeit (im Gegensatz zu Max Weber, der ebenso par-tikular die andere Seite — die Verstehbarkeit — verficht) ab. Richtigist in seiner Theorie der „faits sociaux" die Konstatierung der Ding-haftigkeit der Gesellschaft insoweit, als sich das Besondere nicht imAllgemeinen wiederfindet. Das Unverständliche, das dem Individuumgesellschaftlich widerfährt, wird jedoch nicht Kernpunkt für die wis-senschaftliche Erklärung, welche es erheischt, sondern wird in die me-thodische Maxime: Du sollst nicht verstehen, hypostasiert (bürgerli-cher Agnostizismus als Resignation gegenüber der realen Verdingli-chung).

Wissenschaft, statt zu erklären, dupliziert die Undurchsichtigkeitder Gesellschaft, so daß sie als „unfaßliches" Schicksal erscheint.Durkheim leistet somit die Vorarbeit für die Geistlosigkeit der empiri-schen Soziologie, für welche das Allgemeine nichts anderes ist als dieExtrapolation der Einzeldaten, des subjektiv Vorfindlichen, zumDurchschnittswert, wohingegen diese Daten immer schon ein durchdie gesellschaftliche Allgemeinheit abstrakter Arbeit vermitteltes sind.

Symptomatisch für die Geschichtslosigkeit auch des Historismus istfolgende Bemerkung Meineckes (einer der ,Päpste' der deutschen Ge-schichtswissenschaft): „Es gilt, sich in die Seelen der Handelnden da-bei zu versetzen, von ihren Voraussetzungen aus ihr Werk und ihreKulturleistung zu betrachten und letzten Endes durch künstlerischeIntuition ihr vergangenes Leben neu zu beleben, was ohne Transfusioneigenen Lebensblutes nicht möglich i s t . " 3 5

Nur so könne man, „denjenigen Grad von Objektivität erreichen,der überhaupt möglich i s t " 3 6 .

Die Auffassung, man betreibe ,objektive' Wissenschaft, wenn mansich als Historiker in die Persönlichkeiten der Vergangenheit hinein-versetze, ihnen das eigene Lebensblut einspritze, ist nur der kärglicheReflex der Tatsache, daß in der bürgerlichen Gesellschaft die Indivi-duen als von jeder gesellschaftlichen Bestimmtheit losgelöst, als reinePrivatpersonen erscheinen, die sich zudem nur hinsichtlich rein indivi-dueller Fähigkeiten unterscheiden. Die Individuen, die in der bürgerli-chen Gesellschaft vor allem als Warentauschende (Geldbesitzer) in ge-sellschaftlichen Kontakt treten, erscheinen notwendigerweise als qua-litativ Gleiche und nur quantitativ Unterschiedene (wie ihre Waren, alsderen Repräsentanten sie erscheinen). Insofern kann jedes sich in einanderes ohne weiteres ,hineinversetzen'. Der bürgerliche Historikerüberträgt nun diesen aus der Sphäre der Warenzirkulation entspringen-den Schein des abstrakten Individuums (als Träger vergegenständlich-ter abstrakter Arbeit) in die Geschichte und entdeckt alle historischenPersönlichkeiten als alter ego — versehen mit Schwächen und Stärken,wie sie nun einmal allen ,Menschen' in unterschiedlichem Ausmaß ge-

229

Page 230: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

mein sind. Zugrunde liegt die Vorstellung (die ebenfalls mit dem ab-strakten Individuum der Warenzirkulation gegeben ist) des immerglei-chen Menschen: wie sehr sich auch die äußeren Umstände (Gesell-schaft erscheint dem bürgerlichen Individuum ja tatsächlich als etwasihm Äußerliches) verändern mögen, der Mensch ist und bleibt der ,alteAdam' (Anthropologie).

Indem diese Vorstellungen vollständig von der historisch-sozialenBestimmtheit der konkreten Menschen abstrahieren, reproduzieren sienur den objektiven Schein des abstrakten Menschen in der Zirkula-tionssphäre. Sie fassen das Individuum „nicht als geschichtlich ent-stehendes, sondern von der Natur gesetz tes" 3 7 — eine Sichtweise, diedem dinglichen Schein der kapitalistischen Verhältnisse (zweite Na-tur) genauso aufsitzt, wie schon die frühbürgerlichen Naturrechtlermit ihrer Identifizierung des bürgerlichen Privateigentümers mit dem,natürlichen' Menschen. „Ihr Irrtum besteht darin, daß sie im empiri-schen historischen Individuum (gleichviel ob es sich um einen Men-schen, eine Klasse oder ein Volk handelt) und in seinem empirischengegebenen (also psychologischen oder massenpsychologischen) Be-wußtsein jenes Konkrete zu finden meint. Wo sie jedoch das Allerkon-kreteste gefunden zu haben glaubt, hat sie es gerade am weitesten ver-fehlt: die Gesellschaft als konkrete Totalität; die Produktionsordnungauf einer bestimmten Höhe der gesellschaftlichen Entwicklung unddie durch sie bewirkte Gliederung der Gesellschaft in Klassen. Indemsie daran vorbeigeht, faßt sie etwas völlig Abstraktes als Konkretesa n . " 3 8 „Diese Verhältnisse", sagtMarx, „sind nicht die von Individuumzu Individuum, sondern die von Arbeiter zu Kapitalist, von Pächter zuGrundbesitzer usw. Streicht diese Verhältnisse, und ihr habt die ganzeGesellschaft aufgehoben . . . " 3 9

„Ein Neger ist ein Neger. In bestimmten Verhältnissen wird ererst zum Sklaven. Eine Baumwollspinnmaschine ist eine Maschinezum Baumwollspinnen. Nur in bestimmten Verhältnissen wird sie zuKapital. Aus diesen Verhältnissen herausgerissen ist sie so wenigKapital wie Gold an und für sich Geld oder Zucker der Zuckerpreisi s t . " 4 0

Auch die oben skizzierte soziologisch-gesetzmäßig orientierte Ge-schichtsbetrachtung teilt die Auffassung, daß das Individuum von derNatur gesetzt sei. Die ahistorische Hypostasierung gesellschaftlicherVerhältnisse korresponiert mit einer ebensolchen Hypostasierung desbürgerlichen egoistischen Individuums zur ,eweigen Menschennatur'(Ontologisierung/Anthropologisierung). Geschichte scheint im Kapita-lismus zum Stillstand gekommen zu sein, ist zum quasi naturhaftenSein erstarrt. Der von Menschen gemachte historische Prozeß hat sichin den Kreis des Immergleichen verflüchtigt. Dieser Geschichtsverlustbürgerlichen Bewußtseins hat seine Grundlage in der objektiven Ver-dinglichung. „Die bürgerliche Gesellschaft steht universal unter demGesetz des Tauschs, des ,Gleich um Gleich' von Rechnungen, die auf-gehen, und bei denen eigentlich nichts zurückbleibt. Tausch ist dem

230

Page 231: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

eigenen Wesen nach etwas Zeitloses . . . Wenn die Menschheit derErinnerung sich entäußert und sich kurzatmig erschöpft in der Anpas-sung ans je Gegenwärtige, so spiegelt sich darin ein objektives Ent-wicklungsgesetz."4 1 Es wird nicht nur im Tauschakt die Zeit ausge-löscht, sondern, wichtiger noch: Im Tauschwert als Darstellungsweiseabstrakter Arbeit ist die konkrete weltverändernde, eben historischePraxis der Menschen ausgelöscht. Das Sein ist immer schon Geworde-nes, seine Genesis durch menschliche Praxis ist ihm genausowenig an-zusehen wie seine mögliche praktische Aufhebung. Hier liegt die Wur-zel jenes Positivismus, der alles Gewordene dadurch legitimiert, daß esist und das unmittelbar Vorfindliche für das Ganze nimmt. „DieDenkform Ware ist selber die gesteigerte Denkform Gewordenheit,Faktum. Über diesem Faktum wird das Fieri besonders leicht verges-sen und so über dem verdinglichten Produkt das Produzierende, überdem scheinbaren Fixum im Rücken der Menschen das Offene vorihnen." 4 2

Dieser bürgerlichen Geschichtslosigkeit (nach vorn und hinten) ent-spricht der rein beschreibende, nicht erklärende Charakter bürgerli-cher Geschichtsschreibung.

Stellt man sich, indem man sich „in die Seelen der Handelnden. . . selbst zu versetzen" sucht, auf den Standpunkt derjenigen also,deren Handlungsweise zu untersuchen ist, so ist es verständlich, daßkeine Erklärung dieser Handlungsweisen möglich ist, daß die Hand-lungsweisen (oder Vorstellungen) nur verstanden werden können. EinPsychoanalytiker, der sich in die „Seele" eines Geisteskranken ver-setzt, kann vielleicht verstehen, warum sich sein 1 atient für Napoleonhält, diesen Sachverhalt kann er so aber nicht erklären. Um diesenSachverhalt erklären zu können, ist es notwendig, daß der Forscherdie Ebene wechselt, also aus der realen Situation des Individuums(seinem „Kranksein") seine Vorstellungen ableitet. Für eine wirk-liche Wissenschaft der Geschichte heißt das: „Es wird nicht aus-gegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sichvorstellen, auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten,vorgestellten Menschen, um davon aus bei den leibhaftigen Men-schen anzukommen; es wird von den wirklichen tätigen Menschenausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Ent-wicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozes-ses dargestellt." 4 3

Die Unfähigkeit, die Genesis gesellschaftlicher Phänomene zu erfas-sen, ist ihrem Verhaftetsein an den Standpunkt der Zirkulationssphäregeschuldet. Wie sich die Gesellschaftlichkeit der privaten Individuenerst als in den Waren vergegenständlichte darstellt, somit also auf die-ser Ebene die historische Formbestimmtheit der diese Mystifikationenerst erzeugenden Arbeit verdeckt ist, wie also vom Standpunkt derZirkulationssphäre aus die eigene Genesis ausgelöscht erscheint, so er-scheinen dem bürgerlichen Verstand die menschlichen Individuen vonvornherein als losgelöst von der gesellschaftlichen Unterlage, auf die

231

Page 232: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

sie dann nur noch rückwirkend einwirken können. „So wie in der Wa-renproduktion der gesellschaftliche Charakter der unabhängig vonein-ander betriebenen Privatarbeiten erst innerhalb des Austauschs, alsopost festum, im nachhinein, erscheint, so stellt die bürgerliche Ideolo-gie den Zusammenhang von individuellem Handeln und gesellschaftli-chem Resultat als Ursache-Folge-Beziehung dar . . . und fixiert die Ge-sellschaft in der Trennung vom Individuum . . . " 4 4 Diese Konzeptiondes über der Gesellschaft schwebenden historischen Individuums, dasauf Grund ihm unmittelbar eingewachsener besonderer FähigkeitenGeschichte ,macht', ist der theoretische Ausdruck des ,abstrakten Indi-viduums', wie es in der Warenzirkulation als realer Schein gesetzt ist:„Die Warenwelt produziert . . . ein abstraktes Denken, weil ihr die Ab-straktion selbst innewohnt ." 4 5

Diese realen Abstraktionen, die der Warenwelt anhaften und aus de-nen sich der Formalismus und Idealismus der bürgerlichen Wissen-schaft speist, resultieren nicht aus einer angeblichen Natureigenschaftdes Arbeitsprodukts ,überhaupt', sondern aus dem spezifisch gesell-schaftlichen Charakter der warenproduzierenden Arbeit, der darin be-steht, daß die Arbeit in dieser Gesellschaft nur in privater Form vor-liegt und sich ihre Gesellschaftlichkeit deshalb in der abstrakten Ei-genschaft der Arbeitsprodukte darstellen muß, Wert zu sein Die Ge-sellschaftlichkeit der Arbeit erscheint in verkehrter und mystifizierterForm; als Wertgegenständlichkeit. Der in der Arbeit angelegte Wider-spruch (privat/gesellschaftlich, konkret/abstrakt) reproduziert sich indem Doppelcharakter des Arbeitsprodukts, der Ware als ,sinnlich-über-sinnlichem D i n g ' 4 6 , d. h. in der Notwendigkeit des Werts (eines gesell-schaftlichen Verhältnisses von Menschen), in verkehrter Form, imTauschwert einer Sache zu erscheinen. „Der Tauschwert erscheint soals gesellschaftliche Naturbestimmtheit der Gebrauchswerte, als eineBestimmtheit, die ihnen als Dingen zukommt ." 4 7 Im Geld, dem ver-selbständigten Tauschwert, hat der gesellschaftliche Zusammenhangisolierter Individuen ihren endgültigen sachlichen Ausdruck erhalten.Als materielles Substrat abstrakter Arbeit ist das Geld vergegenständ-lichte Abstraktion. „Im Geldverhältnisse, im entwickelten Austausch-system . . . sind in der Tat die Bande der persönlichen Abhängigkeitgesprengt ... und die Individuen scheinen unabhängig . . . , frei aufein-ander zu stoßen und in dieser Freiheit auszutauschen; sie scheinen soaber nur für den, der von den Bedingungen, den Existenzbedingungen (und diese sind wieder von Individuen unabhängige und erscheinen,obgleich von der Gesellschaft erzeugt, gleichsam als Naturbedin-gungen, d. h. von den Individuen unkontrollierbare) abstrahiert, unterdenen diese Individuen in Berührung treten . . . Diese sachlichen Ab-hängigkeitsverhältnisse im Gegensatz zu den persönlichen erscheinenauch so . . . , daß die Individuen nun von Abstraktionen beherrschtwerden, während sie früher voneinander abhingen. Die Abstraktionoder Idee ist aber nichts als der theoretische Ausdruck jener materiel-len Verhältnisse, die Herr über sie sind . . . " 4 8 Mit dem Geld ist der

232

Page 233: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

reale Idealismus gesetzt. Die weitverbreitete und auch die Schulbücherdurchziehende Vorstellung einer ,reinen Immanenz ideeller Abläufe'ist nur der theoretische Niederschlag der in der Alltagspraxis derbürgerlichen Gesellschaft permanent vollzogenen Abstraktion von dermateriellen Produktion.

Die bürgerliche Geschichtsschreibung muß folglich, da sie vom ab-strakten Individuum ausgeht, entweder psychologisieren (statisch-anthropologischer Ansatz) oder die Geschichte betrachten nach denIdeen, Vorstellungen etc., die die Individuen sich von ihrem Handelnmachen, oder aber die äußerliche Gestalt in der sich die Gemeinschaft-lichkeit der abstrakten Individuen ausdrückt, den Staat, zum eigentli-chen Subjekt der Geschichte machen. Es muß ihr, da sie den wirkli-chen Lebensprozeß der Individuen naturalisiert und damit als unge-schichtlich ausklammert, das „Extra-überweltliche", „als das vom Le-ben getrennte" als das eigentlich geschichtliche erscheinen. 4 9 Dem ob-jektiv gesetzten dinglichen Schein, der durch die Warenproduktionden gesellschaftlichen Beziehungen anhaftet, aufsitzend, vermag sienicht zu begreifen, daß auch der Staat nicht eine ,ewige' Formmenschlichen Zusammenhalts ist, sondern die aus bestimmten Pro-duktionsverhältnissen entsprungene, entfremdete politische Gestaltdieser Verhältnisse. Die Historiker sitzen so dem Staatsfetisch auf, wiedie Ökonomen dem Geldfetisch, weil sie nicht in der Lage sind, denStaat als notwendiges Produkt bestimmter gesellschaftlicher Produk-tionsverhältnisse zu begreifen, und der Staat ihnen so naturnotwendigerscheint, wie dem Ökonomen die bürgerliche Gesellschaft. Wieso aberist der Staat ein notwendiges Produkt der bürgerlichen Produktions-weise? Wieso ist er, wie das Geld, eine entfremdete Gestalt des Allge-meinen?

Der Staatsfetisch

Aus dem bestimmten gesellschaftlichen Produktionsverhältnis, in demdie Arbeit der Menschen nicht in unmittelbar gesellschaftlicher Formvorliegt, haben wir die Notwendigkeit abgeleitet, daß sich ihre Pro-dukte eine gesellschaftliche Form geben müssen. Das Geld, das die ge-sellschaftliche Bezogenheit der Arbeitsprodukte äußerlich herstellt alsVerhältnis der Dinge selbst, resultierte aus dem Doppelcharakter derin der Ware eingeschlossenen Arbeit. Als Inkarnation konkreter Ar-beit vereinzelter Individuen existieren die Arbeitsprodukte nur alsnützliche Dinge und sind so inkommensurabel. Erst wenn sie alsMateriatur abstrakter Arbeit, mit der eine Abstrakton von denkonkreten Individuen einhergeht, sich darstellen, ist die in ihnenvergegenständlichte menschliche Arbeit als gesellschaftliche aner-kannt und können sie in gesellschaftlichen Kontakt treten. Die In-dividuen werden so zu Prädikaten der abstrakten Arbeit. Dieser

233

Page 234: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Doppelcharakter der Arbeit, der den inneren Gegensatz von Ge-brauchswert und Wert der Ware ausmacht, manifestiert sich sinnlichin der Verdoppelung der Ware in Ware und Geld.

„Der Prozeß ist also einfach der: Das Produkt wird Ware, das heißtbloßes Moment des Austauschs. Die Ware wird in Tauschwert verwan-delt. Um sie sich selbst als Tauschwert gleichzusetzen, wird sie miteinem Zeichen vertauscht, das sie als den Tauschwert als solchen re-präsentiert. Als solcher symbolisierter Tauschwert kann sie dann wie-der in bestimmten Verhältnissen mit jeder anderen Ware ausgetauschtwerden. Dadurch daß das Produkt Ware, die Ware Tauschwert wird,erhält es erst im Kopfe eine doppelte Existenz. Diese ideelle Verdopp-lung geht (und muß dazu fortgehen), daß die Ware im wirklichen Aus-tausch doppelt erscheint: als natürliches Produkt auf der einen Seite,als Tauschwert auf der andren. D. h. ihr Tauschwert erhält eine mate-riell von ihr getrennte Existenz . . . Der von den Waren selbst losge-löste und selbst als eine Ware neben ihnen erscheinende Tauschwertist — G e l d . " 5 0 So wie die Arbeitsprodukte der Menschen „ihre Ge-sellschaftlichkeit", ihre Allgemeinheit in einer äußeren Gestalt, demGeld, ausdrücken müssen, da sie an dem einzelnen Arbeitsproduktals Resultat privater Arbeit nicht unmittelbar vorliegt, so müssenauch die konkreten Individuen, die als einzelne so verschieden sind,wie ihre Produkte, ihrer Gemeinsamkeit eine äußere Gestalt geben,ihrer Gesellschaftlichkeit in einem äußeren Gebilde Ausdruck ver-leihen.

In ihrem empirischen Sein sind sie nicht unmittelbar gesellschaftli-che, gleiche, sondern private, isolierte Individuen. Gleich sind sie erstdadurch, daß ihre individuelle Arbeit als besondere Erscheinungsformder abstrakten gesellschaftlichen Totalarbeitskraft angesehen wird, siealso als abstrakte Individuen gesetzt sind. So wie aber ihre Arbeit sichin einer sachlichen, fremden Gestalt (Geld) darstellen muß, um ihrengesellschaftlichen Charakter zu bekunden, so müssen auch die abstrak-ten Individuen ihrer Gesellschaftlichkeit, Allgemeinheit eine solcheäußerliche Gestalt geben. So wie sich ihre Arbeitsprodukte verdoppelnmüssen, so auch die Individuen, die sie produzieren.

„Der wirkliche Mensch ist erst in der Gestalt des egoistischen (un-wahren, d. Verf.) Individuums, der wahre Mensch erst in der Gestaltdes abstrakten citoyens (Staatsbürgers, d. Verf.) anerkannt." 5 1 Stattdiesen Zustand als historisch entstandenen und zu kritisierenden zufassen, überhöht die bürgerliche Geschichtsschreibung die entfremdeteGestalt (Staat) des menschlichen Zusammenhangs, in dem sie denStaat vergöttert. Der im „System der Bedürfnisse", der allseitigen Ab-hängigkeit der Individuen gründende Zusammenhang erscheint in derVerkehrung als Produkt des Staates. Der Staat wird so zum eigentli-chen Subjekt, während er in Wirklichkeit aus der Verdoppelung derbürgerlichen Gesellschaft in bürgerliche Gesellschaft und Staat resul-tiert. Diese Verdoppelung der bürgerlichen Gesellschaft gründet inihrer spezifischen Gesellschaftlichkeit der Arbeit, die, wie wir gezeigt

234

Page 235: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

haben, nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar vorliegt. Die „Gesell-schaft" existiert in der kapitalistischen Produktionsweise nur als Ak-tion der einzelnen Warenbesitzer aufeinander. „Zwar ist jede besonde-re Privatarbeit vermittelt gesellschaftliche Arbeit, aber dies nur als Re-sultat eines außer den individuellen Teilproduzenten, aus denen dieGesellschaft besteht, vorgehenden anarchischen Prozesses. Alle Arbei-ten, die apriori gemeinschaftliche sind in der Weise, daß sie direkt zurErfüllung gemeinschaftlicher Aufgaben dienen, können daher nichtunter der Form der bloß vermittelt gesellschaftlichen Arbeit geleistetwerden. Die gemeinschaftlichen Arbeiten werden also bedingt durchdie Gesellschaftlichkeit der Produktion überhaupt und werden zu-gleich durch die spezifische Art der Gesellschaftlichkeit an der Aus-führung gehindert. Der Widerspruch kann sich nur lösen, indem sichder Gesellschaft von Privaten die Gesellschaft als solche gegenüber-stellt, indem also die Gesellschaft, das Allgemeine, worunter die be-sonderen Individuen subsumiert sind, eine selbständige, besondereExistenz neben und außer der Gesamtheit der die Gesellschaft kon-stituierenden Privaten gewinnt. Diese Verdoppelung der Gesellschaftbringt den Staat hervor. Da die notwendigen unmittelbar gesellschaft-lichen Arbeiten nicht von den gesellschaftlichen Individuen, denenihre Gesellschaftlichkeit äußerlich, entfremdet eine Sache ist, erfülltwerden können, müssen sie als von den Individuen getrennte, ihnengegenübergestellte erfüllt werden. So werden alle gemeinsamen Inter-essen losgelöst von der Gesellschaft und ihr als allgemeines Interessegegenübergestellt, als durch den Staat vertretenes und verfolgtes Inter-e s se . " 5 2

Alle gemeinsamen Aufgaben, die als Rahmenbestimmungen desReproduktionsprozesses dienen — wie z. B. Herstellung allgemeinerProduktions- und Verkehrsbedingungen, Ausbildung der Arbeitskraft(Schule), usw. —, werden dem Staat übertragen, da sie für den Verwer-tungsprozeß des Kapitals notwendig sind, aber ihre Erstellung für daseinzelne Kapital nicht profitabel genug ist.

Der bürgerliche Staat, als gesellschaftliche Institution der abstraktenIndividuen, ist realiter Garant und Sanktion gesellschaftlicher Verhält-nisse, die durch die Unterworfenheit der Menschen unter ihren un-durchschauten Produktionsprozeß gekennzeichnet sind, der Herr-schaft der abstrakten Arbeit über die konkrete lebendige. Als solcherist er Klassenstaat, „weiter nichts als die Form der Organisation, wel-che sich die Bourgeois sowohl nach außen als nach innen hin zur ge-genseitigen Garantie ihres Eigentums und ihrer Interessen notwendiggeben . . . , in welcher die Individuen einer herrschenden Klasse ihregemeinsamen Interessen geltend machen . . . " 5 3 Die besondere Formdes bürgerlichen Staates als notwendige ,Ergänzung' der bürgerlichenGesellschaft läßt ihn abstrakt als Sachwalter eines ,Allgemeininteres-ses' erscheinen — ,über den Parteien stehend' (vgl. etwa die Darstel-lung Friedrich Eberts in den Schulbüchern). Die objektiv gesetzte Illu-sion der im Staat inkarnierten allgemeinen Vernunft ist der ideologi-

235

Page 236: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

sehe Reflex der die Wertform der Waren konstituierenden abstraktenArbeit. Sie entsteht dadurch, daß der Staat als Garant des die Indivi-duen scheinbar gleichmachenden Tauschakts, als Resultat des dem vo-lonté général entsprechenden Gesellschaftsvertrages (Projizierung desnaturwüchsigen Tauschakts in der Willensebene) erscheint. Dieser ob-jektive Schein verschleiert sein entgegengesetztes Wesen. „Durch dieökonomischen Klassen hindurch konstituiert sich der Staat als der mitSanktionsgewalt ausgestattete Garant des implizit vertraglichen Ge-waltverzichts durch den Tauschverkehr und ist doch ein die faktischeGewalt ständig reproduzierendes Herrschaftsinstrument der herrschen-den Klasse, weil diese die materielle Ungleichheit nicht befriedigenund befrieden kann. Der Staat ist ein entfremdetes und verdinglich-tes Produkt der in abstrakter Arbeit organisierten bürgerlichen Klas-sengesellschaft; er stellt die abstrakte Emanzipation dar, die vom sinn-lichen Genuß abstrahierte Realität der allgemeinen Vernunft, die aufdiese Weise zum objektiven Ungeist wi rd . " 5 4

Diesen Zusammenhang von bürgerlicher Gesellschaft und Staat — der Staat als Produkt der „bürgerlichen Gesellschaft" und nichtumgekehrt — vermag die bürgerliche Historiographie nicht zu er-fassen, da für sie, wie wir gesehen haben, die Sphäre der materiellenProduktion aus ihren Betrachtungen herausfällt, was wiederum seineUrsachen darin hat, daß die kapitalistische Warenproduktion ihnenauf Grund des mit dieser Produktionsweise einhergehenden objektivgesetzten falschen Scheins, als natürliche erscheint und nicht alshistorische.

Konsequenterweise muß hier daher die entfremdete Gestalt des all-gemeinen Zusammenhangs — Staat — als der eigentliche Agent in derGeschichte erscheinen. Dieser reale Schein, den die bürgerliche Gesell-schaft produziert und die ihm entsprechenden von uns skizzierten ideo-logischen Auffassungen, verschwinden erst, „wenn der wirklich indi-viduelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt undals individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner indivi-duellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen Gattungswesengeworden ist, erst wenn der Mensch seine ,forces propres' als gesell-schaftliche Kraft erkannt und organisiert hat . . . " 5 5 — also erst mitdem Verschwinden der kapitalistischen Warenproduktion.

Denn alle diese realen Verdinglichungen der gesellschaftlichen Be-ziehungen der Menschen und die ihnen korrelierenden Bewußtseins-formen wurzeln in der Erscheinungsweise des Arbeitsproduktes alsWare und sind mit der Warenproduktion daher unzertrennlich verbun-den . 5 6

Die Gemeinschaftlichkeit existiert für die Individuen der bürgerli-chen Gesellschaft immer nur als von ihnen losgelöste, selbständige,äußere Macht, der sie ohnmächtig unterworfen sind.

Exkurs 3: Der Kapitalfetisch Kapital ist zunächst einmal Geld. Aber nicht jedes Geld ist Kapital.

236

Page 237: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Damit sich Geld in Kapital verwandelt, muß es einen Profit abwerfen.In der von uns dargestellten einfachen Warenproduktion wird eineWare A gegen ein bestimmtes Quantum der allgemeinen Ware (Geld)ausgetauscht, um damit eine andere Ware zu kaufen. Verkauf undKauf dienen also dazu, daß ich mich in den Besitz einer von mir nichtproduzierten Ware bringe, um deren Gebrauchswert zu konsumieren:W — G — W.

In diesem Prozeß dient das Geld lediglich als Zirkulationsmittel. An-ders, wenn das Geld als Kapital funktioniert. Hier wird das Geld aus-gegeben, um eine Ware zu kaufen, um dann diese wieder zu verkaufen.Als: G1 — W — G2 . Dieser Prozeß wäre unsinnig für den Geldbesitzer,würde er am Ende genausoviel Geld in den Händen halten, wie er vor-geschossen hat. Der Sinn der Transaktion ist also, daß sich das Geld inmehr Geld verwandelt. G - W - G' oder G' = G + Δ G.

Liegt bei der einfachen Warenzirkulation der Zweck (die Erlangung eines fremden Produkts zur Befriedigung der Bedürfnisse) außerhalbder Zirkulation, so scheint letztere Transaktion ihren Sinn in sichselbst zu haben: Die Verwandlung von Geld in Ware und von Ware inGeld. Der Wert „verwandelt sich so in ein automatisches Subjekt . . .In der Tat aber wird der Wert hier das Subjekt eines Prozesses, woriner unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware sei-ne Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst abstößt,sich selbst verwertet. Denn die Bewegung, worin er Mehrwert zusetzt,ist seine eigene Bewegung, seine Verwertung also Selbstverwertung. Erhat die okkulte Qualität erhalten, Wert zu setzen, weil er Wert ist. Erwirft lebendige Junge oder legt wenigstens goldne Eier . . . " 5 7

Hier, mit der Verwandlung des Geldes in Kapital, ist der Fetischis-mus endgültig befestigt. Die allgemeine Ware (Geld) scheint nicht nurvon Natur aus die Eigenschaft zu haben, Wert zu sein, sondern auchdiejenige, Wert zu setzen, sich selbst zu vermehren. Marx entschleiertden mystischen Schein des Geldes als Kapital, indem er den Ursprungdes Mehrwerts erklärt. „Die Wertveränderung des Geldes, das sich inKapital verwandeln soll, kann nicht an diesem Geld selbst vorgehen,denn als Kaufmittel und als Zahlungsmittel realisiert es nur den Preisder Ware, die es kauft oder zahlt . . . Ebensowenig kann die Verände-rung aus dem zweiten Zirkulationsakt, dem Wiederverkauf der Ware,entspringen, denn dieser Akt verwandelt die Ware bloß aus der Natu-ralform zurück in die Geldform. Die Veränderung muß sich also zutra-gen mit der Ware, die im ersten Akt G — W gekauft wird, aber nicht mit ihrem Wert, denn es werden Äquivalente ausgetauscht, die Ware zu ihrem Wert bezahlt. Die Veränderung kann also nur entspringenaus ihrem Gebrauchswert als solchem, d. h. ihrem Verbrauch. Um ausdem Verbrauch einer Ware Wert herauszuziehen, müßte unser Geldbe-sitzer so glücklich sein, innerhalb der Zirkulationssphäre, auf demMarkt, eine Ware zu entdecken, deren Gebrauchswert selbst die eigen-tümliche Beschaffenheit besäße, Quelle von Wert zu sein, deren wirk-licher Verbrauch also selbst Vergegenständlichung von Arbeit wäre,

237

Page 238: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

daher Wertschöpfung. Und der Geldbesitzer findet auf dem Markteine solche spezifische Ware vor — das Arbeitsvermögen oder die Ar-beitskraft ." 5 8

Wir haben die Stelle, daß im Austausch G — W, oder konkret jetzt:Lohn für Arbeitskraft, Äquivalente ausgetauscht werden, hervorgeho-ben, um dem Trugschluß vorzubeugen, daß hier ein Betrug am Arbei-ter stattfindet. Der Mehrwert, den der Kapitalist sich aneignet,wurzelt in einer anderen Tatsache. Mit dem Verkauf der Arbeitskraftwird diese selbst in eine Ware verwandelt. Ihr Wert bestimmt sich, wieder jeder anderen Ware, durch die zu ihrer Herstellung gesellschaftlichnotwendige Arbeitszeit. Die Arbeitskraft existiert aber nur in der leib-lichen Gestalt des Arbeiters. Ihr Wert wird bestimmt durch die Ar-beitszeit, die gesellschaftlich-durchschnittlich notwendig ist, um dieWaren herzustellen, die der Arbeiter braucht, um sich als Arbeiter(mit historisch-gesellschaftlich modifizierten Bedürfnissen) zu repro-duzieren. Diese Zeit mag aber nur 4 Stunden täglich betragen. Der Ka-pitalist aber kauft die Arbeitskraft — sagen wir — für 8 Stunden. Inden ersten 4 Stunden ersetzt der Arbeiter dem Kapitalisten somit denLohn, in den nächsten 4 Stunden arbeitet er unbezahlt, produziert erMehrwert.

Verschleiert wird dieser Zusammenhang durch die Form des Loh-nes, nach welcher es so aussieht, als bezahle der Kapitalist den Wertdes durch die Arbeit produzierten Werts, während er nur den Wertseiner Arbeitskraft bezahlt. Der Äquivalententausch erweist sich somitals Schein. In Wirklichkeit eignet sich der Kapitalist fremde Arbeit„ohne Austausch, ohne Äquivalent, aber mit dem Schein des Aus-tausches" a n . 5 9 Denn der Arbeiter produziert ja auch den Wert derWaren, als dessen Äquivalent der Lohn erscheint. Der Arbeiter ersetztdem Kapitalisten also auch die Ausgaben des Lohns. Vom Standpunktdes einzelnen Arbeiters ergibt sich der Schein, daß es sich um einenÄquivalententausch handelt, dadurch, daß es so scheint, als bezahleder Kapitalist den „Wert oder Preis seiner Arbeit". Was ist aber der„Preis der Arbeit? Wie wird er bestimmt? Wie der jeder anderen Wa-re! Aber was ist der Wert einer Ware? Gegenständliche Form der inihrer Produktion verausgabten gesellschaftlichen Arbeit. Und wodurchmessen wir die Größe ihres Wertes? Durch die Größe der in ihr ent-haltenen Arbeit. Wodurch wäre also der Wert z. B. eines 12stündigenArbeitstages bestimmt? Durch die in einem Arbeitstag von 12 Stun-den enthaltenen 12 Arbeitsstunden, was eine abgeschmackte Tautolo-gie i s t . " 6 0 Diesen Zirkel, wonach — durch die Lohnform verzehrt — der Arbeit selbst ein Wert zufällt, welcher durch die Arbeit selbst be-stimmt werden müßte, konnte die klassische Nationalökonomie nichtdurchbrechen, ohne den Klassenstandpunkt der Bourgeoisie zu verlas-sen.

Die Auflösung dieser Verkehrung und dieses Zirkels gelang Marxdurch die Einführung einer neuen Kategorie: Der Arbeitskraft. IndemMarx zeigte, daß der Lohn den Wert der Arbeitskraft repräsentiert

238

Page 239: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

und nicht den durch die Arbeit produzierten Wert, konnte er den Ur-sprung und die Natur des Mehrwerts erklären. Die Form des Arbeits-lohnes oder der Ausdruck „Preis der Arbeit" verschleiert hingegen dieNatur des Mehrwerts. Denn die Arbeit hat keinen Wert. Sie ist Wert-bildner. Der Ausdruck „Wert der Arbeit" verwandelt den Wertbegriffin sein völliges Gegenteil. Der Wert erscheint als eine Natureigenschaftder Arbeit. „Preis der Arbeit" ist ein imaginärer Ausdruck wie etwaWert der E r d e . 6 1 Hier liegt die Ursache für die Mystifizierung der Pro-duktionsfaktoren, die Verkehrung der kapitalistischen Form des Pro-duktionsprozesses zur Naturalform schlechthin und den daraus resul-tierenden Geschichtskonzeptionen. Da in dem Ausdruck „Preis" oder„Wert der Arbeit" die Lohnarbeit nicht als einer spezifischen histori-schen Gesellschaftsformation eigen betrachtet wird, sondern alle Ar-beit von Natur aus als Lohnarbeit erscheint, 6 2 so fällt notwendiger-weise auch die „bestimmte gesellschaftliche Form, worin die Arbeits-bedingungen der Arbeit gegenübertreten, zusammen mit ihrem stoff-lichen Dasein. Die Arbeitsmittel sind dann als solche Kapital, und dieErde als solche ist Grundeigentum. Die formale Verselbständigung die-ser Arbeitsbedingungen gegenüber der Arbeit, die besondere Form die-ser Verselbständigung, die sie gegenüber der Lohnarbeit besitzen, istdann eine von ihnen als Dingen, als materielle Produktionsbedin-gungen untrennbare Eigenschaft, ein ihn als Produktionselement not-wendig zukommender, immanent eingewachsener Charakter. Ihrdurch eine bestimmte Geschichtsepoche bestimmter sozialer Charak-ter im kapitalistischen Produktionsprozeß ist ein ihnen naturgemäßer,und sozusagen von Ewigkeit her, als Elementen des Produktions-prozesses eingeborener dinglicher Charakter ." 6 3

Seinen Niederschlag findet dieser falsche Schein, wie wir gezeigt ha-ben, in der Identifizierung der Produktionsmittel mit Kapital. Wir fin-den hier in ausgeprägter Form wieder, was wir schon beim Waren-fetischismus beobachten konnten: Das Gesellschaftliche erscheint alsEigenschaft von Sachen. Dem Kapital (und zwar im bürgerlichen Sin-ne als Sache, Geld, gefaßt) fällt so die mystische Kraft zu, sich selbstvermehrender Wert zu sein. „Auf dieser Erscheinungsform, die daswirkliche Verhältnis unsichtbar macht und gerade sein Gegenteil zeigt,beruhen alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten,alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihreFreiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökono-m i e . " 6 4 Es erscheint so als völlig berechtigt — und dies ist die Konse-quenz der Erscheinungsform des Wertes der Arbeitskraft als „Wert derArbeit", daß, wenn der Arbeitslohn mit dem durch die Arbeit geschaf-fenen Wert zusammenfällt, auch diejenigen Teile des Wertprodukts,die sich in anderen Formen darstellen, eigenständige Quellen von Werthaben müssen, daß also dem Besitzer dieser Produktionsfaktoren (Ka-pitalist und Grundeigentümer) zufällt, was eben den mitwirkendenProduktionsfaktoren entspringt.

Die Zusammenfassung vieler Arbeiter als einheitlicher Gesamtkör-

239

Page 240: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

per in der Kooperation bringt eine spezifische gesellschaftliche Pro-duktivkraft der Arbeit hervor, die Produktivkraft der vergesellschafte-ten Arbeit. Historisch entwickelt sich diese besondere Potenz der Ar-beit durch die Zusammenfassung vieler Arbeiter unter die Regie desKapitals. Der Kapitalist kauft und bezahlt die einzelnen Arbeitskräfte;die durch die Kooperation geschaffene besondere Produktivkraft dervergesellschafteten Arbeit kostet ihn nichts, sie entwickelt sich erst imArbeitsprozeß. Im kapitalistischen Produktionsprozeß aber gehörendie Arbeitskräfte bereits dem Kapitalisten und nicht mehr den Arbei-tern.

Der Zusammenhang ihrer Arbeiten tritt ihnen als fremder Wille ge-genüber, der sie beherrscht. Daher erscheint die spezifische Produktiv-kraft der vergesellschafteten Arbeit als Produktivkraft des Kapitals;die tote Arbeit, personifiziert durch den Kapitalisten und vergegen-ständlicht durch die Produktionsmittel, wendet die lebendige Arbeitan, statt von ihr angewandt zu werden. Durch diese Verkehrung vonSubjekt und Objekt wird das Kapitalverhältnis mystifiziert, erscheinenalle subjektiven Potenzen der Arbeit als Potenzen des Kapitals.

Dieser durch den kapitalistischen Produktionsprozeß objektiv er-zeugten Mystifikation entsprechen die Ideologeme der Sozialpartner-schaft und der Konvergenz der Systeme.

Denn fließen die verschiedenen Revenues „aus ganz verschiedenenQuellen, die eine aus der Erde, die andere aus dem Kapital, die andereaus der Arbeit . . . stehen (sie) also in keinem feindlichen, weil über-haupt keinem Zusammenhang" 6 5 und wirken sie dennoch in der Pro-duktion harmonisch zusammen, so müssen auch die verschiedenen ge-sellschaftlichen Klassen als Partner (nicht als Gegner) gefaßt werden.Es ist dies nur die Konsequenz aus der durch die Lohnform verursach-ten Verschüttung der wirklichen Quelle des Werts und Mehrwerts, wel-che allein die Arbeit darstellt. Die verschiedenen Revenues sind nichtsanderes als die verschiedenen Formen der Aufteilung dieses Werts un-ter die verschiedenen Klassen. Mit anderen Worten, die Kapital- undGrundeigentumseinkünfte sind nichts anderes, als unbezahlte Arbeits-zeit. Da dieser Zusammenhang aber durch die Lohnform der Arbeitverkehrt wird, können Kapital und Arbeit als Partner erscheinen.

Des weiteren entspringt aus dem irrationalen Ausdruck „Preis derArbeit", welcher die Arbeit ihrer Natur nach als Lohnarbeit erschei-nen läßt, die schon im Kapitel „Die Darstellung des Wissenschaftli-chen Sozialismus" (S. 151 ff.) aufgezeigte Identifizierung von Produk-tionsmitteln und Kapital. Der kapitalistische Produktionsprozeß wirdzu der „Wirtschaft" oder zu der „Industrie" überhaupt (auch in Re-den von einigen Gewerkschaftsführern).

Die Konvergenztheorie, deren wichtigster Begriff die „industrielleGesellschaft" ist, gedeiht auf diesem Boden. Auf Grund der Ver-schmelzung des kapitalistischen Produktionsprozesses - im bürger-lichen Bewußtsein - mit seinen sachlichen Momenten als diesen natür-lich eingewachsenen Charakter, wird der technische Aspekt (Indu-

240

Page 241: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

strie) zum Klassifizierungsbegriff von Gesellschaft. Sozialistische undkapitalistische Gesellschaften rangieren unter den „Industriestaaten"im Gegensatz zu unentwickelten Ländern. Der Gegensatz zwischen ka-pitalistischen und sozialistischen Ländern gründet daher nicht mehr inder Produktion, sondern findet sich auf der politischen Ebene. Amklarsten kommt dies in der Totalitarismustheorie zum Vorschein, wel-che sich als eine vergleichende Theorie politischer Systeme versteht.Insoweit fungieren Konvergenz- und Totalitarismustheorie vor demgleichen Hintergrund. Beide basieren auf dem Kapitalfetisch, dem ob-jektiv gesetzten falschen Schein. Da das Denken der Masse der Bevöl-kerung durch diesen falschen Schein geprägt ist, findet die Totalitaris-mustheorie ebenso wie die Konvergenztheorie und die Sozialpartner-schaftsideologie eine große Resonanz. Dem alltäglichen Denken, demAlltagsverstand, scheinen diese Theorien evident, eben weil sie dergleichen Verhaftung an der Oberfläche der Gesellschaft unterliegen,wie dieses. Das aber eben auch disqualifiziert diese Theorien als wis-senschaftliche, macht sie zu bürgerlichen Ideologien.

Wie allgemeine bürgerliche Denkstrukturen in konkrete Ideologemeeingehen, soll hier exemplarisch an dem nach dem Zweiten Weltkriegdie Geschichts- und Sozialkundebücher beherrschenden, aus der aktu-ellen Situation des Kalten Krieges resultierenden Ideologem derTotalitarismuskonzeption und ihrem zunehmend beliebteren Surro-gat, der Konvergenztheorie nachgewiesen werden.

Die Totalitarismustheorie funktioniert auf Grund des objektivenScheins, daß sozialistisches und nationalsozialistisches System wegenformaler Identität ihrer Machtausübungstechniken wesensgleich seien.

Das Kriterium, an dem beide Systeme gemessen werden, ist derbürgerliche Rechsstaat, und seine obersten Prinzipien der Freiheit,Gleichheit und des Rechtes auf Eigentum. In der Tat hält der Sozialis-mus die „Spielregeln" des bürgerlichen Rechtsstaates nicht ein. Zu fra-gen ist nur, was diese Begriffe, die hierzulande einen sehr allgemeinenCharakter und daher so breite Wirkung haben, bedeuten, wenn mansie mit historisch gesellschaftlicher Realität füllt.

Freiheit, Gleichheit und Eigentum waren die Parolen, mit denen diebürgerliche Klasse die politische Macht eroberte und die sie mit einergewissen historischen Berechtigung als das gemeinsame Interesse allernichtfeudalen Klassen ausgeben konnte. Denn in der Tat stellten diebürgerlichen Menschenrechte einen gesellschaftlichen Fortschritt ge-genüber den feudalen Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissendar. Bestand im Feudalismus ein unmittelbares persönliches Abhängig-keitsverhältnis und waren die Rechte der Bauern von der Willkür desjeweiligen Feudalherrn bestimmt, so funktioniert der bürgerliche Staatgerade auf Grund der Versachlichung der gesellschaftlichen Bezie-hungen einerseits und den Prinzipien von Freiheit, Gleichheit undEigentum andererseits. Was aber hieß und heißt die Verwirklichungdieser Prinzipien für die Masse der arbeitenden Bevölkerung im Kapi-

241

Page 242: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

talismus? Hierzu schreibt Marx: „Die Sphäre der Zirkulation oder desWarenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf derArbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der ange-borenen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleich-heit, Eigentum . . . Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer eigenerWare, z. B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen be-stimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. DerKontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen gemeinsamenRechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur alsWarenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent.Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine . . . Die einzigeMacht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres,Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen. Und ebenweil so jeder für sich und keiner für den anderen kehrt, vollbringenalle, infolge einer prästabilierten Harmonie der Dinge oder unter denAuspizien einer allpfiffigen Vorsehung, nur das Werk ihres wechselsei-tigen Vorteils, des Gemeinnutzes, des Gesamtinteresses."6 6 So bedeu-tet Freiheit für den Arbeiter im Kapitalismus nichts anderes als dieTatsache, „daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als Ware ver-fügt, daß er andererseits andere Waren nicht zu verkaufen hat, los undledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigenS a c h e n " 6 7 . Die formale Freiheit des Arbeiters geht so einher mit dertotalen Abhängigkeit von den von ihm getrennten Bedingungen derArbeit, die ihm in Form des Kapitals als fremde Macht entgegentre-ten, von denen er abhängig ist und die ihn beherrschen. Je mehr sichalso mit der allseitigen Herausbildung der kapitalistischen Produk-tionsweise das wahre Wesen des abstrakten bürgerlichen Freiheits-ideals als die totale Unfreiheit der Individuen herausstellte, destomehr trat der emanzipatorische Charakter dieses Ideals vor den blan-ken bürgerlichen Herrschaftsinteressen zurück. Im Rahmen derTotalitarismustheorie wird der liberale Freiheitsbegriff dann zur ein-deutig antikommunistischen Beschwörungsformel, die die Frage nachder neuen gesellschaftlichen Qualität des sozialistischen Freiheitsbe-griffs im Keim zu ersticken sucht.

Zu ähnlichem Ergebnis kommt man, wenn man den Inhalt desbürgerlich-liberalen Gleichheitsbegriffs untersucht. Dieser unterschei-det sich im Kopfe der meisten Bürger unserer freiheitlich demokrati-schen Grundordnung dadurch von „kommunistischer Gleichmache-rei", daß gerade in der Gleichheit aller Personen vor dem Gesetz, inihrer Rechtsobjektivität, die Wahrung ihrer je besonderen Individuali-tät aufgehoben sei.

Dieser Schein der Gleichheit hat seine objektiven Wurzeln im Aus-tauschprozeß der Waren. In der Form, in der die Individuen im Kapi-talismus miteinander verkehren und ihre Privatarbeiten als gesell-schaftliche realisieren, besteht in der Tat kein Unterschied zwischenihnen. Als Subjekte gleichen sie einander, sind sie nichts als Austau-schende. Damit der Tausch stattfinden kann, müssen sie sich wechsel-

242

Page 243: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

seitig als gleich anerkennen, d. h. von ihren wechselseitigen Besonder-heiten abstrahieren. Trotzdem ist gerade die Besonderheit der auszu-tauschenden Waren, ihr jeweiliger Gebrauchswert, der Grund ihrer sozi-alen Gleichheit, sie liefert den Anlaß zum Austausch. „Die wechselsei-tige Befriedigung ihrer Bedürfnisse, vermittelst der stofflichen Ver-schiedenheit ihrer Arbeit und ihrer Ware, macht ihre Gleichheit zu ei-ner erfüllten sozialen Beziehung und ihre besondere Arbeit zu einerbesonderen Existenzweise der sozialen Arbeit überhaupt."6 8

So kann auch beim Verkauf der Ware Arbeitskraft der Schein einesÄquivalententauschs entstehen, der auch an der Oberfläche derZirkulationssphäre real stattfindet. Nur indem von der Besonderheitder Ware Arbeitskraft gegenüber allen anderen Waren abstrahiert wird,können sich Arbeiter und Kapitalist auf dem Arbeitsmarkt als gleichegegenübertreten und kann der Preis oder Wert der Ware Arbeitskraftals Lohn der Arbeit erscheinen.

Der allgemeinen Wertform der Waren, die es ermöglicht, sie zu ver-gleichen, entspricht also die allgemeine Rechtssubjektivität, die alleMenschen als formell gleich, als rechtsfähig anerkennt. Hier wird keinUnterschied gemacht zwischen Produktionsmitteln oder Konsum-tionsmitteln und der Ware Arbeitskraft. 6 9

Wir sehen also, daß es gerade das Prinzip der bürgerlichen Gleichheitist, das die Ungleichheit und die Ausbeutung der Individuen im Kapi-talismus konstituiert.

Historisch bedeutet die Rechtssubjektivität des einzelnen zunächstein Fortschritt gegenüber dem Feudalismus, da die Individuen undihre gesellschaftliche Interaktion vor dem Eingriff außerökonomi-schen Zwangs geschützt werden müssen, damit sich die bürgerlicheProduktionsweise durchsetzen kann. Deshalb müssen alle organisch ge-wachsenen individuellen Beziehungen durch die rationelle rechtlicheOrganisation der Gesellschaft in Form des bürgerlichen Rechtsstaatsersetzt werden.

Die Gleichheit der Menschen im Kapitalismus bedeutet aber inWirklichkeit keineswegs die Anerkennung und Förderung ihrer Indivi-dualität.

Der dem Tauschakt zugrunde liegenden Abstraktion von den kon-kreten Besonderheiten der individuellen Arbeit entspricht nämlich dieAbstraktion von der konkreten Verschiedenheit der Individuen.

Die Gleichbehandlung der Menschen im bürgerlichen Rechtsstaat istnur möglich auf Grund der Reduktion jedes einzelnen, „ohne Anse-hen seiner Person", auf eine einzige Eigenschaft, nämlich die, Besitzervon Ware zu sein. So wird gerade die rechtliche Organisation der Aus-tauschbezithungen, bei der der bürgerliche Staat ja nur Über-wachungsfunktion übernehmen soll, und der Verzicht auf unmittel-bare Herrschaftsbeziehungen zur Garantie der gesellschaftlichen Un-gleichheit und das „nicht Ansehen der Person" zum rechtlich sank-tionierten Augenverschließen vor der Unterdrückung. Denn dort, wodie Einflußsphäre des bürgerlich-demokratischen Staates endet, um

243

Page 244: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

der „Initiative des Einzelnen" freie Hand zu lassen (frei zu planen, zuproduzieren, zu verkaufen), beginnt der eigentliche Bereich der Pro-duktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens. In diesemBereich allerdings herrscht im Kapitalismus das Prinzip der Ungleich-heit. Die Form jedoch verschleiert diese inhaltliche Ungleichheit, Un-freiheit, Eigentumslosigkeit der Masse der Bevölkerung, da sie Aus-druck der Zirkulationssphäre ist, deren objektiver Widerschein.

Es sind diese dargelegten und als ideologisch von uns denunziertenabstrakten Werte, die die Anhänger der Totalitarismustheorie alsWesensmerkmale der Demokratie dem Sozialismus als Widerpart ge-genüberstellen („freiheitliche Demokratie — totalitärer Staat") .

Auf dieser Ebene allerdings erscheint dann notwendigerweise derSozialismus als ein System der Unfreiheit etc. Denn seine Aufgabe istes gerade, jenseits der formalen Gleichheit, welche die wirkliche Un-terdrückung verschleiert, Freiheit real einzulösen. Dies aber bedeutetkonkret: Unterdrückung jener, die die Freiheit, Gleichheit etc. derMehrheit des Volkes verhindern. Die Frage, die der Sozialist stellt, lau-tet daher: Freiheit für wen? Für den Ausbeuter, das Volk auszubeu-ten, oder Freiheit des Volkes von Ausbeutung? Der Sozialist fragt al-so, wenn er Freiheit sagt, immer wessen „Freiheit" folglich notwen-digerweise eingeschränkt werden muß.

Die bürgerlichen Literaten, Politiker etc. hingegen reden immer nurvon der Freiheit, z. B. Freiheit auf dem Wohnungsmarkt. Was bedeu-tet das wirklich? Der Vermieter kann die Miethöhe relativ beliebigbestimmen! Für den Mieter hingegen hieße Freiheit, frei zu sein vonden überhöhten Forderungen der Hausbesitzer. Die Freiheit der einenschließt also die Freiheit der anderen aus. Die leerformelhafte Ver-wendung der Vokabel „Freiheit" verschleiert dies, so daß die bürger-lichen Ideologen als die wahren Vertreter der Freiheit erscheinen, jenehingegen, die die Kehrseite mitbenennen, als Feinde der Freiheit.

In der Tat können die bürgerlichen Ideologen die Kehrseite ihrerproklamierten Freiheit nicht mitbenennen, denn sonst würde offen-sichtlich, daß die formale Gleichheit, Freiheit etc. in Wirklichkeit (in-haltlich) nur Freiheit für eine Minderheit bedeutet. Daher auch ihr Fe-tisch der Wertfreiheit der Wissenschaft, Kunst etc. Die Sozialisten hin-gegen propagieren die Parteilichkeit. Sie können dies tun, weil ihreParteilichkeit eine für die große Masse der Bevölkerung ist. Nizan hatim Pamphletstil dieses unterschiedliche Auftreten von bürgerlichenund sozialistischen Literaten beschrieben: , Jede Literatur ist Propa-ganda. Die bürgerliche Propaganda ist idealistisch, sie versteckt ihrSpiel und verschleiert ihre Ziele, die sie insgeheim verfolgt: denn zudiesen Zielen kann man sich nicht bekennen. Die revolutionäre Propa-ganda weiß, daß sie Propaganda ist, sie veröffentlicht ihre Ziele invölliger Aufrichtigkeit. Die bürgerlichen Kritiker werden die Zartsinni-gen spielen, Propaganda könne keinen Wert haben, man wisse zur Ge-nüge, daß die Kunst unparteiisch sein muß. Über die plumpe Fallekönnen wir nur lachen: die bürgerlichen Domestiken der Kritik wer-

244

Page 245: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

den umsonst bellen. Die Kunst ist für uns das, was die Propagandawirksam macht . . . " 7 0 Diese klare Sprache kann das Bürgertum im In-teresse der Sicherung ihrer Klassenherrschaft nicht sprechen. Es mußverschleiern. Die objektive Basis auf der die Verschleierung funktio-niert — nämlich das notwendig falsche Bewußtsein — produziert, wiewir gezeigt haben, die kapitalistische Produktionsweise selbst. So wiedie bürgerliche Gesellschaft als natürliche erscheint, so auch ihre Frei-heit, ihre Gleichheit etc. Der Sozialismus als ihr „Totengräber" mußdaher als gewaltsam, widernatürlich erscheinen, ebenso seine Bestim-mung von Freiheit und Gleichheit.

Nach diesem Mechanismus funktioniert die Totalitarismustheorie inder Auseinandersetzung mit den sozialistischen Staaten.

Schlußbemerkung

Gegenstand der bisherigen Untersuchung war die Analyse falschen Be-wußtseins als notwendig aus den kapitalistischen Produktionsverhält-nissen erwachsender Widerspiegelung einer verkehrten Realität.

Als Ergebnis dieser Untersuchung kann festgehalten werden, daßmassenhaft verbreitetes falsches Bewußtsein — z. B. die Vorstellung,Kapitalist und Arbeiter seien „Sozialpartner" — nicht als Ergebnis blo-ßer Manipulationstechniken der Kapitalistenverbände verstanden wer-den kann. Vielmehr muß hier berücksichtigt werden, daß der objekti-ve Schein der Lohnform dieses falsche Bewußtsein spontan produ-ziert. Allerdings kann eine solche Erklärung der gesellschaftlichen Ge-nesis von bürgerlicher Ideologie nicht hinreichen, wenn es gilt, diekonkreten Modifikationen, die diese Ideologie seit der Herausbildungder kapitalistischen Produktionsweise erfahren hat, dingfest zu ma-chen und sie auf ihre konkrete historische Bedeutung bei der Siche-rung dieser Produktionsweise zu untersuchen.

Es bleibt zu hinterfragen, wie einzelne Varianten bürgerlicher Ideo-logie zustande kommen, welche gesellschaftlichen Gruppen sie geistigproduzieren, welche Gruppen der Lohnabhängigen besonders emp-fänglich sind für sie, welche ökonomischen und politischen Verände-rungen im Kapitalismus für die Herrschenden die Suche nach neuenVarianten notwendig machen usw. — Es bleibt also zu untersuchen,unter welchen inneren und äußeren Zwängen (Konfrontation mit derDDR, Anwachsen der innenpolitischen Oppositionsbewegung) dieHerrschenden konkrete Argumentationsmuster zur weiteren Legitima-tion der kapitalistischen Gesellschaft bewußt ausarbeiten; nur sokönnen einzelne Ideologeme, wie sie in der Schule oder in den Mas-senkommunikationsmitteln verbreitet werden, konkret verstandenund damit auch bekämpfbar gemacht werden. Die Lösung dieser Pro-bleme erfordert allerdings breite empirische und theoretische Arbeitund geht weit über den Rahmen einer Einführung in marxistischeIdeologiekritik hinaus.

245

Page 246: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Viertes KapitelSchule im Kapitalismus der BRD

A. Zur ökonomischen Funktion von Ausbildung und Bildungim Kapitalismus

Wie die allgemeine Ableitung des Ideologieproblems im vorangehen-den Kapitel gezeigt hat, ist im Übergang von der feudalistischen zurkapitalistischen Produktionsweise die Voraussetzung dafür geschaffenworden, daß die Produzenten von ihren Produktionsmitteln getrenntwerden. Damit tritt der antagonistische Widerspruch von Produktions-mittelbesitzern und Besitzern von nichts als ihrer eigenen Arbeitskrafthervor. Im Verlauf der kapitalistischen Produktionsweise ändert sichentsprechend den Veränderungen im Verhältnis von Lohnarbeit undKapital die jeweils konkrete Arbeitsplatz- und Qualifikationsstruktur.Will man nun den Begriff der Qualifikation erfassen, muß man zu-nächst den allgemeinen Charakter, und das heißt den Doppelcharakterdes kapitalistischen Arbeitsprozesses herausarbeiten.

Auf der einen Seite bezeichnet er den dem gesellschaftlich-ge-schichtlichen Entwicklungsstand der Produktivkräfte (d. h. entspre-chend dem Stand von Wissenschaft, Technik, Maschinen, Automatisie-rungsgrad, u. a.) entsprechenden Stoffwechselprozeß mit der Natur,d. h. die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur zumZwecke der gesellschaftlichen Reproduktion. Andererseits ist dermenschliche Arbeitsprozeß nicht nur verändernde Einwirkung auf dieNatur, sondern zugleich vollzieht sich im Arbeitsprozeß selbst die Ver-änderung des Menschen als gesellschaftliches Wesen. Dieser Prozeßentwickelt sich jedoch widersprüchlich unter kapitalistischen Produk-tionsbedingungen, weil dort zwar gesellschaftlich produziert wird, dieBedingungen (d. h. das Privateigentum an Produktionsmitteln) unddie Ergebnisse (d. h. die Produkte) dieser gesellschaftlichen Produk-tion jedoch privat angeeignet und verwertet werden. Deshalb bildetder kapitalistische Arbeitsprozeß die Grundlage für gesellschaftlicheHerrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse, d. h. der Arbeitsprozeß istAusdruck einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung der Produktion vonWerten und der Verfügung über diese Werte.1 Karl Marx hat den Dop-pelcharakter von Arbeit im Verhältnis von Arbeits- und Verwertungs-prozeß analysiert.2 Demzufolge besteht das Spezifikum kapitalisti-scher Produktionsweise darin, daß der kombinierte Einsatz vonmenschlicher Arbeitskraft und Maschinerie zur Produktion von Ge-brauchswerten, die unmittelbare gesellschaftliche Bedürfnisse befriedi-gen, hinter die Produktion von Waren zurücktritt, die Eigentum desKapitalisten sind und diesen ausschließlich nach ihrem Tauschwert in-teressieren. Allgemeine Bedingung dieses Verwertungsprozesses ist dieTatsache, daß die menschliche Arbeitskraft als Lohnarbeit selbst zueiner Ware wird, die den Gesetzen des Tausches unterliegt und also

246

Page 247: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

nur in ihrem Gebrauchswert für das Kapital zur Quelle von Mehrwertwird (vgl. Kapitel 3 zur Ideologieproblematik!). „Als Einheit von Ar-beitsprozeß und Wertbildungsprozeß ist der Produktionsprozeß Pro-duktionsprozeß von Waren; als Einheit von Arbeitsprozeß und Ver-wertungsprozeß ist er kapitalistischer Produktionsprozeß, kapitali-stische Form der Warenproduktion."3

I . Die historische Entwicklung des Verhältnisses von Arbeitsprozeßund Quali f ikationsstruktur der Ware Arbeitskraft

Wie sich das Problem des Verhältnisses von Arbeitsprozeß und Verän-derung der Qualifikationsstruktur der Ware Arbeitskraft im konkret-historischen Prozeß der Entfaltung kapitalistischer Produktionsweisedurchsetzt, soll im folgenden knapp skizziert werden. Der Begriff derQualifikation wird in diesem Zusammenhang unter doppeltem Aspektgefaßt: analog zum Problem des Doppelcharakters der Arbeit meintQualifikation zum einen die subjektive Bestimmung der Ware Arbeits-kraft in ihrem technischen Verhältnis zu ihrem Objekt, den Gegen-ständen der Natur, andererseits das gesellschaftliche Verhältnis derProduzenten zueinander innerhalb des Arbeitsprozesses. Qualifikationist also in den Zusammenhang von subjektiven und objektiven Fakto-ren der Produktion eingebunden: die subjektiven Qualifikationsmerk-male des Arbeiters, d. h. seine Fertigkeit und Geschicklichkeit könnenimmer nur im Zusammenhang mit den objektiven Produktionsbedin-gungen, d. h. den Produktionsmitteln und der Stellung der Produzen-ten zu diesen begriffen werden.4

Ausgangspunkt der historischen Entwicklung der kapitalistischenProduktionsweise ist der handwerklich-zünftige Produktionsprozeß.„Die Produktionsmittel, die die handwerklichen Produzenten besa-ßen, waren immer besondere Produktionsmittel, die zur Produktionganz bestimmter Produkte dienten. Das Handwerk fesselte die Produ-zenten an eine bestimmte konkrete Arbeit, die sich immer in einerganz bestimmten Art von Gebrauchswerten niederschlug"5 (Hervorhe-bungen im Text, d. Verf.) . In der handwerklichen Produktion stehensich Meister und Gesellen, bzw. Lehrlinge im Verhältnis von Käuferund Verkäufer der Arbeitskraft gegenüber. Wenngleich der Meister Be-sitzer an Produktionsmitteln ist und der Geselle Lohn in Form vonGeld zur Reproduktion seiner Arbeitskraft erhält, so ist entsprechendder relativen Unentwickeltheit des Kapitals dessen quantitative Ver-wertbarkeit eingeschränkt: die Zunftordnung wird zur Fessel derWeiterentwicklung des Kapitalismus, da sie durch die Beschränkungder Gesellenzahl, die ein einzelner Meister beschäftigen durfte, dieVerwandlung des Handwerkmeisters in einen Kapitalisten verhinderte.„Die Arbeitsmittel sind noch ganz dem Subjekt der Arbeit unterge-ordnet. Ihre Effektivität ist direkt abhängig von dessen Qualifika-tion." 6

247

Page 248: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Gerade der persönlich vermittelte Charakter des Arbeitsverhältnissesspiegelt sich in der Ausbildung der Gesellen und Lehrlinge, die sichunter der Aufsicht und Anleitung des Meisters in den je konkretenFähigkeiten eines Schneiders, Schusters oder Schmieds vollzieht. Marxcharakterisiert daher die Funktion des Meisters folgendermaßen: „Erhat zu seinen Lehrlingen ganz dasselbe Verhältnis wie ein Professor zuseinen Schülern. Sein Verhältnis zu Lehrlingen und Gesellen ist dahernicht das des Kapitalisten als solchem, sondern des Meisters im Hand-werk, der als solcher in der Korporation und daher ihnen gegenübereine hierarchische Stellung einnimmt, die . . . auf seine eigene Meister-schaft im Handwerk . . . (zurückgeht)"7 (Hervorhebungen im Text, d.Verf.). Die Ausbildungsform entsprach also weitgehend dem „künstle-rischen Charakter" der Arbeit selber: es kam nicht darauf an, allge-meine Grundkenntnisse für besondere Arbeitsfähigkeiten zu vermit-teln, sondern auf das unter Anleitung des Meisters sich vollziehendeAnlernen spezifischer Qualifikationen im handwerklichen Arbeitspro-zeß selbst.

Im Ubergang zur Manufaktur wird die reelle Subsumtion (d. h. dieUnterordnung und gesellschaftliche Abhängigkeit) der Arbeit unterdas Kapital erst ansatzweise hergestellt. Die veränderten technischenVoraussetzungen des Arbeitsprozesses, d. h. die Verkürzung der Trans-port- und Kommunikationswege, Einsparung an Baulichkeiten undEnergien etc. zwingen unter den Bedingungen der sich entwickelndenKooperation und Arbeitsteilung zur „Leitung und Koordination derkooperierenden Arbei t" 8 , wodurch bereits eine Hierarchie der Funk-tionen in der betrieblichen Sozialstruktur und eine Differenzierung inder Qualifikationsstruktur festgelegt ist. In der Manufaktur — einertypischen Form der kapitalistischen Produktionsweise — werden ent-weder verschiedene Handwerke oder aber viele Handwerker des glei-chen Handwerks zusammengefaßt. Die Qualität der Produkte ist zwarimmer noch vom individuellen Geschick des Handwerkers abhängig,der Arbeiter verliert aber zunehmend die Fähigkeit, wegen der Auf-splitterung des Arbeitsprozesses in verschiedene Teiloperationen dasProdukt als Ganzes herzustellen. Die Verminderung der persönlich-in-dividuellen Qualifikation des Manufakturarbeiters bedeutet aber zu-gleich eine Erhöhung der gesellschaftlichen Produktivkraft des Ge-samtarbeiters.9 Diese Produktivkraft des gesellschaftlichen Charaktersder Arbeit ist jedoch zugleich Produktivkraft des Kapitals, da sie derkapitalistischen Kommandogewalt unterworfen ist, unter deren Regiesich die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit, d. h. dieTrennung von Funktionen der Planung, Leitung und Koordination imProduktionsprozeß einerseits und der zur Teilarbeit entmündigtenproduktiven Einzelarbeiter andererseits vollzieht. In der entfaltetenkapitalistischen Produktionsweise ist das Kapital nicht mehr an Zunft-vorschriften gebunden, sondern folgt nur noch der Maxime, denhöchstmöglichen Profit zu erzielen. Wie das Kapital selbst die Fesselnder bloß handwerklichen Produktion und ihrer Beschränkung durch

248

Page 249: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

die Zunftordnung durchbrochen hat, so ist die Lohnarbeit in Gestaltder Ware Arbeitskraft „frei" für die Subsumtion unter die Bedingun-gen des Kapitals. „Der bornierten Anwendungsfähigkeit in der hand-werklichen Produktion steht nun die freie, flüssige, variable Anwen-dungsfähigkeit gegenüber, die es zuallererst ermöglicht, daß das Ar-beitsvermögen sich allgemein auf verschiedene besondere Anwen-dungsformen beziehen kann, daß der Arbeiter allgemein ausbeutbarw i r d " 1 0 (Hervorhebung im Text , d. Verf.).

Im Zuge der weiteren Revolutionierung der Produktivkräfte (d. h.der „industriellen Revolution") gelingt es dem Kapital, alle Beschrän-kungen des Verwertungsprozesses durch die Einführung der Maschine-rie abzustreifen. In der Manufaktur noch trat dem Arbeiter die geisti-ge Potenz des Arbeitsprozesses entgegen in Form der Leitung, Pla-nung, Koordination und Organisation; jetzt schlägt sich die Trennungvon geistiger und körperlicher Arbeit auch stofflich nieder. Der Ar-beiter verliert die Fähigkeit, den Inhalt seiner Arbeit selbst zu ver-wirklichen. In der Maschinerie tritt ihm die Maschine in Form verge-genständlichter Arbeit (d. h. Maschinen, technische Aggregate etc.) alseine im Eigentum des Kapitalisten befindliche, fremde Macht des Ka-pitals gegenüber. „Das Kapital aber entreißt dem Entäußerungsprozeßder konkreten lebendigen Arbeit zusehends technische Qualifikatio-nen, ohne ihm in adäquater Form soziale, wissenschaftliche, ästheti-sche etc. Qualifikationen zurückzugeben."1 1

Die historische Entwicklung hat gezeigt, daß der Zusammenhangvon Arbeitsplatz und Qualifikationsstruktur nur aus dem Gesamtzu-sammenhang der allgemeinen Produktionsbedingungen und der ihnenentsprechenden gesellschaftlichen Beziehungen erklärbar ist. Währendalso im Handwerk der konkrete Produktionsprozeß noch abhängigwar von der individuellen Qualifikation des Arbeiters, verkehrt sich inder Maschinerie das Verhältnis von Arbeitsplatz- und Qualifikations-struktur zugunsten der Bedingungen des gesellschaftlichen Arbeitspro-zesses um. „Die Ausbildung der Masse der Lohnarbeiter muß sich aus-richten an den von der vergegenständlichten Arbeit gesetzten Bedin-gungen, d. h. an der durch die Maschinerie bestimmten Arbeitsplatz-struktur." 1 2

2. Die Funk t ion des Staates für den Ausbildungssektor

Wie setzt sich nun die bereits weiter oben aus dem Kapitalverhältnisim allgemeinen abgeleitete Notwendigkeit der „Flüssigkeit oder Varia-bilität des Arbeitsvermögens" (Karl M a r x ) 1 3 in der Sphäre des Ausbil-dungssektors, besonders gegenüber den auf spezifische Ausbeutbarkeitder Arbeitskraft erpichten Einzelkapitalen durch? Die allgemeinen Flüssigkeitsvoraussetzungen der Ware Arbeitskraft widersprechen un-ter den Bedingungen der Konkurrenz dem Interesse der Einzelkapitalean einer je besonderen Qualifikationsform. Sie entspricht zwar dem

249

Page 250: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Interesse des Gesamtkapitals, d. h. sie sind notwendig zur langfristigen Sicherung der allgemeinen Produktionsbedingungen; sie entsprechenaber nicht der spezifischen kurzfristigen Notwendigkeit der maxima-len Ausbeutung der Ware Arbeitskraft zum Zwecke der Steigerung desProfits. Dieses Problem kann offensichtlich nicht dadurch gelöst wer-den, daß die Ausbildung gänzlich den Interessen der Einzelkapitaleuntergeordnet wird. Gerade die im 19. Jahrhundert von Marx aufge-zeigte rücksichtslose Ausbeutung der Arbeitskräfte durch das Einzel-kapital wurde selbst zum Hindernis für die allgemeine Ausbeutbarkeitder Ware Arbeitskraft. 1 4

Die allgemeine Grundausbildung als allgemeine Produktionsvoraus-setzung und Garantie für die allgemeine Flüssigkeit der Ware Arbeits-kraft muß also in einer von den Einzelkapitalen, d. h. von der unmit-telbaren Produktion getrennten Form hergestellt werden. Es ist derStaat als „ideeller Gesamtkapitalist" (Friedrich E n g e l s ) 1 5 , der die all-gemeinen gesellschaftlichen Bedingungen der Produktion zu sichernhat. Nur der bürgerlich kapitalistische Staat kann sicherstellen, daß dieArbeitskräfte auf der Grundlage einer allgemeinen Grundausbildungzugleich für verschiedene Einzelkapitale verwendbar sind. „Er selbst(d. h. der Staat, d. Verf.) ist der Ausdruck des Widerspruches, daßdie Produktion zunehmend gesellschaftlich wird, ihre Träger jedoch,privat' bleiben; denen die Gesellschaftlichkeit etwas Äußerliches,Fremdes ist. Sie selbst können daher die allgemeinen gesellschaftli-chen Bedingungen der Produktion nicht herstel len" 1 6 (Hervorhebungim Text, d. Verf.).

Die so gefaßte Abtrennung der Ausbildung von der unmittelbarenProduktion vollzieht sich jedoch nicht losgelöst von der Entwicklungdes Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital: Die Abtrennung ist ei-nerseits notwendiges Resultat der freien Konkurrenz der Einzelkapita-le, zugleich aber auch Unterordnung der Ausbildung unter die Bedin-gungen der privaten Kapitalverwertung.

Dem historischen Entwicklungsstand der Produktivkräfte gemäßverändern sich die Inhalte einer allgemeinen Grundausbildung. Nebenallgemeinen technischen und naturwissenschaftlichen Kenntnissen ge-hören vor allem Rechnen, Lesen und Schreiben dazu. Hinzu tretennoch spezifische Kommunikationstechniken sprachlicher und teilwei-se fremdsprachlicher Art, geographische und naturwissenschaftlicheDetailkenntnisse.

Generell haftet dieser Grundausbildung der Charakter des Allgemei-nen an, „der als Abstraktion von den je besonderen Arbeitsbedingun-gen der Einzelkapitale zu fassen i s t " 1 7 .

Zur Reproduktion der Arbeitskraft gehört also neben der Auszah-lung eines Lohnes, der den Kauf von Lebensmitteln und damit diephysische Reproduktion ermöglicht, auch die Ausbildung der Arbeits-kraft. Ausbildung der Ware Arbeitskraft schließt immer ein Doppeltesein: die ökonomische Seite der Ausbildung zielt auf die konkrete Aus-beutung im Produktionsprozeß ab; gleichzeitig ist aber auch eine ge-

250

Page 251: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

wisse „ideologische Qualifikation" notwendig: Die ideologische Seiteder Qualifikation soll garantieren, daß sich die Arbeitskräfte an diekapitalistische Gesellschaftsordnung anpassen, dies ist offensichtlicheine wesentliche Vorbedingung für ihre konkrete ökonomische Ver-wertbarkeit. Der unter dem Druck der Konkurrenz bestehende Zwangzur Einsparung von „faux frais" (d. h. unproduktiven Nebenkostenfür das Kapital, d. Verf.) führt nun dazu, die Ausbildungskosten desArbeiters möglichst niedrig zu halten. Der Staat nimmt ohnehin nureine Re-Distributionsfunktion wahr, denn die Ausbildungskosten sindja Resultat der staatlichen Verteilung des kollektiv, d. h. von allenLohnabhängigen erarbeiteten Steuerfonds. Der Staat ist bestrebt, imAusbildungssektor nur insoweit zu investieren, als es für die ökonomi-sche und ideologische Qualifikation der abhängigen Produzenten inbezug auf die unmittelbare Verwertung im Interesse des Kapitals not-wendig ist. Eine wirkliche Höherqualifizierung der Arbeitskraft durchdie Steigerung von Ausbildungskosten hätte eine Wertsteigerung derWare Arbeitskraft zur Folge. Dadurch würde aber zugleich die Profit-spanne des Kapitalisten erheblich eingeschränkt, denn die Ware Ar-beitskraft wird teurer. Der Arbeiter wird deshalb nur so weit qualifi-ziert, als seine Qualifikation unmittelbar notwendig wird für den kapi-talistischen Verwertungsprozeß. Individuelle Kenntnisse außerhalb desbeschränkten kapitalistischen Verwertungsrahmens haben für den Ar-beiter insofern keinen direkten Tauschwert, als sie nicht gegen Geldeintauschbar sind. Qualifikation ist deshalb immer Qualifikation für das Kapital, nicht für den Arbeiter, selbst wenn die Qualifikation als„immaterielles Produkt" im Besitz des Arbeiters verbleibt . 1 8

Die immanenten Gesetze des Kapitalismus, möglichst viel Kapital zuverwerten und zu akkumulieren, zwingen also den Staat, die Bedürf-nisse der Individuen nach allseitiger Entwicklung ihrer Fähigkeiten zunegieren und ihnen gerade nur die allernotwendigste Ausbildung zu-kommen zu lassen. Da die Ware Arbeitskraft neben ihrer ökonomi-schen Bestimmtheit zugleich auch außerhalb der Produktionssphärebestimmte Denk- und Verhaltensweisen entwickeln muß, die die kapi-talistischen Gesellschaftsverhältnisse festigen und stabilisieren (vermit-tels der „Konsumentenerziehung", „staatsbürgerlichen Erziehung"etc., d. h. Erziehung als Anpassung an vorgegebene gesellschaftlicheBedingungen), enthält die Qualifikation der Ware Arbeitskraft auchdie ideologische Reproduktion ihrer selbst.

Diese dem kapitalistischen Staat immanente Politik kann nur durchden permanenten Kampf der Lohnabhängigen um bessere Ausbildungteilweise modifiziert werden. Gerade in der Einheit von ökonomi-schen und ideologischen Qualifikationsmomenten liegt nämlich zu-gleich die Ambivalenz staatlicher Bildungspolitik: Die jeweils konkre-te Qualifikation in Schule, Berufsschule und Hochschule muß nichtnotwendig zur Anpassung der Auszubildenden führen, sondern kannauch — je nach Stand des gesamtgesellschaftlichen Klassenkampfes — zur kritischen Opposition werden, die sich gegen die herrschenden

251

Page 252: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Klassen und ihre Organisationen wendet (vgl. Lehrlings-, Schüler- undStudentenbewegung).

„Da aber der Arbeiter aus verschiedenen objektiven Gründen, alsobeileibe nicht aus Menschenfreundlichkeit als ein zu bildendes Indivi-duum betrachtet wird, wird die Qualifikation gespalten in Qualifika-tion für den Kapitalisten (Ausbildung als Investition in bezug auf dieArbeitszeit) und Qualifikation für den Arbeiter (Bildung als Konsum-gut für die Freizeit)." 1 9 Die Trennung von Ausbildung und Bildungspiegelt sich nicht nur in der Gegensätzlichkeit von Arbeit und Frei-zeit, sondern auch auf der Ebene der Gesamtgesellschaft und ihrer So-zialstruktur: nämlich in der „Bildung" für die herrschende Klasse undin der „Ausbildung" für die Arbeiterklasse. Die mit dem Kapitalismussich entwickelnde Vergesellschaftung der Produktion, die zugleich einAnwachsen des Anteils der Lohnarbeit mit einschließt gegenüberwachsender Monopolisierung, Zentralisierung und Internationalisie-rung des Kapitals, hat weitreichende Konsequenzen. Der Aufwand,der nötig ist, um die Lohnabhängigen im Arbeitsprozeß und in ihrerFreizeit von emanzipatorischen Aktivitäten abzulenken, nimmtständig zu. Freizeitindustrie, Werbung und Massenmedien als Instru-mente ideologischer Verschleierung der kapitalistischen Wirklichkeiterhalten daher einen immer größeren Stellenwert. Die inhaltliche Kon-kretisierung dieser ideologischen Unterdrückung soll in den Abschnit-ten D und E dieses Kapitels am Beispiel des Geschichtsunterrichts er-folgen.

3. Die Entwicklung der Hierarchie im Ausbildungssektor unter demAspekt des Widerspruchs von Bildung und Ausbildung

Wir haben im vorigen Abschnitt festgestellt, daß die allgemeineGrundausbildung im Kapitalismus in den Grenzen des Widerspruchsvon gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung keine Erzie-hung zur allseitigen Entfaltung der individuellen Fähigkeiten im Sinnepolytechnischer Ausbildung sein kann. „Der Bezug auf die besonderenBedingungen und Anforderungen der Einzelkapitale an das Arbeitsver-mögen muß aber direkt wieder hergestellt werden. Dies findet seinenNiederschlag darin, daß im Ausbildungsbereich neben dem allgemei-nen Bezug auf die Produktion in der allgemeinen Grundausbildung zu-gleich der besondere Bezug auf die Produktion hergestellt werdenmuß. Dies geschieht in der Berufsausbildung, in die nicht mehr allge-meine, sondern die besonderen Verwertungsbedürfnisse der vielen Ka-pitale e ingehen" 2 0 (Hervorhebung im Text, d. Verf.). Die spezifischberufsausbildenden Teile der gesamten Qualifikation des Arbeitsver-mögens vollzogen ''sich realgeschichtlich zunächst auf der privatenEbene der Einzelkapitale, wurden jedoch in dem Moment zur öffentli-chen Angelegenheit des Staates, als systematische Berufsausbildungzur allgemeinen Produktionsvoraussetzung wurde. Wir verfolgen also

252

Page 253: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

im folgenden einige wesentliche Ausbildungsformen in der Zeit desvoll entwickelten Kapitalismus, d. h. wir versuchen die Entwicklungdes Schulwesens im Zusammenhang mit der hierarchischen Herausbil-dung verschiedener gesellschaftlicher Qualifikationen zu analysie-ren . 2 1

Im Laufe der Weiterentwicklung des liberalen Konkurrenzkapitalis-mus des 19. Jahrhunderts wird durch die Einführung der allgemeinenSchulpflicht in Preußen (1872) der Staat zum beherrschenden Trägerdes Schulwesens, während vorher die Kirche und die Stände einenstarken Einfluß besessen hatten. Neben einigen wenigen Gewerbeschu-len, die die berufsspezifische Ausbildung der Arbeiterklasse unter pri-vater Aufsicht verwirklichen, besteht eine allgemeine Grundausbil-dung in Form des Elementarunterrichts (Volksschule). Im Zuge derfortschreitenden sozialökonomischen Entwicklung Deutschlands wur-den zunehmend mittlere Berufsqualifikationen erforderlich,, vor allemim technischen und kaufmännischen Bereich. Die entscheidende quan-titative Zunahme der Angestellten fällt in die Zeit des Übergangs vomKonkurrenzkapitalismus zum gegenwärtigen Kapitalismus: nach denVolkszählungen von 1882 und 1907 ergibt sich eine Erhöhung derZahl der Angestellten von 516 000 auf 1 871 0 0 0 . 2 2 Die Zunahmevon Angestelltenfunktionen als vermittelnde Tätigkeit vor, neben und hinter dem Produktionsprozeß entspricht der Entwicklung im Real-und Mittelschulwesen, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun-derts noch außerhalb der staatlichen Ordnung vollzieht. Mit den „All-gemeinen Bestimmungen" des Ministeriums Falck von 1872 wird diegesetzliche Regelung einer gehobenen bürgerlichen Bildung ohne wis-senschaftliche Grundausbildung verwirklicht. Der Staat muß die allge-meinen Grundbedingungen der Ausbildung der Ware Arbeitskraft si-cherstellen, damit die nun allgemein gewordenen Voraussetzungen fürdie berufsspezifische Ausbildung der mittleren, d. h. vor allem der An-gestelltenqualifikationen, nicht mehr vom Einzelkapital „privat" ge-tragen werden müssen.

Einvergleichbarer Verallgemeinerungsprozeß läßt sich für die zunächstganz branchen- und berufsunspezifisch ausgerichteten Gewerbe- undFachschulen konstatieren. „An der Entstehung und Entwicklung z. B.des industriellen Fachschulwesens läßt sich der Übergang von der amHandwerk orientierten (branchenspezifischen) Ausbildung zu einerallgemeinen, an den Bedürfnissen der Industrie ausgerichteten techni-schen Ausbildung aufzeigen. 1878 wird das gesamte technische Unter-richtswesen durch Erlaß dem Ministerium der geistlichen Unterrichts-und Medizinalangelegenheiten überwiesen." 2 3

Aus diesen knappen Ausführungen geht hervor, daß sich mit derDurchsetzung von drei Ebenen in der Qualifikationshierarchie, näm-lich elementarer Ausbildung für die Durchschnittsarbeitskraft, mitt-lere Qualifikation für die Vermittler zwischen allgemeiner Theorie undunmittelbarer Produktion sowie höhere Ausbildung für Träger vonWissenschaft und Forschung nicht gerade zufällig die traditionelle

253

Page 254: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Dreigliedrigkeit unseres Schulwesens ergibt. Die in dieser Strukturverankerten Widersprüche einer Klassengesellschaft werden von MartinBaethge hinsichtlich der Hochschul- und Grundschulausbildung fol-gendermaßen interpretiert: „Die Reformen haben wesentlich im Be-reich der Höheren Bildung und des Hochschulwesens stattgefunden;die Grundschulausbildung hat sich zwar verändert, aber nur geringfü-gig e rhöh t . " 2 4 Noch wichtiger ist die Verfestigung der Klassenunter-schiede des dreigliedrigen Qualifikationstypus in den drei Schultypenherkömmlicher Art: die Ausbildung in der Volksschule, der Realschu-le oder des Gymnasiums legt die zukünftigen Lebensaussichten derKinder — abgesehen von geringfügigen Veränderungen durch Auf- undAbstiegsprozesse einzelner Schüler — fest. Das bedeutet, daß die Kin-der bürgerlicher Herkunft zu leistungsstarken und anpassungsfähigenAkademikern herangezogen, die Kinder der sozialen Mittelklassen zugefügigen Angestellten ausgebildet und die Kinder der Arbeiterklassezu fleißigen Industriearbeitern geformt werden. Besonders deutlichzeigt sich das Problem ungleicher Behandlung verschiedener sozialerKlassen am Beispiel der „Kopfsätze" für Unterrichtsmittel in einemder „fortschrittlichen" Länder der BRD, nämlich Hamburg: 2 5

1971 : Lehrmittel Lernmittel SummeVolksschüler DM 6,50 37,05 43,55Realschüler DM 10,30 56,55 76,85Gymnasiast DM 22,90 69 ,70 92 ,60

Damit zeigt sich, daß die im Grundgesetz versprochene allgemeineChancengleichheit lediglich bürgerliche Chancengleichheit — also realeUngleichheit — ist. Unter bestimmten Bedingungen kann diese jedochtendenziell durchbrochen werden. D.h. z .B. , daß die Gesamtschule — trotz all ihrer Widersprüche — organisatorische Voraussetzungen füreine Verbesserung der Chancengleichheit auch für die sozialen Unter-klassen implizieren kann.

B. Gesellschaftlich-geschichtliche Voraussetzungen der Entwicklungdes bürgerlich-kapitalistischen Schulwesens

Wir haben aus dem vorausgehenden Kapitel zur ökonomischen Funk-tion von Bildung und Ausbildung im Kapitalismus die Einsicht gewon-nen, daß die Schule eine doppelte Funktion zu erfüllen hat: sie mußArbeitskräfte für den kapitalistischen Arbeits- und Verwertungsprozeßausbilden (ökonomische Funktion) und zugleich durch die Form derschulischen Sozialisation, d. h. durch die Vermittlung herrschenderNormen, Werte und Ideologien die Anpassungsfähigkeit der späterenProduzenten an die vorgegebene Gesellschaft sicherstellen (ideologi-sche Funkt ion) . 2 6 Der von uns allgemein hergeleitete Begriff der Qua-lifikation schließt also immer dieses doppelte Funktionsverhältnis ein,

254

Page 255: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

das auf die Sicherung und Stabilisierung der gesamtkapitalistischenGesellschafts- und Produktionsstruktur ausgerichtet ist. Wenn wir nunim folgenden verschiedene frühbürgerliche und bürgerliche Gesell-schaftstheorien und davon abgeleitete Bildungskonzeptionen auf demHintergrund der geschichtlichen Entfaltung der bürgerlichen Gesell-schaft untersuchen, so erweist sich die ökonomische und soziale Be-dingtheit allen pädagogischen Denkens und Handelns als eine metho-dologische Voraussetzung unserer Analyse. Diese Funktion ideologie-kritischer Analyse ergibt sich, wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde,aus dem Wesen von Ideologien in kapitalistischen Klassengesellschaf-ten. Demzufolge sind bürgerliche Ideologien gesellschaftlich notwen-dig hervorgebrachtes falsches Bewußtsein, das herrschaftsstabilisierendwirkt. Ob nun Ideologien von ihren Vermittlungsträgern bewußt oderunbewußt verbreitet werden, ist in diesem Zusammenhang relativ be-langlos. Besonders erweisen deshalb jene Konzeptionen, die eine rela-tive oder absolute Autonomie pädagogischer Prozesse gegenüber ge-sellschaftlichen herausstellen, ihren ideologischen Charakter. 2 1 Bür-gerliche Gesellschaftstheorien können also nur aus ihrem spezifischenhistorisch-gesellschaftlichen Stellenwert begriffen werden; man kannalso einerseits den Klassencharakter von Bildung und Erziehung imvoll entwickelten Kapitalismus ideologiekritisch analysieren, anderer-seits aber auch die kritisch-progressiven Elemente von Bildungspro-grammen herauspräparieren.

Wendet man dieses methodologische Prinzip auf die geschichtlicheEntfaltung der bürgerlichen Gesellschaft an, so könnte man z. B. anJohn Lockes gentleman-education, Johann Pestalozzis Elementar-bildung oder an Jean-Jacques Rousseaus antifeudalem Bildungsprinzipunter den je verschiedenen geschichtlichen Entwicklungsbedingungenin England, Preußen-Deutschland und Frankreich deren ambivalentenCharakter herausarbeiten: „progressiv im Interesse des gesamtgesell-schaftlichen Fortschritts als antifeudale Bildungsprinzipien oder Erzie-hungskonzeptionen, ideologisch in der Fixierung auf das Interesse ei-ner bestimmten Gesellschaftsschicht (hier besser: Klasse statt Schicht,d. Verf.), des Bürgertums . . . " 2 8 . Wenngleich in allen frühbürgerlichenKonzepten die Forderungen einer sich politisch und ökonomisch vonden Fesseln des Feudaladels emanzipierenden bürgerlichen Klassedurchschillern, erhält die kritisch-emanzipatorische Funktion doch zu-gleich eine affirmative Wendung:2 9 sowohl die in der Trikolore derFranzösischen Revolution versprochene allgemeine, d. h. gesamt-menschheitliche Emanzipation 3 0 als auch die Elemente französischerNationalerziehung und des preußisch-deutschen NeuhumanismusHumboldtscher Prägung3 1 bleiben auf die Mündigkeit des bürgerlich-kapitalistischen Warenbesitzers fixiert. Mit dem 1791 erfolgten Ver-bot von Arbeiterberufsvereinigungen ist der kapitalistische Produk-tionsprozeß im nachrevolutionären Frankreich bereits rechtlich undpolitisch konsolidiert. „Die Parolen der revolutionären Klassen, Frei-heit, Gleichheit und Brüderlichkeit, gewinnen daraus freilich ihren

255

Page 256: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

spezifisch bürgerlichen Inhalt; Freiheit: primär private Verfügungsge-walt des bürgerlichen Wirtschaftssubjektes über sein Eigentum, Gleich-heit: formales staatsbürgerliches Recht als Gleichheit aller Individuenvor dem Gesetz, das primär der Erhaltung des bürgerlichen Eigentums-interesses dient, Brüderlichkeit: im kollektiven Pathos nationaler Ver-bundenheit als Resultat gemeinsamer antifeudaler Interessen" 3 2 (Her-vorhebung im Text, d. Verf.).

Die idealistischen Motivationen einer „allgemeinen Menschheitsbil-dung" (Condorcet) schlagen — unter den Bedingungen der Verbin-dung von Staat und Bürgertum — in eine gegen die sich entwickelndeArbeiterbewegung gerichtete antisozialistische Praxis um. Mit der Her-stellung und Verwirklichung der sozialökonomischen Voraussetzun-gen kapitalistischer Produktionsweise, d. h. der nationalstaatlichenZentralisierung vorher zersplitterter Territorien, Beseitigung der Bin-nenzölle, Ausbau der Verkehrssysteme, Entwicklung des Geld- undspäter des Bankenverkehrs sowie eines einheitlichen Schulsystems wardas Interesse des Bürgertums im 19. Jahrhundert an der Revolutionverschwunden. Die Herausbildung der kapitalistischen Produktions-w e i s e 3 3 , in England bereits im 18. Jahrhundert voll ausgeprägt, inFrankreich und besonders in Preußen-Deutschland erst in der erstenHälfte des 19. Jahrhunderts aus der agrarisch-feudalistischen Produk-tionsstruktur hervorgegangen, setzt die im Antagonismus zum Bürger-tum stehende Klasse des Proletariats frei. Die bürgerliche Klasse istdarauf verwiesen, das von ihr erkämpfte Freiheits- und Gleichheits-prinzip gegenüber den politischen, sozialen und ökonomischen Auf-stiegstendenzen des Proletariats zu verteidigen. Im Rahmen dieses hi-storischen Kontexts von bürgerlich-kapitalistischer Herrschaftssiche-rung (repräsentiert vom bürgerlichen Staat und den ihn stützenden so-zialen Klassen) und proletarisch-sozialistischer Aufhebungstendenz(Arbeiterbewegung) muß das Proletariat die Bourgeoisie beim Wortnehmen. Die Arbeiterbewegung drängt dazu, das Emanzipationsver-sprechen der bürgerlichen Revolution einzulösen, denn „Freiheit,Gleichheit, Bürderlichkeit, die versucht gewesene Orthopädie des auf-rechten Ganges . . . , der Menschenwürde weisen über den bürgerlichenHorizont weit h inaus" 3 4 .

Bildungspolitisches Korrelat des kapitalistischen Arbeits- und Ver-wertungsprozesses ist die Konzeption und Verwirklichung eines ein-heitlichen Schulsystems. Einheitliche Bildungsangebote nach klassen-spezifischen Kriterien in „Volksschule" und „Höhere Schule" sind dasÄquivalent der ökonomischen und politischen Zentralisationsgewaltder Bourgeoisie. (In der Volksschule sind diejenigen Kinder konzen-triert, die — perspektivisch betrachtet — körperliche, manuelle Ar-beiten zu verrichten haben werden, in der Höheren Schule hingegenjene, die vorwiegend geistig-intellektuelle Tätigkeiten auszuüben be-stimmt sind. Im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsformationsind die herrschenden Klassen jedoch dazu gezwungen, Schritt fürSchritt bestimmte Bildungselemente und -güter für die allgemeine Ent-

256

Page 257: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

wicklung der Produzenten freizugeben. Die ökonomische Notwendig-keit einer historisch je adäquaten Qualifikations- und Arbeitsstruktur verbietet den völligen Ausschluß der Arbeiterklasse von bürgerlichenBildungseinrichtungen. Denn deren systematische Weiterentwicklungist geradezu Bedingung disziplinierter, auf Identifikation mit den Nor-men und Werten bürgerlicher Sozialisation verwiesener kapitalisti-scher Arbeitsorganisation.3 5 Eine allgemeine und systematischeVolksbildung, die zugleich die Ideologie der formalen Chancengleich-heit liefert, vermittelt ebenfalls die der bürgerlichen „Leistungsgesell-schaft" entsprechende Leistungs- und Aufstiegsideologie. Demzufolgehat jedes Individuum im Durchlaufen bestimmter Bildungseinrichtun-gen die Chance zum Aufstieg in eine führende Position.

Die gesellschaftliche Realität spricht indes eine andere Sprache: Diedurch die bestehenden Produktions- und Eigentumsverhältnisse sank-tionierte Ungleichheit der Eigentums-, Vermögens- und Einkommens-verteilung verhindert den allgemeinen Zugang zu weiterführendenSchulen und garantiert das akademische Bildungsprivileg für die Bour-geoisie und ihre Nachkommen. Auf diese Weise reproduziert dieStruktur des Bildungssystems selbst den antagonistischen Widerspruchder gesellschaftlichen Klassenverhältnisse im gesamtgesellschaftlichenMaßstab. 3 6 „Das Bildungssystem des Kapitalismus krankt an dem Wi-derspruch, einerseits Bildung als Potenz kapitalistischer Entwicklungzu fördern und andererseits die ideologisch-politische Abhängigkeitder gebildeten' Produzenten zu bewahren. Die herrschenden Klassenmüssen den werktätigen Menschen Bildungsgüter zuführen, und siemüssen zugleich deren Bildungsniveau so reduzieren, daß ihre Herr-schaft möglichst wenig gefährdet i s t . " 3 7

Die besonders im Stadium des gegenwärtigen Kapitalismus notwen-dig gewordenen Strukturreformen im Bildungs- und Ausbildungssek-tor, z. B. die Durchsetzung des Gesamtschulprojekts in Teilen derB R D 3 8 , enthüllen jedoch tendenziell und potentiell die „Subversivitätdes Bildungssystems" (Gernot K o n e f f k e ) 3 9 , d. h. die Möglichkeit ei-ner kritischen Durchdringung des Schulwesens. Die formal gesetztenZiele der bundesrepublikanischen Gesamtschule: Gewährleistung vonChancengleichheit, Individualisierung des Lernangebots, individuelleBegabungsförderung, die Erziehung zu individueller Autonomie undgleichzeitiger Ermöglichung sozialer Erfahrung 4 0 entsprechen weitest-gehend den immanenten Anforderungen der kapitalistischen Lei-stungsgesellschaft unter den Bedingungen des wissenschaftlich-techni-schen Fortschritts (vgl. dazu Abschnitt C des Kapitels „Schule . . . "S. 258 ff). Wenngleich auch die Gesamtschule — mit einigen geringfügi-gen Abstrichen — von den offiziellen Vertretern der deutschen Indu-strie als ein der „modernen Industriegesellschaft" und ihrer „Lei-stungsfähigkeit" entsprechendes Instrument der sozialen Integrationbreiter „Sozialschichten" angesehen wird, 4 1 so ergeben sich dennoch— auf Grund organisatorischer Bedingungen der Gesamtschule — An-satzpunkte für eine emanzipatorische Schulpraxis. (Näheres S. 296 ff.)

257

Page 258: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Die Fähigkeit zu einer kritischen Durchdringung von Unterricht undSchule ist allerdings abhängig von der Entwicklung fortschrittlicherTendenzen auf der Ebene eines sich gesamtgesellschaftlich verschär-fenden Klassenkampfes. Verschiedene Formen gesamtgesellschaftli-cher Klassenauseinandersetzungen, wie etwa auch die Rückwirkungender antiautoritären Studentenbewegung gezeigt h a b e n 4 2 , können zurBedingung für einen kollektiven, d. h. von Lehrern und Schülern ge-meinsam zu führenden Emanzipationsprozeß werden. Der Wider-spruch von Bildung und Ausbildung, „Ausbildung und Herrschaft"(Martin Baethge) kann jedoch nicht durch Bewußtseinsänderung alleinaufgehoben, sondern nur im Zusammenwirken der Unterdrückten undEntmündigten zur Aufhebung der Ursachen von Unterdrückung undEntmündigung vollzogen werden.

Bewußtseinsveränderung und gesamtgesellschaftliche Strukturverän-derungen müssen als einheitliches praktisch-kritisches Verhalten be-trachtet werden. In der Schule ist deshalb die kollektive Organisationvon Lehrern und Schülern — im Hinblick auf den Ausbildungssektorund seine gesamtgesellschaftliche Funktion — eine Voraussetzung fürdie doppelte Richtung praktischer Arbeit, nämlich Bewußtseinsverän-derung im Prozeß kollektiver Solidarisierung von Schülern und Leh-rern zu erzielen und zugleich Ansätze zu konkreter praktischer Verän-derung im Ausbildungssektor durchzusetzen.

C. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und die Veränderungder Qualifikationsstruktur der Ware Arbeitskraft

I. Das Problem der Bewältigung des wissenschaftlich-technischenFortschritts in der B R D

Die grundlegenden Widersprüche des kapitalistischen Schulwesens sindnun in Beziehung zu setzen zur besonderen politökonomischen Ent-wicklung der BRD unter den Bedingungen des wissenschaftlich-techni-schen Fortschri t ts . 4 3 Die Entwicklung des Kapitalverhältnisses in derBRD — besonders im Zeichen der seit Anfang der 50er Jahre sich ab-zeichnenden Remilitarisierung — machte eine unmittelbare Verwertungvon naturwissenschaftlichen und technischen Forschungsergebnissenfür Bereiche der materiellen Produktion notwendig. Das Eindringen derWissenschaft in Bereiche der unmittelbaren Produktion — besonders imRüstungssektor — kennzeichnet eine neue Phase des Kapitalverwer-tungsprozesses in der sozialökonomischen Entwicklung der BRD.

Für die Bundesrepublik markiert die strukturelle Veränderung derKapitalverwertungs- oder „Wachstumsbedingungen" nach Abschlußder Rekonstruktionsperiode4 4 gegen Ende der 50er Jahre einen „öko-nomischen Wendepunkt" 4 5 , an dem der quantitative Ausbau und diequalitative Reorganisation des gesamten Forschungs- und Ausbil-

258

Page 259: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

dungssektors zur zentralen Voraussetzung des Akkumulationsprozes-ses zu werden begannen. „Das ,Wirtschaftswunder' der fünfziger Jahrewar also an einige besondere Voraussetzungen gebunden, zu derenwichtigsten die hohe Gewinnträchtigkeit von Investitionen in kriegs-bedingten Engpaßsektoren und deren fiskalische Förderung, die staat-liche Begünstigung der Unternehmergewinne und das durch hohe Ar-beitslosenziffern (bis 1952) sowie eine ,zurückhaltende' Gewerk-schaftspolitik bedingte Zurückbleiben der Löhne gehörten. Das Endedes Wunders mußte eintreten, als mit Abschluß der Rekonstruktions-periode diese Faktoren nach und nach wegfielen." 4 6 Infolge struktu-reller Verknappung der Arbeitskräfte 4 7 und wachsender Konzentra-tion und Zentralisation des Kapitals stellten sich sowohl von der Ent-wicklung der „Kostenseite", d. h. steigender Löhne und Soziallasten,als auch von der Realisierungsseite her, d. h. unter schwierigen Ex-portbedingungen und monopolistischer Marktsituation, erheblicheVerwertungsprobleme e i n . 4 8 Im Rahmen der Kapitalverwertungspro-bleme erhielt der Staatsapparat immer mehr die Funktion, im wach-senden Umfang gesellschaftlichen Reichtum zugunsten der großen Ka-pitale umzuverteilen und zugleich die allgemeinen Bedingungen deskapitalistischen Produktions- und Verwertungsprozesses zu garantie-r en . 4 9

Die in unserem Zusammenhang nur angedeuteten Reproduktions-schwierigkeiten der westdeutschen Kapitale zwangen den bürgerlichenStaat zu Beginn der 60er Jahre bereits zu einer — wenn auch system-immanenten — Planung und Koordination ökonomischer Prozesse, zueiner Reorganisation des Regierungs- und Verwaltungsapparates sowiezum Ausbau des wirtschafts- und finanzpolitischen Instrumentariums:1963: Sachverständigenrat der Begutachtung der gesamtwirtschaftli-chen Entwicklung; 1966 /67 : Mittelfristige Finanzplanung/Stabilitäts-gesetz/Konzertierte Aktion. Die besonderen Engpässe auf dem Ar-beitsmarkt ließen schon Ende der 50er Jahre die Mängel im Schul-und Hochschulbereich deutlich werden, was 1957 zur Errichtung desWissenschaftsrates führte. 5 0 Der systemimmanente Zwang zu einerplanmäßigen staatlichen Förderung des wissenschaftlich-technischenFortschritts, d. h. insbesondere der großen Forschungs- und Entwick-lungspolitik5 1 fand seine Verwirklichung in dem 1962 gegründetenBundesministerium für wissenschaftliche Forschung. Das Schlagwortvon der „deutschen Bildungskatastrophe" (Georg Picht) schließlichbrachte das Problem in das öffentliche Bewußtsein, verstellte jedochden Blick für die realen sozioökonomischen Veränderungen in der Ar-beits- und Qualifikationsstruktur der Arbeitskräfte.

Da offensichtlich das Arbeitskräftevolumen seit dem Ende der 50erJahre das „Wirtschaftswachstum" begrenzte, mußte die weitere öko-nomische Entwicklung davon abhängen, inwieweit es gelingen konnte,der Verknappung der Arbeitskraft durch eine Steigerung der Arbeits-produktivität entgegenzuwirken. „Die Veränderung der Arbeitsplatz-struktur zum Zwecke der Produktivitätssteigerung erfordert demnach

259

Page 260: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

nicht allein die korrespondierende Anpassung der Qualifikationsstruk-tur, sondern eine vorgängige Planung und ,Reform' des Ausbildungs-sektors, weil — wie auch der Sachverständigenrat betont — ,Investitio-nen in den Menschen nur langsam ausreifen'" 5 2 (Hervorhebung imText, d. Verf.). „Vorgängige Planung" im Rahmen der bürgerlichenGesellschaft und ihres Staatsapparates bedeutet nicht Planung der na-tionalen Volkswirtschaft nach gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissenund unter demokratischer Kontrolle der Masse des Volkes, sonderneine von den Widersprüchen der Einzelkapitale sowie dem partiell wi-dersprüchlichen Verhältnis von Einzelkapitalien und Staat bestimmtePlanung. Wie widersprüchlich sich verschiedene Plankonzepte und ge-sellschaftliche Interessen im Bereich von Bildung und Ausbildungdurchsetzen, zeigen exemplarisch die verschiedenen Bedarfsanalysenvon Wissenschafts- und Bildungsministerium, KMK-Konferenz, Mini-sterpräsidentenkonferenz, Wissenschaftsrat und Unternehmerverbän-den.5 3

2. Widersprüchliche Tendenzen in der Entwicklung der Qualif ikations-struktur des Arbeitsvermögens

Seit dem 19. Jahrhundert haben sich die Qualifikationsanforderungenan den Arbeiter zwar erhöht, im Verhältnis zur Entwicklung von Wis-senschaft und Technik sind sie aber im wesentlichen unverändert ge-blieben. Der spezifisch bürgerliche Charakter des Schul- und Hoch-schulsystems erweist sich gerade in der Verschiebung des Anteils vonWissenschaft und Bildung zugunsten eines kontinuierlichen Anstiegsder Wissenschafts- und Forschungsausgaben.5 4 Nach Angaben desWissenschaftsrates von 1970 sind die Nettoausgaben für Schulen pro-zentual von 84,9 % (1950) auf 71,0 % (1969) zurückgegangen, die derHochschulen hingegen haben sich beinahe verdoppelt: von 15,1 % auf29 %. Will man nun die Formen bildungspolitischer Reformmaßnah-men richtig einschätzen, so muß man den Zusammenhang von ökono-mischer Gesamtentwicklung, Veränderungen in der Arbeitsplatz- undQualifikationsstruktur der Arbeitskräfte und Bildungspolitik ent-wickeln. Im Zuge der Entwicklung des wissenschaftlich-technischenFortschritts, d. h. der Entwicklung kapitalintensiver Produktion aufeiner höheren Stufe der Mechanisierung und Automatisierung wird — der These bürgerlicher Ökonomen zufolge (vgl. Friedrich Edding,u. a.) — eine Reform des Ausbildungssektors insgesamt zum Zweckeder Höherqualifizierung der Ware Arbeitskraft notwendig. Aus derNotwendigkeit der Höherqualifizierung des gesellschaftlichen Gesamt-arbeiters läßt sich jedoch nicht unmittelbar die Höherqualifizierung ei-nes jeden einzelnen Arbeiters ableiten. Sie muß konkretisiert werdenauf die einzelnen Teile des Gesamtarbeiters und relativiert in bezugauf die Entwicklung von Wissenschaft und Technik.

„Mit der zunehmenden Verwissenschaftlichung des unmittelbaren

260

Page 261: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Produktionsprozesses sowie der der unmittelbaren Produktion vor-und nachgelagerten Bereiche nimmt der absolute Umfang und das re-lative Gewicht von Arbeiten zu, die im wesentlichen geistiger Art sind.Für sie werden zunehmend Qualifikationen benötigt, die nur in Zu-sammenhang mit wissenschaftlicher Betätigung erworben werdenkönnen . . . Entsprechend sind zur wissenschaftlich-technischen Intel-ligenz alle jene Beschäftigten zu rechnen, die auf der Grundlage einerAusbildung in Hochschulen und Fachhochschulen Tätigkeiten mitwissenschaftlich-technischen Qualifikationsvoraussetzungen verrich-t e n " 5 5 (Hervorhebung von uns, d. Verf.). Die von Wulf D. Hund u. a.angegebenen Gliederungsprinzipien ergeben eine Dreiteilung der wis-senschaftlich-technischen Intelligenz: die naturwissenschaftlich-tech-nische Intelligenz, die sozialwissenschaftliche und die pädagogische In-telligenz (vgl. dazu auch das 4. Kapitel, Abschnitt D, zur Lehrerproble-matik, S. 27 3 ff.). Die im Zusammenhang mit der Umwälzung der Produk-tivkräfte sich vollziehende Veränderung in der Struktur des gesell-schaftlichen Gesamtarbeiters ergibt also eine relative und absolute Zu-nahme wissenschaftlich-technischer Qualifikationen, die jedoch nichtmit einer entsprechenden Zunahme wissenschaftlich-technischer Ar-beitskräfte einhergehen muß. Die Ersetzbarkeit dieser Arbeitskräftehängt wiederum von den besonderen Interessen der Verwertung derEinzelkapitale ab: dieser Widerspruch drückt sich real in der Vergröße-rung der Relationen von „einfachen" graduierten Ingenieuren und Di-plomingenieuren sowie in der Differenzierung verschiedener Lehrerar-beiten aus.

Die verschiedenen Gruppen der wissenschaftlich-technischen Intelli-genz erfüllen einerseits das Kriterium der Lohnabhängigkeit und un-terliegen andererseits — von ihren allgemeinen Lebens- und Arbeitsbe-dingungen her (Fremdbestimmung am Arbeitsplatz) — der histori-schen Tendenz einer Deprivilegierung, d. h. einer teilweisen Verprole-tarisierung56 und können damit teilweise zu dem erweiterten Begriff derArbeiterklasse gerechnet werden. Aus der Differenz von elementarer,allgemeiner Grundausbildung der durchschnittlichen Arbeitskraft undhöherer, wissenschaftlicher Ausbildung der Intelligenz ergeben sich je-doch immer noch Relikte eines ständischen, d.h. auf die Verteidigungvon Sonderrechten erpichten Bewußtseins von Teilen der Intelligenz.Erhebliche Unterschiede gegenüber dem traditionellen „Kern" der Ar-beiterklasse bestehen indes tatsächlich in bezug auf bestimmte kultu-relle Lebensbedürfnisse, wie etwa Wohnung, Kleidung, Bildung, kultu-relle Tätigkeiten, Reisen, u. a. m e h r . 5 7 Wie verhält sich nun die obenbeschriebene, relativ hohe Qualifikation der wissenschaftlich-techni-schen Intelligenz zu den Qualifikationsanforderungen der Industrie-arbeiter auf dem Hintergrund des veränderten Produktionsprozesses?Folgende Tendenzen ergeben sich für die Veränderung der Qualifika-tionsstruktur:

„— Der Anteil der unmittelbaren Produktionstätigkeit geht, wenndiese auch noch die bedeutendste ist, zugunsten der Wartungs-, In-

261

Page 262: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

standhaltung- und Überwachungstätigkeiten zurück.— Damit verschieben sich zugleich die Anteile von physischer,

körperlich anstrengender Arbeit in Richtung mehr psychisch belasten-der Kontroll- und Meßwerttätigkeiten und solcher, die zumindest inden Aufbauphasen mehr technische Kenntnisse und Fähigkeiten zurGrundlage haben.

— Dies ist zum Teil Ausdruck dafür, daß diejenigen qualifiziertenTätigkeiten, die in der Hauptsache durch einen branchenspezifischenArbeitsplatz definiert werden, also vorwiegend eine Reihe von Fachar-beiterberufen, zurückgehen. Einerseits werden sie auf angelernte Ar-beiten reduziert, andererseits entstehen vorläufig spezialisierte, soge-nannte ,prozeßunabhängige' Tätigkeitsbereiche.

— Kennzeichnend für höhere Qualifizierung ist, daß sie als Speziali-sierung entsprechend angelernt und am Arbeitsplatz vermitteltwi rd . " 5 8

Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die Tendenzen in derQualifikationsstruktur der Industriearbeiter:

Leistungs-gruppen Anteile in %

1951 1957 1960 1962 1965 1966 1967 1968 1969

Facharbeiter 47,6 44,8 40,6 41,6 42,5 43,4 44,6 43,7 42,8AngelernteArbeiter 28.0 32,4 36,4 36,6 36,5 36,7 36,3 36,6 36,9UngelernteArbeiter 24,4 22,8 23,0 21,8 21,0 19.9 19,1 19,7 20.0

Quelle: J. Marx, Arbeitskraft — Neue Technik — Monopolherrschaft. Die wider-sprüchliche Entwicklung der Arbeitskraft unter den Bedingungen des wissen-schaftlich-technischen Fortschritts und den kapitalistischen Produktionsverhält-nissen in der BRD, in: DWI-Forschungshefte, Heft 4/1971, S. 27, hier nachW. D. Hund, u. a., a.a.O., S. 1087 . 5 9

Daraus ergeben sich zwei Tendenzen: die Gruppen der Facharbeiterund der ungelernten Arbeiter nehmen prozentual ab, während dieGruppe der angelernten Arbeiter prozentual ansteigt. Was bedeutetdiese Entwicklung nun für die Ausbildung der Ware Arbeitskraft? — Die Verwissenschaftlichung der materiellen Produktion bedeutet einegewisse Zunahme allgemeiner Qualifikationsanforderungen. Die Not-wendigkeit ständigen Neu-Erlernens und Umstellens auf neue techni-sche Aggregate, d. h. der Zwang zu punktueller Spezialisierung erfor-dert eine gewisse, allerdings geringfügige Erhöhung der allgemeinenQualifikation der Arbeitskräfte, die selbst bereits eine Ausweitung derunteren Stufen des allgemeinbildenden Schulwesens mit einschließtund voraussetzt. Die relativ gering qualifizierte Arbeitskraft indes istgeradezu die Bedingung der absoluten Mobilität und Flexibilität, d. h.ihrer freien Einsetzbarkeit am beliebigen Arbeitsplatz. Es läßt sichnämlich statistisch nachweisen, daß der Fluktuationsgrad für Nicht-

262

Page 263: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Facharbeiter bedeutend höher ist als der der Facharbeiter. 6 0 Aus die-ser These läßt sich wiederum nicht die generelle Tendenz einer zu-nehmenden Dequalifikation ableiten, vielmehr bedarf es der Auf-deckung der widersprüchlichen Entwicklung der Qualifikation des Ge-samtarbeiters und einer nur geringfügig erhöhten Qualifikation desgrößten Teils der Arbeiterschaft.

Der reale Erklärungsgrund liegt darin, daß die prozentual zuneh-mende Qualifikation auf einen relativ kleinen Teil des Gesamtarbei-ters, d. h. der wissenschaftlich-technischen Intelligenz konzentriertbleibt. „Die Entwicklung der Produktivkräfte bedeutet also insgesamtfür die unmittelbaren Produzenten vor allem zweierlei. Eine schnellereUmwälzung der Produktionsmittel erfordert von ihnen erhöhte Mobi-lität. Die weitere Entwicklung der Produktivkräfte ist aber gleichzeitiggebunden an ein bestimmtes Qualifikationsniveau. Die Notwendigkeiteiner höheren Qualifikation setzt sich indessen lediglich für gewisseGruppen durch und gelangt nur dann zum Ausdruck, wenn sie unab-dingbar für die Einführung technisch neuer Anlagen ist. Dies geschiehtdurch bloße Anpassung an bzw. punktuell durch Spezialisierung aufeinen Arbeitsplatz. Wesentliches Kennzeichen dieses Prozesses ist alsodie Auflösung der Qualifikation der Arbeitskraft, die sich für sie alsihre Flexibilität darstellt, in Mobilität und punktuelle Spezialisierung,die durch die Weiterentwicklung der Produktivkräfte ständig wiederaufgehoben und entwertet wird ." 6 1

Die beiden wesentlichen Qualifikationsmerkmale, das der allgemei-nen Mobilität und der je besonderen arbeitsplatzbezogenen Fähigkeit,bestimmen das Verhältnis von allgemeiner Grundausbildung und be-rufsbezogener Allgemeinbildung. D. h., daß eine auf die Bedürfnissedes Arbeitsmarktes zugeschnittene Ausbildung erforderlich ist, die all-gemeine Mobilität garantiert und zugleich elastizitätsorientierte Be-standteile für mögliche Spezialisierungen enthält. Neben der arbeits-marktgerechten Arbeitsplatzbezogenheit des Ausbildungsprozesses inallgemeinbildenden Schulen dürfte damit die „Verlagerung eines er-heblichen Teils der Gesamtausbildung von der Erstausbildungsphaseauf spätere Umschulungs- und Weiterbildungsphasen"6 2 notwendiggeworden sein. Wie die daraus erwachsende Zunahme der Lehrertätig-keiten durch unterrichtstechnologische Verfahren (technische Medien,objektivierte Testverfahren, u. a. m.) effektiviert und unter Kontrollegebracht werden soll, wird im nächsten Abschnitt kurz erläutert. Einrelatives und absolutes Anwachsen des Haushalts für Bildung und Wis-senschaft bedeutet deshalb durchaus nicht ein Ansteigen der Qualifi-kation der Durchschnittsarbeitskraft, sondern impliziert, daß einGroßteil der Ausgaben zur wachsenden Technisierung und Automati-sierung technischer Aggregatsysteme im Produktionsprozeß eingesetztwird. Qualifikation und deren Entwertung durch den Produktionspro-zeß sind, auf die Struktur des Gesamtarbeiters bezogen, nur als ein-heitlicher Prozeß zu begreifen, der aus dem allgemeinen Verhältnisvon Lohnarbeit und Kapital resultiert.

263

Page 264: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

264

3. Zur Funkt ion von Bildungsökonomie und Unterrichtstechnologie

Auf dem Hintergrund der widersprüchlichen Entwicklung der Arbeits-platz- und Qualifikationsstruktur kommt der Ausarbeitung von Ansät-zen zur Bildungs- und Wissenschaftsökonomie sowie zur Unterrichts-technologie hervorragende Bedeutung zu. Das zeigen besonders der inder pädagogischen Diskussion durch Freerk Huiksen herausgearbeitete„Wandel von der bildungstheoretisch zur bildungsökonomisch orien-tierten Didakt ik" 6 3 und die ersten systematischen Ansätze einer Bil-dungsökonomie von Friedrich Edding ( 1 9 5 8 / 1 9 6 3 ) . 6 4 Die Bildungs-ökonomie und ihr Entstehen fällt also in jene Zeit des Endes des deut-schen „Wirtschaftswunders", innerhalb deren sie sich als einen Ver-such rationaler Planung und Aufhebung der Bildungskatastrophe ver-steht, d. h. des Mißverhältnisses von Angebot und Nachfrage auf demArbeitskräftemarkt. Entgegen der These von Adolf Kell, daß „bil-dungsökonomische Theoriebildungen und Forschungen vom jeweili-gen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem weitgehend unabhängig"6 5

seien, ist festzustellen, daß die wissenschaftlichen Untersuchungen derexakten Prognostizierung des Bedarfs an Schul- und Hochschulabsol-venten, sowie die in enger Beziehung dazu arbeitende Arbeitsmarkt-forschung geradezu ein Reflex der veränderten sozioökonomischenBedingungen darstellen. 6 6 „Bildungsinvestitionen Bildungsplanungund innere Ökonomie der Bildungsinstitutionen"6 7 werden unterdem Aspekt des direkt ursächlichen Zusammenhangs von „wirtschaft-lichem Fortschritt" und der Entwicklung von Bildung und Wissen-schaft als „unmittelbare Produktivkraft" gesehen. Die problematischeTrennung von Mikro- und Makroökonomie, der auch zum Teil kriti-sche Autoren wie F. Huisken verfallen, 6 8 suggeriert die Planbarkeitbildungspolitischer Prozesse auf gesamtgesellschaftlichem Niveau wieauch auf der Ebene der „Betriebswirtschaft der Schule". Gleichzeitigwird in der Trennung verschleiert, daß beide Ebenen Teil der „Ratio-nalität" des dem kapitalistischen Verwertungsprozeß unterworfenenBildungssystems sind.

Dieser Zusammenhang deutet darauf hin, daß die verschiedenen An-sätze zur Bildungsökonomie6 9 stillschweigend von den Bedingungender kapitalistischen Produktionsweise ausgehen, ohne diese selbst kri-tisch zu analysieren. Das Problem der Bildungsplanung im Rahmender Bildungsökonomie wird auf einer doppelten Ebene gelöst: auf ei-ner systembezogenen, d. h. die Gesamtgesellschaft betreffenden Ebeneder Makroökonomie und einer stärker verhaltenswissenschaftlichorientierten MikroÖkonomie, d. h. auf der Ebene der Bildungsinstitu-tionen. „Makroökonomisch und systembezogen formuliert, lautet dieFrage: wie hängen Stabilität des ökonomischen Systems und profit-garantierendes Wirtschaftswachstum mit der Qualifikationsstrukturder Arbeitskräfte zusammen, und wie wirken sich Investitionen imBildungssektor auf das Sozialprodukt aus? Mikrookonomisch undverhaltensorientiert lautet die Frage: Wie müssen sich die Individuen

Page 265: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

als ,Haushalte' den makroökonomisch legitimierten Investitionen an-passen, um ihre eigenen Nutzen zu maximieren und den des Systemszu vergrößern?" 7 0 Die kapitalistischen Produktionsbedingungen wer-den in diesen Modellen als gegebene vorausgesetzt und akzeptiert: dieBildungsökonomie ist primär daran interessiert, zur Erreichung derwirtschaftspolitischen Zielsetzung des sogenannten Wirtschaftswachs-tums möglichst exakte Planungsdaten zur Verfügung zu stellen. DerÖkonom erhält dabei die Funktion, wissenschaftliche Politikberatungwahrzunehmen, d. h. den Bildungspolitikern gesicherte Entschei-dungshilfen an die Hand zu geben. 7 1

Was nun auf der Ebene der bildungspolitischen Systemplanung alsStrategie der Anpassung an die spätkapitalistische Ökonomie sichtbarwurde, findet auf der Ebene der Schule und des Unterrichts ihre Ent-sprechung in den neuen Lehrplantheorien (Curriculumrevision) undeinigen Versuchen der Unterrichtstechnologie. Da Ausgaben für Bil-dung und Ausbildung grundsätzlich faux frais für den Staat und dieEinzelkapitale bedeuten, muß eine Strategie entwickelt werden, diedie Loyalität der Produzenten absichert. Die Konzeptionen einer gei-steswissenschaftlichen Didaktik in den 50er Jahren leiteten ihre Vor-stellungen aus einem überzeitlichen „kategorialen Bildungsbegriff"(Wolfgang Klafki) ab, der die Bildungsinhalte auf das Leben hin orien-tieren sollte: Bewährung in der Welt und Einfügen in ihre innere Ord-nung. Diese Inhalte gingen ein in die „didaktische Analyse als Kernder Unterrichtsvorbereitung", die „selbst den irrationalsten Bildungs-inhalt noch als kategorial und damit elementar auszuweisen ver-m a g " 7 2 . Diese Form der Unterrichtsvorbereitung war losgelöst vonjeglichen gesellschaftlichen Bezügen und rechtfertigte jeden pädagogi-schen Inhalt: damit war unter liberalem Deckmantel jedem reaktionä-ren Inhalt Tür und Tor geöffnet.

Seit Mitte der 60er Jahre wird nun von staatlicher Seite aus ver-sucht, die Lehr- und Lernprozesse in der sogenannten Curriculum-Ent-wicklung (Lehrplanforschung) unter den Aspekten „Ziele", „Inhalte",„Methoden", „Organisationsformen" und „Kontrollverfahren" zu pla-nen. Eine detaillierte Kritik der in der Curriculumentwicklung und -re-vision aufgestellten Zielvorstellungen wird im nächsten Abschnitt amBeispiel des Geschichtsunterrichts zu leisten sein. Wenngleich die ge-sellschaftlichen Grundlagen von Lehr- und Lernprozessen mitbedachtwerden, so ist die Grenze der Kritikfähigkeit da abgesteckt, wo dieeinseitig von bürgerlichen Klasseninteressen aus interpretierte „frei-heitlich-demokratische Grundordnung" aufhört. Bildungstechnologi-sche Tendenzen laufen darauf hinaus, den konkreten Unterrichtspro-zeß vermittels technischer Medien, objektivierbarer Leistungsmeß-und Kontrollverfahren bis in alle Details hinein zu planen und zu steu-e r n . 7 3 Bildungsökonomische Systemtheorie und unterrichtstechnolo-gische Curricula sind — bleiben sie vor den skizzierten „Grenzen derKritik" stehen — zwei Seiten ein und derselben Medaille, nämlich Ver-suche, den bildungs- und ausbildungspolitischen Planungsprozeß so zu

265

Page 266: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

effektivieren, daß ein minimaler Input (= faux frais) einen maximalenOutput systemkonformen, sozialintegrativen Verhaltens erzeugt.

D. Geschichtsunterricht - Medium der Kontrolle und Steuerung ideo-logisch-affirmativer Integrationsprozesse

1. Zur Entwicklung bürgerlicher Geschichtswissenschaft seit dem19. Jahrhundert

Um die Kontinuität der bürgerlichen Ideologeme im Geschichtsbuchund in ihrer Wirksamkeit im Geschichtsunterricht verstehen zu kön-nen, bedarf es zunächst eines knappen Rückblicks auf die Entwick-lungstendenzen der bürgerlichen Geschichtswissenschaft seit dem19. Jahrhundert. Bürgerliche Geschichtswissenschaft erweist sichnämlich über die Ausbildung der Geschichtslehrer an den Universitä-ten und die dadurch bestimmten Inhalte in Geschichtsbüchern undGeschichtsunterricht als entscheidender Katalysator und Vermitt-lungsträger bürgerlicher Ideologie. Die Niederlage der 1848er Revolu-tion und die bereits „drohende Gefahr" der aufsteigenden proletari-schen Klasse (Weberaufstände 1844) führte zum Verzicht des Bürger-tums auf liberale und demokratische Reformansätze, wie sie noch beigroßen Teilen der fortschrittlichen bürgerlichen Oppositionsbewe-gung, insbesondere der von den Burschenschaften getragenen Studen-tenbewegung im Vormärz vorhanden waren. Statt dessen vollzog daseinst liberale Bürgertum bereits 1848 , wie z. B. die Diskussionen aufder Frankfurter Nationalversammlung zeigen, die entscheidende Wen-dung und suchte den politischen Kompromiß mit der reaktionärenFeudalkaste und der preußischen Monarchie. Zudem gelang es derbürgerlichen Klasse, unter Verzicht auf die politische Führung imdeutschen Kaiserreich den ökonomischen Aufstieg und die Expansiondes deutschen Kapitals voranzutreiben.7 4 Die generelle historisch-po-litische Interessenlage des deutschen Bürgertums wurde zur Grundlagefür die an die bildungsbürgerlichen Vorstellungen Wilhelm von Hum-boldts (vgl. Kapitel 4, Abschnitt B) anknüpfende Geschichtsschrei-bung des Historismus. Unter Historismus soll im folgenden jeneHauptströmung der deutschen Geschichtswissenschaft und des politi-schen Denkens bezeichnet werden, die seit Leopold von Ranke überFriedrich Meinecke und Gerhard Ritter bis in die jüngste Vergangen-heit gewirkt hat: Die drei Säulen des Historismus, die Geschichtstheo-logie L. von Rankes, das Prinzip des unendlichen Verstehens beiJ. G. Droysen sowie Fr. Meineckes subjektivistische Ideengeschichtebleiben — mit geringfügigen Modifikationen — feste Bestandteilebürgerlicher Historiographie seit dem Kaiserreich. „Der Historismusgeht von folgenden Grundannahmen aus: daß in der Geschichte allesveränderlich ist, daß alle historischen Erscheinungen unwiederholbar sind und individuellen Charakter haben, daß alle historischen Ereignis-

266

Page 267: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

se ihren Wert in sich selber tragen, und daß alles Geschehen historischbedingt, jedoch nicht determiniert ist, wobei der historische Prozeßsowohl durch natürliche Faktoren als auch durch den freien Willen derIndividuen bestimmt wird." (Hervorhebung durch uns, d. V e r f . ) 7 5

Rankes mystifizierende Geschichtstheologie, derzufolge , jede Epo-che . . . unmittelbar zu Gott" ist und Geschichte in positivistischer Ma-nier nach dem Prinzip „wie es eigentlich gewesen ist" geschrieben wer-den soll, verklärt die Vergangenheit zum Mythos und zur schicksalsbe-dingten, göttlichen Vorsehung. Die bestehenden gesellschaftlichen Ver-hältnisse, die sich in einer fortschreitenden Ausbeutung der Arbeiter-klasse durch die bürgerlichen Klassen ausdrücken, werden auf diese Weisemit der Weihe einer geschichtsmystifizierenden Ersatzreligion versehen.Droysens Prinzip des unendlichen Verstehens, das die Vielfalt des histo-rischen Materials nach subjektivistisch-moralischen Kriterien („Wirkender sittlichen Mächte", „Wirken der sittlichen Gemeinsamkeiten"), dieselbst undefiniert bleiben, zu ordnen versucht, macht die zweite Säuleaus. Das zentrale Prinzip der „sittlichen Gemeinsamkeiten" ist orientiertauf blutmäßige Verbindungen wie Familie, Stamm und Volk, an derenSpitze der Staat rangiert. Das ökonomische und politische Ziel derbürgerlichen Klasse nach einem einheitlichen Nationalstaat wird zumethischen Prinzip allen menschlichen, d. h. sittlichen Seins hypostasiert.Nach der Konstitution des preußisch-deutschen Staates (1871) warenDroysens Ziele erfüllt. Die Entwicklung zum Absolutheitsanspruch desimperialistischen Staates, die Entwicklung der antagonistischen Klassen-gesellschaft wilhelminischer Prägung wird unbefragt hingenommen undals geschichtliches Resultat verabsolutiert.

Am Beispiel Friedrich Meineckes läßt sich exemplarisch zeigen, wiesich die konservative Geschichtsideologie des Historismus in den ver-schiedenen Phasen des deutschen Kapitalismus den jeweiligen Verän-derungen anzupassen versuchte und sich schließlich bis in die Anfängeder BRD hinüberretten konnte. Meineckes ideengeschichtliches undpersonalistisches Konzept („Die großen Staatspersönlichkeiten sinddie größten unserer Erkenntnis erreichbaren Realitäten der geschicht-lichen Welt.") setzt sich in dem Prinzip des Staates als „geschichtlichgewordener Individualität" fort, die nur aus ihrem tiefsten innerenWesen heraus verstanden werden kann. Bis zum Ersten Weltkrieg be-griff sich Meinecke als Apologet des Bismarckschen Staates und ver-wandelte seine Auffassungen erst während des Ersten Weltkrieges, dader Verlauf des Krieges den Klasseninteressen des Bürgertums zuwider-zulaufen schien. Das nun auftretende „Spannungsverhältnis zwischenMacht und Geist" begründete auch Meineckes Schranken zwischen al-ternativen Lösungsmöglichkeiten in der Politik. Doch bereits währenddes Faschismus befürwortete er 1938 die Annexion Österreichs undnahm schließlich 1940 die Niederwerfung Frankreichs mit Begeiste-rung auf. Die Niederlage des Faschismus wurde in seinem 1946 er-schienenen Buch „Die deutsche Katastrophe" als „Produkt des Zufallsund des Macchiavellismus der Massen" interpretiert. Beides entsprach

267

Page 268: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

den Interessen des deutschen Bürgertums, das — durch das DritteReich tief enttäuscht — in dieser Begründung eine Rechtfertigungsideo-logie für sein eigenes Verhalten gegenüber dem Faschismus erhiel t . 7 6

Die individualisierende Methode des Historismus hat sich als Grund-zug bürgerlicher Geschichtswissenschaft bis heute erhalten. Darüberhinaus sind seit Beginn der 50er Jahre, verstärkt seit der Studentenbe-wegung und ihren Rückwirkungen auf den universitären Lehrbetrieb,aber auch angesichts der internationalen und nationalen Systemkon-kurrenz zwischen bürgerlicher und marxistischer Wissenschaft, Ansät-ze zur einer Strukturgeschichtsschreibung, besonders zur Sozial- undWirtschaftsgeschichte entwickelt worden. Es ist bezeichnend für dieEntwicklung bürgerlicher Geschichtswissenschaft, daß die Institutio-nalisierung dieser Richtung nur mit großen Schwierigkeiten durchge-setzt werden konnte. Besonders im Zuge der Fischer-Kontroverse inder deutschen Geschichtswissenschaft7 7 sind die Diskussionen umden Stellenwert sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Forschungen imRahmen bürgerlicher Geschichtswissenschaft weitergeführt worden.Jüngere Historiker, vor allem Fischer-Schüler wie Helmut Böhme,Imanuel Geiss, aber auch Klaus Hildebrand, Klaus Stürmer und vor allemHans-Ulrich Wehler haben sich — bei aller methodologischen Begrenzt-heit ihres Ansatzes — von den reaktionären Geschichtslegenden tradi-tioneller Historiographie abgewendet. Gerade angesichts der partiellunkritischen Rezeption bürgerlicher Soziologie — H.-D. Kittsteiner hatdas jüngst exemplarisch am Beispiel der Max-Weber-Rezeption Hans-Ulrich Wehlers gezeigt — ist eine verstärkte methodologisch und ideo-logiekritisch fundierte Auseinandersetzung mit diesen Repräsentantenerforderlich. 7 8 Nur auf diese Weise kann die Sozial- und Wirtschafts-geschichte langfristig zu einem Teil kritischer Geschichtswissenschaftfortentwickelt werden, die tendenziell die Fächertrennung von Ge-schichte und Sozialwissenschaften aufzuheben in der Lage ist. Beson-ders Fragen zur Theorie und Geschichte der Arbeiterbewegung müß-ten in die Diskussion einbezogen werden. Die noch nicht abzuschät-zenden Auswirkungen der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte auf diezukünftige Ausbildung der Geschichtslehrer dürfen nicht — vom ge-genwärtigen Entwicklungsstand der Forschungsrichtung her — als bloßherrschaftsstabilisierend angesehen werden, zu einem erheblichen Teilhängt es von den kritischen Studenten und Lehrern ab, ob die Sozial-und Wirtschaftsgeschichte die bisherige Eliminierung sozialer und öko-nomischer Probleme aus dem Geschichtsbild aufheben und als poten-tiell materialistische Wissenschaft gesellschaftliche Emanzipationspro-zesse einleiten kann.

Am Beispiel des Historismus haben wir exemplarisch nachzuweisenversucht, welche politisch-ideologische Hilfestellung die bürgerlicheGeschichtswissenschaft bei der Absicherung gesellschaftlicher Herr-schaftsverhältnisse in der Vergangenheit und bis heute geleistet hat.Unter dem Druck linker Geschichts- und Sozialwissenschaft sind so-zial- und wirtschaftshistorische Problemstellungen mittlerweile stärker

268

Page 269: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

einbezogen worden: ähnlich wie in den Schulgeschichtsbüchern wer-den die Begriffe „Klassenstaat" und „Klasseninteresse" auf die Kritikdes Kaiserreiches angewandt, für die aktuelle Gegenwart hingegen wie-der eskamotiert. „In der Substanz aber hält sie (die Sozialgeschichte,d. Verf.) an allen Geschichtslegenden fest, die nach 1945 konzipiertworden sind, um die Kontinuität der gesellschaftlichen Herrschaftsver-hältnisse seit dem Kaiserreich, die Verantwortung von Großkapitalund preußischer Militärkaste für die beiden Weltkriege und die faschi-stische Diktatur, die Restauration der alten Sozialstruktur in der Bun-desrepublik und die ideologische Hilfeleistung eben dieser Geschichts-wissenschaft bei all diesen Vorgängen zu verschleiern."7 9

2. Der Vermitt lungszusammenhang von Geschichtswissenschaft undGeschichtsbuch

Es wurde oben gezeigt, welch bedeutende Rolle die deutsche Ge-schichtswissenschaft bei der ideologischen Absicherung der jeweiligenHerrschaftssysteme des Kapitalismus gespielt hat. Genau diese bürger-liche Wissenschaft bildet aber die Voraussetzung für die bundesrepu-blikanischen Geschichtsbücher; ihr wissenschaftliches Niveau be-stimmt deren Inhalt. Nun stellt sich die Frage, auf welche Weise dietraditionellen Geschichtskonstruktionen der deutschen Geschichtswis-senschaft — institutionell vermittelt — nach 1945 wieder Eingang indie Geschichtsbücher finden konnten. Folgende Faktoren sind fürQualität und Inhalt der Schulbücher ausschlaggebend: die Schulbuch-autoren, die Richtlinien und Lehrpläne der einzelnen Länder, das Zu-lassungsverfahren der Kultusministerien und nicht zuletzt die privat-kapitalistische Produktionsweise der Verlage. Die Schulbuchautoren sind in der überwiegenden Zahl Lehrer, die ihre Ausbildung in der un-mittelbaren Nachkriegszeit erfahren haben, also in jener Restaura-tionsperiode des Kapitalismus, die mit dem „Kalten Krieg" und sei-nem militanten Antikommunismus in Westdeutschland zusammenfielund deren Bewußtseinsstrukturen infolgedessen noch stark autoritärebis faschistoide Züge aufweisen. Hinzu kommt, daß ca. 25 000 Flücht-lingslehrer aus der SBZ in die Westzonen kamen, weil sie in der SBZauf Grund ihres Verhältnisses zur NSDAP aus ihren Positionen ent-fernt wurden, während man sie in den Westzonen alsbald wieder ein-stellte. Der Einfluß dieser faschistischen Lehrer auf die politischeAtmosphäre in der BRD kann nicht unterschätzt werden, wenn manbedenkt, daß sie in ihren Ämtern ungehindert mit der Verbreitung au-toritärer und faschistischer Ideologien fortfahren konnten . 8 0 In derRegel sind Schulbuchautoren im „Schuldienst" beschäftigt. „Daß Ver-treter der Universität selbst Schulbücher schreiben — wie der Freibur-ger Ordinarius A. Hillgruber oder der Berliner H. Herzfeld — ist eineAusnahme. Der Schultyp, in dem ein Buch Verwendung finden soll,und Betätigungsfeld des Autors fallen jeweils zusammen." 8 1 Nur in

269

Page 270: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

den seltensten Fällen sind die Schulbuchautoren hauptamtlich tätig,gewöhnlich werden Schulbücher neben der wissenschaftlichen oderschulpraktischen Tätigkeit produziert.8 2 Auf Grund der weitgehen-den Trennung von Schule und Universität, vor allem der nicht institu-tionalisierten Kommunikationsbeziehungen zwischen Lehrern anSchulen und Hochschulen — also grundlegenden strukturellen Män-geln von bildungs- und gesellschaftspolitischer Relevanz — bestehtnach wie vor ein generell ungelöstes 'Theorie-Praxis-Verhältnis im Be-reich der Vermittlung von Wissenschaft und Schulbuch. Das lockerewissenschaftliche Beratungs- und Oberaufsichtsverhältnis verhinderteine systematische, d. h. langfristig konzipierte Kooperation zwischenLehrern und Wissenschaftlern, die geeignet wäre, die ständige wissen-schaftliche Weiterbildung der Lehrer wie auch die didaktisch-methodi-sche Komponente in der wissenschaftlichen Arbeit selbst zu institutio-nalisieren. Eine derartige Möglichkeit ist jedoch bereits im Ansatz derneuen Bildungsreformen, z. B. der Gesamtschulkonzeption, von vorn-herein nicht vorgesehen: d. h., daß in der gegenwärtigen Gesellschaftinstitutionalisierte Schranken vorhanden sind, die eine systematischeWechselbeziehung von Wissenschaft und Schulpraxis verhindern. DieFolge ist eine ganz erhebliche Phasenverschiebung von etwa 5 — 10 Jah-ren, mit der der aktuelle Stand der Wissenschaft in die SchulbücherEingang findet.

Eine weitere Schwierigkeit für die Vermittlung von Wissenschaftstellen die Lehrpläne und Richtlinien dar. Schulbuchautoren und Ver-lage müssen ihr Produkt durch die Zulassungsprüfung bringen — undzwar möglichst in allen Bundesländern. Um also möglichst ,richtig' zuliegen und die notwendige Erfolgsvoraussetzung zu schaffen, orientie-ren sie sich an den bestehenden Lehrplänen 8 3 wie auch an den amtli-chen Richtlinien und Empfehlungen, die selbst oft der Revision bedür-fen und vor allem die politischen Schulbücher in stärkstem Maßeprägen. Ein typisches Beispiel sind die schon erwähnten „Richtlinienfür die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht", die 1962 durcheinen Beschluß der Kultusministerkonferenz erlassen worden sind.Obwohl die Totalitarismus-Richtlinien in den letzten Jahren durch diebürgerliche Wissenschaft selbst eingehend kritisiert worden sind (vgl. Ka-pitel 2, S. 203 ff.) und ihre Unwissenschaftlichkeit längst erwiesen ist, ha-ben sie nachwievor ihre Gültigkeit für den Geschichtsunterricht behalteaGanz abgesehen davon stehen diese Richtlinien, wie auch die Ostkun-de-Empfehlungen und die mittlerweile von der Bundesregierung aufge-hobenen Bezeichnungsrichtlinien (die die Demarkationslinie zwischender BRD, der DDR und Polen fest legten) 8 4 in einem offenkundigenWiderspruch zu Art. 5 Absatz 3 des Grundgesetzes, in dem die Frei-heit von Wissenschaft und Lehre garantiert ist. Wie anders als ein Ein-griff in dieses Grundrecht kann die Forderung gewertet werden, denSchülern müsse die Totalitarismusideologie aufoktroyiert werden.Dort heißt es u. a.: „Die Lehrer aller Schularten sind daher verpflich-tet (sic!), die Schüler mit den Merkmalen des Totalitarismus und den

270

Page 271: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Hauptzügen des Bolschewismus als den wichtigsten totalitären Syste-men des 20. Jahrhundert vertraut zu machen."8 5

Die Eingriffe der Kultusministerien üben also einen erheblichenEinfluß auf den Inhalt der Geschichtsbücher aus. Vor allem durch dasZulassungsverfahren der Kultusministerien werden die Schulbuchauto-ren gezwungen, private Vorzensur zu betreiben. Das Gutachterverfah-ren für die „Prüfung" der Schulbücher ist völlig undurchschaubar unddemokratisch unkontrollierbar: Die Gutachter sind und bleiben an-onym, die Kriterien für die Beurteilung werden ebenfalls nicht be-kanntgegeben und sind also nicht überprüfbar, ganz abgesehen davon,daß die Gründe für die Ablehnung selten inhaltlich benannt werden. 8 6

Andererseits konnte das Zulassungsverfahren nicht verhindern, daßeindeutig undemokratische Schulgeschichtsbücher zugelassen wurden(vgl. den „Grundriß der Geschichte" vom Klett-Verlag!). Dazu paßt,daß — wie mit Sicherheit anzunehmen ist — ausgezeichnete Schulbü-cher nicht zugelassen wurden und werden. Die Kontroverse um dieNeufassung des Sozialkundebuches von Wolfang Hilligen „sehen-beur-teilen-handeln" zeigt die momentanen Grenzen der Fortschrittlichkeitschon für liberal-demokratische Schulbücher a u f . 8 7 Das bedeutet abergleichzeitig, daß kritische Argumente und Tendenzen in der Ge-schichtswissenschaft im Prozeß der Schulbuchproduktion herausgefil-tert werden und also der aktuelle Entwicklungsstand fortschrittlicherAnsätze der Geschichtswissenschaft (d. h. z. B. radikaldemokratischerbis marxistischer Färbung) in keiner Weise berücksichtigt wird. Was sich in den Geschichtsbüchern niederschlägt, ist normalerweise nur diekonservativ-reaktionäre Komponente der wissenschaftlichen Diskus-sion.

Einen weiter einschränkenden Faktor für die Qualität der Ge-schichtsbücher stellt die Tatsache dar, daß die Schulbuchverlage in derRegel nicht in der Lage sind, sich für jedes Fachgebiet einen Stab vonWissenschaftlern und Praktikern zu halten, der sich ausschließlich mitdem Inhalt der Schulbücher beschäftigt. 8 8

Die Schulbuchverlage sind außerdem daran interessiert, ein Schul-buch — bei geringen Änderungen — so lange wie möglich im Pro-gramm zu behalten, um höhere Gewinne zu erzielen. Schulgeschichts-bücher, die in renommierten Verlagen publiziert werden, sind deshalb„Objekte mit hohen Gewinnerwartungen und niedrigen Selbstkosten( z . B . Autorenhonorare)" 8 9 . Die indirekte Subvention der Schulbü-cher durch Bund und Länder („Lernmittelfreiheit") sichert auf dieseWeise die Marktposition von führenden Verlagen (vgl. Klett-Verlag,Hirschgraben-Verlag u. a.). Die Konsequenz dieses Verfahrens ist, daßauf diese Weise noch nicht einmal die gängigen Ergebnisse bürgerlicherWissenschaft im Zuge ständiger Neuauflagen von den Geschichtsbü-chern rezipiert werden. Die von der herrschenden Geschichtswissen-schaft in der BRD entwickelten Ideologeme werden infolgedessen inden Geschichtsbüchern von einer Auflage zur nächsten immer wiederübernommen.

271

Page 272: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Alle diese Faktoren bewirken eine bemerkenswerte Kontinuität der herrschenden Ideologie in Geschichtsbüchern. Begünstigt wurde dieseEntwicklung durch die Sozialgeschichte der Staatsbürokratie, die so-wohl soziostrukturell wie auch in bezug auf ihr politisch-soziales Ver-halten genau die gleiche Kontinuität in der Absicherung bürgerlicherHerrschaft aufweist. Das Resultat:

„Schulgeschichtsbücher sind niemals mehr als ,Ausdruck des herr-schenden Zeitgeistes' und ,Instrument geistiger Führung und Verfüh-rung' gewesen, immer Abbild des Vorhandenen und niemals Projek-tion möglicher Entwürfe, erst recht nicht im Geschichtsbuch. Von die-sen ist ganz im Gegenteil zu sagen, daß sie sich nicht selten einmal ,aufder Höhe der Zeit' befinden, d. h. sie konservieren noch die Ge-schichtsvorstellungen der jeweils vorhergehenden E p o c h e . " 9 0 Als In-strument zur Demokratisierung der Gesellschaft sind darum solcheSchulgeschichtsbücher nicht geeignet.

3. Die Stellung des Geschichtsbuches im Geschichtsunterricht

Im Abschnitt A dieses Kapitels wurde gezeigt, daß die Ausbildung derWare Arbeitskraft, also auch die der Lehrer dem kapitalistischen Pro-fitprinzip untergeordnet ist. Auf Grund der Machtverhältnisse im ka-pitalistischen System setzt sich deshalb meist das Interesse der Kapi-talverbände an einer möglichst kurzen und billigen Ausbildung durch,mit dem Ziel, die rasche Verwertbarkeit im herrschaftsstabilisierendenSinne zu gewährleisten. Das kapitalistische System verhindert deshalbnotwendig eine allseitige Ausbildung der Lehrer, die geeignet seinkönnte, die Lehrer und damit auch die Schüler in die Lage zu verset-zen, ihre eigenen Interessen zu erkennen und einen Beitrag für gesell-schaftliche und individuelle Emanzipation zu leisten. Da aber die Be-rufsausbildung in der Regel völlig losgelöst von allen gesellschaftlichenBezügen und Bedingungen betrieben wird und unter „Praxis" allen-falls eine eingeschränkte Schulpraxis verstanden wird, nicht aber eineauf die Gesamtgesellschaft bezogene, ist es auch nicht verwunderlich,wenn die Mehrzahl der Lehrer völlig unvorbereitet in den Unterrichts-prozeß eintritt. Auf Grund ihrer schlechten fachlichen und pädagogi-schen Ausbildung9 1 sind deshalb viele Lehrer darauf angewiesen, dasGeschichtsbuch und seine begleitenden Didaktiken als Stütze des Un-terrichts und als praktische Handlungsanweisungen zu benutzen. DasGeschichtsbuch wird damit häufig zum Ersatz des Geschichtsunter-r ich ts . 9 2

Die immer noch vorherrschende Tendenz, die Inhalte der Ge-schichtsbücher bei der Leistungsbewertung unkritisch zu reproduzie-ren, charakterisiert die unbefragte Autorität der Geschichtsbücher.Kritische politische Reflexion kann aber durch das Prüfungs- und Ab-fragesystem unserer Lern- und Leistungsschule nicht gefördert wer-d e n . 9 3 Das vom Geschichtsunterricht intendierte Wissen unterschei-

272

Page 273: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

det sich deshalb vermutlich „normalerweise kaum qualitativ von demin den Lehrbüchern niedergelegten Wissen" 9 4 . Das Schulbuch ist folg-lich ein grundlegendes Arbeitsmittel, und die Annahme, daß es einenerheblichen Einfluß auf das Geschichtsbewußtsein der Schüler ausübt,erscheint ausreichend begründet.

Neuerdings werden im Geschichtsunterricht auch Quellenhefte undandere Arbeitsmaterialien verwendet. 9 5 Über deren Wirksamkeit gibtes noch keine genauen Untersuchungen; man kann aber davon ausge-hen, daß die Arbeit mit Quellen die Anleitung durch den Lehrer etwain Form von Hintergrundschilderungen oder Interpretationshilfen zurVoraussetzung hat. Die Qualität der Lehrerarbeit hängt hier in ganzbesonderem Maße von der Qualität seiner Ausbildung ab; er muß inder Lage sein, die gesellschaftlichen Beziehungen, von denen die Quel-len nur einen Ausschnitt wiedergeben, in ihrer Totalität zusammen-hängend und wirklichkeitsgemäß den Schülern zu vermitteln. Auchdie Auswahl der Quellen spielt für die Konstitution eines Geschichts-bildes eine ganz erhebliche Rolle. Hintergrundschilderungen, Interpre-tation der Quellen wie auch die Auswahl von Quellen sind dabei dersubjektiven Willkür des Lehrers stärker unterworfen, als wenn er z. B.den Inhalt des Geschichtsbuches referiert und dadurch eher von denSchülern kontrolliert werden kann. Der Spielraum für Manipulationenund Verfälschung des Geschichtsbildes ist auf diese Weise bei Quellen-arbeit eher größer, zumal Quellen den Anschein erwecken, als handlees sich um neutrales, objektives Material, in dem die Geschichte unver-fälscht selbst zu Wort kommt. Auf der anderen Seite bietet die Arbeitmit Quellen aber auch größere Chancen für progressive Lehrer. Zumeinen sind sie nicht mehr ausschließlich auf die schlechten Schulbü-cher angewiesen, sondern können andere Arbeitsmaterialien für dieUnterrichtsgestaltung heranziehen. Zum anderen ist aber bei der Ar-beit mit Quellen auch ein anderer Unterrichtsstil möglich, nämlich dieGruppenarbeit, die den Schülern eher Möglichkeiten zu selbständigenund kritischer Arbeiten bietet als der traditionelle Frontalunter-r i ch t . 9 6 Unbedingte Voraussetzung für einen Geschichtsunterricht mitQuellenarbeit, der den Schülern die rationale Einsicht in geschichtlich-gesellschaftliche Prozesse ermöglicht und sie in die Lage versetzt, ihreInteressen zu erkennen und wahrzunehmen, ist eine qualifizierte Be-rufsausbildung an der Universität und zusätzlich — oder mindestensalternativ — die Weiterbildung an der Schule; andernfalls sind die Leh-rer nicht in der Lage, Kriterien für die Auswahl von Quellen zu ent-wickeln und die Quellen selbst in ihren geschichtlichen Zusammen-hang zu stellen und zu interpretieren.

4. Der Lehrer

Im allgemeinen befassen sich Schulbuchanalysen nur mit dem Faktordes Lehrbuches im Unterricht. Die Funktion des Lehrers als Vermitt-

273

Page 274: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

lungsträger zwischen Schulbuch und Schüler darf jedoch nicht unter-schätzt werden. Im folgenden soll deshalb auf die Soziallage und dasempirisch vorfindbare Bewußtsein der bundesrepublikanischen Leh-rerschaft eingegangen werden.

a) Soziallage des Lehrers

Angesichts der verschiedenen Arbeitsbedingungen von Lehrern in Be-rufs-, Privat- oder öffentlichen Schulen oder in der Lehr- und Lernmit-telindustrie ist in der sozialwissenschaftlichen Diskussion die Fragenach den ökonomischen Bestimmungen für die Soziallage der Lehrernoch ungelöst. Eine generelle ökonomische Bestimmung der Arbeitder Lehrer ist darum vorerst nicht möglich. Die folgenden Anmerkun-g e n 9 7 beschränken sich deshalb auf die Arbeit des Lehrers an öffentli-chen Schulen.

Seine objektive sozialökonomische Stellung resultiert aus dem spezi-fischen Charakter seiner Arbeitskraft. Der Lehrer ist Lohnarbeiter (vgl. die Definition im Kapitel über die Arbeiterbewegung); er ist je-doch kein freier Lohnarbeiter98, denn er kann seine Arbeit auf demMarkt nicht diesem oder jenem Käufer anbieten, sondern ist daraufangewiesen, seine Arbeitskraft an das „Arbeitgeber"-Monopol Staat zu verkaufen. Als „Beamter im Staatsdienst" untersteht er gemäß be-sonderer Beamtengesetze nicht nur „während der Arbeitszeit in derSchule, sondern auch außerhalb der Schule der Kontrolle des Staa-t e s " 9 9 . Vor allem in seinem politischen Handeln ist der Lehrer starkeingeschränkt. War es ihm in der Weimarer Republik nicht einmal er-laubt, Mitglied einer Partei zu sein, so ist ihm heute dieses Recht inder BRD zwar gewährt; während seiner Arbeitszeit darf er sich jedochnicht politisch betätigen, und spätestens seit den Ministerpräsidenten-beschlüssen vom Januar 1972, die auf ein Berufsverbot für Demokra-ten und Kommunisten z i e l e n , 1 0 0 verstärken sich die Versuche, auchdiejenigen Lehrer zu disziplinieren, die außerhalb der Schulzeit poli-tisch arbeiten. Für diese verfassungswidrige1 0 1 Einschränkung ihrerFreiheitsrechte wird auch der § 68 der Beamtengesetze eingesetzt:„Der Beamte hat bei der Ausübung seines Rechts auf politische Betäti-gung diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu wahren, die sich ausseiner Stellung gegenüber der Gesamtheit und aus der Rücksicht aufdie Pflichten seines Amts e rgeben . " 1 0 2 In der politischen Praxis wirddieser Paragraph so ausgelegt, daß ein Lehrer zwar noch Mitglied derSPD sein darf, aber als Mitglied oder auch nur Sympathisant der DKPdie erforderliche „Mäßigung" überschreitet, selbst wenn die DKP nachwie vor verfassungsrechtlich zugelassen ist und also nach Art. 3 GGniemandem aus seiner Tätigkeit für sie ein Nachteil entstehen darf.Daß dieser Paragraph, wie vor allem auch die Ministerpräsidentenbe-schlüsse, sich in der Praxis einseitig und ausschließlich gegen linkeLehrer wendet, haben die Erfahrungen der letzten Jahre geze ig t . 1 0 3

274

Page 275: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Bis heute ist noch nicht ein NPD-Anhänger und Beamter wegen seinerpolitischen Überzeugung gerichtlich verurteilt worden. Ebenso wie§ 68 der Beamtengesetze stellt auch der Paragraph 90,1 einen „Gum-miparagraphen" dar, der nach Belieben ausgelegt und zur politischenDisziplinierung angewendet werden kann: „Der Beamte begeht einDienstvergehen, wenn er schuldhaft die ihm obliegenden Pflichten ver-letzt. Ein Verhalten des Beamten außerhalb des Dienstes ist einDienstvergehen, wenn es nach den Umständen des Einzelfalles in be-sonderem Maße geeignet ist, Achtung und Vertrauen in einer für seinAmt oder das Ansehen des Beamtentums bedeutsamen Weise zu be-eint rächt igen." 1 0 4

Ganz abgesehen davon, daß hier das Bild eines Beamten gezeichnetwird, der bedingungslos und möglicherweise entgegen seinem persönli-chen Gewissen die Anordnungen der Obrigkeit zu vollziehen hat — of-fenbar gleichgültig, ob ein Staat faschistischen oder demokratischenCharakter hat — und damit allein schon in Widerspruch zu der Forde-rung nach Demokratisierung der Gesellschaft gerät, so sind dieseBeamtengesetze selbst insofern verfassungswidrig, als sie ganz elemen-tare Grundrechte der beamteten Lehrer auf Dauer einschränken.

Eine Art „Entschädigung" für diese Reglementierung und Kontrolledes Lehrers stellt die Form seiner Entlohnung, das Gehalt dar, die Pri-vilegien wie Anstellung auf Lebenszeit, Pensionsberechtigung etc. ent-hält. Auf Grund seines Beamtenstatus bleibt außerdem die Arbeit desLehrers von den Konjunkturzyklen der kapitalistischen Produktion in-sofern relativ verschont, als er nicht — wie andere Lohnarbeiter — inKrisenzeiten ohne weiteres entlassen werden kann, ohne daß die fürden gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß notwendige kontinuierli-che „Produktion" von Qualifikationen erheblich gestört würde . 1 0 5

„Relativ verschont" heißt aber nicht, daß die Lehrer von den Verwer-tungsschwierigkeiten des Kapitals völlig unberührt blieben, wie die imRahmen der Brüningschen Notverordnungen 1932 durchgeführten (ca.20 %igen) Gehaltskürzungen zeigen. Heute sind die beamteten Lehrerdurch relative Gehaltskürzungen betroffen, weil die Inflationsrate inder BRD um einige Prozent schneller steigt als die realen Gehaltser-höhungen und weil die Mehrzahl der Lehrer auf Grund der Beamten-gesetze („Mäßigung und Zurückhaltung"!) den Streik als Kampfmittelablehnt. Das wird weiter unten bei der Behandlung des Gesellschafts-bildes der Gymnasiallehrer noch zu begründen sein. Die finanzielle Mi-sere im Bildungssektor macht sich für den Lehrer vor allem vermitteltbemerkbar: durch die unzureichende Ausbildung, durch ungenügendeRäume, zu hohe Klassenfrequenzen, zu wenig Lehrkräfte (weil entwe-der aus dem Schuldienst ausgeschiedene Lehrer nicht ersetzt oderPlanstellen einfach gestrichen werden) usw.; zunehmend aber auch un-mittelbar dadurch, daß die Chancen für Lehrerstudenten, einen ange-messenen Arbeitsplatz zu erhalten, sich künftig verschlechtern wer-den, so daß die für die übrigen Lohnabhängigen schon immer charak-teristische soziale Unsicherheit jetzt zunehmend auch für angehende

275

Page 276: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Lehrer zutrifft.Eine weitere Besonderheit der Lehrerarbeit gegenüber anderen

Lohnarbeitern zeigt sich darin, daß der Lehrer „nach dem Austauschseiner Arbeitskraft gegen Lohn/Gehalt nicht unter ein Einzelkapitalsubsumiert (ist), das seine Arbeitskraft zur Produktion von Mehrwert-anwendet. Seine Arbeit ist nicht produktiv, d. h. direkt mehrwertbil-dend, sondern unproduktiv"106 (Hervorhebung von uns, d. Verf.).Dennoch ist die Arbeit des Lehrers gesellschaftlich notwendig107,nämlich um die „in jeder Gesellschaft zu ihrer eigenen Reproduktionnotwendige Aufgabe der Erziehung des Nachwuchses" 1 0 8 zu leisten.„Unproduktive Arbeit bedeutet aber, daß sie bezahlt wird aus demstaatlichen Wertfonds, den die produktiven Arbeiter (d. h. der ,Kern'der Arbeiterklasse, die Industriearbeiter und Primärproduzenten vonMehrwert) in der unmittelbaren Produktion geschaffen haben. DieBindung an den Staat durch die spezifische Form des Beamtengehaltsverschleiert aber dem Lehrer die Tatsache, daß er letztlich aus demSteueraufkommen der Masse der Lohnabhängigen bezahlt wird. DerStaat erscheint ihm als autonome Instanz, die im Interesse eines ,All-gemeinwohls' die Kontrolle über die Erziehung in ihrer veranstaltetenForm ausüb t . " 1 0 9 Dieses selbst als ideologisch zu begreifen, fällt demLehrer deshalb schwer, weil er selbst durch Richtlinien, Schulstruktur,Beamtengesetze usw. vielfältigen Sanktionen durch den Staat unter-worfen ist und dadurch nicht unmittelbar ein Bewußtsein von den ob-jektiven Beziehungen zwischen Arbeiterklasse, Staat und Lehrerschaftgewinnen kann. Hinzu kommt, daß der Lehrer als von der unmittelba-ren Produktion getrennter Kopfarbeiter besonders ideologieanfälligi s t . 1 1 0 Letzteres trifft insbesondere für den Geschichtslehrer zu.

Ein weiteres Spezifikum der Verausgabung von Lehrerarbeit gegen-über der von anderen Lohnarbeitern ist die Wertsteigerung der Ar-beitskraft der Auszubildenden. Eine Erhöhung der Kosten für Lehrer-arbeit oder auch Lernmittel bedeutet somit eine Erhöhung des Bil-dungsetats auf Kosten des Profits der einzelnen Kapitalisten. Auf deranderen Seite ist das Kapital aber auch daran interessiert, daß diefür die Realisierung von Wissenschaft und Technik notwendige Quali-fizierung der Arbeitskräfte auch im erforderlichen Ausmaß vollzogenwird. So versucht der Staat unter dem Druck der verschiedenen Ein-zelkapitale „stets mit einem Minimum an aufgewandten Mitteln einMaximum an Wirkung zu e r z i e l e n " 1 1 1 . Der Lehrer befindet sich somitin einer widersprüchlichen Situation: auf der einen Seite steht er (ma-teriell) im Dienst des kapitalistischen Systems, weil seine Arbeit vomStaat aus dem gesellschaftlichen Wertfonds bezahlt wird, auf der ande-ren Seite enthalten die zunehmenden Verwertungsschwierigkeiten desKapitals Tendenzen, die „zwar seine Dienste nicht vollständig über-flüssig machen werden, jedoch den Charakter seiner Arbeit total än-d e r n " 1 1 2 , die den Deprivilegierungsprozeß — Hand in Hand mit De-qualifizierungen — fortsetzen. Die Rationalisierungsmaßnahmen desStaates im Interesse des Kapitals konzentrieren sich insbesondere auf

276

Page 277: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

die Reduzierung von „lebendiger Arbeit", da — wie eine Analyse derKostenstruktur für das öffentliche Bildungswesen in der BRD ergebenhat — der Anteil der Personalkosten den der Sachkosten über-s t e i g t . 1 1 3 „Von besonderer Bedeutung ist die zunehmende Technisie-rung des Unterrichts, durch die Funktion und Arbeitsplatzsituationder im Qualifizierungsprozeß Beschäftigten erheblich verwandelt wer-d e n " 1 1 4 (Hervorhebung von uns, d. Verf.). Man kann vermuten, daßin dem Maße, in dem Fachwissen sich in technischen Medien vergegen-ständlicht, „fachspezifische Kenntnisse zugunsten medientechnischerund -didaktischer zurücktreten und Vermittlungsfunktionen insofernverobjektiviert werden, als der Lehr- und Lernprozeß nicht mehr vomQualifikationsarbeiter ,Lehrer' bestimmt wird, sondern vielmehrdurch den Charakter der technischen M e d i e n " 1 1 5 , z . B . program-mierte Unterweisung, Sprachlabors, Fernsehunterricht, u . a . 1 1 6 . ImRahmen der „Rationalisierungsmaßnahmen des Bildungswesens" exi-stieren Pläne für eine autoritäre Hierarchie von Stufenlehrern, d. h. ei-ne Aufspaltung des Lehrpersonals in „Nur-Lehrer, Assistenten, Hilfs-kräfte und .Schulpolizisten' (Funktion: Aufsicht in Schulhöfen, Kor-ridoren u s w . ) " 1 1 7 , so daß einer ,,Lehrer-Aristokratie . . . eine ArtSchulproletariat (gegenüberstünde), das sich von Hilfsarbeitern kaumuntersche ide t" 1 1 8 . Ansätze in dieser Richtung gibt es seit 1970 inB a y e r n . 1 1 9 Die spezielle Ausbildung von Schulverwaltungsassistentenund ihr Einsatz zur Entlastung der Lehrer von lästigen Verwaltungsar-beiten ist dann zu begrüßen, wenn sie nicht zu bloß ausführenden Or-ganen von Entscheidungen, die woanders getroffen werden, herabsin-ken. Sollen Lehrer und Hilfskräfte im Rahmen der zunehmendenTechnisierung des Unterrichts nicht zu bloßen Handlangern werden,so ist zunächst eine Schulreform anzustreben, die alle an der SchuleArbeitenden — einschließlich der Schüler — in ein Modell der planen-den Mitbestimmung und Kooperation miteinbezieht, die autoritäreHerrschaftsstruktur in der Schule demokratisiert und damit die vondieser Institution produzierten autoritären Charakterstrukturen eman-zipatorisch aufbricht. Welche Konsequenzen diese widersprüchlicheEntwicklung auf das Bewußtsein der Gymnasiallehrer hat, soll im fol-genden Abschnitt erläutert werden, denn das Bewußtsein der Lehrerstellt eine notwendige Voraussetzung für die Vermittlung von herr-schenden Ideologien dar. Wir stützen unsere Untersuchung hauptsäch-lich auf die empirische Analyse von Gerwin S c h e f e r 1 2 0 , weil diesenach wie vor die einzige verwertbare Publikation zu diesem Themadarstellt. Zuvor muß allerdings eine Einschränkung dieses Abschnittsüber das „Gesellschaftsbild der Gymnasiallehrer" erfolgen: Die Unter-suchung von Gerwin Schefer ist etwa 1965/66 durchgeführt worden,also vor der Wirtschaftskrise 1966/67 und vor der darauf folgendenStudentenbewegung seit 1967. Die Auswirkungen dieser Ereignisseauf das Bewußtsein der Gymnasiallehrer sind seitdem noch nicht em-pirisch erfaßt worden. Alle Symptome sprechen jedoch dafür, daß imZuge des allgemein zu beobachtenden Politisierungsprozesses in der

277

Page 278: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Bundesrepublik Teile der jüngeren Lehrerschaft, die nun in die Schuleeintreten, zunehmend „linke" Einstellungen mitbringen. Eine der Ur-sachen dafür ist in den Erfahrungen vieler Lehrerstudenten in der Stu-dentenbewegung zu s u c h e n . 1 2 1

b) Zum Gesellschaftsbewußtsein des Gymnasiallehrers

Der Beruf des Gymnasiallehrers wie der des Lehrers überhaupt ist eintypischer Aufstiegs- und Durchgangsberuf für Söhne von unteren undmittleren Beamten oder selbständigen Handwerkern, die die Volks-schule oder Mittel-(Real-)Schule besucht h a b e n . 1 2 2 Bei Lehrerinnenist der Anteil der Eltern mit höherem Schulabschluß etwas größer.Am geringsten ist der Anteil der Akademiker und auch der Arbeiterunter den Eltern. Auf Grund ihrer eigenen Sozialisation identifiziertsich die Mehrzahl aller Lehrer weitgehend mit der Ideologie der herr-schenden Klasse, wie auch mit der Sozialordnung, die ihnen diesen„Aufstieg" ermöglicht hat. Die meisten Lehrer bemühen sich, den er-reichten Status mit all seinen Privilegien gegen Nivellierungstendenzen(geplante Ausbildungszeitverkürzung, Besoldungsangleichung, Anglei-chung der Berufsbezeichnungen e t c . ) 1 2 3 zu erhalten: sie befindensich in einer Verteidigungsposition gegenüber Aufstiegsbestrebungenvon Angehörigen der Arbeiterklasse.

Wegen ihrer ideologischen und materiellen Bindung an den Staatsind die meisten Lehrer nicht in der Lage, gemeinsame Interessen mitden übrigen Lohnabhängigen zu erkennen und im Bündnis mit diesengegen die Profitinteressen des Kapitals durchzusetzen. Eine objektiveInteressenkonvergenz zwischen Arbeiterklasse und pädagogischer In-telligenz besteht z. B. hinsichtlich einer zu verändernden Prioritäten-setzung innerhalb des Staatshaushalts, d. h. eines Abbaus des Rü-stungsetats zugunsten des Bildungssektors, oder auch hinsichtlich derReduktion der zu hohen Klassenfrequenzen, verbesserter Ausbildungs-bedingungen und fortschrittlicher Inhalte. Die meisten Lehrer sindsich jedoch über den Charakter ihrer sozialökonomischen Lage nichtim klaren; sie entwickeln eine Defensivideologie und unterhalten in-folgedessen gesellschaftliche Kontakte vorwiegend mit Ärzten, Juri-sten, Kaufleuten usw., also jenen Gruppen, die in ihren Augen ein ho-hes gesellschaftliches Prestige be s i t z en . 1 2 4 In ihrer Mehrzahl verkeh-ren die Lehrer also gerade nicht mit Angehörigen derjenigen Klasse,aus der sie aufgestiegen sind und verhalten sich auch Volksschulleh-rern gegenüber äußerst zurückhaltend. In ihrer Berufsprestige Ordnung nehmen dementsprechend akademische Berufe eine Vorrangstellungein, also hauptsächlich Vertreter derWissenschaft (besonders Ärzte undJuristen); niedriger bewertet werden dagegen Berufe, die gesellschaftli-che Bereiche wie Technik, Ökonomie und Politik (z. B. Vertreter poli-tischer Parteien) repräsentieren.1 2 5

In ihrem beruflichen Selbstverständnis begreifen sich die Gymnasial-

278

Page 279: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

lehrer vorwiegend als Fachwissenschaftler und nur zweitrangig alsPädagogen. 1 2 6 „Erziehungswissenschaftliche Gesichtspunkte scheinenbei der Beurteilung der Lehrerqualifikationen durch die Lehrer selbernur sekundäre Bedeutung zu haben; denn fundiertes Fachwissen invol-viert nach der Meinung der Mehrheit auch pädagogische Qualifikatio-n e n . " 1 2 7

Dem Insistieren auf Wissenschaftlichkeit entspricht das Bewußtsein,als Lehrer einer „geistigen Eli te" anzugehören. Hier, wie auch schonbei der Berufsprestigeordnung, zeigt sich deutlich die Verinnerlichungdes humanistischen Bildungsideals von den „geistigen Werten" (Hum-boldt). Elite wird von den Lehrern als Wertelite verstanden, die sichdurch bestimmte soziale, natürliche, geistige oder sittliche Qualitätenauszeichnet, nicht aber als Funktionselite, deren Position sich aus ge-nau bestimmten Aufgaben innerhalb der Gesellschaft ableitet und diesich nur in Verbindung mit und in Abhängigkeit von dieser legitimiertund die auswechselbar ist, sobald sie ihre Funktion nicht mehr erfüllt(z. B. Manager). Das Elitedenken der Gymnasiallehrer stellt dabei dieandere Seite ihrer Furcht vor sozialer Nivellierung dar, hat also auchKompensationsfunktion.

Dementsprechend ist das soziale Selbstbewußtsein der Lehrer durchStatusverunsicherung sowie durch eine starkes Deklassierungsbewußt-sein gekennzeichnet . 1 2 8 Als Ursachen dafür sind u. a. zu nennen: per-manente Frustration der Aufstiegserwartungen durch die Realität, ab-solutes Anwachsen der Akademikerberufe und als Folge Prestigever-lust des Lehrerberufs.

Die Mehrheit der Lehrer vertritt eine sozialdarwinistische und stati-sche Begabungstheorie,129 die stark antidemokratischen Charakterträgt, weil sie praktisch die besondere Förderung vieler anderer propa-giert. Die Konsequenz ist der Verzicht auf Chancengleichheit, denndiesen Lehrern erscheint als Funktion der Schule eher die Auslese ei-ner Minderheit von „Begabten" als die Förderung von sozial Benach-te i l ig ten , 1 3 0 deren Begabung unter den gegebenen Umständen garnicht in Erscheinung treten kann. Begabung wird nur zu 20 % als Pro-zeß, als „Ergebnis von Herausforderungen" verstanden. 1 3 1 Dieser bio-logistische Begabungsbegriff, verbunden mit elitären Vorstellungenvieler Lehrer hängt eng zusammen mit einem statischen, hierarchi-schen Gesellschaftsmodell132. Begünstigt wird dieses durch den ob-jektiven Schein einer hierarchischen Struktur der bundesrepublikani-schen Gesellschaft, indem der etappenweise Aufstieg zu „höheren"Positionen in der Beamtenlaufbahn den Eindruck erweckt, als ob je-der „nach oben" gelangen könne, wenn er nur seine „Tüchtigkeit" be-weise. Demokratie als gesellschaftliches System wird von Jen meistenLehrern zwar nicht bewußt abgelehnt, „andererseits bleibt die Zustim-mung zur Demokratie bloß abstrakt, formalistisch und unpolitischund somit leicht zu e r schüt te rn" 1 3 3 . Demokratie wird von der Mehr-zahl der Lehrer eher im Sinne einer „gesellschaftlichen Harmonieleh-re" als von „Austragung von Konflikten" verstanden. 1 3 4 Soziale Kon-

279

Page 280: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

flikte werden von vielen Lehrern personalisiert und psychologisiert(„Es kommt auf den Menschen an, ob er als Monopolproduzent einehohe Preis- und Gewinnspanne draufschlägt ." 1 3 5 ) , einem abstrakten„Gemeinwohl" als Gegensatz gegenübergestellt und nicht als reale In-teressengegensätze antagonistischer Klassen definiert.

Die Schule erscheint den meisten Lehrern infolgedessen als vorwie-gend apolitischer Raum. In der politischen Meinungsbekundung imUnterricht sind die Lehrer mehr zurückhaltend und vermitteln ge-wöhnlich nur die in den Bildungsplänen aufgenommenen Stoffe. Derpolitische Unterricht z. B. zerfällt meistens in die Vermittlung vonFaktenwissen (Institutionenkunde) und einer demokratischen Tu-gend- und Wertlehre, ohne dadurch die Einsicht in politische Vorgän-ge zu fö rde rn . 1 3 6 Die Ursache für dieses Verhalten der Lehrer ist zumeinen die Angst vor „Schwierigkeiten", wenn sie ihre parteipolitischneutrale Rolle im Unterricht aufgeben (vgl. oben: Beamtengesetze,heute auch noch Berufsverbot) und zum anderen die mangelhafteAusbildung und die daraus resultierende fachliche Unsicherhei t . 1 3 7

Eine die Schulstruktur verändernde Schulreform wird von den mei-sten Lehrern abgelehnt. „Förderstufe und Gesamtschule werden nurals Ausnahmen und nur zur Erprobung zugelassen. Eine Dreigliedrig-keit des Schulwesens wird bejaht und von einer entsprechenden Drei-teilung in der Arbeitswelt gerechtfertigt (ausführende, vermittelndeund leitende Pos i t i onen) . " 1 3 8 Die Mehrheit der Gymnasiallehrerlehnt darum eine Schulreform ab, die eine Öffnung der höheren Schu-le für „sozial schwache Schichten" impliziert, da diese eine Leistungs-nivellierung und Niveausenkung zur Folge haben müsse. „Als ,Störfak-toren' existieren in ihrem Bewußtsein die unmittelbaren Arbeitsbedin-gungen, die zu großen Klassenfrequenzen, die mangelnden Lehr- undLernmittel, das Studentendeputat u s w . " 1 3 9

Mißstände werden zwar kritisiert, aber in der Regel nicht ernsthaftbekämpft. Dem steht noch das traditionelle Denken der Lehrer entge-gen, die sich als Vollzugsbeamte eines Obrigkeitsstaates verstehen undinsofern auch das Streikrecht als Kampfmittel für eigene Interessenmehrheitlich ablehnen (51,4 % dagegen; 33,2 % dafür; 13,8 % unent-schieden, 1,6 % ohne A n g a b e ) . 1 4 0

Entsprechend ihrem politischen Selbstverständnis sind nur 5,7 % der Gymnasiallehrer in der Gewerkschaft für Erziehung und Wissen-schaft (GEW) organisiert, die als demokratisch aufgebaute Interessen-vertretung eine zunehmend fortschrittliche Politik betreibt, während69,5 % dem konservativen, auf Wahrung ständischer Privilegien gerich-teten Deutschen Philologenverband angehören. 1 4 1 Die Mehrheit derGymnasiallehrer ist als konservativ zu bezeichnen, wobei Alter undKonservatismus korrel ieren. 1 4 2 Strukturiertes politisches Bewußtseinfehlt in der Regel. Zum Zeitpunkt der Untersuchung (1965/66) sind„progressive" Lehrer etwa doppelt so oft organisiert wie „konservati-ve" (28 % : 10,5 % ) , sie sind zehnmal häufiger in der SPD als in derCDU und viermal häufiger in der G E W . 1 4 3 Insgesamt läßt sich das bei

280

Page 281: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

den Gymnasiallehrern vorherrschende Bewußtsein als „ständisch, har-monisierend, idealistisch-unpolitisch, autoritär-konformistisch"1 4 4

bezeichnen und damit als schwerwiegender Hemmfaktor für radikalde-mokratische oder gar systemverändernde Reformen. „Bildungspoliti-sche Innovationen erfolgen heute weitgehend gegen die tradiertenIdeologien der ehemals massiv staatstragend eingesetzten Gruppe derGymnasiallehrer: die technokratische Forderung nach ,Ausschöpfungvon Begabungsreserven' widerspricht ihrem Bewußtsein von Elitenbil-dung, curriculare Veränderungsbestrebungen, die auf die ,Welt vonmorgen' vorbereiten sollen, konfligieren mit humanistischer Bildungs-tradition, Pädagogisierung der Ausbildung scheint ihr Selbstverständ-nis als Wissenschaftler zu untergraben . . . " 1 4 S

Nun sagt diese Untersuchung zwar einiges über die Einstellungen derGymnasiallehrer in der BRD aus, es kann jedoch von deren Meinungennicht unmittelbar auf ihr Verhalten geschlossen werden. Es ist t. B.noch nicht geklärt, inwieweit Reformbefürworter oder -gegner ihreVorstellungen aktiv in politisches Handeln umsetzen oder ob sie sichnur passiv verhalten und auf Initiative dritter reagieren. Zumindestkann aber bei „konservativen" Lehrern mit gewissen „Beharrungsten-denzen" gerechnet werden. So ist mit der Bejahung der Dreigliedrig-keit des Schulwesens zumeist auch die Bejahung traditioneller Unter-richtsinhalte verbunden wie auch die gleichzeitige Ablehnung neuerLehrgebiete, so z. B. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte oder Sexual-pädagogik. 1 4 6 Zentrale Tatsachen des menschlichen Lebens, gesicher-te Ergebnisse der verschiedenen Einzelwissenschaften, z. B. der Bil-dungspsychologie und der -soziologie werden so von der Schule igno-r i e r t . 1 4 7

Die Unterrichtspraxis in der Schule ist zu einem erheblichen Teilerklärbar aus der Struktur und den Schwerpunktbildungen in der Uni-versität, „ökonomische Prozesse, Klassenstrukturen, Klassenantago-nismen und Ideologienlehre werden in der Ausbildung der Studienrätenicht thematisiert ." 1 4 8 Es gibt deshalb bei den Lehrern erheblicheHemmnisse, die Funktion des heutigen Schulsystems im Kapitalismus,nämlich die Reproduktion der gesellschaftlichen Klassenstruktur, inihr politisches Denken und Handeln miteinzubeziehen und ihre eigeneRolle in dem Kreislauf der Arbeiterklasse von abhängiger, fremdbe-stimmter Arbeitsplatzsituation, Familienmilieu und schulischem Miß-erfolg der Arbeiterkinder zu erkennen. Ein kritisch-sozialwissenschaft-liches Problembewußtsein, das die Voraussetzung für den solidari-schen Kampf zur Demokratisierung der Schule und Gesellschaft bil-det, hat ihnen die Universität in der Regel nicht vermittelt — Ziel derLehrer muß es darum sein, dieses in kollektiver Arbeit, zusammen mitEltern und Schülern zu entwickeln.

281

Page 282: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

5. Der Schüler

Um die Bedeutung der Geschichtsbücher für Bewußtsein und Praxisder Auszubildenden, also der Schüler vollständiger erfassen zu kön-nen, wollen wir im folgenden kurz auf die schichtenspezifische Sozia-l i s a t i o n 1 4 9 der Schüler eingehen. Wir übernehmen dabei — trotz derProblematik des Schichtbegriffes (vgl. dazu in Kapitel 2. „Systemati-sierung", S. 194 ff., die Kritik des Schichtmodells!) — die Unter-scheidung zwischen Eltern der „Unterschicht (Arbeiter, Facharbeiter,Bergarbeiter) und der Mittelschicht (Angestellte, Beamte, freiberuflichT ä t i g e ) " 1 5 0 , weil andernfalls das gesamte empirische Material derbürgerlichen Sozialisationsforschung nicht oder nur mehr einge-schränkt zu verwenden wäre. Natürlich kann der Schichtbegriff nichtmit dem marxistischen Klassenbegriff identifiziert we rden . 1 5 1 Da ei-ne Vielzahl von komplexen Faktoren (Eltern, Lehrer, Schulsystem,Mitschüler etc.) auf die Sozialisation der Kinder einwirken, kann dieUntersuchung des schichtenspezifischen Schulerfolgs der Schüler aufGrund unterschiedlicher Sprachentwicklung nur Beispielcharakter ha-ben.

Zunächst läßt sich feststellen, daß Unterschichtkinder in der Schu-le schlechter abschneiden als Mittelschichtkinder. Dies wird schonbeim Schuleintritt offensichtlich: von den 20 % jedes Einschuljahr-ganges, die für ein oder zwei Jahre zurückgestellt werden, stammt dergrößte Teil aus Unterschichtfamilien. 1 5 2 In den späteren Phasen derSchulausbildung wächst diese Diskrepanz: „Im 10. Schuljahr sind un-ter allen Gymnasiasten in der BRD nur 10 % Arbeiterkinder, bis zum13. Schuljahr verringert sich ihr Anteil auf 6 , 4 % . Auf dem Gymna-sium haben Arbeiterkinder den geringsten Schulerfolg, d. h. nur 24 % aller Gymnasiasten aus Arbeiterfamilien gegenüber 84 % der Gymna-siasten aus Familien höherer Beamter erreichen das A b i t u r . " 1 5 3

Der Mißerfolg der Arbeiterkinder in der Schule wiederholt sich inder Regel auch im Berufsleben. Wie ihre Eltern müssen sie als Arbeiterzumeist eine entfremdete, monotone und untergeordnete Arbeit lei-sten.

Nun nimmt als Kriterium für die Leistungsmessung der Schüler dieSprache, also Sprechen, Lesen und Schreiben in der Bürgerschule derBRD einen außerordentlich hohen Stellenwert ein. Empirische Unter-suchungen zeigen, daß insbesondere in den Anfangsjahren (bis EndeQuarta) in bis zu 90 % der Fälle die Sprachen (Fremdsprachen einge-schlossen) an der Nichtversetzung der Schüler beteiligt s i n d . 1 5 4

Rechtschreiben, „Schönschreiben" und Grammatik, also vorwiegendformale Gesichtspunkte bilden bei Diktat und Aufsatz die Grundlagefür die Beurteilung eines Schülers, und zwar sowohl in der Grundschu-le als auch auf höherem Niveau, etwa als formaldifferenzierte Inter-pretation eines lyrischen Gedichts, auf dem Gymnas ium. 1 5 5 Die bun-desrepublikanische Schule ist darum weitgehend eine bürgerliche„Sprachschule — zunächst in dem Sinne, daß nahezu alles Wissen in

282

Page 283: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

sprachlicher Form dargeboten wird und vom Schüler bewältigt werdenmuß, und zwar sowohl im Lernprozeß als auch bei der Reproduktiondes Gelernten. Die weiterführende Schule ist zweitens Sprachschule indem engeren Sinne, daß dem Erlernen der Muttersprache und Fremd-sprache mehr Zeit gewidmet wird als jedem anderen Wissensgebietund daß ihm als Kriterium des Schulerfolges ein ungleich größeres Ge-wicht beigemessen wird als d i e s e n . " 1 5 6 Untersuchungen haben nungezeigt, daß Arbeiterkinder in sprachlichen Intelligenztests erheblichschlechter abschneiden als bei nichtsprachlichen Intelligenz-Messun-g e n . 1 5 7 Nichtverbale Intelligenzleistungen erweisen sich als relativschichtenunspezifisch. 1 5 8 Als Ursache für den schulischen Mißerfolgder Arbeiterkinder glaubten deshalb viele bürgerliche Wissenschaftlerden „beschränkten" Sprachgebrauch der Arbeiterklasse erkannt zu ha-ben (der allerdings seinerseits auch wieder einer Erklärung aus der so-zialen Erfahrungswelt der Arbeiter bedarf!). Der Engländer Basil Bern-stein hat als erster versucht, eine Theorie der Beziehungen zwischen„Sozialer Struktur, Sozialisation und Sprache" aufzubauen. 1 5 9 Erfindet in der Unterschichtssprache einen sogenannten „restricted Co-de", also undifferenzierten Sprachgebrauch, und stellt ihm den soge-nannten „elaborated code" der Mittelschicht gegenüber, der sichdurch formale Differenzierungsfähigkeit und sprachliches Abstrak-tionsvermögen auszeichnet. Der restriktive Sprachgebrauch der Unter-schicht soll dazu beitragen, daß Unterschichtkinder in ihrer Erkennt-nisfähigkeit wie auch in ihrer Kreativität weniger ausgebildet sind alsMittelschichtkinder. Dabei beziehen sich die sprachlichen Unterschie-de im wesentlichen auf vier Aspekte:

1. Aussprache2. Wortschatz3. Satzform, Grammatik4. Aussagegenauigkeit. 1 6 0

In der Schule wird die Sprache der Mittelschicht, also der „elabo-rated code" gesprochen. Da die Kinder der Mittelschicht von Hauseaus an diesen Sprachgebrauch gewöhnt sind, bedeutet der Ubergangder Schule für sie eine Kontinuität in ihrer sprachlichen Entwicklungwie auch in ihren anderen Verhaltens- und Kommunikationsmustern;für die Kinder der Unterschicht hingegen bedeutet er einen ernsthaf-ten Bruch in ihrer Erziehung. Von letzteren wird also nicht nur ganzselbstverständlich das Erlernen eines neuen Sprachgebrauchs verlangt,sondern zusätzlich auch noch die Aneignung des Schulstoffes, also eindoppelter Lernprozeß, der für jedes normale Unterschichtkind eineÜberforderung darstellen muß. Sprache ist aber mehr als nur ein for-males Regelsystem von Zeichen. Es ist erwiesen, daß „Sprache ebensoden gesamten Aufbau der Person, die klassenspezifischen Formen derOrganisation ihrer Erfahrungen und Vorstellungsinhalte, in Beziehungauf das Bewußtsein der Arbeiter also: die politischen Einstellungen,das Gesellschaftsbild, die Interpretation der Interessen und Bedürfnis-se, ja sogar die Zeitvorstellungen vermittelt, wie das Lernen und Ver-

283

Page 284: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

halten r egu l ie r t " 1 6 1 (Hervorhebung von uns, d. Verf.).Anpassung an den Sprachgebrauch der Mittelschicht bedeutet also

für Arbeiterkinder Anpassung an die Verhaltensanforderungen, an dieNormen und Werte der Mittelschicht (also z. B. individuelle Leistungs-mentalität, Gehorsam, Ordnung, Fleiß, Pünktlichkeit, Sauberkeit,u. a.). „Beurteilt (und damit für den Erfolg relevant) wird nicht diesubjektive Leistung eines Schülers, sondern die individuelle subjektiveFähigkeit der Anpassung." 1 6 2 Geprüft wird nämlich nicht, ob inhalt-lich das gleiche ausgesagt wird, sondern allein dem geschliffenenSprachgebrauch, verbunden mit einer bestimmten Begrifflichkeit derMittelschicht gilt die positive Interpretation. Da den Mittelschicht-kindern der elaborierte Sprachstil aber geläufig ist, erscheinen sie imVergleich zu Unterschichtkindern in der Schule als intelligenter underfolgreicher. Von der sozialen Funktion von Sprache, nämlich alsMittel im Prozeß menschlicher Kommunikation und Interaktion zudienen, wird infolgedessen gänzlich abstrahiert. „Solche Einschätzungvernachlässigt völlig die inhaltliche Wertung sprachlicher Aussagen.Gemessen wird lediglich, ob ein Mensch der gesellschaftlichen Sprach-norm entspricht oder nicht; die Norm aber wird nicht in Zweifel gezo-g e n . " 1 6 3

Versuche haben überdies gezeigt, daß Deutschaufsätze und sogarMathematikarbeiten, die den Lehrern als „Mittelschicht"-Arbeitenvorgelegt wurden, erheblich bessere Noten erzielten, als wenn sie alsvon „Unterschicht"-Kindern stammend ausgegeben wurden . 1 6 4 DieLehrer sind sich dabei der Diskriminierung der Unterschichtkinder zu-meist gar nicht bewußt, sie vollzieht sich gewöhnlich auf der Ebeneder „Selbstverständlichkeiten". 1 6 5 Schulsprache entpuppt sich damitals Herrschaftsinstrument in der Hand des Bürgertums, als „Waffe ge-gen den jeweils sozial Schwäche ren" 1 6 6 und die Schule als Instru-ment des Bürgertums, indem sie „diesen Herrschaftsmechanismusdurch Sprachgebrauch im Rahmen formaler Spracherziehung bestätigtund immer weiter e rmög l i ch t " 1 6 7 (Hervorhebung von uns, d. Verf.).

Im Zusammenhang mit der Bildungsdiskussion hat man in den letz-ten Jahren begonnen, „kompensatorische Sprachförderung" für Un-terschichtkinder einzuführen, um den Anspruch auf „Chancengleich-heit" in unserer „demokratischen Leistungsgesellschaft" zu verwirkli-chen. In der Realität erweist sich dieses Programm aber letztlich alsVersuch, systemimmanent die optimale Ausnutzung der ökonomischverwertbaren „Begabungsreservoirs" der Arbeiterklasse voranzu-treiben (vgl. dazu Abschnitt C dieses Kapitels, S. 260 ff.). Kompen-satorische Erziehung ist nämlich bestenfalls dazu geeignet, die Chan-cenungleichheit in Schule und Beruf zu vermindern; da sie aber nur anSymptomen kuriert, ohne die fundamentalen Ursachen der gesell-schaftlichen Ungleichheit, nämlich die Produktionsverhältnisse anzu-tasten, kann sie das Ziel der Chancengleichheit gar nicht erreichen. So-bald also kompensatorische Erziehung mit dem Anspruch auftritt, diegesellschaftliche Ungleichheit selbst zu beseitigen, erweist sie ihr ideo-

284

Page 285: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

logisches Substrat darin, daß sie die Erkenntnis der objektiven Bedürf-nisse und Interessen der Arbeiterklasse als Voraussetzung für derenkollektive Solidarisierung verhindert und sie statt dessen auf die(größtenteils illusionäre) Möglichkeit eines vereinzelten und indivi-duellen Aufstiegs fixiert und also nicht den kollektiven Aufstieg, d. h.die gesamtgesellschaftliche Emanzipation, die Abschaffung der Klas-sengesellschaft, zum Ziel hat. Strategien kompensatorischer Erziehungkönnen — gerade auch bei Arbeiterkindern — das Gefühl der gesell-schaftlichen Ohnmacht nicht aufheben. Das durch kompensatorischeErziehungsformen angestrebte Ziel der sozialen Integration durchAufstiegsmöglichkeit wird allerdings durch die Realität der Chancen-ungleichheit bewußtseinsmäßig stark unterhöhlt. In dem Maße, wiebei den Kindern der Arbeiterklasse begrenzte Lernerfolge erzielt wer-den, kann sich dabei zumindest die Möglichkeit entwickeln, daß vonihnen Fähigkeiten erworben werden, vermittels derer sie den ge-sellschaftlichen Protest gegen die eigene Soziallage zu artikulieren ver-m ö g e n . 1 6 8 Ist schon im Begriff die abwertende Einschätzung der Spre-cher des ,restricted code" enthalten, so impliziert die Forderung nachkompensatorischer Spracherziehung nur die einseitige Anpassung derArbeiterkinder an den Sprachgebrauch der Mittelschicht. Völlig unbe-rücksichtigt bleibt neben der inhaltlichen Leistungsfähigkeit von Spra-c h e 1 6 9 aber auch die Ursache der unterschiedlichen Sprachentwick-lung, nämlich der Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital. Die-ser äußert sich für die Arbeiterklasse in ihrer Stellung zu den Produk-tionsmitteln (d. h. daß sie Mehrwert produzieren, ohne über denselbenzu verfügen), ferner, wie schon dargelegt, in ihrer allgemein niedrigenQualifikation, in ihrem geringen Einkommen wie auch in der allgemei-nen Lebenslage (z. B. die Wohnverhältnisse: überfüllte, hygienisch oftunzureichende Wohnungen ohne eine abgeschlossene „Privatsphäre")usw.

Es läßt sich nun nachweisen, daß ein Zusammenhang z. B. zwischenArbeitsplatzsituation der Arbeiter und einzelnen Merkmalen des „re-stricted code" besteht. Wenn etwa in der Unterschicht Kommunika-tion zwischen Eltern und Kindern vorwiegend in nicht-sprachlicherForm vor sich geht oder mit geringerem Wortschatz, mit einfachenund kurzen Sätzen, während in der Mittelschichtsfamilie die sprachli-che Zuwendung der Eltern zu ihren Kindern sehr viel stärker ist, dannmuß nach den Ursachen gefragt werden: Erstens besteht für den Ar-beiter gar nicht die Notwendigkeit, stark differenzierte und strukturellkomplizierte Sätze zu bilden, weil er „in seiner Schicht einen homoge-nen Bewußtseinsstand voraussetzen kann und deshalb, ohne Mißver-ständnisse befürchten zu müssen, einen Satz unvollendet lassenk a n n ' 1 7 0 , und zweitens muß bedacht werden, „daß der Arbeiter alsEmpfänger von zwar konkreten und kurzen, aber dennoch in bezugauf das Endprodukt seiner Arbeit uneinsichtigen Befehlen diese apo-diktische Art von Kommunikation, die sich in irrationalen Handlungs-anweisungen erschöpft, so weit internalisiert, daß er sie auf seine Kin-

285

Page 286: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

der anwendet. Kompensatorische Erziehung, solange sie nur auf dieKindererziehung fixiert bleibt, wird zumindest in ihren Erfolgsaussich-ten fragwürdig, solange sie die Stellung des Arbeiters innerhalb der Be-triebshierarchie nicht ä n d e r t . " 1 7 1 Versteht man Emanzipation als dia-lektischen Prozeß von individueller und kollektiver Emanzipation, so„ergeben sich zwei Funktionen einer emanzipatorischen Sprachschu-lung, die in bezug auf ihre soziale Wirksamkeit untrennbar verbundensind:— Sprachschulung muß die Fähigkeit zu genauer und verbal angemes-sener Darstellung gesellschaftlicher Situationen fördern,— Sprachschulung muß als solidarisierendes Moment die Möglichkeitund Notwendigkeit der Änderung gesellschaftlicher Praxis aufzei-g e n . " 1 7 2

Eine bloß formale Änderung der Sprache etwa in Richtung Funktio-nalisierung von Sprache für technokratische Anforderungen (Differen-zierungs- und Abstraktionsvermögen, Rationalität im Rahmen vorge-gebener Zwecke) erweist im Vergleich dazu ihren beschränkten, bür-gerlichen Charakter. Ähnlich wie am Beispiel der schichtenspezifi-schen Sprachentwicklung kann man auch den Einfluß anderer Fakto-ren auf den schichtenspezifischen Schulerfolg nachweisen: so z. B. imRahmen der familialen Sozialisation, die schichtenspezifischen Erzie-hungsstile der Eltern oder bei der schulischen Sozialisation die unbe-wußten Erwartungseinstellungen der Lehrer gegenüber Mittelschicht-und Unterschichtkindern.

Wenn Hans Müller z. B. feststellt, daß das „Interesse der Unter-schicht am Geschichtsunterricht nicht so groß ist wie das der Mittel-s c h i c h t " 1 7 3 , dann muß dies keineswegs bedeuten, daß das Interesseder Unterschicht an jeglichem Geschichtsunterricht geringer sein muß.Hinterfragt werden muß vielmehr der Geschichtsunterricht selbst, undzwar sowohl in seiner Methodik als auch in seinen Inhalten. Es waru. a. die Aufgabe dieses Buches nachzuweisen, daß die Inhalte desheutigen Geschichtsunterrichts den Interessen der ideologisch herr-schenden Klasse entgegenkommen und deren Position rechtfertigenund absichern. Das Desinteresse der Unterschichten an einem bürgerli-chen Geschichtsunterricht wäre demnach nicht nur berechtigt, son-dern als eine notwendige Abwehrwaffe gegen ein Geschichtsbild zu in-terpretieren, das die eigenen Interessen konsequent verleugnet. Daszeigt sich z. B. in der Denunzierung der Massen in dem Ideologem der„Personalisierung", in der Verschleierung der Klassenstruktur durchdie „Sozialpartnerschaftsideologie" oder der Verfälschung der Ge-schichte der Arbeiterbewegung.

Ein kritisches Anti-Geschichtsbuch könnte in dieser Hinsicht sicher-lich einen Fortschritt bedeuten; jedoch dürfen demokratische Refor-men, die die Stellung der Unterdrückten und Entmündigten in der Ge-sellschaft grundlegend verbessern wollen, nicht auf gesellschaftlicheTeilbereiche, wie z. B. die Schule, beschränkt bleiben. Reformen — wollen sie ihrem demokratischen Anspruch gerecht werden — müssen

286

Page 287: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

notwendig die Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse,d. h. aber vor allem der privatkapitalistischen Produktionsverhältnisseanstreben, weil sonst von dort aus immer wieder die Durchdringungder Gesellschaft und des Bewußtseins mit autoritären Strukturen aus-geht.

E. Zur Funktion des Geschichtsunterrichts

Wie unsere Untersuchung gezeigt hat, weisen die Schulgeschichtsbü-cher eine Reihe von Mängeln auf, von denen hier besonders die Ver-zerrungen interessiert haben, die auf Grund eines notwendig falschenBewußtseins entstanden sind oder, auf diesem aufbauend, bewußt ge-gen jede Form der Demokratisierung, insbesondere gegen den Sozialis-mus gewendet werden. Daß die Lehrer zumindest vor und unmittel-bar nach der Rezession von 1966/67 in der Mehrzahl nicht gewillt undnicht in der Lage waren, korrigierend in das von den Schulbüchernvermittelte Geschichtsbild einzugreifen, ist aus ihrer eben dargelegtenMentalität ableitbar. Zu den Auswirkungen eines solchen Geschichts-unterrichts auf das Geschichtsbild der Jugend haben von Friedeburgund Hübner schon 1 9 6 4 1 7 4 eine Studie vorgelegt, die sich auf empiri-sche Untersuchungen überwiegend aus dem Jahre 1963 stützt, die aberbis heute weder von der Standardliteratur noch den amtlichen Bil-dungsplänen 1 7 5 zur Kenntnis genommen worden sind.

Von Friedeburg und Hübner kommen zu dem Ergebnis, daß das Ge-schichtsbild der Jugend von einer personalisierenden Sichtweise ge-prägt ist. Übermächtigen Subjekten in der Form der ,Großen Männer,die Geschichte machen' stehen personalisierte Kollektiva (die Deut-schen, die Franzosen, die Arbeiter, denen individuelle Eigenschaften,Motive und Ziele zugesprochen werden) passiv gegenüber. Politischeund gesellschaftliche Kategorien fehlen weitgehend; wo sie doch ver-einzelt vorhanden sind, durchbrechen sie nicht das Grundmuster, dasin starren Ordnungsschemata (Demokratie-Diktatur) besteht. Der bisheute beliebten Argumentationsweise, daß das personalisierende Ge-schichtsbild einer entwicklungspsychologischen Phase entspreche undspäter durch differenziertere Elemente eines adäquateren Geschichtsbil-des ersetzt werde, halten die Autoren die feste Verankerung eben die-ser Personalisierung im Bewußtsein von Schülern der Oberstufen derGymnasien und von Studenten entgegen. Zur Bedeutung eines solchenGeschichtsbildes für das Verhältnis zu Staat und Gesellschaft führendie Autoren eine Reihe von Faktoren auf: Das Immergleiche der gro-ßen Männer und ihrer Gegenseite, der hilflosen Kollektiva, ergibt kei-ne Motivation zum Mitmachen für die Betroffenen, da man von derMithaftung für die Vergangenheit und Mitverantwortung für die Zu-kunft entbunden ist; verantwortlich bzw. schuldig sind die großenMänner. Da die gegenwärtige Alltagserfahrung zum Maßstab für das

287

Page 288: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Ordnen und Erklären der Geschichte herhalten muß, wird der Manipu-lation von Einstellungen und Verhalten Tür und Tor geöffnet. Außer-dem leistet das personalisierende Geschichtsbild autoritätsgebunde-nem Verhalten Vorschub, da man mit seiner Hilfe jedes Urteil überhistorische Personen (scheinbar) rationalisieren und akzeptieren kann.Dazu ein Beispiel:

Hitler wird nicht als Exponent der Interessen des Großkapitals gese-hen und abgelehnt, ,, sondern weil er angeblich verschiedene Eigen-schaften besaß, die ihm den endgültigen Erfolg versagten (,Endlichwurde er größenwahnsinnig') und aus denen dann auch noch jenehistorischen Ereignisse dieses Zeitraums ursächlich erklärt werdenkönnen, die heute eindeutig negativ bewertet werden: die Judenver-nichtung und die Anstiftung des Zweiten Wel tkr iegs ." 1 7 6

Noch wichtiger aber ist der Bezug zur Gegenwart. In einer Unter-suchung über das Bewußtsein der Studenten heißt es: „Kein Zufall,daß die wenigen befragten Studenten, die als Ursache für HitlersMachtergreifung objektive gesellschaftliche Verhältnisse betrachten,wesentlich häufiger ohne Vorbehalte für das gleiche Wahlrecht in un-serer Gesellschaft eintreten, als diejenigen, die die Machtergreifung aufGründe zurückführen, die im Bewußtsein der Beteiligten gelegens i n d . " 1 7 7 Von Friedeburg und Hübner haben den Geschichtsunter-richt in seiner Auswirkung auf das Bewußtsein der Schüler und ihrVerhalten zum Gegenstand. Daß ihre Untersuchung keine Beachtungfand, ist um so erstaunlicher, als sie selbst ihren Ergebnissen die Emp-fehlung der Kultusministerkonferenz vom 17. Dezember 1953 entge-genstellen, wo es heißt: „Der Geschichtsunterricht soll dem jungenMenschen helfen, ein eigenes Welt- und Menschenbild zu gewinnen so-wie seinen Standort und seine Aufgabe im Geschehen zu erkennen . . .Die Einsicht in die Zusammenhänge vergangenen und gegenwärtigenGeschehens muß wissenschaftlich begründet und wertbestimmt sein.Sie soll sich nicht nur in Urteilsfähigkeit erweisen, sondern sich auchin Verantwortungsbewußtsein und Tatbereitschaft für Gesellschaft,Staat, Volk und Menschheit bezeugen ." 1 7 8 In dieser Empfehlungwird keine Faktenanhäufung gefordert, sondern Einsicht in die histo-rische Entwicklung der Gesellschaft mit Bezug auf vernünftiges Urtei-len und Handeln in der Gegenwart. Daß der Geschichtsunterricht, derallerdings, wie die Autoren betonen, wie auch der gesamte Schulunter-richt nur einen Teil des Sozialisationsprozesses ausmacht — nebendem Elternhaus, den informellen Gruppen Gleichaltriger, den großenOrganisationen und den Massenmedien — diesem Anspruch in keinerWeise gerecht wurde (und wird), ist gezeigt worden. Auf den Ein-wand, der Zeitpunkt der Untersuchung liege zu weit zurück, um denErgebnissen Relevanz für die Gegenwart zuzubilligen, kann auf dieAufdeckung von personalisierenden Denkschemata in Untersuchungenüber das Schüler- und Lehrerbewußtsein in der politischen B i ldung 1 7 9

verwiesen werden.

Die im zweiten Kapitel zusammengestellten Ideologeme sind, wie es

288

Page 289: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

der wesentlich allgemeinere Erklärungsansatz des Ideologiekapitels ge-zeigt hat, nicht auf den Geschichtsunterricht beschränkt, sondern las-sen sich im Bewußtsein der großen Mehrheit der Bevölkerung ein-schließlich der bürgerlichen Wissenschaftler nachweisen. Für den Be-reich der Schule, auf den wir uns zunächst beschränken wollen, haben,wie schon erwähnt, Frankfurter Soziologen einige Ideologeme nachge-wiesen, die im Bewußtsein von Lehrern und Schülern fest verankertsind. Neben der Personalisierung handelt es sich dabei in unserer Dik-tion um Psychologisierung und Ontologisierung; außerdem um jenesDenken, das die Autoren ahistorisch nennen, worunter sie den wahl-losen Rückgriff auf Modelle früherer Gesellschaftsformen — z. B. diegriechische Demokratie — vers tehen . 1 8 0 Daß sich in anderen Schul-fächern Entsprechendes feststellen läßt, ist mehr als wahrscheinlich.Wenn nun aber diese Denkschemata in allen Fächern mehr oder we-niger ausgeprägt einfließen, so ist nach der besonderen Funktion desGeschichtsunterrichts zu fragen, und danach, warum in jüngster ZeitBestrebungen im Gange sind, Geschichte als eigenständiges Fach abzu-schaffen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg stand das Unterrichtsfach Geschichtehoch im Kurs. Es war ein Hauptgegenstand in der Diskussion um„education" und „ r educa t i on" 1 8 1 , das Umerziehungsprogramm derUS-Amerikaner, führte aber später nur noch ein ,Kümmerdasein' underschien mehr als ein Relikt eines überholten Fächerkanons denn alsein notwendiges Fach. Dabei blieb das Fach aber bis 1965 noch unbe-stritten ein Solofach. Erst dann begann der Versuch, die Geschichteden Sozialwissenschaften und den entsprechenden Fächern unterzu-ordnen etwa durch die Etablierung des Faches Gemeinschaftskundeund die Konzentrierung der Diskussion auf den Lernbereich „Politi-sche B i l d u n g " 1 8 2 . In dem Erlaß des hessischen Kultusministers vom8. 7. 1964 mit dem Titel: Bildungspläne für die Gymnasien (hier Ge-schichte, Sozialkunde, Erdkunde), der die Beziehung der drei Teil-fächer in der Obersekunda, also vor der eigentlichen Gemeinschafts-kunde, regelt, heißt es: „Die Oberstufenreform schließt einen zweitenGang durch die Geschichte a u s . " 1 8 3 Hier interessiert nicht das Geran-gel zwischen den Vertretern zweier Fächer, das teilweise auch ausPrestigegründen und den Standesinteressen entsprechender Lehrer ge-führt wird, sondern hier geht es um inhaltliche Aspekte. Offensicht-lich soll die historische Dimension aus der Schule herausgedrängt wer-den, der zweite, vertiefende Gang durch die Geschichte unterbleibt.Auch in anderen Fächern wird die historische Dimension zunehmendabgeschnitten. Im allgemeinen Zuge der Forderung nach verstärkterAusbildung von Naturwissenschaftlern und der Zurückdrängung derGeisteswissenschaften wird gegen die Geschichtlichkeit g e z i e l t 1 8 4 :Griechisch, Latein und Alt- und Mittelhochdeutsch verschwinden ausder Schu le 1 8 5 oder sind schon verschwunden, in der Germanistikwird die Theorie der Sprache, die Linguistik, überwiegend auf das Er-fassen der Gegenwartssprache beschränkt, und in der Gemeinschafts-

289

Page 290: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

kunde soll die Geschichte, wenn sie überhaupt im Mittelpunkt steht,mit dem politischen Sieg der bürgerlichen Gesellschaft in der Franzö-sischen Revolution e inse tzen . 1 8 6 In dem bundeseinheitlichen „Ent-wurf einer Vereinbarung zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufein der Sekundarstufe I I " taucht Geschichte nur noch als Leistungsfachim Wahlbereich auf, d. h. es werden Spezialkenntnisse in einem Wahl-fach angeboten. Für alle Schüler verbindlich bleibt nur die „histo-rische Sicht" im gesellschaftlichen Aufgabenfeld, das neben demsprachlichen und literarisch-künstlerischen und dem mathematischenund naturwissenschaftlichen Aufgabenfeld bestehen soll. Dagegenwerden Fächer wie Rechtskunde, Technologie, Statistik, Datenverar-beitung, Soziologie und Psychologie möglich, die größtenteils auf jedehistorische Betrachtung verzichten, obwohl sie in allen nicht nurmöglich, sondern zu einem vernünftigen Verständnis notwendigw ä r e . 1 8 7 Um nur eines der genannten Fächer herauszugreifen undexemplarisch die Behauptung des Verzichts auf eine historische Be-trachtungsweise zu belegen, sei auf die bürgerliche Soziologie verwie-sen, in der die positivistische Wissenschaftslehre dominiert.

Schon die Begründer der positivistischen Soziologie, Auguste Comteund Herbert Spencer, setzten um die Mitte des 19. Jahrhunderts beider soziologischen Betrachtung der gesellschaftlichen Welt von Anbe-ginn die gegebene Gesellschaftsformation als endgült ig. 1 8 8 Auch inunserer Zeit ist der Begriff des sozialen Systems „dementsprechendaffirmativ konstruiert und erscheint als Spezifizierung der allgemeinenIdeologie unverrückbarer kapitalistischer Gesellschaftsverhältnis-s e " 1 8 9 . Der moderne Positivismus (Neopositivismus, nach eigenemSelbstverständnis auch „kritischer Rationalismus") leugnet in seinenwissenschaftstheoretischen Voraussetzungen in der Folge etwa HansAlberts die historische Dimension als Teil des Wissenschaftsprozesses.Es heißt bei Albert zur Wissenschaftslehre: „Sie behandelt diese Wis-senschaften nicht als soziale Fakten, um ihre Entstehung, Verursa-chung, Verbreitung, Entwicklung und Wirkung auf Sozialstruktur undSozialprozeß zu untersuchen, sondern als logische Strukturen . . . " 1 9 0

Die Reduktion von Wissenschaft auf eine ahistorische Logik (undSprache) und der Verzicht auf den Entstehungs- und Wirkungszusam-menhang findet sich auch bei P o p p e r . 1 9 1 In einer kritischen Stellung-nahme zur neopositivistischen Wissenschaftstheorie wird Zustimmungzu der Ansicht eines amerikanischen Wissenschaftlers geäußert, derfeststellt: , , . . . daß die Reduktion der Wissenschaftstheorie auf dielogische Analyse der Wissenschaftssprache auch zu einem unhistori-schen Herangehen an die Wissenschaft f ü h r e . " 1 9 2

Letztlich entspricht das Ausklammern der Historizität der bürgerli-chen Geschichtswissenschaft (und den Schulbüchern) selbst, zumin-dest in den weit verbreiteten Teilen, die dem Historismus und denVertretern der bürgerlich idealistischen Geschichtsauffassung ver-pflichtet sind. Ihre Ansicht, daß es sich bei der Geschichte um eineGeschichte des Geistes oder des menschlichen Bewußtseins handelt,

290

Page 291: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

führt zu einem Relativismus und Subjektivismus bis hin zur „Leug-nung der Möglichkeit von Geschichtserkenntnis" 1 9 3 , d. h. der „Nicht-Anerkennung historischer Gesetzmäßigkeiten". Das bedeutet, kurz ge-sagt, daß die Geschichte keinen Bezug zur Gegenwart hat und man ausihr nichts lernen kann. Die Vertreter des Historismus haben sich aller-dings nie genau an ihre Grundsätze gehalten, sondern wie z. B. Fried-rich Meinecke einen eindeutigen Klassenstandpunkt eingenommenund eine nationalistischen und imperialistischen Interessen verpflich-tete Geschichtsschreibung b e t r i e b e n . 1 9 4 Unter dieser Perspektivewird Hofmann verständlich, wenn er über den Vorgang der „Verab-schiedung der Geschichte aus dem Denken der Gegenwart" schreibt:„Er kann in Deutschland — so befremdlich dies zunächst erscheinenmag — bis in die Zeit des blühenden Historismus zurückverfolgt wer-d e n . " 1 9 5

Auch die Untersuchung der Schulgeschichtsbücher hat Ideologemezutage gefördert und bestätigt, die ahistorisch sind. Die Hypostasie-rung der bestehenden Gesellschaft und des gegenwärtigen Menschen,wie sie sich in allen formalen Ideologemen finden läßt, zur überzeitli-chen Gesellschaft und zum ewigen, immergleichen Menschen wider-spricht dem historischen Denken, welches zunächst einmal als Denkenin Prozessen mit der Konsequenz der Annahme der Vergänglichkeit,Veränderbarkeit und Entwicklung der Gesellschaften verstanden wer-den soll. Nebenbei bemerkt, fällt das Geschichtsbild der Bücher nochhinter die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zurück, wie-wohl uns noch kein Fall bekannt geworden ist, in dem ein Geschichts-lehrer, der einen solchen Unterricht betreibt, mit einem Berufsverbotbelegt worden wäre oder eines der hier bearbeiteten Schulbücher des-halb größere Schwierigkeiten bei den Zulassungsverfahren gehabthätte.

Es zeigt sich, daß weite Teile der bürgerlichen Geschichtswissen-schaft, die Schulgeschichtsbücher und das Geschichtsbild der Jugendin dem von uns beschriebenen Sinne, und auch in dem der Kultusmini-sterkonferenz, ahistorisch sind. Warum, so lautet die logische Konse-quenz, soll man einen Geschichtsunterricht, der sowieso die histori-sche Dimension zur Gegenwart hin eingeebnet, also sich selbst liqui-diert hat, nicht durch sozialwissenschaftliche oder technische Fächerersetzen, die dessen Aufgaben, nämlich die Vermittlung von Ideologie,besser bewerkstelligen können, weil sie etwa über differenziertereForschungs- und Manipulationstechniken verfügen, als sie der Ge-schichtsunterricht bieten kann, der zudem kritischen Lehrern Mög-lichkeiten für die Vermittlung eines historischen Denkens und Be-wußtseins in die Hand geben kann?

Die herrschende Geschichtswissenschaft ist, ob sie es weiß odernicht, ein getreuer Diener bei der Aufrechterhaltung der bestehendenGesellschaftsordnung und tut das auf ziemlich antiquierte Weise,nämlich mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte als Wis-senschaft und Schulfach wird weniger attraktiv, weil sie zum einen als

291

Page 292: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Ideologievermittlungsinstanz antiquiert ist, zum anderen aber kriti-scher Reflexion der Gegenwart Vorschub leisten könnte. Sah man imFrühbürgertum die Geschichte noch als Prozeß 1 9 6 , als es darum ging,den Feudalismus zu überwinden, als das Bürgertum noch eine optimi-stische Zukunftsperspektive hatte und das Denken in Kategorien derEntwicklung und Veränderung als Waffe gegen den Klassenfeind (dieFeudalaristokratie) richtete, so stellt es sich heute dem gesellschaftli-chen Fortschritt entgegen, der seine eigene Position bedroht.

Welche Aufgaben kann die Schule übernehmen, um das herrschendeGeschichtsbild zu überwinden, und welche Probleme sind bei einerStrategie des Aufbrechens verfestigter Bewußtseinsstrukturen zu be-denken? Bergmann u. a. greifen die Studie von Hübner und von Frie-deburg auf und weisen über die dort angeführten Beziehungen zwi-schen personalisierendem Geschichtsbild und Staat und Gesellschafthinaus: „Der Nachweis eines so strukturierten Geschichtsbildes undseiner Ursachen bleibt so lange deskriptiv, wie nicht nach den jeweili-gen konkreten Inhalten gefragt wird. So wichtig der Nachweis verkür-zender, formaler Deutungsschemata an sich auch ist, so sehr ist dochzu betonen, daß erst die jeweilige inhaltliche Füllung und die Umset-zung eines inhaltlich spezifisch strukturierten Bewußtseins im Kon-text bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse die Bestimmung der ideologischen Funktion und damit des politischen Stellenwerts ermög-licht. Positiv gewendet, bedeutet dies: eine Untersuchung, die nichtnur Bestehendes registrieren will, sondern gleichzeitig Kritik als verän-dernde Praxis versteht, kommt nicht umhin, die objektiven Bedingun-gen aufzuzeigen, welche einerseits die Realisierung des ideologischenInteresses determinieren und andererseits über ideologische Bewußt-seinsinhalte hinausgehende Bewußtseinsmöglichkeiten en tha l t en . " 1 9 7

Es greift also zu kurz, wenngleich es auch einen spürbaren Fortschrittbedeutet, wenn sich die neuen hessischen Rahmenrichtlinien für dasFach Gesellschaftslehre explizit gegen ein personalisierendes Ge-schichtsbild, das Denken in Naturkategorien und die Darstellung per-sonalisierender Kollektiva w e n d e n . 1 9 8 Zwar haben wir in der vorlie-genden Untersuchung besonders im dritten und vierten Kapitel Aussa-gen zur „Bestimmung der ideologischen Funktion" im „Kontext be-stimmter gesellschaftlicher Verhältnisse" gemacht; ein wichtiger Ver-mittlungsschritt ist allerdings nicht geleistet worden: die Vermittlungzwischen den objektiven Voraussetzungen für falsches Bewußtsein undbestimmter Elemente dieses Bewußtseins (z. B. des Staatsfetisch) aufder einen und dem „gesamten" Bewußtsein der Menschen auf der an-deren Seite. Es würde den Rahmen dieses Abschnitts und des gesam-ten Buches sprengen, diesen Schritt hier zu leisten. Es soll aber daraufhingewiesen werden, daß erst das Wissen über den Stellenwert und dieAuswirkungen der falschen Bewußtseinselemente im und auf das Be-wußtsein in seiner Gesamtheit gesicherte Aussagen über das gesell-schaftliche Handeln erlauben würde, und was noch wichtiger ist, ent-sprechende Ansatzpunkte für ein Aufbrechen falschen Bewußtseins

292

Page 293: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

(etwa für Lohnabhängige oder Schüler) und daraus resultierende unddas Bewußtsein weitertreibende Praxis geben kann. D e p p e 1 9 9 undN e g t 2 0 0 z. B. haben mit unterschiedlicher Methode für die Arbeiter-klasse gezeigt, daß deren Bewußtsein — entgegen der herrschendenMeinung — keineswegs völlig von der herrschenden Ideologie überla-gert oder gar verschüttet ist.

Negt hat Ansätze für eine Theorie der Arbeiterbildung im Rahmender Gewerkschaftsarbeit anzudeuten versucht. Er kann dabei davonausgehen, daß die widersprüchlichen Erfahrungen der Arbeiter im Pro-duktionsprozeß, die Praxis, tagtäglich die objektiven Bedingungen fürzumindest Grundlagen eines Klassenbewußtseins mit der Konsequenzsolidarischen Handelns, z. B. Streiks, liefert, es also hauptsächlich dar-auf ankommt, diese Widersprüche bewußt und das Einstellungsände-rungspotential durch langfristige Schulung manifest zu machen, d. h.durch die theoretische Schulung das Theorie-Praxis-Verhältnis zuklären.

Entsprechende Untersuchungen für Schüler fehlen und lassen sichauch schwer leisten (die Bestimmung der Klassenlage der Schüler istbeispielsweise problematisch, nicht nur insofern, als es soziologisch ge-sehen „den Schüler" nicht gibt, da Schüler Eltern verschiedener Klas-sen und Schichten zuzuordnen sind, sondern weil, wie die vorsichtigeFormulierung des letzten Nebensatzes schon anzeigt, die Klassenlageder Schüler keineswegs ohne weiteres mit der der Eltern identisch zusetzen ist). Aus diesem Grunde können hier nur einige allgemeine Aus-sagen über die Möglichkeiten für eine Einstellungs- und Bewußtseins-änderung der Schüler formuliert werden. Diese hätte jedenfalls am un-mittelbaren Interesse des Schülers anzusetzen, am zunächst individuel-len Erfahrungs- und Handlungsbereich. Dieser Bereich muß mit denobjektiven gesellschaftlichen Bedingungen (Produktivkräfte, Produk-tionsverhältnisse, Klassenstruktur usw.) konfrontiert werden, d. h. dasIndividuum muß seinen Platz in der Gesellschaft erkennen und begrei-fen lernen, daß nur kollektives Handeln zur Verbesserung der eigenenLage in der Gesellschaft und der Gesellschaftsstruktur insgesamtführen kann. Dabei ergibt die Analyse der objektiven Bedingungennicht nur die Perspektive kollektiven Handelns, sondern zeigt auch dieFaktoren auf, die eine Realisierung dieser Möglichkeit derzeit verhin-d e r n . 2 0 1 Auf die Ebene der Erkenntnis und des Bewußtseins bezogenheißt das, daß sich der Erkenntnis der eigenen Lage Hindernisse entge-genstellen: einmal die falschen Bewußtseinselemente (Ideologeme)und außerdem die durch bewußte Manipulation hervorgerufenen. Esist also nicht davon auszugehen, daß der Vermittlungsschritt zwischensubjektiven und objektiven Interessen automatisch erfolgt. Von dermehr oder weniger abstrakten Erkenntnis bis zur Bildung von Bewußt-sein ist vielmehr ein weiter W e g 2 0 2 , der nur über Erfahrungen der Pra-xis weitergeführt werden kann; Erkenntnis und Handeln können sichalso nur gegenseitig weitertreiben.

Alles, was bisher über den Begriff Bewußtsein gesagt wurde, bezog

293

Page 294: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

sich auf das allgemeine Bewußtse in . 2 0 3 Als ein Bestandteil dieses all-gemeinen Bewußtseins, das sich auf die Gesamtheit der gesellschaftli-chen Verhältnisse bezieht, ist das historische Bewuß t se in 2 0 4 anzuse-hen. Die gegenwärtige Gesellschaft ist nicht adäquat zu erfassen, ohneihre Geschichte, die Entwicklung zu dem, was sie jetzt ist, und die ihrimmanenten Entwicklungstendenzen, die über sie hinausweisen, zu be-rücksichtigen. Die oben formulierten vorläufigen Aussagen über einadäquates Geschichtsdenken, wie es auch unserem eigenen Ansatz be-sonders bei den Gegendarstellungen zu den Geschichtsepochen im er-sten Kapitel und den historischen Ableitungen im vierten Kapitel ent-spricht, sollen hier präzisiert werden. Dabei können wir uns allerdingsnur auf eine thesenhafte, verkürzte Darstellung einlassen, die wichtigeKomponenten dieses Geschichtsdenkens aufführt . 2 0 5 Die Darstellungfolgt zunächst den allgemeinen Lernzielen eines Unterrichtsprojek-t e s 2 0 6 , das sich mit dem Komplex Handwerk-Zunft-Verlagssystem-Gewerbefreiheit befaßt, die historische Sichtweise in den politischenUnterricht einbezieht und die in der Jugend herrschenden Vorstellun-gen über die Geschichte unter ausdrücklichem Bezug auf die Studievon Hübner und von Friedeburg abbauen will. Es heißt dort, dieSchüler sollen qualifiziert werden zu erarbeiten,

„daß sich Geschichte als Prozeß vollzieht,— daß dieser Prozeß bedingt ist durch den Entwicklungsgrad der

Produktivkräfte,— daß Produktivkräfte aus menschlichen und sachlichen Faktoren

bestehen (Zahl der Menschen und ihre Erfahrungen und Fertigkeiten,Produktionsmittel, Wissenschaft und T e c h n o l o g i e 2 0 7 ,

— daß Veränderungen in der staatlichen Organisation von der Ent-wicklung der Produktivkräfte gefordert werden,

— daß die menschlichen Produktivkräfte (Produzenten) ihrem Ent-wicklungsstand entsprechende Organisationsmuster hervorbringen,

— daß das Hervorbringen dieser Organisationsmuster von bestimm-ten Bewußtseinsformen und -Inhalten begleitet w i r d . " 2 0 8

In diesen Lernzielen sind jedoch einige wichtige Elemente der mate-rialistischen Geschichtsauffassung nicht erwähnt. Zu ergänzen wäre et-wa das Verhältnis der Produktivkräfte zu den Produktionsverhältnis-sen und die stufenweise erfolgende Ablösung der jeweiligen Produk-tionsverhältnisse: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung gera-ten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruchmit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juri-stischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalbderen sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Pro-duktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Estritt dann eine Epoche sozialer Revolutionen e i n . " 2 0 9 Die Handeln-den in der Geschichte sind die Klassen, die die Revolutionen mehroder weniger bewußt durchführen. Damit ist vorausgesetzt, daß dieGeschichte Gesetzmäßigkeiten unterliegt; sie folgt Gesetzen, derenwesentlichstes das allgemeine Bewegungsgesetz der gesellschaftlichen

294

Page 295: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Entwicklung ist (stufenweise Angleichung der Produktionsverhältnissean die Produktivkräfte, die die Gesellschaftsformationen hervor-bringt). Zwar gibt es keinen Endzustand der Geschichte, aber eineHöherentwicklung wird gemessen an dem Entwicklungsgrad der Pro-duktivkräfte und der Produktionsverhältnisse (die aber nicht gradlinig,sondern widersprüchlich verläuft, also auch zeitweise rückschrittlichsein kann).

Für die bürgerliche Gesellschaft ergibt sich daraus, daß auch dieHerrschaft der Bourgeoisie vergänglich ist, daß das Privateigentum anden Produktionsmitteln und die private Aneignung des gesellschaftlichproduzierten Reichtums durch eine neue Gesellschaftsordnung abge-löst werden. Dieser Prozeß vollzieht sich jedoch nicht automatisch,sondern hängt von der Entwicklung der Klassenkämpfe ab. Je be-wußter die Lohnabhängigen die Gesetze der gesellschaftlichen Ent-wicklung anwenden, um so eher und reibungsloser wird ihr die Errich-tung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung gelingen. So muß zurobjektiven Voraussetzung (Stand der Produktivkräfte und ihr wach-sender Widerspruch zu den Produktionsverhältnissen) das subjektiveElement (der Kampf der Arbeiterklasse) hinzukommen, um dieMenschheit von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschenzu befreien. Die hier skizzierten Elemente eines geschichtlichen Den-kens sind als ziemlich unvermittelte Zielvorstellungen formuliert. Eini-ge Voraussetzungen und Ansätze für die Umsetzung in den politischenund Geschichtsunterricht will neben dem erwähnten Unterrichtspro-jekt das folgende Kapitel geben.

Page 296: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Fünftes KapitelGesamtgesellschaftliche Voraussetzungen eines kritischenGeschichtsunterrichts

Nach der Untersuchung der Behandlung einzelner Geschichtsepochenin den Schulbüchern, nach dem Versuch, die hierbei herauskristalli-sierten Grundmuster der Argumentation zu systematisieren und derengesellschaftliche Genesis und Funktion herauszuarbeiten, wollen wirmit einigen Thesen auf die Vorstellungen eingehen, die die Arbeits-gruppe bezüglich der Veränderung der untersuchten Inhalte hat. Dabeiist festzuhalten, daß diese Vorstellungen unter anderem deshalb nurfragmentarisch vorgetragen werden können, weil in der Gruppe selbstdarüber unterschiedliche Meinungen bestehen. Wir beschränken unsdaher im wesentlichen auf eine Skizzierung der gesamtgesellschaftli-chen Voraussetzungen eines kritischen Geschichtsunterrichts.

Für den Geschichtsunterricht, und das heißt konkret für die Anwen-dung der Geschichtsbücher, stellt sich die Frage nach den gesamtge-sellschaftlichen Bedingungen, unter denen — auch mit noch vorwie-gend konservativen Geschichtsbüchern — kritische Unterrichtsarbeitvon Schülern und Lehrern gemeinsam geleistet werden kann. Was da-bei kritischer Geschichtsunterricht bedeuten kann, wird noch näherbeschrieben werden.

Wir haben im Kapitel „Schule im Kapitalismus der B R D " gezeigt,daß der Widerspruch zwischen dem objektiv vorhandenen Interessealler Gesellschaftsmitglieder an einer möglichst umfassenden Ausbil-dung und dem Zwang kapitalistischer Ökonomie, die gesellschaftli-chen Reproduktionskosten für Ausbildung im Interesse der Profitma-ximierung der Einzelkapitale möglichst niedrig zu halten, die Proble-matik der gesamten spätkapitalistischen Bildungspolitik kennzeichnet.Die Minimierung der Ausbildungskosten auf dem Rücken der Auszu-bildenden und der Lehrenden wird begleitet von der Verweigerungvon Mitbestimmung im Ausbildungsbereich. Zwar zwingt der wissen-schaftlich-technische Fortschritt zu partieller Hebung des Qualifika-tionsniveaus; die Durchsetzung bestimmter fortschrittlicher Bildungs-konzeptionen, z. B. der Gesamtschule, wird vom Kapital und seinenRepräsentanten jedoch nicht einfach „großzügig" garantiert, sondernmuß, wie jeder soziale Fortschritt seit dem Beginn des Kapitalismus,von den Betroffenen selbst erkämpft werden. Bildungspolitische Re-formen können also nur gemeinsam von Schüler-, Studenten-, Lehrer-und Arbeiterbewegung durchgesetzt werden. Eine sinnvolle inhaltlicheKonkretisierung der Reformprojekte in Schule und Hochschule wirdalso nur dann möglich sein, wenn die Beziehungen von Schülern undStudenten zu den Organisationen der Arbeiterbewegung intensiviertwerden.

Diese damit angesprochene „gewerkschaftliche Orientierung" vor al-lem der Studenten resultiert aus den objektiven Entwicklungstenden-

296

Page 297: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

zen der kapitalistischen Gesellschaft. Die Tendenzen der Verwissen-schaftlichung und Vergesellschaftung großer Bereiche der Produktionund Reproduktion bestimmen die perspektivische Klassenlage derheutigen Studenten. Das bedeutet eine erhebliche Zunahme der Lohn-arbeit und eine immer deutlicher hervortretende Fremdbestimmungam Arbeitsplatz. Die Mehrzahl der heutigen Studenten wird nach ih-rem Examen als Lohnabhängige im Produktions- und Reproduktions-bereich fungieren. Hiermit sind auch Möglichkeiten der Bewußtseins-veränderung, der Stärkung des demokratischen Potentials, objektiv ge-geben. Die Verwirklichung dieser Möglichkeiten hängt weitgehendvom Stand des gesamtgesellschaftlichen Klassenkampfes ab.

Der Entwicklungsstand des bundesrepublikanischen Klassenkampfesseit dem Ende der 60er Jahre läßt sich zusammenfassend folgenderma-ßen beschreiben: Im Gefolge der ökonomischen Rezession (1966 /67)wurde für große Teile der Arbeiterklasse die Unsicherheit ihres Ar-beitsplatzes, die Gefahr der Kurzarbeit und damit der Einschränkungihres Lohneinkommens evident. Das bereits in den 50er Jahren vonPopitz, u. a. empirisch festgestellte „dichotomische Gesellschafts-bi ld" 1 (d. h. die Vorstellung, daß die Gesellschaft durch den Gegen-satz von „oben" und „unten" geprägt ist) der Arbeiter wurde erneutbestätigt. Darüber hinaus läßt sich seit den Septemberstreiks 1969,den hessischen Chemiearbeiterstreiks 1970 und dem baden-württem-bergischen Metallarbeiterstreik 1971 eine zunehmende Bereitschaftvon Teilen der Arbeiterklasse erkennen, den Streik als Mittel des Ar-beitskampfes zu akzeptieren.2 Mit der Zunahme dieser Aktionsbereit-schaft und der weiteren Entwicklung eines Klassenbewußtseins imProzeß kollektiver politischer Praxis korrespondiert der Zuwachs angewerkschaftlicher Orientierung in weiten Teilen der lohnabhängigenIntelligenz. Kritische Studenten und teilweise auch Schüler finden inwachsendem Maße den Weg zum Eintritt in gewerkschaftliche Organi-sationen und Jugendverbände der Arbeiterklasse. Der Anteil der Jung-lehrer in der GEW nimmt ständig zu, so daß die Basis des DeutschenPhilologenverbandes, der immer stärker zu einer reaktionären Organi-sation wird, sichtlich abnimmt. Kritische Wissenschaftler haben sichzum Bund Demokratischer Wissenschaftler zusammengeschlossen. Indem Maße, wie dieser Prozeß zunehmend praktisch-politischer Tätig-keit und Bewußtseinsbildung fortschreitet, greift der Staatsapparat — auch in seinen sozialdemokratisch geführten Teilen — immer stärkerzu Disziplinierungs- und Relegationsmaßnahmen. Die eindeutige Ver-fassungswidrigkeit der Ministerpräsidentenbeschlüsse vom Januar1 9 7 2 , 3 die alle kritischen, demokratisch und sozialistisch orientiertenBeamten im öffentlichen Dienst mit Berufsverbot bedrohen, enthüllt,daß die bürgerliche Gesellschaft und ihr Staatsapparat — besonders imAusbildungsbereich — nicht bereit ist, die freie Konkurrenz verschie-dener Wissenschaftsansätze und -methoden entstehen zu lassen und zuakzeptieren. Unter dem Deckmantel „Radikale aus dem öffentlichenDienst" werden Mitglieder verfassungsrechtlich legitimierter Organisa-

297

Page 298: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

tionen an der Ausübung ihres Berufs gehindert.4

„Radikal" ist dabei alles, was sich nicht dem „Wissenschaftsmono-pol" (Margherita von Brentano) bürgerlicher Wissenschaftsmethodeunterwirft. Geringfügige Abweichungen von dieser Grundlinie werdenindes mit den Schlagwörtern „Stalinismus" oder „prokommunisti-sches Pamphlet"5 abgekanzelt, wie dies im Falle des Sozialkundebu-ches von George/Hilligen (Sehen — Beurteilen — Handeln) geschehenist.

Tatsächlich ist dieses Sozialkundebuch (in seiner veränderten Aufla-ge) ein sich auf demokratische Zielsetzungen hin orientierendes Lehr-buch, das im Bereich des Systemvergleichs von BRD und DDR mit derherkömmlichen Schwarz-Weiß-Malerei Schluß macht und die Verherr-lichung der Unternehmer-Wirtschaft, durch ein realistisches Bild derwirklichen Arbeitswelt ersetzt. An der überregionalen Kritik, die die-ses keineswegs radikaldemokratische oder gar marxistische — für dieBRD aber schon recht progressive — Lehrbuch hervorgerufen hat, läßtsich deutlich ablesen, von welcher Seite die Diffamierungskampagnegeführt wurde: konservative Repräsentanten der CDU (Wallmann,Echternach) sowie die ausgesprochen rechtsorientierte Publizistik vonder „Welt" bis zum Deutschland-Magazin demonstrieren die politischeInteressengebundenheit dieser Hetzkampagne. Besonders deutlichwird der Interessenstandpunkt bei der Kritik zu der dem Geist desKalten Krieges und der Unternehmerapologie widersprechenden undin der BRD bislang nicht üblichen Darstellung „berechtigter Interessenvon Arbeitern und Angestellten": Sie wird als Propaganda für das Ge-sellschaftssystem der DDR denunziert. Bloße Faktendarstellung, wieetwa die Zahl der in Armut lebenden US-Bevölkerung, die etwa 20 % beträgt, wird zur „antiamerikanischen Stimmungsmache der Linken".Es stellt sich die Frage, worum es jenen Kräften von der CDU mit derverfälschten Darstellung eines demokratischen Schulbuches geht. „Esgeht ihnen um die kritiklose, ungebrochene Zeichnung eines makello-sen Schön-Bildes der westlichen Welt. Und vor allem: Es geht ihnenbei der Darstellung von Gesellschaft und Arbeitswelt um die lücken-lose Orientierung an den Unternehmerinteressen. Die bestehende Un-ternehmerordnung muß unangetastet als gut, unveränderbar, als gott-gegebene Selbstverständlichkeit erscheinen."6

Am Beispiel eines relativ fortschrittlichen Sozialkundebuches zeigtsich also, daß die reaktionären Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft dieGrenze für die Tolerierung abweichender Meinungen dort ansetzen,wo kritische Autoren — in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz(GG) — die bürgerlich-kapitalistische Eigentumsordnung in Frage stel-len. H. H. Hartwich hat in seiner materialreichen Studie7 zum Sozial-staatsproblem ausdrücklich auf die alternativen Möglichkeiten desGrundgesetzes im Hinblick auf die Eigentumsordnung hingewiesen.Demzufolge besteht neben der existierenden bürgerlichen Eigentums-verfassung in Übereinstimmung mit dem Kompromiß der „Väter" desGG im Parlamentarischen Rat, wie er in den Art. 14 und 15 zum Aus-

298

Page 299: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

druck kommt, die Möglichkeit, eine sozialistische Gesellschaftsord-nung zu errichten. Die Tatsache, daß in der bisherigen Geschichte derBRD die Alternative einseitig von der CDU, und heute von großenTeilen der SPD theoretisch geleugnet und praktisch negiert wordenist, zeigt die politisch-soziale Verflechtung der herrschenden Parteienmit den Interessen des Kapitals. Dementsprechend werden verfas-sungsmäßig legitime Positionen der Jungsozialisten — im Zuge derDurchsetzung der Ministerpräsidentenbeschlüsse — als verfassungs-widrig diffamiert und als „Radikalismus" tendenziell kriminalisiert.

Die Ministerpräsidentenbeschlüsse und das dort intendierte Berufs-verbot gegen „Radikale" im öffentlichen Dienst zeigt das Ausmaß derBedrohung demokratischer Verfassungselemente durch rechtskonser-vative Verfassungsinterpreten, die alle potentiell kritischen Elemente— dazu zählen DKP, SDAJ und Spartakus, SHB und VDS, Jungsoziali-sten, Jungdemokraten, Teile der Gewerkschaften und der Kirchen — zu Verfassungsfeinden abstempeln wollen. Aus dieser gesamtgesell-schaftlichen Frontstellung der antagonistischen Interessenformierungergibt sich die Notwendigkeit für alle Liberalen, Demokraten, Soziali-sten und Kommunisten in Parteien, Gewerkschaften, Verbänden,Hochschulen und anderen Schulen, sich kollektiv zu organisieren, umvon ihrem jeweiligen Bereich aus den Kampf um die Erhaltung undAusweitung der demokratischen Rechte aufzunehmen. Dieser Kampfum gesamtgesellschaftliche Demokratisierung in allen Bereichen hatnur dann Erfolgschancen, wenn er nicht in jedem Bereich isoliert ge-führt wird. Insbesondere in den zentralen Organisationen der Lohnab-hängigen, d. h. vor allem der Gewerkschaften, muß darum gerungenwerden.

In diesem Rahmen sind die Perspektiven für Lehrer und Schüler fürMöglichkeiten einer Schulreform zu betrachten. Die technokratischzurechtgestutzte Variante der integrierten Gesamtschule scheint derzukünftige Schultyp zu sein, der den ökonomischen Anforderungender gegenwärtigen kapitalistischen Ökonomie weitgehend entspricht.Denn durch das institutionalisierte individuelle Leistungsprinzip (Kurs-und Kerngruppen), durch verschiedene Varianten kompensatorischerErziehung (z. B. Sprachförderung) werden beachtliche, bisher unge-nutzte Begabungs- und Leistungsreserven der Kinder aus der Arbeiter-klasse ausgeschöpft, womit den ökonomischen und ideologischen An-forderungen von Flexibilität und Disponibilität der Ware Arbeitskraftbesser zu genügen ist. Zugleich aber muß die Ambivalenz der Gesamt-schule gesehen werden, die darin liegt, daß sie als ein Mittel der Ver-wirklichung fortschrittlicher Lerninhalte und kritischer Schulrefor-men fungieren kann: die pädagogisch sicherlich ungünstige Mammut-größe (2000—4000 Schüler) schafft eine breite Basis für die politischeArbeit von Lehrern und Schülern, setzt Bedingungen für eine koopera-tive und solidarische Schulpraxis aller im Ausbildungssektor Beteilig-ten, die sich auch gegen die vorgegebenen inhaltlichen Zwecksetzun-gen der Lehrinhalte kritisch wenden kann. Die Verlängerung der

299

Page 300: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Schulzeit (bis zum 17. /18 . Lebensjahr) sowie die intensive Begabungs-förderung einzelner Schüler kann zur Stärkung des politischen Be-wußtseins entwickelt werden, wenn sie mit einer immanenten Kritikdes Widerspruchs zwischen Qualifikationssteigerung und demokrati-schen Lernzielen einerseits und diesen Ansprüchen nicht gerecht wer-dender Schulpraxis andererseits verbunden wird. Darüber hinaus kannin breiterem Umfang der Widerspruch zwischen der Forderung nachChancengleichheit und der realen Selbsterfahrung der Ungleichheit inder Klassengesellschaft aktualisiert und politisch artikuliert werden.8

Eine kritische Arbeit an Schulen wird also nur realisiert werdenkönnen, wenn emanzipatorische Praxis von Schülern und entspre-chend ausgebildeten Lehrern kollektiv vollzogen wird. Ob dies gelingt,hängt auch davon ab, inwieweit die Eltern sich für eine Demokratisie-rung in der Schule engagieren und ob die Bürokratisierung in derSchulverwaltung durch Mitbestimmungspraxis ersetzt werden kann.

Von hier aus ist die Bedeutung von Geschichtsunterricht und Ge-schichtsbuch für die weitere gesellschaftliche und schulische Entwick-lung zu prüfen. Im folgenden sollen einige Überlegungen angestelltwerden, wie der traditionelle Geschichtsunterricht als Reproduktions-faktor herrschender Ideologien kritisch durchbrochen und mindestensansatzweise in einen potentiell emanzipatorischen Unterricht über-geleitet werden könnte. Es wurde schon angedeutet, daß der Ge-schichtsunterricht — neben einer Reihe anderer ideologiereproduzie-render Fächer wie Sozialkunde, Gemeinschaftskunde und Deutsch — zunehmend außerschulischen, d. h. gesellschaftlich-politischen Inter-essen ausgesetzt ist. Im Rahmen der Ostpolitik der sozial-liberalen Re-gierung Brandt/Scheel haben sich beispielsweise die außenpolitischenBeziehungen zwischen BRD und Polen, BRD und UdSSR verändert,gegen die innergesellschaftlichen Konsequenzen der Ablösung mani-fester antikommunistischer Ideologien aber — das haben die Minister-präsidentenbeschlüsse erneut bewiesen — leisten die Herrschenden denheftigsten Widerstand. Ansätze zu einer Revision der traditionellideologischen Geschichts-, Sozialkunde- und Erdkundebücher sind imRahmen zweier Schulbuch-Kommissionen zwischen Polen und derBundesrepublik entstanden.9 Zugleich gibt es zu dieser Form positiverBewußtseinsbildung durch die Reinigung der Schulbücher von reak-tionären Geschichtslegenden gegenläufige Tendenzen, die besondereAuswirkungen auf den Geschichtsunterricht zu haben scheinen. Ne-ben der faktischen Monopolisierung der Einflußmöglichkeiten durchdie deutschen Unternehmerverbände, der gegenüber der gewerkschaft-liche Einfluß fast bedeutungslos i s t , 1 0 soll der Unterricht in derSchule durch die Institutionalisierung eines Faches Wehrkunde milita-ristischen Erziehungstendenzen ausgesetzt werden. 1 1 Besonders ge-fährlich erscheint die Tatsache, daß auf Grund von Vereinbarungenzwischen dem Hessischen Kultusministerium und dem Wehrbereichs-kommando IV in Mainz die Einflußmöglichkeiten der Militärs bei derinhaltlichen Darstellung und Entwicklung der hessischen Curricula für

300

Page 301: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

die Fächer Geschichte und Sozialkunde gesichert worden s ind. 1 2 Da-bei ist zu beachten, daß die beabsichtigte Militarisierung des Schulun-terrichts nur ein Aspekt der wachsenden Tendenz ist, das Bildungs-wesen insgesamt militaristisch zu beeinflussen.

Die Forderung nach Wehrkunde im Unterricht, besonders von Tei-len der rechten Sozialdemokratie (Helmut Schmidt, Georg Leber) undder CDU (Kultusminister B. Vogel) vertreten, stieß indes auf den ent-schiedenen Widerstand der fortschrittlichen Lehrergewerkschaft, derG E W . 1 3 Vorraussetzung für eine wirksame Bekämpfung der Wehr-kunde-Erlasse ist die kritische und sachlich fundierte Auseinanderset-zung mit den Inhalten dieser militaristischen Erziehungsformen:Schüler und Lehrer sollten den Unterricht dazu nutzen — an Stelle dereinseitigen Rechtfertigung der Militärpolitik — die gesellschaftlichenUrsachen von Rüstung und Krieg zu untersuchen, die Bedeutung desmilitärisch-industriellen Komplexes in der BRD, Probleme der Ab-rüstung, der Kriegsdienstverweigerung und der historischen Entwick-lung der Remilitarisierung in unserem Lande.

Wesentliche Vorraussetzung für die demokratische Veränderung vonSchule und Geschichtsunterricht ist neben den organisatorischen Be-dingungen in der Schule, wie sie oben am Beispiel der Gesamtschuleentwickelt wurden, die inhaltliche Veränderung der Lehrpläne, derStudiengänge und der Lehrerausbildung an den Hochschulen. DieCurriculum-Revision z. B. darf nicht von Expertenkommissionen al-lein bearbeitet und dann von oben, d. h. vom jeweiligen Kultusmini-sterium in die Schulen eingeführt werden. Vielmehr bedarf es hier derAktivierung aller an der langfristigen Konzeption und Verwirklichungder Lehrpläne beteiligten Kräfte von Schülern, Lehrern, Fachdidak-tikern und Fachwissenschaftlern. Wenngleich der kritischen, konse-quent auf die Verwirklichung demokratischer Rechte hinwirkendenLehrplanrevision durch starke politische Interessen objektive Grenzengesetzt zu sein scheinen (vgl. das Scheitern der hessischen Curriculum-revision), so ist es doch nicht von vornherein ausgemacht, wo dieseGrenzen liegen. Das wird erst der weitere Kampf, der durch verstärkteÖffentlichkeitsarbeit und ständige Verbreiterung der politischen Basisgeführt werden muß, zeigen. Als relativ positives Resultat hervorzu-heben sind z. B. die Ende 1972 vom Hessischen Kultusministeriumherausgegebenen vorläufigen Rahmenrichtlinien für das Fach Gesell-schaftslehre (Sekundarstufe I ) , da hier erstmals der Versuch unter-nommen wird, allgemeine Zielvorstellungen für einen kritisch-emanzi-patorischen Inhalt zu entwickeln. Im Gegensatz zu dem bereits er-wähnten Totalitarismus-Erlaß von 1962 werden herrschende Ge-schichtsideologeme, wie etwa das personalistische Geschichtsbild, hin-sichtlich ihrer politischen Funktion kritisiert. 1 4 Neben einerweitereninhaltlichen Spezifizierung der allgemeinen Lernzielvorstellungen mußjedoch die Konkretisierung, d. h. die exemplarische Anwendung desallgemeinen Lernziels „gesellschaftliche Emanzipation" am Beispielkonkret-historischer Themenstellungen geleistet werden. Das, was bis-

301

Page 302: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

her für den Sozialkundeunterricht vorliegt, 1 5 kann für den Ge-schichtsunterricht teilweise als Modell gelten.

Exemplarische Modellanalysen und Unterrichtsreihen sind schondeshalb in verstärktem Maße erforderlich, weil der — von pädago-gischer Praxis unberührte Studienreferendar — neuerdings bereits meh-rere Stunden Vollunterricht zu leisten hat, ohne in seiner Universitäts-ausbildung darauf hinreichend vorbereitet zu werden. Das gleiche giltaber auch für fortgeschrittene, ältere Lehrer, deren Geschichtsstudiumvon historisch-sozialwissenschaftlichen Kategorien meist gänzlich freiwar . 1 6 Modellanalysen sind aber auch deshalb dringend notwendig alsOrientierungs- und Vorbereitungsmittel für den Unterricht, weil dieSchulpraxis den Geschichtslehrer — vor allem den jungen, noch nichtausgebildeten — vor die Aufgabe stellt, Modelle für den Geschichtsun-terricht von sich aus zu erarbeiten. Liegen nun solche Orientierungs-mittel vor, so erleichtern sie nicht nur dem einzelnen Lehrer die Ar-beit, sondern können in der Schulpraxis immer wieder korrigiert underprobt werden. Unter den günstigen organisatorischen Bedingungender Gesamtschule bietet sich überdies die Möglichkeit, sie mit anderenProjekten aus benachbarten Unterrichtsfächern (Sozialkunde,Deutsch, technischer Unterricht etc.) zu verbinden und gegebenenfallszu integrieren. Auf diese Weise können Schüler und Lehrer die tradi-tionelle Fächeraufteilung und strikte Arbeitsteilung inhaltlich eng zu-sammengehörender Bereiche tendenziell überwinden und einen Ge-samtbegriff von Gesellschaft entwickeln (statt einzelner Fragmente),der ein Begreifen überhaupt erst möglich macht. Wichtig ist die tech-nisch-organisatorische Seite der Unterrichtspraxis; hier wäre darauf zuachten daß:

— der Lehrer als Organisator und Koordinator emanzipatorischerLernprozesse gruppendynamische Beziehungen fördert (Auswahl vonUnterrichtsprojekten, die besonders für Gruppenarbeit geeignet sind)und damit das einseitige individuelle Lernprinzip aufhebt;

— die Mitbestimmung der Schüler hinsichtlich der inhaltlichen Ge-staltung der Lehr- und Lernprozesse institutionell gesichert ist;

— die inhaltliche Arbeit durch Zusammenarbeit mit möglichst vielenLehrerkollegen, durch ständige Information der Eltern und wechsel-seitigen Meinungsaustausch mit ihnen abgesichert ist.

Erst dann, wenn es möglich ist, die Schüler aus der passiv-rezeptivenKonsumentenhaltung zu befreien und sie in methodische und didakti-sche Entscheidungs- und Planungsprozesse mit einzubeziehen, wirdeine potentiell kritische, d. h. den autoritären Frontalunterricht erset-zende Schulpraxis möglich. Es stellt sich nun die Frage, wie der Ge-schichtslehrer das bislang noch vorwiegend konservative Geschichts-buch im Unterricht sinnvoll verwenden kann. In dem Maße, wie esgelingt, durch kritische Lehrerbildung und praktische Schülerarbeitdie im Bewußtsein vorherrschenden Geschichtsbilder und Ideologemeaufzulösen, werden auch die heutigen Schulgeschichtsbücher in ihrenreaktionären Varianten ideologiekritisch analysiert werden können.

302

Page 303: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Die bereits im vierten Kapitel angesprochenen allgemeinen Lernzielewären zu konkretisieren; zu fragen wäre nach dem Zusammenhangvon Herrschaft als Resultat sozioökonomischer Grundverhältnisse imKapitalismus und der Notwendigkeit für die herrschenden Klassen,ihre Herrschaft durch Ideologien abzusichern und zu legitimieren. Dieideologiekritische Analyse stellt eine Voraussetzung für positive Ge-genkonzeptionen dar, die zur Entwicklung und Stärkung eines histo-risch abgesicherten Geschichtsbildes beitragen können. Es ist bei dengegenwärtigen Machtverhältnissen zwar unwahrscheinlich, daß pro-gressive Geschichtsbücher die Zensurinstanzen der Kultusbürokratiedurchlaufen werden, es bleibt jedoch zu erwägen, ob nicht ein kriti-scher Gegenentwurf, eine grundlegende Alternativkonzeption einesAnti-Geschichtsbuches von einem Arbeitskollektiv aus kritischenSchülern, Geschichtsstudenten, Geschichtslehrern, Fachdidaktikernund Fachwissenschaftlern versucht werden sollte. Die Unterstützungdurch Taschenbuchverlage könnte für eine relativ billige und weiteVerbreitung unter Lehrern, Schülern und anderen Interessierten sor-gen.

Im gegenwärtigen Stadium der gesellschaftlichen und schulischenEntwicklung scheint es jedoch vorerst notwendig, die ideologiekriti-sche Analyse der konkreten Inhalte in den Schulgeschichtsbüchernweiterzuentwickeln, um von daher das Wesen bürgerlicher Ideologie,ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen und ihre politische Funktionaufzudecken.

Page 304: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Anmerkungen

Erstes Kapitel

A. Französische Revolution1 W. Hofmann, Grundelemente der Wirtschaftsgesellschaft. Ein Leitfaden für

Lehrende. Hamburg 1969 (rororo aktuell 1149) , S. 4 6 .2 ib., S. 46.3 „Der Mensch der archaischen Zeit . . . fühlte sich weniger als Person und In-

dividuum, sondern in der Regel eingebettet in ein schützendes, handlungsbe-stimmtes Kollektiv mit fester Lebensordnung, in Konvention und Tradition,mit denen sich der Einzelmensch völlig identifiziert." K. Bosl, Gesellschafts-entwicklung 5 0 0 - 9 0 0 . In: H. Aubin/W. Zorn (Hg.): Handbuch der Sozial-und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, Bd. 1, Stuttgart 1971, S. 163.

4 F. Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter, Tübingen 1952, S. 37.5 Vgl. W. Rosenbaum, Naturrecht und positives Recht, Neuwied/Darmstadt

1972, S. 225 .6 Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1972, S.

190.7 Hauser, a.a.O., S. 202 .8 E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt 1972 (st 4 9 ) , S. 70.9 Diese Vorstellung hat Schiller hinsichtlich der Menschenrechte (die ja eben

gerade als vernünftig galten) im Wilhelm Teil in die berühmten Worte geklei-det:„Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht:Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,Wenn unerträglich wird die Last — greift erHinauf getrosten Mutes in den HimmelUnd holt herunter seine ew'gen Rechte,Die droben hangen unveräußerlichUnd unzerbrechlich wie die Sterne selbst"Schillers Sämtliche Werke Bd. 7, Stuttgart/Berlin S. 183 (2. Aufzug, 2. Szene1275-81) .

10 Als vernünftig galt im Mittelalter das ,gute' Alte. Auch der Glaube sei ver-nünftig, da er dem Menschen entspreche.

11 Hofmann, a.a.O., S. 55 .12 Der Manufakturinspektor Ludwigs X V I . und spätere Innenminister der

Gironde, Roland de la Piatiere, schrieb 1778 in einer Denkschrift: „Ich habegesehen, wie an einem einzigen Vormittag 80, 90 , 100 Tuche in kleineStücke zerschnitten wurden . . . Ich habe gesehen, wie denselben Tag einegrößere oder kleinere Anzahl Tuche unter mehr oder weniger harten Strafenkonfisziert wurde . . . Ich habe gesehen, wie Tuche an den Pranger geheftetwurden mit dem Namen des Fabrikanten, dem angedroht wurde, ihn beiRückfälligkeit selbst an den Pranger zu stellen . . . und alles vorgeschriebendurch die Reglements oder ministeriell angeordnet; und warum? Einzig we-gen illegalen Rohstoffs oder unregelmäßiger Webarbeit. Ich sah, wie Scher-genbanden Durchsuchungen bei Fabrikanten machten, ihre Werkstätten ver-wüsteten, ihre Familien in Schrecken versetzten, Webstühle mit Ketten ver-schlossen; und warum? Weil sie Wollgewebe hergestellt hatten, wie sie inEngland gemacht werden, und die Engländer überall verkaufen, auch inFrankreich, aber die Reglements in Frankreich nur Haargewebe erwähnen.

304

Page 305: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Ich habe gesehen, wie Gerichtsdiener und ihre Kohorten mit dem Urteil inder Hand unglückliche Fabrikanten in ihrer Habe und ihrer Person verfolg-ten, weil sie ihre Rohstoffe hier und nicht dort gekauft hatten, zu diesemZeitpunkt und nicht zu einem anderen." Zit. bei A. Hartig/G. Schneider/M.Meitzel, Großbürgerliche Aufklärung als Klassenversöhnung: Voltaire(Materialistische Wissenschaft 3) (Oberbaum Verlag), Berlin 1972, S. 43 .

13 Vgl. G. v. Below, Probleme der Wirtschaftsgeschichte, 278 ff, J. Kulischer,Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Bd. 1,München/Berlin 1922, S. 181 ff.

14 H. Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands Bd. 1, Berlin 1968, S. 174 ff.15 Vgl. W. Dahle, Deutschunterricht und Arbeitswelt: Modelle kritischen Ler-

nens. Materialien für Lehrer und Schüler (rororo Sachbuch) Reinbek 1972, S.37 ff.

16 Vgl. Anmerkung 14 in diesem Kapitel.17 Vgl. I. Fetscher, Politikwissenschaft (Funk-Kolleg) Ffm. 1968 , Fischerbüche-

rei, S. 3 5 : „Der ,Mensch', den Hobbes beschreibt, . . . ist identisch mit dembourgeoisen Individuum, wie es im 17. Jahrhundert in England allmählichaus älteren Verhaltensweisen sich entwickelte. Besitzgier, Konkurrenzkampf,Bedürfnis nach Sicherheit, all diese von Hobbes naiv als allgemein menschlichangesehenen Eigenschaften . . . entstehen allererst durch die Herausbildungeiner marktförmigen Güterversorgung. Hobbes unterlag der verständlichenSelbsttäuschung, die Eigenschaften seiner Zeitgenossen für allgemein mensch-lich zu halten . . . Was Hobbes als ,Naturzustand' beschreibt, ist also nichtsanderes als die sich soeben herausbildende Konkurrenzgesellschaft warenpro-duzierender Bourgeois unter Abstraktion einer ihr friedliches Zusammenle-ben ermöglichenden Staatsmacht."

18 Vgl. ib., S. 53 ff; J. Habermas, Theorie und Praxis, Frankfurt/M. 1971(Suhrkamp Taschenbuch 9) S. 99 ff; Rosenbaum, a.a.O., S. 267 f.

19 Habermas, a.a.O., S. 113 f.20 Auf die spezifischen Formen und Halbheiten dieser Revolutionen können

wir hier leider nicht eingehen. Siehe hierzu u. a. Rosenbaum, a.a.O., L. Kof-ier, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied/Berlin 1966(Luchterhand- Verlag).

21 Wir kommen darauf zurück.22 K. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, Berlin 1971 (Dietz

Verlag), S. 15 f.23 Vgl. Hartig, u. a., a.a.O., S. 24 f.24 ib., S. 9.25 ib., S. 20 .26 Was sagt Voltaire? Eine Auswahl aus den Werken, hg. u. übers, v. P. Salz-

mann, Leipzig 1925, S. 144.27 Voltaire ist dabei nur ein Beispiel für die herrschende Tendenz in der

frühbürgerlichen Philosophie! Bei nahezu allen bedeutenden revolutionärenDenkern seit der Renaissance findet sich diese eindeutige Beschränkung ihrerVernunftsprinzipien (Freiheit, Bildung, Gleichheit) auf die Privateigentümer.So galt z. B. den drei großen Renaissance-Denkern Machiavelli (1496—1527) ,Montaigne ( 1 5 3 5 - 1 5 9 2 ) und Bodin ( 1 5 3 0 - 1 5 9 6 ) die Religion als notwendi-ges Mittel zur Ablenkung und Niederhaltung der Volksmassen (Religion alsOrdnungsstabilisator), und auch der große englische NaturrechtsphilosophJohn Locke reservierte die natürlichen Rechte des Menschen ausdrücklich fürdie Privateigentümer: „Der größte Teil der Menschheit . . . kann nicht derLeitung durch das Gesetz der Natur oder der Vernunft überlassen werden; er

305

Page 306: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

ist unfähig, aus diesen Gesetzen Verhaltensmaßregeln abzuleiten. Denn dersicherste und einzige Weg, Tagelöhner und Händler, Jungfern und Milchmäd-chen . . . zu tätigem Gehorsam anzuhalten, besteht darin, ihnen klare Gebotezu geben. Der größte Teil der Menschheit kann nicht wissen, und muß daherglauben." Zitiert nach: C. B. Macpherson, Die politische Theorie des Besitz-individualismus, Ffm. 1967, S. 2 5 4 ; vgl. Kofler, a.a.O., S. 178 , 198, 202 ; vgl.Horkheimer, M. Montaigne und die Funktion der Skepsis, in: ders., KritischeTheorie der Gesellschaft, Bd. II, Ffm. 1968, S. 227.

28 Zitiert bei und übersetzt von: Hartig, u. a., a.a.O., S. 84 .29 „Der Eintritt in ein Arbeitsverhältnis ... begründet Unterordnung unter die

Anweisungsgewalt der kapitalverwertenden Seite ... Dem Verwertungs-zwang des Kapitals sind die Beschäftigten selbst von vornherein integriert '".Hofmann, a.a.O., S. 62 .

30 Zitiert bei: Hartig u. a., S. 85 . Sieyes nennt in der erwähnten Flugschrift dienatürliche Grundlage der bürgerlichen Herrschaft, das Privateigentum, deut-lich beim Namen: „Außer der Herrschaft der Aristokratie . . . gibt es aucheinen Einfluß des Eigentums. Dieser Einfluß ist natürlich, und ich verdammeihn nicht." Zitiert nach: O. H. v. d. Gablentz, Die politischen Theorien seitder amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, Köln/Opladen 1 9 6 7 3 , S. 70.

31 „In England z. B . , dem klassischen Land des liberalen Parlamentarismus, wa-ren nach der Revolution von 1688 nur etwa zwei Prozent der Bevölkerungwahlberechtigt. Nach der ersten Wahlreform von 1832 stieg der Anteil derWahlberechtigten auf rund fünf Prozent an . . . Die Wahlreform von 1884schließlich, die immer noch ein Drittel der Männer und alle Frauen vomWahlrecht ausschloß, kam erst durch massiven Druck der Industriearbeiter-schaft zustande." R. Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft, Reinbek 1971(rororo aktuell 1342) , S. 32 f.

32 W. Hofmann, Abschied vom Bürgertum, Ffm. 1970 (es 3 9 9 ) , S. 187 f.33 H. Schelsky, Mehr Demokratie oder mehr Freiheit, in: FAZ vom 20 .1 .1973 ,

S. 7.34 ib.35 ib.36 a.a.O., S. 8.37 H. H. Hartwich (Hg.), Politik im 20. Jahrhundert, Braunschweig 1964 (We-

stermann Verlag), S. 103 .38 Wenn wir im folgenden vor allem diese über die bürgerliche Gesellschaft hin-

ausgehende Komponente des Rousseauschen Denkens herausheben, dannheißt dies nicht, daß Rousseau sich selbst so verstanden hat. Rousseau selbstwar subjektiv keineswegs revolutionär, sondern eher konservativ. Die vonihm formulierten Grundsätze des Contrat Sociale hielt er nur bei kleinenVölkern eines vorkapitalistischen Entwicklungsstandes für möglich, beispiels-weise in Korsika, wo Handel und Gewerbe kaum entwickelt sind, wo das Ei-gentum breit und gleichmäßig gestreut ist und wo reine und schlichte Sittenherrschen. „Seine Lehre war nicht revolutionär, sie mußte erst revolutionärinterpretiert werden." Habermas, a.a.O., S. 111 . Diese Interpretation wurdeu. a. von den Jakobinern geleistet. Als revolutionär (sie nennen es ,radikal')interpretieren auch die Schulbuchautoren die Philosophie Rousseaus — nurlehnen sie sie gerade deswegen ab.

39 J . - J . Rousseau, Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit un-ter den Menschen, Berlin 1955, S. 8 6 .

40 Die Forderung nach Sozialisierung des Bodens ist von zahlreichen utopischenSozialisten erhoben worden, von Morus und Winstanley bis zu Meslier, Mo-

306

Page 307: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

relli, Mably usw. Da (abgesehen vielleicht von Monas) keiner von ihnen inden Schulbüchern erwähnt wird, kann man mit diesen Abstrichen die obenvertretene These aufrechterhalten, Rousseaus Haltung zur bürgerlichen Ge-sellschaft sei „radikal neu".

41 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, in: ders., Über die Erziehung, Berlin1958, S. 14.

42 Vgl. Rousseau, Emile . . . in: ib., S. 112.43 Marats revolutionäre Auslegung des volonté générale gipfelte in dem Ausruf:

„Das einfache Volk . . . ist der einzig gesunde Teil der Nation — der einzige,der das allgemeine Wohl will." Zitiert bei: F. Deppe, Verschwörung, Auf-stand und Revolution, Ffm. 1970, S. 27.

44 Auf Wesen und Funktion der Jakobinerherrschaft kommen wir später zu-rück.

45 Obwohl diese Argumentationskette in derartiger Stringenz in kaum einemder Schulbücher auftaucht, wird sie aber durchgängig durch die Gegenüber-stellung von Montesquieu und Rousseau nahegelegt. In ausformulierter Formfindet sie sich in dem erwähnten Aufsatz von Schelsky sowie in dem Sozial-kundebuch „Politik im 20. Jahrhundert".

46 „Politik im 20. Jahrhundert", a.a.O. S. 6 1 .47 Als politisches Individuum, als ,Aktivbürger', als ,Person', ja als ,Mensch'

(l'homme) galt stets nur der Eigentümer. Die Vorstellung eines Gesellschafts-vertrages, der dem Staat zugrunde liege, ist die fiktive Konstruktion einesfreiwilligen Zusammenschlusses der Privateigentümer „zum Zwecke der ge-genseitigen Versicherung des freien Gebrauchs des Eigentums . . . " „DerStaat", sagt Fichte kurz und bündig in seiner Staatslehre, „ist eine Anstaltder Eigentümer." Ähnlich äußern sich mehrfach Locke und andere. Es istaber offenbar, daß für die Ideologen des aufsteigenden Bürgertums die Siche-rung des freien Gebrauchs des Eigentums deshalb Endzweck des Staates ist,weil ihnen allein auf diesem Wege auch die Freiheit des Menschen gesicherterscheint. D. h., es kann . . . nicht Freiheit ohne Eigentum geben. Soll die,bürgerliche Gesellschaft' ein freies Gemeinwesen bilden können, muß siesich aus solchen Individuen zusammensetzen, die über Eigentum verfügen."Kofler, a.a.O., S. 615 f.

48 Hofmann, Abschied . . . , a.a.O., S. 180 (Hervorhebung von uns).49 Kühnl, a.a.O., S. 3650 Bloch, a.a.O., S. 187.51 ib., S. 187 /88 .52 Hartig u. a., a.a.O., S. 60 f, die Autoren stützen sich auf F. Braudel/C. E.

Labrousse, Histoire économique et sociale de la France, Bd. II, S. 548 ff;siehe außerdem: C. E. Labrousse, La crise de l'économie française à la fin del'ancien Régime et au début de la Révolution, Presses Universitaires, Paris1944, S. X X I I I , XLH ff.

53 (Brecht) „Selbst ein Wollhändler muß, außer billig einkaufen und teuerverkaufen, auch noch darum besorgt sein, daß der Handel mit Wolle ungehin-dert vor sich gehen kann." B. Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 3, Frankfurt/Main 1964 (Suhrkamp Verlag), S. 1339 .

54 C. E. Labrousse, Esquisse du mouvement des prix et des revenus en Franceau XVII I . e siècle, Libraire Dalloz, Paris 1932, S. 598 f.

55 Hartig u. a., a.a.O., S. 50 .56 ib., S. 68 .57 „Zinsbauern, kleine Pächter, Halbpächter und Landarbeiter bildeten die Mas-

se der Landbevölkerung, die von ihrem Grundbesitz nicht leben konnten,

307

Page 308: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

hinzupachten oder noch häufiger eine Nebentätigkeit ausüben mußte, be-drückt von feudalen Vorrechten und teilweise schon von den kapitalistischenPächtern. Ihr Landhunger und Streben nach Befreiung ihres Landes von denfeudalen Schranken trieb sie an die Seite der Bourgeoisie, um mit der Zerstö-rung des feudalen Grundeigentums das unbeschränkte bürgerliche Eigentumherzustellen. Eigentum bedeutete aber für die Masse der Bauern nicht kapita-listisches Eigentum, sondern Kleineigentum, das ihnen ihr Auskommensicherte. Antifeudal und antikapitalistisch, machten die französischen Bauernihre eigene Revolution, die in einem Kompromiß mit der Bourgeoisie endetedergestalt, daß die Kapitalisierung der Landwirtschaft auf lange Zeit aufge-halten und das Parzellenbauerntum für das gesamte 19. Jahrhundert inFrankreich kennzeichnend wurde. Auf die Hilfe der Bauern angewiesen,mußten die Kapitalisten auf die Enteignung der Bauern zunächst verzich-ten." Hartig u. a., a.a.O., S. 35 f.

58 Vgl. E. Hobsbawn, Europäische Revolutionen, München 1962.59 A. Mathiez, La Révolution Française, Bd. I. Paris 1937, S. 13, zitiert nach:

A. Schaff, Geschichte und Wahrheit, Wien 1970, S. 39 .60 „Es war nur natürlich, daß das Ancien régime um seine Positionen kämpfen

würde. Nur unrealistische Träumer können meinen, Ludwig X V I . hätte so-fort die Niederlage hinnehmen und sich in einen konstitutionellen Monar-chen verwandeln können. Das hätte er auch dann nicht getan, wenn er weni-ger dumm und unbedeutend und nicht mit einer so hirnlosen und unverant-wortlichen Frau verheiratet und zudem bereit gewesen wäre, auf weniger ver-hängnisvolle Ratgeber zu hören." E. Hobsbawn, a.a.O., S. 125.

61 Die einzige akzeptable — wenn auch sehr knappe — Schulbuchdarstellung derUrsachen der Französischen Revolution, insbesonders der Wirtschaftskrise,findet sich in Schöningh II, S. 19 ff. Allerdings fällt auch hier kein Wort überden zugrunde liegenden Widerspruch zwischen kapitalistischer Produktions-weise und Feudalordnung.

62 Vgl. Hobsbawn, a.a.O., S. 118.63 ib., S. 126.64 Hartig u. a., a.a.O., S. 5 1 .65 Hobsbawn, a.a.O., S. 123 f.66 „Die Konterrevolution mobilisierte die hungrigen, mißtrauischen und kampf-

bereiten Massen von Paris. Es kam zum sensationellen Sturm auf die Bastille,einem staatlichen Gefängnis, das die königliche Autorität symbolisierte, wodie Aufständischen Waffen zu finden hofften. In revolutionären Zeiten istnichts so folgenschwer wie der Fall von Symbolen. Die Einnahme der Bastilleam 14. Juli, dem Tag, der mit Recht zum französischen Nationalfeiertag er-hoben wurde, ratifizierte den Zusammenbruch des Absolutismus und wurdein der ganzen Welt als Tag der Freiheit begrüßt. Sogar der strenge PhilosophImmanuel Kant aus Königsberg, dessen Tag so sorgfältig eingeteilt war, daß,wie man sagt, die Bürger der Stadt ihre Uhren nach ihm stellten, verschob, alser diese Nachricht erhielt, seinen Nachmittagsspaziergang und überzeugte da-durch die Stadt Königsberg, daß sich tatsächlich ein welterschütterndes Er-eignis begeben hatte. Von noch größerer Bedeutung aber war die Tatsache,daß der Fall der Bastille die Revolution in den Provinzen auf dem flachenLand auslöste." Hobsbawn, a.a.O., S. 125.

67 G.Le Bon, Psychologie der Massen (übersetzt von R. Eisler), Leipzig 1 9 1 9 3 , S. 5.68 A. Soboul, Robespierre und die Volksgesellschaft, in: Markow (Hg). Maximi-

lien Robespierre 1 7 5 8 - 1 7 9 5 , Berlin 1961 , S. 2 7 1 .69 Vgl. Hobsbawn, a.a.O., S. 130.

308

Page 309: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

70 Vgl. Deppe, a.a.O., S. 3 1 ; Soboul, S. 272.71 Vgl. G. F. Rüde, Die Arbeiter und die Revolutionsregierung, in: Markow,

a.a.O., S. 292 ff.72 Wir kommen auf die Totalitarismustheorie noch im einzelnen an anderer

Stelle zurück, s. Zweites Kapitel (Systematisierung).73 Th. W. Adorno, Eingriffe, Ffm. 1963 (es 10) , S. 163.74 Robespierre, Habt Ihr eine Revolution gewollt? Reden, hg. v. K. Schnelle,

(Reclam) o. J . , S. 146/247 .75 Robespierre, zit. nach: Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie,

Köln/Opladen 1961 , S. 90 f.76 Deppe, a.a.O., S. 3 1 .77 Zit. nach Herrnstadt, R., Die Entdeckung der Klassen, Berlin 1965, S. 174.78 Adorno, a.a.O., S. 130.79 Wir kommen im Zweiten und Dritten Kapitel ausführlich darauf zurück (Tota-

litarismustheorie).80 Zitiert nach: Soboul, a.a.O., S. 273 .81 Griewank, Die Französische Revolution, Graz/Köln 1 9 6 7 3 , S. 79.82 Zit. nach Deppe, a.a.O., S. 36.83 Hobsbawn, a.a.O., S. 141 ff.84 ib., S. 143.85 Vgl. Rüde, a.a.O., S. 293 .86 ib., S. 300.87 ib., S. 308 /9 .88 L. Kofier, Wissenschaft von der Gesellschaft, Köln 1971, S. 54 .

B. Reformation und Bauernkrieg in Deutschland89 G. Lukäcs, Zerstörung der Vernunft, Neuwied/Berlin 1962, S. 37.90 Kühnl, a.a.O., S. 64 ff.91 ib., S. 64.92 Lukäcs, a.a.O., S. 39.93 Kofier, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, S. 273 .94 ib., S. 276 .95 ib., S. 172.96 Lukäcs, a.a.O.97 M. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation, Von der Freiheit

eines Christenmenschen, Sendbrief vom Dolmetschen, Reclam 1578/78a, zit.nach Klett VII , S. 5.

98 O. Brunner, Land und Herrschaft, Wien 1965, S. 253 .99 ib., S. 252 .

100 T. Nipperdey, „Die Reformation als Problem der marxistischen Geschichts-wissenschaft", in: R. Wohlfeil (Hg.), Reformation oder frühbürgerliche Re-volution? , München 1972, S. 208 .

101 ib., S. 210 .102 Vgl. D. Loesche, „Zur Lage der Bauern im Gebiet der ehemaligen freien

Reichsstadt Mühlhausen i. Th. zur Zeit des Bauernkrieges", in E. Werner u.H. Steinmetz (Hg.), Die frühbürgerliche Revolution in Deutschland, Berlin1961.

103 O. Brunner, a.a.O., S. 344 .104 E. Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, Frankfurt am Main

1969, S. 9 8 .105 Vgl. F. Engels, Der deutsche Bauernkrieg, in: Marx-Engels-Werke (MEW),

Bd. 7 (Dietz Verlag), S. 3 3 2 - 3 4 1 u. T. Nipperdey, a.a.O.

309

Page 310: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

106 J. Macek, Das revolutionäre Programm des deutschen Bauernkrieges von1526, in: Historica II Praha 1960, S. 1 1 1 - 1 4 4 .

107 Einen Literaturüberblick bringt H. Wahle, Der deutsche Bauernkrieg als po-litische Bewegung im Urteil der Geschichtsschreibung, in: Geschichte inWissenschaft und Unterricht, Heft 5, 1972 S. 2 5 7 - 2 7 7 .

108 Vgl. W. Berthold u. a. (Hg.) Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung,Köln 1970, S. 1 3 2 - 1 4 1 (Pahl-Rugenstein-Verlag).

109 G. Franz, Der deutsche Bauernkrieg, Berlin—München 1933, Bad Homburg1969, 8. Auflage.

110 G. Franz, Der Deutsche Bauernkrieg, Darmstadt 1956, 4. Aufl., S. 295 .111 Eine Zusammenstellung von Aufsätzen der DDR-Geschichtswissenschaft

und von bundesrepublikanischen Kritiken erfolgt bei R. Wohlfeil (Hg.), Re-formation oder frühbürgerliche Revolution?, München 1972. Die Kontro-verse zwischen der tschechischen Historikerin O. Tschaikowskaja und dersowjetischen Geschichtswissenschaft zu diesem Thema ist abgedruckt inden Jahrgängen 1957 und 1958 der Zeitschrift „Sowjetwissenschaft".

C. Die Arbeiterbewegung112 „Gleich im Beginn des Revolutionssturms wagte die französische Bour-

geoisie das eben eroberte Assoziationsrecht den Arbeitern wieder zu entzie-hen. Durch Dekret vom 14. Juni 1791 erklärte sie alle Arbeiterkoalition fürein .Attentat auf die Freiheit und die Erklärung der Menschenrechte',strafbar mit 500 Livres nebst einjähriger Entziehung der aktiven Bürgerrech-te. Dies Gesetz, welches den Konkurrenzkampf zwischen Kapital und Ar-beit staatspolizeilich innerhalb dem Kapital bequemer Schranken ein-zwängt, überlebte Revolutionen und Dynastiewechsel. Selbst die Schrek-kensregierung ließ es unangetastet . . . Nichts charakteristischer als der Vor-wand dieses bürgerlichen Staatsstreichs. ,Obgleich', sagt Le Chapelier, derBerichterstatter, ,es wünschenswert ist, daß der Arbeitslohn höher steige, alser jetzt steht, damit der, der ihn empfängt, außerhalb der durch die Entbeh-rungen der notwendigen Lebensmittel bedingten absoluten Abhängigkeitsei, welche fast die Abhängigkeit der Sklaverei ist', dürfen dennoch die Ar-beiter sich nicht über ihre Interessen verständigen, gemeinsam handeln unddadurch ihre ,absolute Abhängigkeit, welche fast Sklaverei ist', mäßigen,weil sie eben dadurch ,die Freiheit ihrer ci-devant maîtres (ehemaligen Mei-ster), der jetzigen Unternehmer' verletzen (die Freiheit, die Arbeiter in derSklaverei zu erhalten!)" K. Marx, Das Kapital, Bd. I. MEW 23, S. 769 f.Durch dieses Gesetz wurde die Gleichheit durch die ,Freiheit' erschlagen.Bezeichnenderweise fällt in den Schulbüchern darüber kein Wort. Die Auto-ren hätten sonst zugeben müssen, daß selbst die von ihnen der Radikalitätbezichtigten Jakobiner in Wirklichkeit noch nicht einmal ganz demokra-tisch (gemessen am Grundgesetz der BRD) waren.

113 Bloch, a.a.O., S. 199 (Herv. v. d. Verf.).114 Zit. nach Deppe, a.a.O., S. 4 2 ; vgl. W. Hofmann, Ideengeschichte des 19.

und 20. Jahrhunderts, Berlin 1968 (Sammlung Göschen), S. 4 1 .115 Zur ausführlichen Information seien folgende Gesamtdarstellungen der Ar-

beiterbewegung empfohlen. Die einzelnen Autoren schreiben von verschie-denen politischen Positionen aus und setzen auch inhaltlich unterschied-liche Schwerpunkte, wie den Titeln zu entnehmen ist.Wolfgang Abendroth, Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung,Erweiterte Ausgabe, Frankfurt/Main 1972, (Edition Suhrkamp 106).Ders., Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie, Frankfurt/M.1964 .

310

Page 311: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Werner Hofmann, Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 20.Jahrhunderts . . . a.a.O.Joachim Streisand, Deutsche Geschichte von den Anfängen bis zur Gegen-wart. Eine marxistische Einführung, Köln 1972 (Pahl-Rugenstein-Verlag).Walter Schmidt, Kritik der Geschichtsfälschungen in den Hauptthe-men und Leitlinien des vorherrschenden Geschichtsbildes in der westdeut-schen bürgerlichen Historiographie zur Geschichte der Arbeiterbewegung.In: Werner Berthold u. a. (Hg.), Kritik der bürgerlichen Geschichtsschrei-bung, a.a.O., S. 3 1 1 - 4 5 6 .

116 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Frankfurt/M.(Europäische Verlagsanstalt) o. J . , S. 742,

117 ib., S. 4 1 1 - 1 2 .118 Von dem Geld der reichen Feudalherren kann in diesem Zusammenhang

abgesehen werden, da es sich dabei um eine andere Bestimmung von Geldhandelt: Der Grundherr benutzt das Geld dazu, seine Luxusbedürfnisse zubefriedigen. Es resultiert aus der ihm ständig zufließenden Mehrarbeit derabhängigen Bauern und braucht deshalb nicht als Geld vermehrt zu werden.Es ist kein Erwerbsvermögen, kein Kapital.

119 K. Marx, Das Kapital, Bd. III, MEW 25, S. 3 4 5 .120 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 789 f.121 a.a.O., S. 743 .122 E. Mandel, Marxistische Wirtschaftstheorie, Frankfurt/M 1968 (Suhrkamp

Verlag), S. 97 f.123 Brecht, Ist das epische Theater eine ,moralische Anstalt'? In: ders.: Gesam-

melte Werke. Bd. 15, Frankfurt/M. 1968 (Suhrkamp Verlag), S. 2 7 0 - 2 7 2 ,hier S. 2 7 1 .

124 Vgl. dazu K. Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23. Besonders S. 2 2 6 - 2 3 4 ; S.2 4 5 - 2 5 8 .Werner Hof mann schreibt dazu:„Mit der Mehrwerttheorie hat sich Marx ausdrücklich gegenüber den älterenmoralisierenden Lehren der frühen Sozialkritiker abgegrenzt; Bei diesen er-scheint der Kapitalprofit als vorenthaltener Lohn, als ein ,Raub' an den Ar-beitenden, die ein Recht auf den vollen, ungekürzten Arbeitsertrag haben.Nach Marx hingegen erhalten die Arbeitenden in Gestalt des Lohnes genaudas, worauf sie nach den allgemeinen Gesetzen des Marktes Anspruch ha-ben: Nämlich die volle Vergütung des ,Tauschwerts' ihrer besonderen Ware,der Arbeitskraft . . . Der eigentliche Gegenstand der Kritik ist infolgedessennicht die Höhe des Arbeitslohnes, sondern die gesellschaftliche Grundsitua-tion der Lohnarbeit. Nicht daß die Arbeitskraft auf ihrem Markte niedriggehalten werde, sondern daß sie einen Markt habe, wird nun zum Ärgernis.Ausdrücklich hat Marx das Ideal des ,unverkürzten Arbeitsertrags' als öko-nomische Illusion und als Ausgeburt eines kleinbürgerlichen Pochens aufVerteilungsgerechtigkeit abgefertigt. Dies hat freilich unsere neuen Marx-kenner nicht daran gehindert, die Theorie des Mehrwerts immer wieder überden Leisten der von diesem abgewiesenen Verteilungsmoral zu schlagen . . .Ein elementarer Teil der Marxschen Theorie unterliegt so einer wieder-kehrenden typischen Fehldeutung." (Werner Hofmann, Stalinismus undAntikommunismus. Zur Soziologie des Ost-West-Konfliktes, Frankfurt/M.1957 [edition suhrkamp 222 . ] , S. 136.)

Auch die englische bürgerliche Wirtschaftswissenschaftlerin Joan Robinsonschreibt: „Marxens Analyse war nicht von der Art der naiven Idealisten, diedie Ausbeutung als Diebstahl betrachteten. Im Gegenteil, in einer Art von

311

Page 312: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

logischem Sarkasmus verteidigt er den Kapitalismus. Es gibt keinen Schwin-del — alles tauscht sich zu seinem Wert, wie es recht und billig ist. Nicht derWert, den er produziert, sondern der Wert, den er kostet, entspricht demLohn des Arbeiters." (Joan Robinson, Doktrinen der Wirtschaftswissen-schaft. Eine Auseinandersetzung mit ihren Grundgedanken und Ideologien,München 1965 [Verlag Ch. Beck] , S. 48 . )

125 Ein ähnlich schlagendes Beispiel an Inkonsequenz liefern die Verfasser vonSchroedel/Schöningh VII . Sie schreiben zur Situation der Arbeiter im 19.Jahrhundert: „Der Arbeiter war als Lohnsklave vom Besitzer der Produk-tionsmittel abhängig, und das war die Ursache seines Elends und derKnechtschaft, die sich in langer Arbeit, niedrigen Löhnen, schlechtenWohnverhältnissen, Arbeitslosigkeit, Lohnausfall, bei Krankheit, Invalidität,Alter etc. äußerte . . . " (S. 178) Die Abhängigkeit vom Produktionsmittel-besitzer wird hier vollkommen richtig als „Ursache" von Elend und Knecht-schaft bezeichnet. Die Frage aber, ob nicht auch heute in der BRD „derArbeiter . . . vom Besitzer der Produktionsmittel abhängig . . . " ist, tauchtin der weiteren Darstellung des Geschichtsbuchs gar nicht erst auf. Siemüßte nämlich bejaht werden, was weitreichende Folgen für die Beurteilungunserer Gesellschaft hätte.

126 Nach Werner Petschick, Josef Schleifstein, Helmut Schlüter, Der gewerk-schaftliche Kampf der westdeutschen Arbeiterklasse. In: Das Argument Nr.62, Westberlin 1970, S. 8 2 2 - 8 4 4 , hier S. 837 .

127 Kurt Lungwitz, Die Verteilung und Umverteilung des westdeutschen Na-tionaleinkommens, 1 9 5 0 - 1 9 6 8 . In: DWI-Berichte, Heft 9-1970, Berlin(DDR), S. 2 9 - 3 7 , hier: S. 34 .

128 Werner Hofmann, Grundelemente . . . , a.a.O., S. 56—58. Hervorhebung vonuns.

129 Dasselbe Schulbuch hob als Hauptursache der Französischen Revolution dieUnfähigkeit des Königs hervor!

130 Zu Begriff und Problem des Klassenbewußtseins vergleiche Frank Deppe:Das Bewußtsein der Arbeiter. Studien zur politischen Soziologie des Arbei-terbewußtseins, Köln 1971 (Pahl-Rugenstein Verlag), besonders S.1 9 2 - 1 9 9 .

131 Karl Marx, „Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Wider-standes gegen die Gewalttaten des Kapitals . . . Sie verfehlen ihren Zweckgänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen dieWirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versu-chen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einenHebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d. h. zur endgültigenAbschaffung des Lohnsystems." Aus: Karl Marx, Lohn, Preis und Profit.MEW 16, S. 1 0 3 - 1 5 2 . Hervorhebungen von uns.

132 Vergleiche grundsätzlich zum Problem des Verhältnisses von Reform undRevolution aus marxistischer Sicht: Dieter Kramer, Reform und Revolutionbei Marx und Engels, Köln 1970 (Pahl-Rugenstein Verlag).

133 Vgl. dazu ausführlich: Georg Fülberth, Zur Genese des Revisionismus in derdeutschen Sozialdemokratie vor 1914. In: Das Argument, Nr. 63 . Westber-lin 1971 , S. 1 - 2 1 . Vgl. ferner: Streisand, a.a.O., S. 2 6 0 - 2 6 5 ; Abendroth,Sozialgeschichte . . . , a.a.O., S. 70—74.

134 Vgl. dazu vor allem die Schriften der faschistischen Staatstheoretiker CarlSchmitt, Ernst Forsthoff, Reinhard Höhn usw. Daß Forsthoff und Höhnauch in der BRD an maßgeblicher Stelle im Interesse der Unternehmer wir-ken, ist kein Zufall.

312

Page 313: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

135 Urs Jaeggi, Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik. Frankfurt/M.1969 (Fischer-Bücherei 1014) , S. 162.

136 Vgl. Erziehung und Wissenschaft, Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung(Frankfurt) vom 1. 2. 1973, S. 17.

137 Vgl. dazu Margarete Tjaden-Steinhauer und Karl-Hermann Tjaden, ZurAnalyse der Sozialstruktur des deutschen Kapitalismus. In: Das ArgumentNr. 6 1 , Westberlin 1970, S. 6 4 5 - 6 6 4 , hier besonders S. 6 6 2 - 6 6 4 .

138 Vgl. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1972. Hg.vom Statistischen Bundesamt. Wiesbaden 1972, S. 138.

139 Nach Jörg Huffschmid, Die Politik des Kapitals. Konzentration und Wirt-schaftspolitik in der Bundesrepublik. Frankfurt/M. 1969 (edition suhrkamp313) , S. 33 .

140 Zu den Notstandsgesetzen, insbesondere zum „Arbeitssicherstellungsge-setz", vgl.: Notstandsgesetze. Mit Stichwortverzeichnis und Kurzerläute-rungen von Dr. Peter Römer. Neuwied und Berlin 1968 . (LuchterhandTexte 5 ) . Dort auch weitere Literatur zur gesellschaftspolitischen Problema-tik der Gesetze.

141 Als einziges der untersuchten Geschichtsbücher durchbricht Diesterweg VIteilweise die apologetische Darstellung der BRD. In einem Abschnitt, über-schrieben: „Die Bundesrepublik zwischen Restauration und Reform" (S.242 ff), finden sich unter anderem statistische Daten über Einkommens-und Vermögensentwicklung. Hier werden immerhin Aussagen gemacht wie:„Die soziale Marktwirtschaft hatte zwar den wirtschaftlichen Aufschwungermöglicht . . . jedoch den Anspruch auf soziale Gerechtigkeit nach Ansichtvieler nur unvollkommen erfüllt" (S. 2 4 6 / 4 7 ) .

142 Industriekurier (Düsseldorf) vom 7. 10. 1965.143 Heinz Schäfer, Lohn, Preis und Profit heute. Überarbeitete Ausgabe

Frankfurt/M. 1971 (Verlag Marxistische Blätter), S. 52 .144 Vgl. dazu die Ausführungen im Totalitarismusabschnitt dieses Buches.

Grundsätzlich ist zu sagen, daß in den Schulbüchern der in den westlichenLändern übliche verengte Konsumbegriff benutzt wird: Konsum wird nurverstanden als Verbrauch von Produkten, die durch das individuelle (direk-te) Einkommen erworben wurden. Dagegen umfaßt der Konsumbegriff inden sozialistischen Ländern auch den sogenannten gesellschaftlichen Kon-sum bzw. das indirekte Einkommen, d. h. die gesellschaftlichen Leistungenauf Gebieten wie Gesundheits- und Sozialwesen, Kultur, Bildung,Wohnungswirtschaft, Urlaubs- und Feriengestaltung (so z. B. Karl-Heinz Ar-nold, Lebensstandard — gestern — heute — morgen. In: Die DDR — Ent-wicklung, Aufbau und Zukunft. Frankfurt/M. 1969 [Verlag MarxistischeBlätter], S. 1 0 7 - 1 2 4 ) .Daß bei einem Systemvergleich an Hand dieses weiteren Konsumbegriffs diesozialistischen Länder erheblich günstiger abschneiden als bei Vergleichenan Hand des engen, ist in den letzten Jahren verstärkt auch in das Bewußt-sein der westdeutschen Bevölkerung gedrungen.

145 Vgl. dazu Peter Römer, Die Grundrechte in der BRD und der DDR. In:B R D - D D R , Vergleich der Gesellschaftssysteme (Redaktion Gerhard Heß).Köln 1971 (Pahl-Rugenstein Verlag), S. 2 7 2 - 2 9 6 .

146 Karl Marx schrieb in bezug auf die Pariser Kommune: „Die Kommune soll-te nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein,vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit." (Karl Marx, Der Bürger-krieg in Frankreich. MEW 17, S. 3 1 3 - 3 7 5 , hier S. 339) Dieses Ziel ist z. B.in der Verfassung der DDR explizit formuliert (vgl. Art. 4 8 ) . Die Justiz ver-

313

Page 314: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

liert nach Marx ebenfalls ihre „scheinbare Unabhängigkeit": „Wie alle übri-gen öffentlichen Diener, sollten sie (die richterlichen Beamten, d. Verf.)fernerhin gewählt, verantwortlich und absetzbar sein" (a.a.O., S. 339) .Auch diese Forderung ist in der DDR Bestandteil der Verfassung (vgl. Art.9 5 ) .

147 Vgl. zur Fürstenenteignung z. B. Wolfgang Rüge, Weimar - Republik aufZeit, Berlin (DDR) 1969 (Deutscher Verlag der Wissenschaften), S.1 9 2 - 2 0 1 .

148 Hilmar Toppe, Der Kommunismus in Deutschland, München 1961 (VerlagGünter Olzog), S. 56 .

149 Vgl. dazu Gerhard Roßmann, Zum antifaschistischen Widerstandskampf.In: Werner Berthold u. a. (Hg.), Kritik der bürgerlichen Geschichtsschrei-bung, a.a.O., S. 421—435. Zum Widerstand der Arbeiterbewegung vgl. Wolf-gang Abendroth: Der deutsche politische Widerstand gegen das „DritteReich". In: ders.: Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie.Neuwied und Berlin 1965 (Luchterhand Verlag), S. 5 1 8 - 5 3 6 .

150 Zur Darstellung der Arbeiterbewegung nach 1945 vgl. den Abschnitt überden Kalten Krieg in diesem Buch sowie Abendroth, Sozialgeschichte . . . ,a.a.O., S. 156—248. Detailliertere Darstellungen finden sich bei EberhardSchmidt: Die verhinderte Neuordnung 1945—1952. Zur Auseinanderset-zung zur Demokratisierung der Wirtschaft in den westlichen Besatzungs-zonen und in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt/M. 1970 (Euro-päische Verlagsanstalt). Hans-Karl Rupp, Außerparlamentarische Opposi-tion in der Ära Adenauer. Der Kampf um die Atombewaffnung in den 50erJahren. Eine Studie zur innenpolitischen Entwicklung der BRD, Köln 1970(Pahl-Rugenstein Verlag).

151 Vgl. dazu Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Uto-pie zur Wissenschaft. MEW 19, S. 1 7 7 - 2 2 8 .

152 Quelle: Bruno Gleitze, Sozialkapital und Sozialfonds als Mittel der Vermö-genspolitik, Köln 1968, S. 6, hier nach Huffschmid a.a.O., S. 29.

153 Huffschmid a.a.O., S. 29.154 Vgl. das Statistische Jahrbuch für die BRD, 1966, S. 4 4 ; hier zitiert nach:

Schäfer, a.a.O., S. 45 .155 Ebenda.156 IPW-Forschungsberichte, 1/1972, S. 13; vgl. auch Huffschmid, a.a.O., S.

33 ff.157 Vgl. J. Hirsch/S. Leibfried, Materialien zur Wissenschaftspolitik, Frankfurt/M.

1971 (edition suhrkamp 4 8 0 ) , 1. Kap.158 Vgl. Schäfer, a.a.O., S. 30 .159 Vgl. dazu: Gerhard Bessau, Eberhard Dähne, Karl-Heinz Heinemann, Heinz

Jung, Inflation heute. Hintergründe der Preissteigerungen und der Geldent-wertung in der B R D . Gewinner und Verlierer, Frankfurt/M. 1972 (VerlagMarxistische Blätter), S. 29.

160 Vgl. ebenda S. 3 1 ; sowie Tjaden-Steinhauer, Tjaden, a.a.O., S. 6 5 8 .161 Vgl. Bessau u. a., a.a.O., S. 88 .162 Vgl. dazu Ernest Mandel, Die deutsche Wirtschaftskrise. Lehren der Rezes-

sion 1 9 6 6 - 6 7 , Frankfurt/M., 1 9 7 2 8 (Europäische Verlagsanstalt).163 Huffschmid, a.a.O., S. 7.164 Schäfer, a.a.O., S. 4 8 .165 Ebenda, S. 106.166 Bessau u. a., a.a.O., S. 27.167 Zum Begriff der „relativen Verelendung" vgl. Werner Hofmann, Verelen-

314

Page 315: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

dung, in: Folgen einer Theorie. Essays über „Das Kapital" von Karl Marx.S. 2 7 - 6 0 .

168 Zit. nach Abendroth, Aufstieg und Krise . . . , a.a.O., S. 133 /134 .169 Vgl. Schäfer, a.a.O., S. 53 ff.170 Petschick, Schleifstein, Schlüter, a.a.O., S. 835 .171 Zum Problem der Mitbestimmung vgl. vor allem Frank Deppe u. a., Kritik

der Mitbestimmung. Partnerschaft oder Klassenkampf? Frankfurt/M. 1969(edition suhrkamp 3 5 8 ) . Mitbestimmung als Kampfaufgabe. Grundlagen — Möglichkeiten — Zielrichtungen. Eine theoretische, ideologiekritische undempirische Untersuchung zur Mitbestimmungsfrage in der Bundesrepublik.Köln 1972 (Pahl-Rugenstein Verlag).

D. Russische Oktoberrevolution und Novemberrevolution in Deutschland172 O. Anweiler, Lenins Machteroberung 1917. In: Geschichte in Wissenschaft

und Unterricht VIII (1957) , S. 6 6 8 .173 Zum 100. Geburtstag Wladimir Iljitsch Lenins. Thesen des Zentralkomitees

der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Sonderdruck aus: Marxisti-sche Blätter, Frankfurt/M. 8. Jg . , 1/1971, S. 9.

174 Ebenda.175 O. Anweiler, Die russische Revolution 1 9 0 5 - 1 9 2 1 (Ernst-Klett-Verlag),

Stuttgart 1 9 6 6 3 , S. 1.176 Autorenkollektiv, Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion

(Verlag Marxistische Blätter), Frankfurt/M. 1971 , S. 224 ff. vgl.: Autoren-kollektiv, Illustrierte Geschichte der Großen Sozialistischen Oktoberrevolu-tion (Dietz-Verlag), Berlin (DDR) 1972, S. 10 ff.Vgl. auch: W. H. Chamberlin, Die russische Revolution 1917—1921,Frankfurt/M. 1958 (2. Bd.), Bd. 1, S. 61 f sowie A. Moorehead, RoterOktober, München 1968, S. 12 ff.

177 Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, a.a.O., S. 233; Il-lustrierte Geschichte . . . , a.a.O., S. 30 f. Der Zusammenhang zwischen derKriegspolitik der Provisorischen Regierung und den Interessen des französi-schen und englischen Kapitals wird in den nichtmarxistischen Darstellungennicht gesehen. Implizit wird er jedoch zugeben, wenn z. B. G. v. Rauch zumbolschewistischen Dekret über die Annullierung der Staatsschuldenschreibt: „Damit wurden die Millionen Anleihen mit einem Federstrich aus-gelöscht, die, besonders von französischer Seite, schon seit dem Ende desvorigen Jahrhunderts die damalige Aufrüstung und Kriegsvorbereitung Ruß-lands ermöglicht hatten." (G. v. Rauch, Geschichte des bolschewistischenRußland, Wiesbaden 1955, S. 105)

178 Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, a.a.O., S. 219;vgl. W. I. Lenin, Uber die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigenRevolution, in: Werke, Bd. 24, S. 3 ff.

179 W. I. Lenin, Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll, in:Werke, Bd. 25, S. 367.

180 Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, a.a.O., S. 295 ; Il-lustrierte Geschichte . . . , a.a.O., S. 136 f, S. 266 ff, S. 300 ff; W. I. Lenin,Thesen über die Konstituierende Versammlung, in: Werke, Bd. 26, S.377 ff.Ebenso wie die Schulbuchautoren bestreiten die nichtmarxistischen Histo-riker, daß die Bolschewiki zusammen mit den linken Sozialrevolutionärenim Januar 1918 die Mehrheit des Volkes vertraten. Dabei ist ihre Argumen-tation äußerst widersprüchlich und unbewiesen. L. Schapiro z. B. gesteht

315

Page 316: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

zu, daß auf dem II. Sowjetkongreß (also der Arbeiter- und Soldatenvertre-tung von Oktober 1917) „eine kleine bolschewistische Mehrheit" bestand(L. Schapiro, Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion,Fischer Verlag, Berlin 1961 , S. 178) . O. Anweiler stellt fest, daß in denstädtischen Stimmbezirken und in der Armee auch bei den Wahlen zurKonstituante mehrheitlich bolschewistische Abgeordnete gewählt wurden,gibt also implizit zu, daß die Zusammensetzung des II. Sowjetkongressesdurchaus repräsentativ war (O. Anweiler, Die Rätebewegung in Rußland,1905 bis 1921 , Leiden 1958, S. 260 ff).Anweiler referiert außerdem ausführlich die Leninsche Argumentation, der-zufolge die Kandidatenlisten der Partei der Sozialrevolutionäre nicht mehrrepräsentativ seien und verwirft sie anschließend als unbeweisbar — ohneselbst das Gegenteil zu beweisen. Mit der Zusammensetzung des II. Kon-gresses der Sowjets der Bauerndeputierten vom 26. Nov. bis 10. Dez. 1917(ca. 350 rechte Sozialrevolutionäre, 350 linke Sozialrevolutionäre, 90 Bol-schewiki), die den Wandel des politischen Bewußtseins der Bauern doku-mentiert, setzt er sich in diesem Zusammenhang nicht auseinander. WiePhönix aus der Asche erscheint bei Schapiro der III. Sowjetkongreß (Ver-einigter Kongreß der Arbeiter, Soldaten und Bauerndeputierten) vom Jan.1918 plötzlich „manipuliert" (Schapiro, a.a.O., S. 198) .Allerdings hinterläßt diese Argumentationskette, die den demokratischenCharakter der Rätemacht leugnen will, zumindest für O. Anweiler eine Fra-ge, die er nicht beantworten kann: Wenn die Bolschewiki die Konstituantegegen den Willen der Mehrheit des Volkes aufgelöst haben, warum hat sichdieses (in jener Zeit doch sonst politisch äußerst aktive) Volk nicht mitDemonstrationen und Streiks gegen die Bolschewiki gewandt? Anweilermuß feststellen: „Im Volke fehlte es fast vollständig an Protesten gegen diebolschewistische Gewaltmaßnahme." (O. Anweiler, a.a.O., S. 273) — Eineberechtigte Frage, die allerdings nur beantworten kann, wer die Räte alseine Form der Demokratie akzeptiert und sie nicht als Instrumente einerMinderheitendiktatur diffamiert.

181 Illustrierte Geschichte . . . , a.a.O., S. 306 .182 Albrecht v. Thaer, Generalstabsdienst an der Front und in der OHL, hg. von

Siegfried A. Kaehler, Göttingen 1958, S. 234 f, zit. nach Gerhard A. Ritterund Susanne Miller (Hg.), Die deutsche Revolution 1918—19 — Dokumen-te. (Fischer Verlag) Frankfurt 1968, S. 24. (Alle weiteren Dokumente zurNovemberrevolution sind ebenfalls nach diesem Dokumentenband zitiert.)

183 Auszug aus den Erinnerungen des Oberst Hans von Haeften, veröffentlichtin: Matthias Morsay, Die Regierung des Prinzen Max von Baden, S. 559 ff,Ritter, a.a.O., S. 5 1 .

184 Ebenda.185 Max von Baden, Erinnerungen und Dokumente, Berlin und Leipzig 1928, S.

6 3 0 - 6 4 3 ; Ritter, a.a.O., S . 6 6 - 7 1 .186 Ritter, a.a.O., S. 37.187 Allgemeiner Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands vom 16.

bis 21 . Dezember 1918 im Abgeordnetenhaus zu Berlin. StenographischeBerichte. Herausgeber und Verleger: Zentralrat der Sozialistischen RepublikDeutschlands, Berlin, Herrenhaus, o. J. (1919) , S. 181 ; Ritter, a.a.O., S. 143.

188 Hans Herzfeld, Die deutsche Sozialdemokratie und die Auflösung dernationalen Einheitsfront im Weltkriege, Leipzig 1928 , S. 385 ff; Ritter, S.124.

189 Ebenda, S. 125.

316

Page 317: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

190 Richard Müller, Vom Kaiserreich zur Republik, 2. Bd.: Die Novemberrevo-lution, Wien 1924, S. 1 6 8 - 1 7 5 ; Ritter, a.a.O., S. 118 f.

191 Richard Müller, Der Bürgerkrieg in Deutschland. Geburtswehen der Repu-blik, Berlin 1925, S. 3 0 - 3 6 ; Ritter, a.a.O., S. 163.

192 Karl Liebknecht, Trotz alledem! Leitartikel in „Die Rote Fahne", Nr. 15vom 15. 1. 1919; Ritter, a.a.O., S. 180.

E. Das Ende der Weimarer Republik193 Margherita von Brentano hat am Beispiel des Wissenschaftspluralismus ge-

zeigt, daß eine Argumentation wie die des hier zitierten Schulbuchs demeigenen Anspruch der Verfasser (demokratisch bzw. pluralistisch zu sein)widerspricht. Vgl. Margherita von Brentano, Wissenschaftspluralismus. ZurFunktion, Genese und Kritik eines Kampfbegriffes, in: Das Argument Nr.66 , West-Berlin 1971 , S. 4 7 6 - 4 9 3 .

194 Es wäre interessant und im Sinne einer ideologiekritischen Analyse ergiebigzu untersuchen, wie die Weltwirtschaftskrise in den Schulbüchern darge-stellt und erklärt wird. Schon eine oberflächliche Betrachtung zeigt, daß inden meisten Büchern eine wirkliche Erklärung der Weltwirtschaftskrisefehlt, so daß sie den Schülern als eine Art Naturereignis erscheinen muß(Beispiel: , , . . . als . . . plötzlich eine schwere Krise hereinbrach." Klett VI ,S. 48 , Hervorhebung von uns). In keinem der Schulbücher wird ein systema-tischer Zusammenhang von Weltwirtschaftskrise und kapitalistischem Sy-stem entwickelt, obwohl die Krise in allen kapitalistischen Ländern auftrat(vgl. dazu Eugen Varga, Die Krise des Kapitalismus und ihre politischenFolgen, hg. und eingeleitet von Elmar Altvater, Frankfurt/M. 1969, Euro-päische Verlagsanstalt). Aus Platzgründen kann auf diese Fragen hier nichtnäher eingegangen werden.

195 Heinrich Brüning, Memoiren 1 9 1 8 - 1 9 3 4 , Stuttgart 1970 (Deutsche Ver-lagsanstalt). Vgl. dazu auch die folgende Schrift von Emil Carlebach, derBrünings Memoiren einer historisch-politischen Interpretation unterzieht:Von Brüning zu Hitler. Das Geheimnis faschistischer Machtergreifung,Frankfurt/M. 1971 (Röderberg-Verlag).

196 Vgl. Brüning, a.a.O., besonders S. 1 9 2 - 1 9 8 ; Carlebach, a.a.O., S. 9 - 1 4 .197 Vgl. Brüning, a.a.O., z. B. S. 193, 195.198 Carlebach, a.a.O., S. 13.199 Vgl. dazu: KPD-Verbot, Ursachen und Folgen, 1 9 5 6 - 7 1 , hg. von Max Rei-

mann u .a . Frankfurt/M. 1971 (Verlag Marxistische Blätter). Vgl. dazuWolfgang Abendroth, Das KPD-Verbotsurteil des Bundesverfassungsge-richts. Ein Beitrag zum Problem der richterlichen Interpretation vonRechtsgrundsätzen der Verfassung im demokratischen Staat, in: ders.: An-tagonistische Gesellschaft und politische Demokratie. Aufsätze zur politi-schen Soziologie, Neuwied/Berlin 1967 (Luchterhand), S. 1 3 9 - 1 7 4 .

200 Rainer Lohse, Reinhaltung des Staatsapparats. Kommunistenverfolgungunter veränderten Bedingungen, in: Sozialistische Politik 17, West-Berlin1972, S. 55—65. Gerhard Stuby, Stehen wir vor einem neuen Sozialistenge-setz? In: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/1972, Köln, S.59—76. Ders.: Der Widerstand gegen die Beschlüsse der Ministerpräsidenten-konferenz vom 28. Januar 1972 und ihre Auswirkungen, in: Blätter fürdeutsche und internationale Politik 1/1973, S. 2 5 - 3 9 .

201 Vgl. dazu Kühnl, a.a.O., bes. S. 9 9 - 1 1 7 . Eberhard Czichon, Wer verhalfHitler zur Macht? Zum Anteil der deutschen Industrie an der Zerstörungder Weimarer Republik, Köln 1967 (Pahl-Rugenstein Verlag). Kurt Goss-

317

Page 318: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

weiler/Reinhard Kühnl/Reinhard Opitz, Faschismus: Entstehung und Ver-hinderung. Materialien zur Faschismusdiskussion, Frankfurt/M. 1972(Röderberg Verlag). Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozial-wissenschaften, West-Berlin 1959 ff, Nr. 4 1 : Staat und Gesellschaft imFaschismus, Nr. 47: Faschismus und Kapitalismus, Nr. 5 8 : Faschismustheorie.

202 Kühnl, a.a.O., S. 105 f.203 Zit. nach Carlebach, a.a.O., S. 53 .204 Kurt Gossweiler, Über Wesen und Funktion des Faschismus, in: Gossweiler

u. a., a.a.O., S. 12.205 Kühnl, a.a.O., S. 125. Für detailliertere Belege für die These, daß der

Faschismus die Ausbeutungsbedingungen für das Kapital verbessert, vgl.Kühnl, a.a.O., S. 122 ff, sowie die faktenreiche Darstellung von JürgenKuszynski, Die Geschichte zur Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus,Bd. 6: Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1933—1945,Berlin (DDR) 1964 (Akademie-Verlag).

206 Kühnl, a.a.O., S. 114.207 Vgl. dazu aus verschiedener Sicht: Kühnl, a.a.O., S. 116 f. Abendroth,

Sozialgeschichte . . . a.a.O., S. 111 — 118. Wolfgang Rüge, Weimar — Repu-blik auf Zeit, Berlin (DDR) 1960 (Deutscher Verlag der Wissenschaften),besonders S. 263 ff.

208 Hermann Remmele, Schritthalten! Warum muß der Kampf gegen zweiFronten gerichtet werden? In: Klaus Neukrantz, Barrikaden am Wedding.Der Roman einer Straße aus den Berliner Maitagen 1929, West-Berlin 1971(Oberbaum Verlag).

209 Aufruf der KPD vom 30 . Januar 1933 zum Generalstreik. Nach: Der deut-sche Kommunismus, Dokumente, hrsg. und kommentiert von Hermann We-ber, 2. Aufl., Köln und Berlin 1964 (Kiepenheuer & Witsch), S. 3 3 9 - 3 4 0 .

210 Zur Darstellung der Ereignisse um den Kapp-Putsch, vgl. Rüge, a.a.O., S.52—75; ausführlicher: Erhard Lucas, Märzrevolution im Ruhrgebiet. VomGeneralstreik gegen den Militärputsch zum bewaffneten Arbeiteraufstand,März/April 1920, 1. Bd., Frankfurt/M. 1970, 2. Bd. noch nicht erschienen.(März-Verlag)

211 Autorenkollektiv, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 5 (Dietz Verlag), Berlin 1966, S. 18.

212 Brüning, a.a.O., S. 3 3 .213 Zum Verhalten der SPD in der Reichstagssitzung am 17. 5. 1933 vergl. die

Memoiren des SPD-Abgeordneten W. Hoegnt., Der schwierige Außenseiter.Erinnerungen eines Abgeordneten, Emigranten und Ministerpräsidenten,München 1959, S. 1 0 7 - 1 1 0 .

214 Zur Rolle des Neofaschismus sowie allgemein zu den reaktionären Kräftenin der BRD vergl.: H. Jung u. E. Spoo (Hg.), Das Rechtskartell. Reaktion inder Bundesrepublik (Reihe Hanser). München 1 9 7 1 ; Reinhard Kühnl, Rai-ner Rilling, Christine Sager, Die NPD. Struktur, Ideologie und Funktion ei-ner neofaschistischen Partei, Frankfurt/M. 1969 (edition suhrkamp); Rein-hard Kühnl, Die von Franz Josef Strauß repräsentierten politischen Kräfteund ihr Verhältnis zum Faschismus. Ein Gutachten, in: Blätter für deutscheund internationale Politik 5 /1972 , S. 5 3 1 - 5 5 3 .

215 R. Opitz, Wie bekämpft man den Faschismus? In: Gossweiler u. a., a.a.O.,S. 46 ff.

318

Page 319: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

F. Der Kalte Krieg216 Zu den Ursachen siehe Kapitel III (Zum Ideologiebegriff).217 D. Horowitz, Kalter Krieg. Hintergründe der US-Außenpolitik von Jalta bis

Vietnam, Bd. I—II, Bd. I, S. 21 f.218 Vgl. Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 5 2 - 5 3 .219 Kennan zitiert nach Horowitz, Strategien der Konterrevolution. Westliche Ein-

dämmungspolitik 1917 bis Vietnam, Darmstadt 1969, S. 14 f.220 Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 66 .221 Autorenkollektiv, BRD - DDR, a.a.O., S. 15.222 Vgl. ebenda.223 J. Sajewa, Die USA im Geschäft mit der Angst, Frankfurt/M. 1971, S. 15.224 Vgl. ebenda S. 14.225 E. Mandel, Die EWG und die Konkurrenz Europa-Amerika, Frankfurt/M.

4 1 9 7 0226 Vgl. Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 2 0 - 2 1 .227 Autorenkollektiv, Weltgeschichte in 10 Bänden, Bd. 8, Berlin (DDR) 1966,

S. 255 , siehe auch William, Die Amerikanische Intervention in Rußland1 9 1 7 - 1 9 2 0 . In: Horowitz, Konterrevolution, S. 3 2 - 9 2 .

228 Churchill, zit. nach Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 36.229 Truman, zit. nach Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 45—48.230 Autorenkollektiv BRD-DDR, a.a.O., S. 17.231 Vgl. G. Alperovitz, Atomare Diplomatie: Hiroshima und Potsdam, München

1966.232 Vgl. Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 4 5 - 4 8 .233 Ebenda, S. 46 .234 Vgl. Kuczynski, Lage der Arbeiter, Bd. 7 a, a.a.O., S. 17, siehe dort aucn S.

14—29 (Zur Politik der westlichen Alliierten am Ende des 2. Weltkrieges).Zur Kontinuitätsthese der amerikanischen Außenpolitik seit 1917 sieheauch Fleming, The Cold War and its Origins, Vol. 1, 1 9 1 7 - 1 9 5 0 , GardenCity, New York 1961 , und Horowitz, Konterrevolution, a.a.O.

235 Vgl. Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 2 2 - 4 3 .236 Vgl. ebenda, S. 6 5 - 6 6 .237 Ebenda, S. 15.238 Ebenda II, S. 166.239 Ebenda I, S. 79. Zum Thema Iran, siehe auch ebenda, S. 77—78 und S.

172—176 und: Nazari, Der ökonomische und politische Kampf um das ira-nische Erdöl, Köln 1971 , bes. Seite 1 0 6 - 1 6 5

240 Zu Griechenland siehe Horowitz, Kalter Krieg I, S. 49 , 55—59 und 179 undII, S. 164/65 , zur Haltung Stalins bes. ebenda I, S. 72—73. Siehe auch JohnBaggeley, Der Weltkrieg und der Kalte Krieg, in: Horowitz, Strategien,a.a.O., S. 93—156, und Todd Gitlin, Konterrevolution in Griechenland:Mythos und Wirklichkeit, in Horowitz, a.a.O., S. 176—231, zur Zahl undBedeutung der Kommunisten in der EAM, ebenda, S. 81—88.

241 Abendroth, Sozialgeschichte . . . , a.a.O., S. 148.242 Ebenda.243 Auf die Türkei wird hier nicht eingegangen.244 Vgl. zur Liste Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 12 u. 31 .245 Zu Vietnam siehe auch ebenda, S. 138—150.246 Ebenda, S. 65 u. 66 .247 Zur militärischen und ökonomischen Expansion der USA siehe ebenda, S.

74—77, und II, S. 188—191. Die Verteidigungsausgaben eines der Paktsy-steme der USA, der NATO, beliefen sich 1963 auf 71 Milliarden Dollar, die

319

Page 320: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

des gesamten Warschauer Vertrages dagegen nur auf 37 Milliarden Dollar.248 Vgl. etwa den Zusammenhang zwischen Außenpolitik und den Interessen

einzelner amerikanischer Großkonzerne am Beispiel der United Fruit Com-pany in Südamerika, besonders Guatemala (Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O.,S. 150—172), und am Beispiel des iranischen Erdöls, wo die USA das briti-sche Monopol brachen und mit 40 % an einem internationalen Konsortiumbeteiligt wurden (ebenda, S. 172—176, vgl. außerdem Nazari, IranischesErdöl, a.a.O.).

249 Vgl. Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 4 8 - 4 9 . Zur Situation in Osteuropa,zu Stalin und den sowjetischen Interessen vgl. ebenda I, S. 1 3 8 — 1 4 0 , 4 4 , 4 5 ,4 8 - 5 0 , 6 7 - 7 2 u . 7 8 - 8 4 sowie II, S . 44 , 4 5 - 5 7 , 58 und 1 6 7 - 1 6 8 , zum„Stillhalten" der kommunistischen Parteien siehe Abendroth, Sozialge-schichte . . . , a.a.O., S. 1 4 7 - 1 5 3 , 157, 1 6 4 - 1 6 8 , außerdem Schmidt/Fich-ter, Der erzwungene Kapitalismus, Berlin 1971 , S. 80—87; zum Stalinismussiehe Hofmann, Stalinismus . . . , a.a.O. Außerdem den Totalitarismusab-schnitt im Systematisierungskapital.

250 Horowitz, Kalter Krieg II, a.a.O., S. 44 .251 Vgl. Hofmann, Stalinismus . . . , a.a.O., S. 1 5 2 - 1 5 5 .252 Vgl. das Kapital über Ideologie.253 Richert, Das zweite Deutschland. Ein Staat, der nicht sein darf, Frank-

furt/M. u. Hamburg 1966, S. 30 f.254 Eberhard Schmidt, Neuordnung, a.a.O., S. 21 .255 Vgl. dazu ebenda S. 2 1 - 2 4 , siehe auch Schmidt/Fichter, a.a.O., S. 7 1 - 8 0 ,

außerdem: Autorenkollektiv, B R D - D D R , a.a.O., S. 3 0 - 3 4 .256 Horowitz, Kalter Krieg II, a.a.O., S. 4 6 .257 Ebenda, S. 46 , 47, 5 1 .258 Erwähnt wird ein Vorstoß in Schroedel/Schöningh II, Dieserweg III, Klett

II , Klett VI , und Diesterweg VI , Kritik üben das 1., 3. und letzte der ge-nannten Bücher.

259 Für Italien siehe Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 7 6 - 7 7 , für andere Staa-ten siehe Autorenkollektiv, Geschichte 10, Berlin (DDR) 1972, S. 3 2 - 3 6 .

260 Schmidt/Fichter, a.a.O., S. 102, ebenso Kuczynski, Lage der Arbeiter . . . ,Bd. 7 a, a.a.O., S. 2 7 - 2 9 .

261 Vgl. Schmidt/Fichter, a.a.O., S. 1 2 - 1 3 , 2 5 - 3 0 , 42 und 44 .262 Vgl. ebenda, S. 32.263 Eberhardt Schmidt, Neuordnung, a.a.O., S. 8 5 .264 W. Abendroth, Das Grundgesetz. Eine Einführung in seine politischen Pro-

bleme, Pfullingen 1966, S. 26 f.265 Vgl. Schmidt, Neuordnung, a.a.O., S. 193, siehe auch S. 1 5 0 - 1 5 6 , und

Abendroth, Grundgesetz, a.a.O., S. 132.266 Schmidt, Neuordnung, a.a.O., S. 55 , zum Verhältnis der US-Amerikaner ge-

genüber den Wirtschaftsführern, siehe ebenda S. 54—57.267 Schmidt/Fichter, Kapitalismus, a.a.O., S. 132, zur Entnazifizierung, s.

ebenda, S. 1 1 7 - 1 3 3 , Schmidt, Neuordnung, a.a.O., S. 5 4 - 5 7 , und Auto-renkollektiv, B R D - D D R , a.a.O., S. 2 5 6 - 2 6 4 . Dort findet sich auf S.2 5 1 - 2 5 6 auch eine Darstellung der „Entnazifizierung in der DDR" , wo Be-lastete wie Lehrer, Richter und Verwaltungsbeamte auch auf Kosten derEffizienz rigoros aus ihren Stellungen entfernt wurden, man die Mitläuferaber zur positiver Mitarbeit zu gewinnen suchte. S. auch Abendroth, Grund-gesetz, a.a.O., S. 22.

268 Vgl. auch zur Frage der Einkommensverteilung das Kapitel über die Arbei-terbewegung, wo man sehen kann, daß die „kleinen Leute" nicht nur bei

320

Page 321: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

der Währungsreform die Zeche für die „Sachmittelbesitzer" zu zahlen ha-ben, sondern es ständig tun müssen.

G. Kolonialismus und Entkolonisierung — Imperialismus und Drit te Welt269 An dieser Stelle kann nur der fragwürdigste Versuch genannt werden: Durch

die ethymologische Klärung des Wortes Imperialismus („Imperium") unddie Reduktion des Inhalts, der diesen Begriff kennzeichnet, auf kriegerischeAuseinandersetzungen, findet man seit der Antike permanent Imperialis-men.

270 Von hier aus gelangt man konsequent zu der These: Es war immer schon sound wird deshalb immer so bleiben — eine ideologische Verbrämung desGlaubens an die „Universalität" des Bestehenden.

271 Vgl. dazu das Zahlenmaterial in: Harry Magdoff, Das Zeitalter des Impe-rialismus, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. (o. J . ) , und in E. Mandel,Marxistische Wirtschaftstheorie, Bd. II , Frankfurt/M. 1972.

272 Vgl. Karl Marx, Das Kapital I, MEW 23, S. 792.273 Mandel, a.a.O., S. 453 f.274 Im übrigen ist die die gesamte bürgerliche Literatur zum Imperialismus

durchziehende Behauptung, der Imperialismus gründe auf einer Massenbe-wegung, einem „Nationalismus der „Massen", der „nach außenpolitischerMachterweiterung drängte", wissenschaftlich nicht haltbar. Richtig ist, daßmit Hilfe eines raffiniert angewandten Propagandaapparates Teile der Bevöl-kerung der kapitalistischen Länder zu dem Glauben an die Einheit von All-gemeinwohl und Kapitalinteresse verführt wurden. Die Empfänglichkeit be-stimmter Schichten (vor allem der kleinbürgerlichen) für Chauvinismus undSozialdarwinismus wäre aber wiederum historisch-gesellschaftlich zu be-gründen. Die Arbeiterklasse, die ja auch und gerade nach bürgerlichem Ver-ständnis die „Masse" darstellt, wurde von der nationalistischen Bewegungkaum berührt (so resultierte die verhängnisvolle Bewilligung der Kriegskre-dite durch die SPD-Reichstagsfraktion am 4. Aug. 1914 nicht nur aus demSozialchauvinismus von Teilen der Sozialdemokratie, sondern auch aus derTatsache, daß man in mangelhafter Erkenntnis des imperialistischen Cha-rakters des Krieges glaubte, Deutschland gegen den „Hort der Reaktion",das russische Zarenreich, verteidigen zu müssen).

275 Diese Fakten (Wirtschaftskrise und ihre Folgen) werden nur in 2 Büchernaufgeführt: Schrödel II, S. 6 6 ; Diesterweg III, S. 7.

276 Um an dieser Stelle eine naheliegende Frage zu stellen: Wo liegt der Unter-schied imperialistischer Praxis um die Jahrhundertwende und der USA-Ag-gressionen der 60er Jahre im 20. Jahrhundert? So heißt es in amerikani-schen Stellungnahmen, es gälte in Vietnam Freiheit und Demokratie zu ver-teidigen, wenn es sein muß mit kriegerischen Mitteln.

277 Das ist kein Werturteil. Es soll angedeutet werden, daß die „Oberfläche"der Gesellschaft (das tagtäglich empirisch Wahrnehmbare) keinen direkten Aufschluß geben kann über ihr Wesen, ihre inneren Antriebskräfte undKausalbeziehungen.

278 Hierin ist der Grund zu sehen, warum die Darstellung über England und dasCommonwealth einen unverhältnismäßig großen Raum einnimmt, dagegenPortugal, Belgien und Holland kaum erwähnt werden.

279 Diese Frage muß durchgängig gestellt werden, denn — bis auf zwei oder dreiAusnahmen (Australien, Kanada) — muß im englischen Commonwealthvon einer nicht überwundenen Unterentwicklung gesprochen werden. Be-trachtet man das Beispiel Indiens, so entlarvt sich auch der ideologische,

321

Page 322: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

verschleiernde Charakter des Wortes Commonwealth (allgemeiner Reich-tum).

280 Daß diese beiden Forderungen identisch sind, wird im folgenden (sieheText) deutlich werden. Kommunismus bedeutet nämlich die Beseitigungdes Privateigentums — die Gegensätze von Reichtum und Armut beruhenauf diesem Privateigentum.

H. Die Darstellung des wissenschaftlichen Sozialismus281 Walter Theimer, Der Marxismus, Bern und München, 5. durchgesehene und

ergänzte Auflage 1969, S. 4.282 Ebenda, S. 5.283 Siehe Werner Hofmann, Zur Soziologie des Antikommunismus, in: W. Hof-

mann, Stalinismus und Antikommunismus, a.a.O., S. 134.284 Auf die kursorische Behandlung des Marxismus in der Philosophiegeschichte

z. B. hat u. a. Karl Korsch hingewiesen: ,,So widmet Kuno Fischer in seiner9bändigen ,Geschichte der neueren Philosophie' eine Seite (1170) des derHegeischen Philosophie gewidmeten Doppelbandes dem (Bismarckschen).Staatssozialismus' und dem .Kommunismus', als deren Begründer er einer-seits Ferdinand Lassalle, andererseits den in zwei Zeilen erledigten KarlMarx n e n n t . . . In Überweg-Heinzes .Grundriß der Geschichte der Philoso-phie vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart' (e. d. Öster-reich 1916, 11. Aufl.) beschäftigen sich mit Marx-Engels' Leben und Lehreimmerhin zwei Seiten (208 /209) . . . " Karl Korsch, Marxismus und Philo-sophie, Frankfurt/M. 1966, S. 73.

285 Hampel-Seilnacht, Wir erleben die Geschichte, München 1966, S. 140.286 Ebenda, S. 140.287 Heinz Becker, Staatsbürger von morgen, Bad Homburg, 19. Aufl. 1964, S.

98 .288 Hugo Andreae, Zur Didaktik der Gemeinschaftskunde, Beltz-Verlag, Wein-

heim 1960, S. 125 (Hervorhebung von uns).289 Hermann Meyer, Themen zur Politik, Reihe: Unterrichtseinheiten, Beltz-

Verlag, Weinheim 1971 , S. 190.290 Ebenda, S. 191.291 Iring Fetscher, Von Marx zur Sowjetideologie, Frankfurt/M. 1972, S. 6.292 Ludwig Heibig, Sozial- und Gemeinschaftskunde, Lehrerhandbuch, Bd. 4,

hg. von Hermann Meyer, Verlag Julius Beltz, Weinheim u. Berlin, S. 215 .293 Karl Marx, Lohnarbeit und Kapital, MEW 6, S. 407 .294 Ebenda295 Erich Hahn, Zur Kritik des bürgerlichen Bewußtseins, in: K. Lenk (Hg.),

Ideologie, Neuwied, 1967, S. 148.296 Karl Mielcke, Historischer Materialismus — Die Lehren von Karl Marx,

Ernst Klett Verlag, Stuttgart, o. J . , S. 14.297 Karl Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW

19, S. 15.298 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, S. 232 .299 ib. S. 233 .300 ib. S. 2 3 1 .301 Lionel Robbins, The Nature and Significance of Economic Science, 1932,

S. 15, zit. bei: Paul M. Sweezy, Theorie der kapitalistischen Entwicklung,Köln, 1959, S. 2.

302 Karl Häuser, Volkswirtschaftslehre, Ffm. 1967, S. 33 .303 Robbins, a.a.O., S. 69 (Sweezy, S. 2 ) .

322

Page 323: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

304 Karl Marx, Lohnarbeit und Kapital, MEW 6, S. 407 .305 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, MEW 13, S. 9.306 Staatslexikon (Recht-Wirtschaft-Gesellschaft) herausgegeben von der Gör-

res-Gesellschaft, 6. völlig neu bearbeitete und erweiterte Aufl., Freiburg1960 , Bd. 5., S. 587 (Hervorhebungen von uns).Es sei kurz begründet, warum wir u. a. noch einen Artikel aus dem vielbän-digen „Herder-Staatslexikon" hinzugezogen haben. Dies hat zwei Gründe:a) können Lexika als das standardisierte Bewußtsein einer Gesellschaft an-gesehen werden, so daß ihre Analyse zu zeigen vermag, daß die Schulbücherkeine Ausnahme, sondern allgemeiner Ausdruck der herrschenden Marxre-zeption sind; b) ist es in der Praxis so, daß sich viele Studienräte zur Vorbe-reitung zunächst in Lexika informieren. Daß ausgerechnet das Herder-Lexi-kon und nicht ein anderes Nachschlagewerk hinzugezogen wurde, hat sei-nen Grund darin, daß dieses besonders ausführlich den Marxismus behan-delt, und nicht darin, daß es besonders unwissenschaftlich ist. Die Darstel-lung in diesem Lexikon unterscheidet sich von anderen Lexika nur unwe-sentlich (sieht man einmal ab von Iring Fetschers Artikel im „EvangelischenStaatslexikon", der allerdings auch wesentliche Irrtümer und Mißverständ-nisse enthält).

307 Ebenda, S. 5 8 3 .308 „Die Gewalt der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen

schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz." Karl Marx, DasKapital, Bd. I, MEW 23, S. 779 .

309 Karl Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4, S. 182.310 Ebenda, S. 182.311 Karl Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3, S. 6.312 Kurt Beutler, Karl Marx in Sozialkundebüchern, in: Blätter für deutsche

und internationale Politik, 5 /1971 (Pahl-Rugenstein-Verlag), S. 502 .313 Vgl. Kurt Lenk, Ideologie, Neuwied/Berlin 1970, S. 28 .314 Marx, MEW 4, S. 138.315 Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Karl Marx, o. O.,

o . J . , S. 27.316 Ebenda, S. 502 .317 Karl Marx, ökonomisch-philosophische Manuskripte, S. 5 1 1 .318 Iring Fetscher, Von Marx zur Sowjetideologie, Diesterweg, Frankfurt, Ber-

lin, Bonn, 11. Aufl., 1965.319 Marx hat sich in den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie"

selbst gegen die bürgerlichen Theoretiker gewandt, die Entäußerung bzw.Vergegenständlichung nicht von Entfremdung trennen: „Die bürgerlichenÖkonomen sind so eingepfercht in den Vorstellungen einer bestimmtenhistorischen Entwicklungsstufe der Gesellschaft, daß die Notwendigkeit derVergegenständlichung der gesellschaftlichen Mächte der Arbeit ihnen unzer-trennbar erscheint von der Notwendigkeit der Entfremdung derselben ge-genüber der lebendigen Arbeit." Karl Marx, Grundrisse der Kritik der poli-tischen Ökonomie, a.a.O., S. 716 .

320 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a.a.O., S. 80 .321 Alfred Schmidt, Geschichte und Struktur, Fragen einer marxistischen Hi-

storik, München 1971 , S. 74.322 Kurt Beutler, Karl Marx in Sozialkundebüchern, a.a.O., S. 500 .323 W. Hofmann, Verelendung . . . , a.a.O., S. 27.324 a.a.O., S. 28 f.325 Vergl. a.a.O., S. 4 2 - 6 0 .

323

Page 324: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

326 R. Rosdoiski, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen „Kapital", Frank-furt/M. 1968, S. 352 .

327 Siehe K. Marx, Grundrisse . . . , a.a.O., S. 197 f.328 K. Marx, Lohn, Preis und Profit, MEW 16, S. 148.329 a.a.O., S. 149.330 Vergl. E. Mandel, Die deutsche Wirtschaftskrise, a.a.O., S. 1 7 - 2 0 , und J.

Huffschmidt, Die Politik des Kapitals, a.a.O., S. 1 2 - 1 8 .331 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 675 (Hervorh. von uns).332 F. Engels, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891,

MEW 22, S. 2 3 1 .333 K. Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 22 .3 3 4 Marx/Engels, Manifest der kommunistischen Partei, MEW 4, S. 489 .335 Ebenda.

Zweites Kapitel

1 W. Hofmann, Universität, Ideologie, Gesellschaft. Beiträge zur Wissenschafts-soziologie, Ffm. 1969 (es 261 ) , S. 111 .

2 K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 26 f.3 A. Schmidt, Geschichte und Struktur, Fragen einer marxistischen Historik,

München 1971 , S. 24 .4 K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 39 .5 K. Bergmann, Personalisierung im Geschichtsunterricht — Erziehung zur

Demokratie? Klett-Verlag, Stuttgart 1972, S. 14.6 ib., S. 17 ff.7 G. Mann, Ohne Geschichte Leben? in: Die Zeit Nr. 4 1 / 1 9 7 2 .8 K. Bergmann, a.a.O., S. 17.9 ib. S. 18.

10 Richtlinien und Stoffpläne für das Fach Geschichte, Saarland 1969, zit. nachK. Bergmann, a.a.O., S. 16.

11 W. Marienfeld/W. Osterwald, Die Geschichte im Unterricht, Düsseldorf 1966,S. 53 .

12 Vgl. Ch. Bühler, Kindheit und Jugend, Leipzig 1928; K. Sonntag, Das ge-schichtliche Bewußtsein des Schülers, Erfurt 1933 ; O. Kroh, Entwicklungs-psychologie des Grundschulkinds, Langensalza 1944; W. Küppers, ZurPsychologie des Geschichtsunterrichts, Bern-Stuttgart 1 9 6 1 ; H. Roth, Kindund Geschichte, München 1965, 4. Aufl.

13 H. Döhn, Der Geschichtsunterricht in Volks- und Realschulen, Hannover1967, S. 56 .

14 ib. S. 53 .15 K. Bermann, a.a.O., S. 49 .16 ib.17 R. Wildenmann und M. Kaase, Die unruhige Generation, Untersuchung zur

Politik und Demokratie in der Bundesrepublik (1968) , zit. nach R. Kühnl, R.Rilling, Ch. Sager, Die NPD — Struktur, Ideologie und Funktion einer neofa-schistischen Partei, Frankfurt/M. 1969, S. 335 .

18 ib.19 K. Bergmann, a.a.O., S. 4L20 K. Bergmann, a.a.O., S. 61 f.21 Vgl. dazu die einflußreichen Varianten der Schichttheorie:

1. Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, Stuttgart1932 .

324

Page 325: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

2. Helmut Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart,Stuttgart 1954.3. Ders., Auf der Suche nach der Wirklichkeit, Düsseldorf, Köln 1965.4. M. Janowitz, Soziale Schichtung und Mobilität in Westdeutschland, in:Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Nr. 9 0 / 1 9 5 8 , S.9 - 3 8 .5. H. Moore/G. Kleining, Das soziale Selbstbild der Gesellschaftsschichten inDeutschland, in KZfSS, Nr. 12 /1960 , S. 1 6 - 1 1 9 .6. E. Scheuch/H. Daheim, Sozialprestige und soziale Schichtung, in: SozialeSchichtung und soziale Mobilität, Sonderheft 5 der KZfSS, S. 6 5 - 1 0 3 .7. Friedrich Fürstenberg, Die Sozialstruktur der Bundesrepublik Deutsch-land, Köln-Opladen 1972.8. Karl Martin Bolte, u. a., Soziale Schichtung der Bundesrepublik Deutsch-land, in: K. M. Bolte, Deutsche Gesellschaft im Wandel; Opladen 1966, S.2 3 3 - 3 5 1 .

22 Vgl. dazu Adam Smith, An Inquiry into the Nature and the Causes of thewealth of Nations, London—Toronto 1931 ; vgl. ebf.: Jürgen Habermas,Strukturwandel der Öffentlichkeit; Berlin-Neuwied 1969, S. 99 .

23 Zur Kritik der Nivellierungsthese Schelsky vgl. ausführlich: Frank Deppe,Das Bewußtsein der Arbeiter, Studien zur politischen Soziologie des Arbei-terbewußtseins, Köln 1971 , S. 14 ff.

24 Margarete Tjaden-Steinhauer/Karl Hermann Tjaden, Zur Analyse der Sozial-struktur des deutschen Kapitalismus, in: Das Argument Nr. 6 9 / 1 9 7 0 , S.6 4 5 - 6 6 4 .

25 Stanislav Ossowski, Die Klassenstruktur im sozialen Bewußtsein, Neuwied-Berlin 1972, S. 131 .

26 Karl Hermann Tjaden, Nachwort: Ansätze zu einer gesellschaftswissenschaft-lichen Systemtheorie, in: K. H. Tjaden (Hg.), Soziale Systeme. Materialienzur Dokumentation und Kritik soziologischer Ideologie, Neuwied—Berlin1971 , S. 4 3 7 - 4 5 9 ; vgl. auch Karl Theodor Schuon, Wissenschaft, Politik undwissenschaftliche Politik, Köln 1972, S. 173 ff.

27 Ansätze einer marxistischen Klassenanalyse bzw. -theorie finden sich bei:1. M. Tjaden-Steinhauer, a.a.O.2. H. Jung, in: Das Argument, Nr. 6 1 / 1 9 7 0 .3. Jung/Kievenheim/Tjaden u. a., Klassen- und Sozialstruktur der BRD1 9 5 0 - 7 0 , 2 Bde, Ffm 1973 u. 1974.4. Projekt Klassenanalyse, Materialen zur Klassenstruktur der B R D , 2 Bde(bisher nur 1. Bd. erschienen), Westberlin 1973.

28 Vgl. Margherita v. Brentano, Wissenschaftspluralismus als Kampfbegriff, in:Das Argument, Nr. 6 6 / 1 9 7 1 , S. 1 7 6 - 4 9 2 , hier: S. 4 9 2 .

29 Vgl. Eberhard Schmidt, Die verhinderte Neuordnung 1945—1952, Zur Aus-einandersetzung um die Demokratisierung der Wirtschaft in den westlichenBesatzungszonen und in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M.1970; vgl. ebf. Frank Deppe u. a., Kritik der Mitbestimmung, Partnerschaftoder Klassenkampf? , Ffm. 1969, vor allem S. 58 ff.

30 Vgl. zur Verwandlung der Gesellschaft in einen „Gesamtbetrieb ohne Unter-nehmer": ,Formierte Gesellschaft', Gesellschaftspolitische Kommentare,Sonderdruck. Bonn 1965, S. 10.

31 Vgl. Jörg Huffschmid, Die Politik des Kapitals, Ffm. 1969, S. 114 ff. S.161 ff.

32 Ebenda, S. 64 .33 Ernest Mandel, Die deutsche Wirtschaftskrise, Frankfurt/M. 1969, S. 28 ,

325

Page 326: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

2 8 - 3 3 ; Gerhard Bessau u. a., Inflation heute — . . . , a.a.O.; Werner Hofmann,Die säkulare Inflation, Berlin 1962.

34 Claus Leggewie: Geschichte in Schul- und Sachwörterbüchern. In: Das Argu-ment, Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Nr. 70 (Sonder-band Kritik der bürgerlichen Geschichtswissenschaft I .) , West-Berlin 1972, S.244, Hervorhebung von uns.

35 Carl Joachim Friedrich (unter Mitarbeit von Zbigniew K. Brzezinski): Totali-täre Diktatur. Stuttgart 1957, S. 15, Hervorhebung von uns.

36 Vgl. dazu auch Leggewie, a.a.O., S. 243—256; Autorenkollektiv: Schulbücherauf dem Prüfstand, Antikommunismus, Antisowjetismus und Revanchismusin Lehrbüchern der Bundesrepublik, Dokumentation und Kommentare,Frankfurt/M. 1972 (Röderberg-Verlag), bes. S. 2 5 - 3 1 .

37 Die „Richtlinien . . . " sind vollständig abgedruckt im Anhang zu GünterBerndt/Reirihard Strecker (Hg.): Polen — ein Schauermärchen oder Gehirn-wäsche für Generationen. Geschichtsschreibung und Schulbücher. Beiträgezum Polenbild der Deutschen, Reinbek bei Hamburg 1971 (rororo aktuell1500) , S . 9 9 - 1 0 2 .

38 Zitiert nach Berndt/Strecker, a.a.O., S. 99 .39 Vgl. zur Ideengeschichte der Totalitarismustheorie: Klaus Hildebrand: Stu-

fen der Totalitarismusforschung, in: Politische Vierteljahresschrift, Heft3 /1968 (9. Jahrgang), Köln und Opladen, S. 3 9 7 - 4 2 6 ; Martin Jänicke: Tota-litäre Herrschaft. Anatomie eines politischen Begriffs, West-Berlin 1971 (Ver-lag Duncker & Humboldt); Walter Schlangen: Der Totalitarismusbegriff.Grundzüge seiner Entstehung. Wandlung und Kritik, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament" vom 3 1 . 10. 1970.

40 Die am meisten verbreiteten und bekannten Arbeiten sind wohl die vonC. J. Friedrich (siehe Anm. 35) und von Hannah Arendt: Elemente und Ur-sprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/M. 1955.

41 So z. B. Martin Greiffenhagen: Der Totalitarismusbegriff in der Regimen-lehre, in: Matin Greiffenhagen, Reinhard Kühnl, Johann Baptist Müller: To-talitarismus. Zur Problematik eines politischen Begriffs, München 1972 (List-Taschenbücher der Wissenschaft 1556) , S. 23—59.

42 Diese Industriegesellschaftstheorie, die bei ihren meisten Vertretern mit Vor-aussagen über die Konvergenz von Sozialismus und Kapitalismus verknüpftist, findet in den letzten Jahren zunehmend Verbreitung. Einige grundlegen-de Arbeiten sind: Walt Whitman Rostow, Stadien wirtschaftlichen Wachs-tums, Göttingen 1961 (Vandenboeck & Ruprecht); Raymond Aron, Die in-dustrielle Gesellschaft, Frankfurt/M. 1964 (Fischer-Bücherei 6 3 6 ) ; John Ken-neth Galbraith, Die moderne Industriegesellschaft, München und Zürich1968 (Droemer/Knaur). Zur Kritik von Industriegesellschafts- und Konver-genztheorie vgl.: Bassam Tibi: Theorien der Konvergenz kapitalistischer undsozialistischer Industriegesellschaften, in: Das Argument Nr. 50 (SonderbandKritik der bürgerlichen Sozialwissenschaften), West-Berlin 1969, S.125—138; Günther Rose: Konvergenz der Systeme. Legende und Wirklich-keit, Köln 1970 (Pahl-Rugenstein-Verlag). Herbert Meißner: Konvergenz-theorie und Realität, Frankfurt/M. 1971 (Verlag Marxistische Blätter).

43 So z. B Hansgeorg Conert: Der Kommunismus in der Sowjetunion. Histori-sche Voraussetzungen, Wandlungen, gegenwärtige Strukturen und Probleme,Frankfurt/M. 1971 (Modelle für den politischen und sozialwissenschaftlichenUnterricht 1 0 / 1 1 , Europäische Verlagsanstalt).

44 Vgl. Reinhard Kühnl: Zur politischen Funktion der Totalitarismustheorien inder BRD, in: Greiffenhagen, Kühnl, Müller, a.a.O., S. 7 - 2 1 .

326

Page 327: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

45 Leggewie, a.a.O., S. 247. Hervorhebung im Text.46 Zitiert nach Berndt/Strecker, a.a.O., S. 101 .47 Ebenda, S. 100.48 Ebenda.49 Ebenda.50 Ebenda.51 Reinhard Kühnl: Faschistische Tendenzen in der Bundesrepublik, in: Alter-

nativen der Opposition, hg. von F. Hitzer und R. Opitz, Köln 1969 (Pahl-Ru-genstein-Verlag), S. 6 5 - 8 6 . Hier S. 66.

52 Kühnl, Zur politischen Funktion, a.a.O., S. 16.53 Ebenda, S. 18. Zu den „Sozialen Details" vgl. Johann Baptist Müller, Kom-

munismus und Nationalsozialismus. Ein sozio-ökonomischer Vergleich, in:Greiffenhagen/Kühnl/Müller, a.a.O., S. 61—96. Vgl. auch die im Kapitel überdas Ende der Weimarer Republik angegebene Literatur, besonders Anm. 201und 205 .

54 Hartmut Zimmermann: Probleme der Analyse bolschewistischer Gesell-schaftssysteme. Ein Diskussionsbeitrag zur Frage der Anwendbarkeit des To-talitarismusbegriffs, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 4 / 1 9 7 1 , S. 193 ff,hier S. 198.

55 Einen sozialpsychologischen Erklärungsansatz dafür hat Wilhelm Reich ver-sucht. Vgl. Wilhelm Reich, Massenpsychologie des Faschismus.

56 Vgl. dazu den grundlegenden Beitrag von Georg Fülberth und Helge Knüppel,Bürgerliche und sozialistische Demokratie, in: BRD—DDR. Vergleich der Ge-sellschaftssysteme (Red. Gerhard Heß), Köln 1971 (Pahl-Rugenstein-Verlag),S. 2 0 6 - 2 4 7 .

57 Ebenda, S. 211 f.58 Vgl. dazu die beispielhafte Analyse von Werner Hofmann: Was ist Stalinis-

mus? In: Ders., Stalinismus und Antikommunismus. Zur Soziologie des Ost-West-Konflikts, Frankfurt/M. 1967 (edition suhrkamp 222) , S. 1 1 - 1 2 7 .

59 Kühnl, Zur politischen Funktion, a.a.O., S. 18. Hervorhebungen von uns.60 Vgl. Wolfgang Fritz Haug: Der hilflose Antifaschismus. Zur Kritik der Vor-

lesungsreihen über Wissenschaft und NS an deutschen Universitäten, Frank-furt/M. 1967 (edition suhrkamp 2 3 6 ) .

61 Friedrich, a.a.O., S. 102.62 Vgl. Jänicke, a.a.O., S. 83 ff.63 Vgl. dazu das Kapitel über das Ende der Weimarer Republik, besonders auch

die Literatur in den Anm. 189 und 190.64 So z. B. Werner Hofmann: Grundelemente der Wirtschaftsgesellschaft. Ein

Leitfaden für Lehrende, Reinbek bei Hamburg 1969 (rororo aktuell 1149) ,S. 6 0 ; vgl. Engels in MEW 23 , S. 34 (Vorwort zur 3. Aufl. des Kapital I ) .

65 Vgl. zu den hier verwendeten Begriffen (Mehrprodukt, Arbeitskraft, Lohnusw.) Karl Marx: Lohn, Preis und Profit; in: Ders. und Friedrich Engels, Wer-ke Bd. 16, Berlin (DDR) 1962, S. 1 0 1 - 1 5 2 .

66 Walter Jens, Plädoyer für einen Pluralismus der Wissenschaft, in: Blätter fürdeutsche und internationale Politik, Nr. 7 /1972 , Köln, S. 7 2 1 - 7 2 7 ; hier S.724. Hervorhebung von uns.

327

Page 328: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Drittes Kapitel

1 Zit. nach Adorno, Horkheimer u. a., Soziologische Exkurse Ffm. 1956, S.l 6 4 .

2 Zit. nach Lenk, K, Ideologie, Neuwied-Berlin 1 9 7 0 4 , S. 22 .3 Adorno u. a., Soziologische Exkurse, a.a.O., S. 164.4 Lenk, a.a.O., S. 29.5 L. Feuerbach, Sämtliche Werke, Bd. 6, ed. Bolin u. Jodl , Stuttgart

1 9 0 3 - 1 9 1 1 , S. 17.6 Vgl. Lenk, S. 29 f, Fetscher, I., Karl Marx und der Marxismus, München

1967, S. 204 f.7 Karl Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, Einleitung, in:

MEW 1, S. 378 f.8 E. Bloch, Das antizipierende Bewußtsein (2. Teil des Prinzip der Hoffnung)

Ffm. 1972 (es 585) , S. 265 .9 Habermas, Theorie und Praxis, S. 4 3 8 .

10 H. Reichelt, Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffes bei Karl Marx, Ffm.1 9 7 1 2 (Europäische Verlagsanstalt), S. 37.

11 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 93 f.12 Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 3 1 .13 K. Lenk, Ideologie, a.a.O., S. 37.14 Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 46 f.15 Ebenda.16 Bertolt Brecht, „Drei Paragraphen der Weimarer Verfassung"

Paragraph I 1Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. — Aber wo geht sie hin?J a , wo geht sie wohl hinIrgendwo geht sie doch in!Der Polizist geht aus dem Haus.— Aber wo geht er hin?usw.

2Seht, jetzt marschiert das große Tramm.— Aber wo marschiert es hin?J a , wo marschiert es wohl hin?Irgendwo marschiert das doch in!Jetz t schwenkt es um das Haus herum.— Aber wo schwenkt es hin?usw.

3Die Staatsgewalt macht plötzlich halt.Da sieht sie etwas stehn.— Was sieht sie denn da stehn?Da sieht sie etwas stehn.Und plötzlich schreit die StaatsgewaltSie schreit: Auseinandergehn!Warum auseinandergehn?Sie schreit: Auseinandergehn!

328

Page 329: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

4

329

Da steht so etwas zusammengeballtUnd etwas fragt: warum?Warum fragt es denn warum?Da fragt sowas warum!Da schießt natürlich die StaatsgewaltUnd da fällt so etwas um.Was fällt denn da so um?Warum fällt es denn gleich um?

5Die Staatsgewalt sieht: da liegt was im Kot.Irgendwas liegt im Kot!Was liegt denn da im Kot?Irgendwas liegt doch im Kot.Da liegt etwas, das ist mausetotAber das ist ja das Volk!Ist denn das wirklich das Volk?J a , das ist wirklich das Volk.

Paragraph II1Lauf, lauf Prolet, du hast das RechtEin Grundstück zu erwerbenDazu hast du das RechtDu hast das Recht am WannseeDu hast das Recht am Nikolassee.Je tz t braucht kein Prolet mehr Hungers zu sterbenEr hat das Recht, ein Grundstück zu erben.Er hat ein RechtDas ist nicht schlechtEr darf etwas erwerben.

2Halt, halt, grölt, das Grundstück daDas hat schon einer erworben.Dazu hat er das Recht.Er hat das Recht am WannseeEr hat das Recht am Nikolassee.Da mußt du schon warten, bis er gestorben.Dann hat es wieder ein anderer erworbenDer hat geblechtUnd das war sein RechtSonst hättest du was erworben!

Paragraph 1151Auch für einen Deutschen gibt es freie StättenDenn die sind in unserm Sklavendasein unersetzlichUnersetzlich.Wenn wir eine Wohnung hättenWäre diese Wohnung unverletzlichUnverletzlich.

Page 330: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

2

330

Niemand dürfte uns in unserer Wohnung störenEr bekäme sofort die Strafe, welche ihm gebührteGebührte.Diese Wohnung würde uns gehörenWenn 'ne Wohnung uns gehören würdeWürde.

3Da wir leider keine Wohnung kriegenSind uns Kellerloch und Brückenbogen unersetzlichUnersetzlich.Wenn wir aber auf der Straße liegenSind wir dann natürlich auch verletzlichVerletzlich.

Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Frankfurt 1967, S. 378 .

17 Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, MEW 25, S. 219.18 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 94 f.19 Zum folgenden vgl. MEW 23, S. 85 ff, u MEW 25, S. 860 ff.20 Unter Gebrauchswert überhaupt verstehen wir, daß ein Ding fähig ist, irgend-

ein menschliches Bedürfnis zu befriedigen, sei es das eigene, sei es das Bedürf-nis von anderen. Es ist dies die Voraussetzung dafür, daß ein Ding überhauptTräger von Tauschwert werden kann. Der Gebrauchswert der Ware, im Ge-gensatz dazu, schließt immer schon ein, daß die Ware Gebrauchswert für an-dere sein muß.

21 Vgl. Helmut Reichelt, Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Marx,a.a.O., S. 150: „Die Individuen sind integriert in ein System allseitiger Ab-hängigkeit, in ein ,System der Bedürfnisse', in dem sie in ihrer konkret sinnli-chen Produktion auf die Produktion aller anderen verwiesen sind."

22 Projekt Klassenanalyse, Zur Kritik der Sozialstaatsillusion (SOPO 6/7) , in:Sozialistische Politik, 3. Ing., Nr. 14 /15 , Dez. 1971, S. 196.

23 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 95 .24 Ebenda, S. 95 .25 Ebenda, S. 95 .26 Ebenda, S. 88 .27 Ebenda, S. 87.28 Ebenda, S. 86.29 Ebenda, S. 86.30 Ebenda, S. 89.31 W. Mommsen, zitiert nach: Philosophisches Wörterbuch, Bd. 1, hg. von Ge-

org Klaus u. Manfred Buhr, Berlin 1972, S. 404 .32 Georg Lukäcs, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923, S. 59 ; vgl.

auch die interessanten Bemerkungen des amerikanischen Geschichtsprofes-sors Georg G. Iggers: „Besteht die Wirklichkeit aber aus einer Vielfalt indivi-dueller Größen, die auf keinen gemeinsamen Nenner (welcher im gesell-schaftlichen Charakter der Arbeit wurzelt, Anm. d. Verf.) gebracht werdenkönnen, dann scheint die Geschichte ihren Sinn zu verlieren. Da Ranke ei-nen gemeinsamen Nenner in Gott findet, lehnt er Hegels Pantheismus ab, derGott mit dem Gesamtprozeß der Geschichte gleichsetzt. Er hält sich stattdessen an einen christlichen Panentheismus, der Gott getrennt von der Welt,aber allmächtig in ihr sieht. Ranke verteidigt daher seine Feststellung — ,in

Page 331: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

331

MV . . . . ' dem entscheidenden Augenblick tritt allemal ein, was wir Zufall oder Ge-schick nennen, und was Gottes Finger ist' — .. . Die Gegenwart Gottes alleinverhindert die Alternative zwischen der gänzlichen Auslieferung an dasSchicksal einerseits und der . . . Ansicht, alles sei Zufall, andererseits. Gottallein bedeutet für Ranke — in diesem Punkt für die historische Schuleinsgesamt — das einigende Band in einer Welt, wo Werte und Wahrheiten anhistorische Individualitäten und nicht an universale menschliche Normen ge-knüpft sind." Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft — Eine Kri-tik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart,München 1971 , S. 93 f.

33 Lukäcs, a.a.O., S. 60 .34 Vgl. dazu Th. W. Adorno, „Notiz über sozialwissenschaftliche Objektivität"

sowie „Gesellschaft" in: Ders., Aufsätze zur Gesellschaftstheorie und Metho-dologie, Ffm. 1970.

35 Friedrich Meinecke: Werke. Hg. im Auftrag des Friedrich-Meinecke-Institutsder Freien Universität Berlin von Hans Hersfeld, Carl Hinrichs, Walter Hofer,Stuttgart 1957 /69 , Bd. 4, S. 82 .

36 Ebenda, S. 82.37 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 5 f.38 Lukacs, a.a.O., S. 61 .39 Karl Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4, S. 123.40 Karl Marx, Lohnarbeit und Kapital, MEW 6, S. 407 .41 Th. W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Erzie-

hung zur Mündigkeit, Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959 bis1969, hg. v. G. Kadelbach, Ffm. 1970, S. 13 f.

42 Ernst Bloch, Das antizipierende Bewußtsein, Ffm. 1972 (es 585 ) , S. 287.43 Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 26 .44 G. Stiehler, Der Idealismus von Kant bis Hegel, Berlin 1970, S. 286 f.45 Ebenda, S. 287.46 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 85 .47 Karl Marx, Z,ur Kritik der Politischen Ökonomie, a.a.O., S. 29.48 Karl Marx, Grundrisse . . ., a.a.O., S. 81 f.49 Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 39 .50 Grundrisse, S. 63 .51 Karl Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEW 1,

S. 379.52 Sozialistische Politik, Nr. 14 /15 , a.a.O., S. 197 f.53 Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 62 .54 Hans Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf, Ffm. 1971 , S. 287.55 Karl Marx, Zur Judenfrage, MEW Bd. 1, S. 370 .56 Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 87.57 Karl Marx, Das Kapital Bd. I, MEW 23, S. 87.58 Ebenda, S. 181.59 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, S. 4 4 9 .60 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 557 .61 Ebenda, S. 559 .62 Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, MEW 25, S. 832 .63 Ebenda, S. 8 3 3 ; vgl. ferner Helmut Reichelt, Zur logischen Struktur des Ka-

pitalbegriffs bei Marx, a.a.O., S. 90 .64 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 562 .65 Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. 3, MEW Bd. 26, S. 500 .66 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 1 8 9 - 1 9 0 .

Page 332: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

67 Ebenda, S. 183.68 Karl Marx, Grundrisse, a.a.O., S. 9 1 3 .69 Jakubowski, S. 4 3 .70 Paul Nizan, Für eine Kultur — Aufsätze zu Literatur und Politik in Frank-

reich. Reinbek bei Harnburg, 1973 (das neue buch 27) , S. 19 f.

Viertes Kapitel

1 Vgl. dazu: Frank Deppe, Das Bewußtsein der Arbeiter, Studien zur politi-schen Soziologie des Arbeiterbewußtseins, Köln 1971 (Pahl-Rugenstein), S.205 ff, und Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungs-ökonomie, München 1972 (List-Verlag), S. 223 ff.

2 Die Einheit von Arbeits- und Verwertungsprozeß im Kapitalismus wird da-durch hergestellt, daß es der Zweck jeder kapitalistischen Produktion ist,Mehrwert zu produzieren. Der Widerspruch einer warenproduzierenden Ge-sellschaft hinsichtlich des doppelten Charakters von Ware und Arbeit liegtdarin, einerseits als Gebrauchswert bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen, an-dererseits als Tauschwert für den Kapitalisten Quelle von Mehrwert zu sein.Das Prinzip der Gewinnmaximierung ist also durch die gesellschaftlichen Pro-duktions- und Tauschverhältnisse dem Kapitalisten selbst aufgezwungen.Geld und seine Verwandlung in Kapital hat daher die Bestimmung, mehrGeld zu werden, um wiederum im Produktionsprozeß als neue Maschinen,Werkzeuge oder Arbeitskraft zum Zwecke der Produktion von Überschüsseneingesetzt zu werden.

3 Karl Marx, Das Kapital, 1. Bd., MEW 23, Berlin 1969, S. 2 1 1 .4 Wulf D. Hund, Ulrich Matull, Konrad Ruff, Peter Volkmar, Qualifikations-

struktur und wissenschaftlich-technischer Fortschritt, Zum Begriff der Quali-fikation, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (Pahl-Rugenstein-Verlag), Heft 10 /1972 , S. 1 0 8 4 - 1 0 9 9 u. 11/1972, S. 1 1 9 5 - 1 2 0 3 , hier vorallem S. 1 0 8 4 - 8 6 .

5 Marxistische Gruppe Erlangen/Nürnberg (Hg.), Kapitalistische Hochschulre-form. Analysen und Dokumente, Erlangen 1972 (Politladen GmbH), S. 36(im folgenden kurz: Kap. Hochschulreform, a.a.O . . . ) .

6 Wulf D. Hund, u. a., Qualifikationsstruktur . . . , a.a.O., S. 1089.7 Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt/M.

1969, S. 55 .8 Wulf D. Hund, u. a., Qualifikationsstruktur . . . , a.a.O., S. 1090.9 Unter Gesamtarbeiter soll hier in Anlehnung an Karl Marx jener Zusammen-

hang des produktiven „Gesamtarbeiters" bezeichnet werden, dem alle direktund indirekt in der Produktion tägigen „lebendigen" Glieder angehören: Pro-duktionsarbeiter, Techniker, Ingenieure, Leiter der Produktion. Die weiteFassung des Begriffs des Gesamtarbeiters kann jedoch nicht identisch seinmit dem Begriff der Arbeiterklasse: vgl. dazu: Karl Marx, Das Kapital, I. Bd.,MEW 23, S. 5 3 1 / 5 3 2 ; zur gegenwärtigen Klassenanalyse vgl. vor allem:Margaret Tjaden-Steinhauer/Karl Hermann Tjaden, Zur Analyse der Sozial-struktur des deutschen Kapitalismus, in: Das Argument (Argument-Verlag,Karlsruhe), Nr. 6 1 , Heft 9 / 1 0 / 1 9 7 0 , S. 6 4 5 - 6 6 4 ;Heinz Jung, Zur Diskussion um den Inhalt des Begriffs „Arbeiterklasse" undzu Strukturveränderungen in der Westdeutschen Arbeiterklasse, in: Das Ar-gument, Nr. 6 1 , Heft 9 / 1 0 / 1 9 7 0 , S. 6 6 5 - 6 9 8 ;Frank Deppe, „Alte" und „neue" Arbeiterklasse. Überlegungen zur Klassen-

332

Page 333: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

analyse der wissenschaftlich-technischen Intelligenz; in: Blätter für deutscheund internationale Politik, 1 0 / 1 9 7 1 , S. 1 0 4 2 - 1 0 5 6 ;vgl. auch die verschiedenen Beiträge in: ökonomische Theorie, politischeStrategie und Gewerkschaften, Auseinandersetzung mit neoreformistischenund neosyndikalistischen Anschauungen, hg. vom Institut für MarxistischeStudien und Forschungen (IMSF), Frankfurt/M. 1971, und die dort reichhal-tig ausgebreitete Literatur!

10 Kap. Hochschulreform, a.a.O., S. 37.11 Wulf D. Hund, u. a., Qualifikationsstruktur . . . , a.a.O., S. 1091 .12 Kap. Hochschulreform, a.a.O., S. 44 .13 Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, a.a.O., S. 39 .14 Karl Marx, Das Kapital, 1. Bd., MEW 23, S. 504 ff. Marx zeigt hier das Pro-

blem der Schranken der allgemeinen Ausbeutbarkeit und die sozialen undmedizinischen Konsequenzen der rücksichtslosen Ausbeutung am Beispielder Kinder- und Frauenarbeit auf.

15 Vgl. Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zurWissenschaft, in: MEW 19, S. 1 7 7 - 2 2 8 . „Ideeller Gesamtkapitalist" (Fr. En-gels) meint, daß der Staat gleichsam das Durchschnittsinteresse der vielenEinzelkapitale repräsentiert und die Rahmenbedingungen des Produktions-prozesses (Infrastruktur, Rechtsverhältnisse, Lohnarbeitsverhältnis, interna-tionale Position) garantiert. D. h. nicht, daß der Staat allein als Ausführungs-organ, als Instrument der Monopole im heutigen Kapitalismus begriffen wer-den kann, sondern daß sich die Interessen der verschiedenen Einzelkapitale,der Monopolgruppen nur vermittelt und nicht widerspruchsfrei im Handelndes Staatsapparates realisieren. Der Staat ist also kein reeller Gesamtkapi-talist, er tritt vielmehr „neben und außer" (Marx/Engels) die Gesellschaft,um die Bedingungen der Produktion zu garantieren.

16 Kap. Hochschulreform, a.a.O., S. 38 .17 Ebenda, S. 39 .18 Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie,

München 1972 (List-Verlag), S. 286 ff. (im folgenden kurz: Freerk Huisken,Zur Kritik . . . , a.a.O.).

19 Elmar Altvater, Der historische Hintergrund des Qualifikationsbegriffs, in:Elmar Altvater/Freerk Huisken (Hg.), Materialien zur Politischen Ökonomiedes Ausbildüngssektors, Erlangen 1971 (Politladen GmbH), S. 7 7 - 9 0 , hier S.8 3 .

20 Kap. Hochschulreform, a.a.O., S. 4 0 .21 Wir folgen hier den Grundzügen der Darstellung der bereits erwähnten kapi-

talistischen Hochschulreform, a.a.O., S. 46 ff.22 Margaret Tjaden-Steinhauer/Karl Hermann Tjaden, Zur Analyse der Sozial-

struktur des deutschen Kapitalismus, a.a.O., hier S. 648—650.23 Kap. Hochschulreform, a.a.O., S. 49 .24 Martin Baethge, Ausbildung und Herrschaft, Unternehmerinteressen in der

Bildungspolitik, Frankfurt/M. 1970 (Europäische Verlagsanstalt), S. 23 .25 Luc Jochimsen, Hinterhöfe der Nation. Die deutsche Grundschulmisere,

Reinbek bei Hamburg 1971 (rororo 1505) , S. 2 3 ; vgl. auch Hanno Schmitt,Zur gesellschaftspolitischen Aktivität der Lehrer, in: Gewerkschaft, Erzie-hung und Wissenschaft in Hessen (Hg.), Neuordnung der Lehrerausbildung.Planungen — Enttäuschungen — Alternativen, Frankfurt/M. 1972, S. 38—44,hier S. 3 9 : „Wenn für einen Hauptschüler in der BRD durchschnittlich1086 DM im Jahre ausgegeben werden, steht pro Gymnasiast fast doppeltsoviel, nämlich 2003 DM, zur Verfügung."

333

Page 334: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

26 Vgl. dazu die grundlegenden Aussagen von Karl Marx in der „DeutschenIdeologie", demzufolge die Ideologie der herrschenden Klasse immer zu-gleich die herrschende Ideologie einer je konkreten Gesellschaft ausmacht:Karl Marx, Die Deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1969, S. 4 6 .

27 Vgl. dazu kritisch: Werner Marken, Dialektik des bürgerlichen Bildungsbe-griffes', in: Johannes Beck, u. a., Erziehung in der Klassengesellschaft,München 1972 (List-Verlag), S. 1 7 - 5 1 , hier S. 41 ff.

28 Werner Marken, Dialektik des bürgerlichen Bildungsbegriffs, a.a.O., S. 17.29 Karl Hermann Tjaden, Politische Bildung als Affirmation und Kritik, in: Das

Argument, Nr. 40 , Heft 5 /1966 , S. 3 6 1 - 3 8 5 .30 Vgl. dazu allgemein: Ernst Bloch, Natunecht und menschliche Würde, Frank-

furt/M. 1972 (suhrkamp Taschenbuch), bes. S. 175 ff.31 Die bürgerlich-reformerische Erziehungskonzeption Antoine Marquis de Con-

dorcets erhofft sich von einer dem gesellschaftlichen Fortschritt entsprechen-den allgemeinen Bildung die Nivellierung bestehender Klassengegensätze vonArm und Reich. Dadurch, daß Condorcet die Hierarchie der Produktions-und Sozialstruktur unangetastet läßt, bleibt sein Konzept einem zwar aufklä-rerischen, aber doch den Fortschritt des bürgerlichen Produktionssystems ab-sichernden individualistischen Liberalismus verhaftet.In Preußen hat sich vor allem Wilhelm von Humboldt um die Wiederbelebungeines Humanismus bildungsbürgerlicher Prägung bemüht. Seine individuali-stisch-liberalistische Vorstellung von Bildung in Schule und Universität in„Einsamkeit und Freiheit" (Helmut Schelsky) kam dem Bedürfnis der sozia-len Oberklassen entgegen, Bildung losgelöst von jeder gesellschaftlich-politi-schen Wirklichkeit zu begreifen.Die politische Abstinenz der bürgerlichen Klassen wurde durch den Rückzugin die Innerlichkeit kompensiert.

32 Werner Marken, Dialektik des bürgerlichen Bildungsbegriffs, a.a.O., S.2 7 - 2 8 .

33 Hans Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschland, Bd. 2, Berlin 1972, 2.durchgesehene Aufl., S. 56 ff.

34 Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt/M. 1972 (suhr-kamp taschenbuch), S. 199 f.

35 Vgl. zum Gesamtkomplex Martin Baethge, Ausbildung und Herrschaft, Un-ternehmerinteressen in der Bildungspolitik, Frankfurt/M., 1970 (EVA).

36 Vgl. dazu Monika Schmidt, Der mündige Gesamtschüler — Ein Mündel desKapitals? , in: betrifft: erziehung, Nr. 8 /1972 , S. 3 2 - 3 9 .

37 Manfred Müller, Stichwort Bildung, in: Marxistisch-Leninistisches Wörter-buch der Soziologie, Berlin 1969, S. 8 4 - 8 9 , hier S. 87 f.

38 Vgl. dazu Monika Schmidt, Der .mündige' Gesamtschüler . . . , a.a.O.; weiter-hin Volker Hoffmann, Der Klassencharakter der Gesamtschule, Berlin 1972.

39 Gernot Koneffke, Integration und Subversion — Zur Funktion des Bildungs-wesens in der spätkapitalistischen Gesellschaft, in: Das Argument, Nr. 54 ,Heft 5 / 6 / 1 9 6 9 , S. 3 8 9 - 4 3 0 .

40 Zur Formulierung der Ziele der Gesamtschule vgl. vor allem: Deutscher Bil-dungsrat, Gutachten und Studien der Bildungskommission. Lernziele der Ge-samtschule, Stuttgart 1969; Hartmut von Hentig, Systemzwang und Selbst-bestimmung, Stuttgart 1968;Johannes Beck/Lothar Schmidt (Hg.), Schulreform oder Der sogenannteFortschritt, Frankfurt/M. 1970;Wolfgang Klafki, Die integrierte Gesamtschule, in: ders., u. a. Erziehungswis-senschaft, Bd. 1, Frankfurt/M. 1970 (Fischer Verlag), S. 1 9 4 - 2 1 4 .

334

Page 335: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

41 Anne Beelitz, Die integrierte Gesamtschule — Regelschule oder Schulversuch?,in: Berichte des deutschen Industrieinstituts zu bildungs- und gesellschafts-politischen Fragen, Nr. 3 / 1 9 7 1 , hier vor allem S. 52 ff.

42 Vgl. zur Rückwirkung der Studentenbewegung auf die Entwicklung einer kri-tischen Schülerbewegung:Manfred Liebel/Franz Wellendorf, Schülerselbstbefreiung, Frankfurt/M.1969 (edition suhrkamp 3 3 6 ) ;Hans-Jürgen Haug/Hubert Maessen, Was wollen die Schüler? Frankfurt/M. — Hamburg 1969.

43 Zur Problematik der Begriffe „wissenschaftlich-technische Revolution" und„Produktivkraft Wissenschaft", sowie zur Relativierung ihres Sprachge-brauchs:Wulf D. Hund, u. a., Qualifikationsstruktur und wissenschaftlich-technischerFortschritt . . . , a.a.O., S. 1086;Elmar Altvater, Produktivkraft Wissenschaft?, in: Elmar Altvater/FreerkHuisken (Hg.), Materialien zur Politischen Ökonomie des Ausbildungssek-tors, a.a.O., S. 3 4 9 - 3 6 3 ;Martin Baethge, Abschied von Reformillusionen. Einige politisch-ökonomi-sche Aspekte zum Ende der Bildungsreform in der BRD, in: betrifft: erzie-hung, Nr. 1 1 / 1 9 7 1 , S. 1 9 - 2 8 , hier bes. S. 2 3 ;vgl. auch: Ernest Mandel, Der Spätkapitalismus. Versuch einer marxistischenErklärung, Frankfurt/M. (edition suhrkamp 521) hier S. 240 ;Kritik an den Begriffen und deren Relativierung beziehen sich hauptsächlichauf die These von der „unmittelbaren Produktivkraft Wissenschaft". Wissen-schaftliche Tätigkeit wird nur dann zur Produktivkraft, wenn sie in den Be-reich der unmittelbar materiellen Produktion einverleibt wird. Außerhalb die-ser Produktion sind wissenschaftliche Qualifikationen nur potentielle, nichtreale Produktivkraft (vgl. vor allem Karl Marx, Grundrisse der Kritik der poli-tischen Ökonomie (Rohentwurf), Berlin 1953, S. 592 ff).

44 Zur ökonomischen Funktion der Rekonstruktionsperiode und ihrer Konse-quenzen:Franz Janossy, Das Ende der Wirtschaftswunder, Erscheinung und Wesen derwirtschaftlichen Entwicklung, Frankfurt/M. 1969;vgl. auch Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsöko-nomie, München 1972, vor allem unter bildungsökonomischem Aspekt.

45 Joachim Hirsch/Stephan Leibfried, Materialien zur Wissenschaftspolitik,Frankfurt/M. 1971 (edition suhrkamp 4 8 0 ) ; Joachim Hirsch, Wissenschaft-lich-technischer Fortschritt und politisches System. Organisation und Grund-lagen administrativer Wissenschaftsförderung, Frankfurt/M. 1970 (editionsuhrkamp 4 3 7 ) .

46 Joachim Hirsch, Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und politischesSystem, a.a.O., S. 79.

47 Die Knappheit der Arbeitskräfte resultiert zumindest aus drei Faktoren:1. Der Zustrom qualifizierter Facharbeiter aus der DDR wird mit dem Mau-erbau vom 13. 8. 1961 unterbunden;2. Die geburtsstarken Jahrgänge — vor allem vor Beginn des Zweiten Welt-krieges bis etwa zum Jahrgang 1940 (1932—1940) — werden von den kriegs-bedingt schwachen Jahrgängen abgelöst.3. Seit Mitte der 50er Jahre setzte ein Trend zu verstärkter Nachfrage nachSchulabschlüssen in weiterführende Schulen ein, der durch die Verlängerungder Ausbildungszeiten eine große Zahl von potentiellen Arbeitskräften derWirtschaft vorenthielt;

335

Page 336: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

vgl. dazu vor allem: Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik undBildungsökonomie, a.a.O., S. 314 ff.

48 Vgl. Joachim Hirsch/Stephan Leibfried, Materialien zur Wissenschafts- undBildungspolitik, Frankfurt/M. 1971, S. 19.

49 Vgl. Jörg Huffschmid, Die Politik des Kapitals, Konzentration und Wirt-schaftspolitik in der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1969 (edition suhrkamp313) , S. 14 ff.

50 Zur allgemeinen politökonomischen Entwicklung in der BRD, der Entwick-lung ihres wirtschafts- und finanzpolitischen Instrumentariums: Jörg Huff-schmid, Die Politik des Kapitals, a.a.O.

51 Zur Entwicklung des rüstungsbezogenen Anteils an den Forschungs- und Ent-wicklungsausgaben sowie ihrer detaillierten Kritik vgl.: Rainer Rilling,Kriegsforschung und Vernichtungswissenschaft in der BRD, Köln 1970(Pahl-Rugenstein).

52 Joachim Hirsch/Stephan Leibfried, Materialien zur Wissenschaftspolitikund Bildungspolitik, a.a.O., S. 8.

53 Matthias Albrecht/Hans-Rainer Kaiser, Zur bildungspolitischen Situation inder BRD, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 12 /1972 , S.1 2 9 7 - 1 3 1 4 .

54 Vgl. Martin Baethge, Abschied von Reformillusionen. Einige politisch-ökono-mische Aspekte zum Ende der Bildungsreform in der BRD, a.a.O., S. 27.

55 Wulf D. Hund, u. a. Qualifikationsstruktur und wissenschaftlich-technischerFortschritt (Teil II) . . . , a.a.O., S. 1195 /96 .

56 vgl. Anmerkung 9 57 Vgl. Anmerkung 9.

Zum Verhältnis von objektiver Klassenlage und sozialer Bewußtseinsentwick-lung vgl. Frank Deppe, Das Bewußtsein der Arbeiter, Studien zur politischenSoziologie des Arbeiterbewußtseins, Köln 1971 (Pahl-Rugenstein);Die neue Arbeiterklasse. Technische Intelligenz und Gewerkschaften im orga-nisierten Kapitalismus, hg. von Frank Deppe, Hellmuth Lange und LotharPeter, Frankfurt/M. 1970 (EVA), (vgl. vor allem die Einleitung!).

58 Wulf D. Hund, u. a. Qualifikationsstruktur und wissenschaftlich-technischerFortschritt (Teil I) . . . , a.a.O., S. 1097.

59 Ebenda, S. 1087.60 Ebenda, S. 1092.61 Ebenda, S. 1098.62 D. Mertens, Berufliche Flexibilität und adaptive Ausbildung in einer dynami-

schen Gesellschaft, in: R. Jochimsen/U. E. Simonis (Hg.), Theorie und Praxisder Infrastrukturpolitik, Berlin 1970, S. 80 , hier zitiert nach W. D. Hund,u. a., a.a.O., S. 1098.

63 Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie,a.a.O., S. 13.

64 Friedrich Edding, Internationale Tendenzen in der Entwicklung der Ausga-ben für Schulen und Hochschulen, Kiel 1958; ders., Ökonomie des Bildungs-wesens. Lehren und Lernen als Haushalt und als Investition, Freiburg 1963.

65 Adolf Kell, Die Abhängigkeit bildungsökonomischer Forschungen vom jewei-ligen Wirtschaftssystem, dargestellt an Hand eines Vergleichs bildungsökono-mischer Forschungen aus der BRD und der DDR, in: Zeitschrift für Pädago-gik, Nr. 1/1972, S. 1 - 2 3 , hier S. 16.

66 Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie,a.a.O., S. 140 ff, S. 220 ff.

67 Hasso von Recum, Aspekte der Bildungsökonomie, Neuwied — Berlin 1969.

336

Page 337: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

68 Vgl. Freerk Huisken, a.a.O., S. 140 ff.69 Einen Überblick über die verschiedenen Ansätze bietet: K. Bahr, Zusammen-

fassende Darstellung verschiedener Ansätze zur Bildungsplanung, in: Interna-tionales Seminar über Bildungsplanung, hg. vom Institut für Bildungsfor-schung in der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin 1967, S. 29 ff; eine kritischeDarstellung der ökonomischen Implikate liefern Becker/Jungblut, Strategiender Bildungsproduktion. Eine Untersuchung über Bildungsökonomie, Curri-culum-Entwicklung und Didaktik im Rahmen systemkonformer Qualifika-tionsplanung, Frankfurt/M. 1972 (edition suhrkamp 5 5 6 ) , S. 59 ff.

70 Egon Becker/Gerd Jungblut, a.a.O., S. 60 .71 Zum Gesamtkomplex der verschiedenen Modelle der Politikberatung vgl.

Karl Theodor Schuon, Wissenschaft, Politik und wissenschaftliche Politik,Köln 1972 (Pahl-Rugenstein); ebenfalls: Egon Becker/Gerd Jungblut, a.a.O.,S. 110.

72 Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie,a.a.O., S. 55 ff, hier S. 68 .

73 Zur Kritik der Curriculum-Revision vgl.:Freerk Huisken, a.a.O., S. 104 ff.Egon Becker/Gerd Jungblut, a.a.O., S. 127 ff, S. 205 ff.Zum Scheitern der hessischen Curriculum-Reform als Musterbeispiel der da-bei auftretenden politischen Probleme vgl. den Bericht in: betrifft: erzie-hung, Nr. 8 /1972 , Helmut Becker, Peter Bonn und Norbert Groddeck, De-mokratisierung als Ideologie? Anmerkungen zur Curriculum-Entwicklungin Hessen, S. 1 9 - 2 9 .

74 Reinhard Kühnl, Anmerkungen zur politischen Funktion der deutschen Ge-schichtswissenschaft seit der Reichsgründung 1871 , in: Das Argument 70,Kritik der bürgerlichen Geschichtswissenschaft I, S. 5—21, hier S. 6.

75 Basisgruppe Geschichtswissenschaft Hamburg (Basis GWS), Historie zwischenIdeologie und Wissenschaft. Zur Kritik der herrschenden Geschichtswissen-schaft, Hamburg 1970, 2. Aufl., S. 37.Generell:vgl. ebenfalls: Arbeitskreis kritischer Historiker Marburg (Hg.), Kampf derbürgerlichen Geschichtswissenschaft, Marburg 1972 (mehr unter Aspektender Studienreform);eine umfassende Kritik liefern ebenfalls:Werner Berthold u. a. (Hg.), Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung,Köln 1971 (Pahl-Rugenstein), besonders S. 67 ff;vgl. weiterhin: Joachim Streisand (Hg.), Die deutsche Geschichtswissenschaftvom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben, Berlin1963 ;Joachim Streisand (Hg.), Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung vonder Reichseinigung von oben bis zur Befreiung vom Faschismus, Berlin 1965 ;zur Entwicklung des Historismus vgl. auch:Georg E. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditio-nellen Geschichtsfälschungen von Herder bis zur Gegenwart, München 1971(DTV).

76 Die Zitate sind der Darstellung der Basis GWS, Historie zwischen Ideologieund Wissenschaft, a.a.O., entnommen: S. 12, S. 2 6 ;vgl.: Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft, a.a.O., S. 86 ff;vgl. Basis GWS, Historie zwischen Ideologie und Wissenschaft . . . , a.a.O., S.16 ff;vgl. ebenda, S. 20 ff, S. 34 ff;

337

Page 338: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

vgl. ebenfalls Imanuel Geiss, Kritischer Rückblick auf Friedrich Meinecke, in:Das Argument 70, a.a.O., S. 2 2 - 3 6 .

77 Vgl. dazu Imanuel Geiss, Studien über Geschichte und Geschichtswissen-schaft, Frankfurt/M. 1972, S. 108 ff.

78 Vgl. auch die verschiedenen Aufsätze in: Das Argument 75, Kritik der bür-gerlichen Geschichtswissenschaft II.

79 Reinhard Kühnl, Anmerkungen zur politischen Funktion . . . , a.a.O., S.2 0 / 2 1 .

80 Allgemein zur Entnazifizierung: Reinhard Kühnl, Die Auseinandersetzungmit dem Faschismus in BRD und DDR, in: Anne Hartmann u. a.,B R D - D D R . Vergleich der Gesellschaftssysteme, Köln 1971 (Pahl-Rugen-stein), S. 2 4 8 - 2 7 1 .J. Fürstenau, Entnazifizierung. Ein Kapitel deutscher Nachkriegspolitik, Neu-wied—Berlin 1969; Zur Entnazifizierung der Lehrerschaft in der SBZ: Karl-Heinz Günther/Gottfried Uhlig, Geschichte der Schule in der Deutschen De-mokratischen Republik 1 9 4 5 - 1 9 6 8 , Berlin, bes. S. 29 .Bei Kriegsende gab es auf dem Gebiet der späteren SBZ 39 348 Lehrer undLehrerinnen, 28 719 davon waren NSDAP-Mitglieder!Für die Westzonen:vgl. die rasche Verteidigungs- und Integrationspolitik der Flüchtlingslehrer,die alle in die Westzonen abwanderten:Hessische Lehrer-Zeitung (HLZ), Jg . 1948 /49 ,Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung (ADLZ), Jg . 1949.

81 Claus Leggewie, Geschichte in Schul- und Sachwörterbüchern, in: Das Argu-ment 70, a.a.O., S. 218—265, hier S. 231 (im folgenden kurz: Leggewie,a.a.O., S. . . . ; ) Berichtigung des Zitats im Text: Professor A. Hillgruber lehrtmittlerweile in Köln.

82 Antrag der Jungsozialisten Rösrath an den Bundeskongreß der Jungsoziali-sten in Bremen vom 1 1 . - 1 3 . 12. 1970, in: betrifft: erziehung, Heft 2 /1972 ,S. 48 .

83 Peter Altmann, Zum Mechanismus heutiger Schulbuchproduktion, in:Kampf der Verdummung, Materialien einer Schulbuchkonferenz, Frank-furt/M. 1971 , S. 3 3 - 4 2 , hier S. 3 3 / 3 4 (im folgenden kurz: Kampf der Ver-dummung, a.a.O., S . . . . ) .

84 Vgl. Kampf der Verdummung, S. 35 f und 81 ff.85 Ebenda, S. 36—38; einige ausgewählte Richtlinien sind in dem Anhang dieses

Buches zu finden, S. 75—85.86 Ebenda, S. 38 , eine ausführliche Darstellung der Gutachterpraxis findet sich

im Anhang; S. 8 5 - 9 2 ;vgl. auch Leggewie, a.a.O., S. 229.

87 Zur Kritik dieses Sozialkundebuches vgl. Kampf der Verdummung, a.a.O., S.7 - 2 3 ;vgl. vor allem auch das Gutachten von Michael Imhof, Marburg/L. für dieGEW Marburg, o. O., o. Jg .

88 betrifft: erziehung, Heft 2 /1972 , a.a.O., S. 4 8 .89 Leggewie, a.a.O., S. 229.90 Ebenda, S. 223 .91 Egon Becker, Sebastian Herkommer, Joachim Bergmann, Erziehung zur An-

passung? , Frankfurt/M. 1967 (Wochenschau-Verlag), S. 127 ff.92 Vgl. dazu Hans Müller, Zur Effektivität des Geschichtsunterrichts, Stuttgart

1972 (Klett-Verlag), Hans Müller hat in einer empirischen Untersuchung anHauptschulen auf die Frage „Arbeiten Sie vorwiegend im Geschichtsunter-

338

Page 339: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

richt mit Lehrererzählungen, Geschichtsbuch oder Quellen? " von den Leh-rern folgende Antworten erhalten:Lehrererzählung 2 9 , 1 7 %Geschichtsbuch 41,67 % Quellen 20,82 % keine Antwort 8,33 % Aus dieser Untersuchung geht hervor, daß die Verwendung des Geschichts-buchs im Unterricht am beliebtesten ist; man kann aber mit hoher Wahr-scheinlichkeit annehmen, daß der Inhalt der Lehrererzählungen ebenfalls ausden Geschichtsbüchern stammt, so daß sich der Stellenwert des Schulbuchsnoch erheblich erhöht. Diese statistische Verteilung läßt sich zwar nicht un-mittelbar auf das Gymnasium übertragen, die Abweichungen werden aberwahrscheinlich nicht allzu groß sein.

93 Vgl. dazu: Rolf Schmiederer, Zur Problematik politischer Bildung, in: DasArgument 40 , Heft 5 /1966 , S. 394 ;ebenfalls: Leggewie, a.a.O., S. 233 .

94 Leggewie, a.a.O., S. 235.95 Vgl. dazu: Leggewie, a.a.O., S. 224 ; vgl. vor allem auch Anm. 92 .96 Vgl. dazu Hans Müller, Zur Effektivität des Geschichtsunterrichts, a.a.O., be-

sonders S. 125 ff.97 Vgl. zu folgendem vor allem: Freerk Huisken, Anmerkungen zur Klassenlage

der pädagogischen Intelligenz, in: Elmar Altvater/Freerk Huisken (Hg.), Ma-terialien zur Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors, a.a.O., S.405—438 (im folgenden kurz: Huisken, Anmerkungen . . . , a.a.O.).

98 Huisken, Anmerkungen . . . , a.a.O., S. 4 1 8 .99 Ebenda, S. 419 .

100 Vgl. die „Stellungnahmen von Juristen zu den von der Ministerpräsidenten-konferenz beschlossenen .Grundsätzen zur Frage der verfassungsfeindlichenKräfte im öffentlichen Dienst' ", in: Blätter für deutsche und internationalePolitik, Köln, Heft 2 /1972 , S. 1 2 4 - 1 6 5 ; Heft 3 /1972 , S. 2 4 6 - 2 9 4 ; vgl.ebenfalls: Erich Frister/Luc Jochimsen (Hg.) Wie links dürfen Lehrer sein?Unsere Gesellschaft vor einer Grundsatzentscheidung, Reinbek bei Ham-burg 1972 (rororo aktuell 1555) .

101 Ebenda.102 Schulrecht, Ergänzbare Sammlung der Vorschriften für Schule und Schul-

verwaltung in Hessen, hg. von Paul Seipp und Mitarbeitern, Neuwied seit1950 VI A I, S. 1 w.

103 Vgl. z. B. die Frankfurter Rundschau vom 15. 12. 1972 mit den beiden Ar-tikeln: „NPD-Mann darf Richter bleiben, Hamburger Richter-Dienstsenatlehnt Disziplinarverfahren ab" und „Keine Ausnahme für Professoren. Bre-mer Gericht begründet Ablehnung eines DKP-Hochschullehrers", aus deneneindeutig hervorgeht, daß mit zweierlei Maß gemessen wird.

104 Schulrecht, Ergänzbare Sammlung . . . , a.a.O., S. 2 a.105 Huisken, Anmerkungen . . . , a.a.O., S. 419 .106 Ebenda, S. 4 2 1 ;

vgl. zum Begriff der produktiven Arbeit auch:Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie,a.a.O., S. 261 ff.

107 Huisken, Anmerkungen . . . , a.a.O., S. 4 2 2 .108 Ebenda, S. 4 0 8 .109 Ebenda, S. 4 2 1 .110 Ebenda, S. 4 2 1 ; vgl. auch S. 4 1 1 .

339

Page 340: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

111 Ebenda, S. 424 .112 Ebenda, S. 4 2 5 .113 Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie,

a.a.O., S. 203 .114 Wulf D. Hund, u. a., Qualifikationsstruktur . . . , a.a.O., S. 1201 /2 .115 Ebenda, S. 1202.116 Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie,

a.a.O., S. 207.117 Ebenda, S. 207.118 Ebenda, S. 386 /7 .119 Ebenda, S. 388 .120 Gerwin Schefer, Das Gesellschaftsbild des Gymnasiallehrers, Frankfurt/M.

1969 (Suhrkamp) (im folgenden kurz: Gerwin Schefer: Das Gesellschafts-bild . . . , a.a.O.).

121 Vgl. das unveröffentlichte Manuskript von Arnulf Hopf, Politik und Gesell-schaft im Bewußtsein von Lehrern. Eine empirische Einstellungsuntersu-chung bei hessischen Absolventen der Abteilung für Erziehungswissenschaf-ten (apl. Lehrer) nach 1968, Marburg/L. 1973.

122 Gerwin Schefer: Das Gesellschaftsbild . . . , a.a.O., S. 179; vgl. auch S. 35 ff.123 Huisken, Anmerkungen . . . , a.a.O., S. 4 1 8 ; vgl. ferner zur „kapitalistischen

Reformpolitik": Martin Baethge, Abschied von Reformillusionen . . . ,a.a.O., S. 2 7 / 2 8 .

124 Gerwin Schefer, Das Gesellschaftsbild . . . , a.a.O., S. 40 ff.125 Ebenda, S. 43 ff.126 Ebenda, S. 179; vgl. auch 30 ff.127 Ebenda, S. 54.128 Ebenda, S. 179; vgl. auch S. 45 ff.129 Ebenda, S. 82 ff; S. 94 ff; S. 180.130 Ebenda, S. 179 /180 .131 Ebenda, S. 99 .132 Ebenda, S. 78 ff und S. 180.133 Egon Becker, Sebastian Herkommer, Joachim Bergmann, Erziehung zur An-

passung? , a.a.O., S. 90 .134 Gerwin Schefer, Das Gesellschaftsbild . . . , a.a.O., S. 78 .135 Egon Becker, u. a„ Erziehung zur Anpassung? , a.a.O., S. 148.136 Ebenda, S. 147.137 Ebenda, S. 126 f und S. 140; vgl. auch Gerwin Schefer, Das Gesellschafts-

bild . . . , a.a.O., S. 78 .138 Gerwin Schefer, Das Gesellschaftsbild . . . , a.a.O., S. 180 ; vgl. auch S.

124 ff.139 Arno Combe, Kritik der Lehrerrolle, München 1971 (List-Verlag) S. 20 .140 Ebenda, S. 20.141 Gerwin Schefer, Das Gesellschaftsbild . . . , a.a.O., S. 168.142 Ebenda, S. 171 .143 Ebenda, S. 169; S. 170; S. 173.144 Ernest Jouhy, Die antagonistische Rolle des Lehrers im Prozeß der Reform,

in: Erziehung in der Klassengesellschaft, München 1970 (List-Verlag), S.2 2 4 - 2 4 6 , hier S. 245 .

145 Huisken, Anmerkungen . . . , a.a.O., S. 417 .146 Gerwin Schefer, Das Gesellschaftsbild . . . , a.a.O., im Nachwort von Helge

Pross, S. 249.147 Ebenda, S. 249 .

340

Page 341: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

148 Ebenda, S. 253 .149 Vgl. zum Begriff der Sozialisation: Heinz Abels (Hg.), Sozialisation in der

Schule, Bochum 1971 , S. 2 ff, „Sozialisation bedeutet . . . einmal die Befä-higung des Einzelnen zur Auseinandersetzung mit den Anforderungen und Chancen der umgebenden Gesellschaft. Neben diese allgemeine Explikationmuß die Ausrichtung auf das soziale Verhalten treten: Sozialisation istzweitens die Befähigung des Einzelnen zur Durchsetzung individueller Inter-essen, d. h. die Befähigung, selbstentscheidende Ziele anzustreben und selbstverantwortlich zu verwirklichen" (Hervorhebung im Text, d. Verf.).Ebenda, S. 3.

150 Hans Müller, Zur Effektivität des Geschichtsunterrichts, a.a.O., S. 5 1 ;nach Heinz Abels (Hg.), Sozialisation in der Schule, a.a.O., gehören 44 % der Bevölkerung zur Arbeiterklasse; vgl. dazu vor allem: Heinz Jung, ZurDiskussion um den Inhalt des Begriffs „Arbeiterklasse" und zu Strukturver-änderungen in der westdeutschen Arbeiterklasse, in: Das Argument, Heft9 / 1 0 / 1 9 7 1 , S. 6 6 5 - 6 9 8 , hier vor allem S. 687 ff.

151 Armin Gutt/Ruth Salffner, Sozialisation und Sprache, Didaktische Hinwei-se zu emanzipatorischer Sprachschulung, Frankfurt/M. 1971 , S. 11.

152 Heinz Abels (Hg.), Sozialisation in der Schule, a.a.O., S. 296 .153 Sozialisation und kompensatorische Erziehung, Ein soziologisches Seminar

an der Freien Universität Berlin als hochschuldidaktisches Experiment, Ber-lin 1969, S. 143.

154 Vgl. Undeutsch, Zum Problem der begabungsgerechten Auslese beim Ein-tritt in die höhere Schule und während der Schulzeit, in: Begabung undLernen, hg. von Heinrich Roth (= Gutachten und Studien 4 ) , Stuttgart1968, S. 3 7 7 - 4 0 5 , hier S. 3 9 3 - 3 9 5 .

155 Gutt/Salffner, Sozialisation und Sprache, a.a.O., S. 24.156 Roeder, u. a., Sozialstatus und Schulerfolg, Heidelberg 1965.157 Vgl. z. B. Basil Bernstein, Sprache und Soziale Schicht. Ein Forschungsbe-

richt, in: ders., Soziale Struktur, Sozialisation und Sprachverhalten, Aufsät-ze von 1958—1970, Verlag de Munter Amsterdam 1970 (Schwarze ReiheNr. 8 ) , S. 3 6 - 4 2 .

158 Basil Bernstein, Linguistische Codes, Verzögerungsphänomene und Intelli-genz, in: ders., Soziale Struktur, Sozialisation und Sprachverhalten, a.a.O.,S. 6 2 - 8 3 , hier die Tabelle auf S. 71 .

159 Basil Bernstein, Soziale Struktur, Sozialisation und Sprachverhalten, a.a.O.;Bernsteins Ergebnisse in englischer Sprache müssen mit Vorsicht ausgewer-tet werden, weil sich bei der Übersetzung eine Differenz ergibt zwischendem englischen Wort „class", das eigentlich dem deutschen ,,Schicht"-Be-griff der bürgerlichen Soziologie entspricht, und dem marxistischen Klassen-begriff;vgl. zu Bernstein weiter:Basil Bernstein, Ulrich Oevermann, Regine Reichwein, Heinrich Roth, Ler-nen und soziale Struktur, Aufsätze 1965—1970, Verlag de Munter, Amster-dam (Schwarze Reihe Nr. 9 ) ;zur Kritik der Bernstein-Overmannschen Theorie: Konrad Ehlich, JosefHohnhäuser, Frank Müller, Dietmar Wiehle, Spätkapitalismus — Sozio-lin-guistik — Kompensatorische Erziehung, in: Kursbuch 24 (Wagenbach-Ver-lag), S. 3 3 - 6 0 .

160 Heinz Abels (Hg.), Sozialisation in der Schule, a.a.O., S. 294 .161 Oskar Negt, Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theo-

rie und Praxis der Arbeiterbildung, Frankfurt/M. 1971 (EVA), S. 59 .

341

Page 342: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

162 Gutt/Salffner, Sozialisation und Sprache, a.a.O., S. 26.163 Ebenda, S. 20.164 Kursbuch 24, a.a.O., S. 54.165 Gutt/Salffner, Sozialisation und Sprache, a.a.O., S. 26.166 Ebenda, S. 22 /23 .167 Ebenda, S. 23.168 Vgl. vor allem: Manuela du Bois-Reymond, Strategien kompensatorischer

Erziehung. Das Beispiel der USA, Frankfurt/M. 1971, S. 139 ff.169 Vgl. dazu vor allem: Oskar Negt, Soziologische Phantasie und exemplari-

sches Lernen, a.a.O.170 Sozialisation und kompensatorische Erziehung, a.a.O., S. 139.171 Ebenda, S. 140.1 72 Gutt/Salffner, Sozialisation und Sprache, a.a.O., S. 24 .173 Hans Müller, Zur Effektivität des Geschichtsunterrichts, a.a.O., S. 5 1 / 5 2 .174 L. von Friedeburg, P. Hübner, Das Geschichtsbild der Jugend, München

1964.175 Mit einer Ausnahme, auf die unten eingegangen wird.176 Vgl. Bergmann, Klaus, Preisler, Volkmar, Wischniowski, Detlev, Geschichts-

unterricht-Relikt oder Notwendigkeit, in: Das Argument Nr. 70, Sonder-band, S. 1 9 5 - 2 1 7 .

177 von Friedeburg, Hübner, a.a.O., S. 4 5 .178 Zitiert nach von Friedeburg, Hübner, S. 9.179 Vgl. Becker, Egon, Herkommer, Sebastian, Bergmann, Joachim, Erziehung

zu Anpassung? , Frankfurt/M. 1967.180 Vgl. ebenda, S. 1 5 8 - 1 6 1 , 165 und 175; s. auch S. Herkommer, Politische

Bildung in der BRD, in: betrifft: erziehung, Jg . 1, 1968 , H. O.181 Zur Umerziehung s. U. Schmidt, T. Fichter, Der erzwungene Kapitalismus,

Berlin 1971 , S. 1 1 7 - 1 6 9 , bes. S. 1 3 5 - 1 5 3 .182 Vgl. dazu auch Bergmann u. a., Geschichtsunterricht, a.a.O., S. 195—196.183 Amtsblatt des Hessischen Kultusministers, Jg . 17, 1964, S. 4 5 ; s. auch eben-

da, S. 450—464; vgl. die bisherige Regelung im Amtsblatt von 1957, Son-dernummer 4, S. 467—468, s. dort auch S. 465—481 zur Aufgabe des Ge-schichtsunterrichts an Gymnasien.

184 Der primäre Grund für die technologische Reform hat allerdings in ökono-mischen Notwendigkeiten gelegen. Die Veränderungen im Fächerkanonmüssen im Rahmen der Bemühungen um eine Effektivierung der Schule inRichtung auf die veränderten Produktionsbedingungen (s. viertes Kapitel C)gesehen werden.

185 Wir plädieren hier keineswegs für eine Wiedereinführung der genanntenFächer. Daß diese Fächer besonders ideologieträchtig waren und sind, heißtaber noch nicht, daß sie nicht wenigstens noch vermittelt eine historischeDimension hätten.

186 Vgl. Bazon Brock, Wahrlich die endgültige Verelendung, in: FrankfurterAllgemeine Zeitung, vom 27. 12. 72, S. 24 .

187 Siehe: Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länderin der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Vereinbarung zur Neugestaltungder gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe II vom 7. Juli 1972, Neu-wied, August 1972, S. 1 7 - 2 4 .Inzwischen sollen schon andere Vorstellungen über den Fächerkanon ent-wickelt worden sein. Das berührt aber nicht unseren Hauptargumentations-strang, der nicht in der Diskussion um das Fach Geschichte, sondern in derAuseinandersetzung um die Inhalte des Geschichtsunterrichts und das ge-

342

Page 343: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

schichtliche Denken über den schulischen Rahmen hinaus besteht.188 Vgl. K. H. Tjaden, Soziales System und sozialer Wandel, Stuttgart 1969, S.

7/8 und 1 6 - 3 0 ;K. H. Tjaden (Hg.), Soziale Systeme, Neuwied und Berlin 1971, S. 1 3 - 5 2 ,

189 K. H.Tjaden (Hg.). Soziale Systeme, a.a.O., S. 14. Für die Volkswirtschaftslehre,die sich als „Wirtschaftslehre" im Wahl- und Pflichtbereich und als Grund- undLeistungskurs findet, weist Hofmann den Verzicht auf Geschichte nach, s.W. Hofmann, Universität, Ideologie, Gesellschaft, Beiträge zur Wissen-schaftssoziologie, Frankfurt/M. 1968.

190 Hans Albert, Probleme der Wissenschaftslehre, in: Handbuch der empiri-schen Sozialforschung, hg. von René König unter Mitarbeit von HeinzMaus, Stuttgart 1962, Bd. I, S. 3 8 - 6 3 .

191 Karl R. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Th. W. Adorno,u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied und Ber-lin 1972, S. 1 0 3 - 1 2 3 .

192 Autorenkollektiv, Die Wissenschaft von der Wissenschaft, Berlin (DDR)1968, S. 32 , s. auch S. 2 6 - 3 2 .

193 Autorenkollektiv, Historie zwischen Ideologie und Wissenschaft, Hamburg1970, S. 36 .

194 Vgl. den Abschnitt über den Historismus in diesem Kapitel.195 Hofmann, Universität, a.a.O., S. 129.196 Brock, Verelendung . . . , a.a.O., S. 24 , s. auch Klaus Buhr, Philosophisches

Wörterbuch, a.a.O., S. 405—411. Das Prozeßdenken dieser Zeit war aller-dings keines im marxistischen Sinne.

197 Bergmann u. a., Geschichtsunterricht, a.a.O., S. 213 , die Hervorhebungensind von uns, d. Verf.

198 Vgl. Rahmenrichtlinien, a.a.O., S. 2 5 / 2 6 , s. auch S. 1 8 - 3 0 , wo einige fort-schrittliche Ansätze zu finden sind. Hier sind die Ergebnisse der oben er-wähnten Studie eingegangen, was insofern nicht überraschend kommt, alseiner der Autoren (v. Friedeburg) inzwischen Kultusminister von Hessen ist.

199 Vgl. Deppe, Arbeiterbewußtsein, a.a.O., S. 8, S. 74 oben ff, s. auch S.118—205 und im Perspektivenkapitel die Angaben über Streiks und dieStreikbereitschaft der westdeutschen Arbeiter in den letzten Jahren.

200 Vgl. Negt, Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen, Frankfurtam Main 6 1 9 7 1 , S. 45 , wo Negt die Tendenz zur Personalisierung bei denArbeitern unter den Begriff der kognitiven Entfremdungsmechanismenfaßt.

201 Vgl/Bergmann u. a., Geschichtsunterricht, a.a.O., S. 216 .202 Vgl. H. Deppe-Wolfinger in F. Deppe, Arbeiterbewußtsein, a.a.O., S. 309 ff,

wo sie begrifflich vier Stufen für die Bewußtseinsbildung der Arbeiterjugendunterscheidet: 1. Konfliktbewußtsein, 2. Lagebewußtsein, 3. Interessen-bewußtsein und 4. Klassenbewußtsein.

203 Siehe Klaus, Buhr, Philosophisches Wörterbuch, a.a.O., Stichwort „gesell-schaftliches Bewußtsein", S. 4 2 3 - 4 2 5 .

204 Vgl. Negt, Soziologische Phantasie . . . , a.a.O., S. 83 ff.205 Vgl. dazu Klaus, Buhr, Philosophisches Wörterbuch, a.a.O., S. 4 0 2 - 4 0 4

(Geschichte), S. 4 1 2 - 4 1 4 (geschichtliches Denken), S. 4 1 5 - 4 1 8 (Ge-schichtsphilosophie), S. 684—694 (Materialismus, dialektischer und histori-scher), das berühmte Marxzitat aus dem Vorwort „Zur Kritik der politi-schen Ökonomie", MEW 13, S. 8 f. Die ausführlichste Darstellung des Hi-storischen Materialismus findet sich im Original bei Engels, Anti-Dühring(MEW 20) und ders., L. Feuerbach und der Ausgang der klassischen deut-

343

Page 344: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

schen Philosophie (MEW 21) . Ein hervorragendes Beispiel für seine Anwen-dung ist die Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" vonKarl Marx (MEW 8) .

206 Vgl. Neuordnung der Lehrerausbildung, Planungen, Enttäuschungen, Alter-nativen, hg. von der GEW in Hessen, Frankfurt am Main 1972, S. 1 7 5 - 2 0 3 .

207 Zur Problematik der Subsumierung der Begriffe „Wissenschaft" und „Tech-nik" unter die Produktivkräfte vgl. Anmerkung 43 dieses Kapitels.

208 Neuordnung der Lehrerausbildung, a.a.O., S. 177—178.209 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, MEW 13, S. 9.

Fünftes Kapitel

1 Heinrich Popitz, u. a., Das Gesellschaftsbild des Arbeiters, Tübingen 1957.2 Vgl. dazu die Analyse der Septemberstreiks: IMSF (Hg.), Die September-

streiks 1969, Darstellung - Analysen - Dokumente, Köln 1969 (Pahl-Ru-genstein-Verlag).

3 Vgl. dazu die Stellungnahmen verschiedener Juristen in den „Blättern fürdeutsche und internationale Politik"; Nr. 2 /1972 und 3 /1973 .

4 Vgl. dazu: Gerhard Stuby, Stehen wir vor einem neuen Sozialistengesetz?in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 1/1972, S. 5 9 - 7 6 ;ebenfalls: Autorenkollektiv, Materialien zum Berufsverbot, Offenbach 1972(Reihe Roter Pauker).

5 Peter Altmann, Bauchlandung des Dr. Wallmann, in: Marburger Echo, Nr. 8 (1972) .

6 Vgl. Peter Altmann, Bauchlandung . . . , a.a.O.vgl. auch das Gutachten von M. Imhof, Marburg/L„ für die GEW/Marburg,o.O. , o . J .

7 Hans-Hermann Hartwich, Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher Statusquo, Köln—Opladen 1970, besonders S. 54 ff.

8 Johannes Beck, Demokratische Schulreform in der Klassengesellschaft?, in:Johannes Beck, u. a., Erziehung in der Klassengesellschaft, München 1970,S. 9 0 - 1 2 3 , hier vor allem S. 119 /120 .

9 Vgl. Günter Berndt, Reinhard Strecker (Hg.), Polen — ein Schauermärchenoder Gehirnwäsche für Generationen, Reinbek bei Hamburg 1971 (rororoaktuell 1500) .

10 Vgl. Friedhelm Nyssen, Schule im Kapitalismus, Der Einfluß wirtschaftli-cher Interessenverbände im Felde der Schule, Köln 1969 (Pahl-Rugenstein-Verlag).

11 Winfried Schwanborn, Thomas Schmitt, Wehrkunde — Militär in den Schu-len, Teil I/II, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr.8 /1972 , S. 8 1 5 - 8 3 1 und Nr. 9 /1972 , S. 9 7 1 - 9 9 2 .

12 Ebenda, S. 830 .13 Ebenda, S. 8 3 1 .14 Hessisches Kultusministerium (Hg.), Rahmenrichtlinien. Sekundarstufe I:

Gesellschaftslehre, Wiesbaden 1972, S. 25 .15 Vgl. die sozialwissenschaftliche Unterrichtsreihe, hg. von Rolf und Ingrid

Schmiederer, die — mit Einschränkungen — zu empfehlen ist; in diesem Zu-sammenhang sei auch auf die demnächst erscheinenden Modelle zum Ge-schichtsunterricht im Kölner Pahl-Rugenstein-Verlag hingewiesen.

16 Vgl. bes. Kritik der bürgerlichen Geschichtswissenschaft, Das Argument 70u. 75, Berlin 1972.

344

Page 345: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Auswahlbibliographie

A. Schulbücher

G. Bonwetch u. a. (Bearbeiter), Grundriß der Geschichte Ausgabe B, Bd. 2, Vomspäten Mittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart (Klett) 1970 , 7.Aufl. zit. als Klett I G. Bonwetch u. a. (B . ) , Grundriß der Geschichte, Ausgabe B, Bd. 3 - Von 1850bis zur Gegenwart, Stuttgart (Klett) 1970, 6. Aufl. zit. als Klett IIH. Gundel (B . ) , Grundriß der Geschichte für die Oberstufe der höheren Schulen,gekürzte zweibändige Ausgabe B, Bd. 1 — Von der Urzeit bis zum Ende des Ab-solutismus, Stuttgart (Klett) 1970, 3. Aufl. zit. als Klett IIIBd. 2 — Die moderne Welt (Von der bürgerlichen Revolution bis zur Gegenwart),o. J . , zit. als Klett III A J. Grolle (B. ) , Menschen in ihrer Zeit, Bd. 4 — In der frühen Neuzeit, Stuttgart1970, zit. als Klett IVJ. Grolle u. a. (B. ) , Menschen in ihrer Zeit, Bd. 5 — Im vorigen Jahrhundert,Stuttgart (Klett) 1971 , zit. als Klett V F. J. Lucas/H. Bodensiek, E. Rumpf (B. ) , Menschen in ihrer Zeit — In unsererZeit - Stuttgart (Klett) 1971 , 2. Aufl., zit. als Klett VIJ. Grolle (B. ) , Handreichungen für den Lehrer, zu „Menschen in ihrer Zeit",Bd. 4, Stuttgart (Klett) 1971 , zit. als Klett VIIP. Furth u. a. (B . ) , Handreichungen für den Lehrer, zu „Menschen in ihrerZeit", Bd. 5, Stuttgart (Klett) 1971 , zit. als Klett VIIIF. J. Lucas/H. Bodensiek, E. Rumpf (B. ) , Handreichungen für den Lehrer „zuMenschen in ihrer Zeit", Bd. 6, Stuttgart (Klett) 1971 , zit. als Klett IXW. Kühn, Erzählungen aus der Geschichte, Bd. I zu „Menschen in ihrer Zeit",Stuttgart (Klett) 1971 , zit. als Klett X E. Kaiser (Hg.), Grundzüge der Geschichte für die Mittelstufe an Gymnasien,Bd. 2 — Vom Frankenreich zum Westfälischen Frieden, Frankfurt am Main (Die-sterweg) 1971 , 8. Aufl., zit. als Diesterweg I E. Kaiser (Hg.), Grundzüge der Geschichte Bd. 3 — Vom Westfälischen Friedenbis zum Jahre 1890 — Frankfurt am Main (Diesterweg) 1 9 7 1 3 ; zit. als Diester-weg IIE.Kaiser (Hg.), Grundzüge der Geschichte, Bd. 4 — Von 1890 bis zur Gegenwart— Frankfurt am Main (Diesterweg) 1 9 7 1 3 , zit. als Diesterweg IIIH. Busley (B . ) , Spiegel der Zeiten, Ausgabe B, Bd. 2 — Vom Frankenreich biszum Westfälischen Frieden — Frankfurt am Main (Diesterweg) 1 9 7 1 3 , zit. alsDiesterweg IVH. E. Mager (B. ) , Spiegel der Zeiten, Ausgabe B, Bd. 3 — Vom Absolutismus biszum Imperialismus —Frankfurt am Main (Diesterweg) 1 9 7 1 2 , zit. als Diesterweg V J. Hoffmann (B . ) , Spiegel der Zeiten, Ausgabe B, Bd. 4 — Von der RussischenRevolution bis zur Gegenwart — Frankfurt am Main (Diesterweg) 1971 , zit. alsDiesterweg VIH. Fischer (B . ) , Geschichte der Gegenwart, Frankfurt am Main (Diesterweg)1 9 6 5 1 1 , zit. als Diesterweg VIIH. G. Fernis u. A. Hillgruber, Grundzüge der Geschichte (Oberstufe) Historisch-politisches Arbeitsbuch, Textband II — Vom Zeitalter der Aufklärung bis zurGegenwart, Frankfurt am Main (Diesterweg) 1 9 7 0 4 , zit. als Diesterweg VIIIH. Meyer u. W. Langenbeck (Hg.), Weltgeschichte im Aufriß — Arbeits- undQuellenbuch — Bd. 3, von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart,Frankfurt am Main (Diesterweg) 1 9 7 0 4 , zit. als Diesterweg IX

345

Page 346: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

H. R. Tenbrock, K. Kluxen, H. E. Stier (Hg.), Zeiten und Menschen, Ausgabe G,Bd. 1 — Der geschichtliche Weg unserer Welt bis 1776 — Hannover/Paderborn1970, zit. als Schroedel/Schöningh I H. R. Tenbrock, K. Kluxen, H. E. Stier (Hg.), Zeiten und Menschen, Ausgabe G,Bd. 2 — Die geschichtlichen Grundlagen der Gegenwart (1776 bis heute) — Han-nover/Paderborn 1970, zit. als Schroedel/Schöningh IIH. R. Tenbrock u. a. (Hg.), Zeiten und Menschen, Ausgabe B, Bd. 2 — Zeit derabendländischen Christenheit (900—1648) — Hannover/Paderborn 1966, zit. alsSchroedel/Schöningh IIIH. R. Tenbrock u. a. (Hg.), Zeiten und Menschen, Ausgabe B, Bd. III, Das Wer-den der modernen Welt ( 1 6 4 8 - 1 9 0 0 ) - Hannover/Paderborn 1968, zit. alsSchroedel/Schöningh IVH. R. Tenbrock u. a. (Hg.), Zeiten und Menschen, Ausgabe B, Bd. 4, — Europaund die Welt (das 20. Jahrhundert) — Hannover/Paderborn 1966, zit. als Schroe-del/Schöningh V H. R. Tenbrock (B. ) , Didaktischer Grundriß für den Geschichtsunterricht zuBd. 2 „Zeiten und Menschen" Ausgabe B, Hannover/Paderborn 1966, zit. alsSchroedel/Schöningh VIH. R. Tenbrock (B. ) , Didaktischer Grundriß für den Geschichtsunterricht zuBd. 3, „Zeiten und Menschen" Ausgabe B, Hannover/Paderborn 1 9 7 0 2 , zit. alsSchroedel/Schöningh VIIH. R. Tenbrock (B. ) , Didaktischer Grundriß für den Geschichtsunterricht zuBd. 4 „Zeiten und Menschen", Ausgabe B, Hannover/Paderborn 1 9 6 9 2 , zit. alsSchroedel/Schöningh VIIIB. Deermann u. a. (Hg.), Zeiten und Menschen, Ausg. C, Bd. 3, Neuzeit (bis zumEnde des 19. J h . ) , Hannover/Paderborn 1970, zit. als Schroedel/Schöningh IXH. Meyer, G. Rönnebeck (Hg.), USA—UdSSR, Entwicklungs- und Gegenwarts-probleme zweier Weltmächte (Neue Gemeinschaftskunde für Gymnasien), Han-nover 1 9 7 1 2 , zit. als Schroedel I H. Meyer, G. Rönnebeck (Hg.), Der totalitäre Staat, Hannover 1966, zit. alsSchroedel IIH. Meyer, G. Rönnebeck (Hg.), Das Werden der modernen Welt durch die wirt-schaftliche und gesellschaftliche Revolution, Hannover 1 9 7 1 2 , zit. als Schroe-del IIIW. Keßel (Hg.), Zeiten und Menschen — geschichtliches Unterrichtswerk für dieGymnasien Bayerns, Bd. 2, Mittelstufe, Mittelalter und Neuzeit, Hannover/Mün-chen 1969, zit. als Schroedel IVH. R. Tenbrock (Hg.), Geschichtliches Unterrichtswerk für höhere Lehranstal-ten, Bd. III, Mittelstufe, Das Werden der modernen Welt, Hannover 1957 7 , zit. alsSchroedel V

George/Hilligen (B.) , Sehen, Beurteilen, Handeln, Frankfurt am Main (Hirsch-graben) 1 9 7 2 2 , (5 . /6 . Schuljahr) zit. als Hirschgraben I Heumann (B . ) , Mensch und Gemeinschaft in Geschichte und Gegenwart, Frank-furt am Main (Hirschgraben) 1971 , 6. Aufl. (9. Klasse Hauptschule) zit. alsHirschgraben II

346

Page 347: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

347

B. Ausgewählte Literatur zu den behandelten Themen

A. Französische RevolutionE. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt/M. 1972F. Deppe, Verschwörung, Aufstand und Revolution, Frankfurt/M. 1970 (Euro-päische Verlagsanstalt)I. Fetscher, Politikwissenschaft, Funk-Kolleg, Frankfurt/M. 1968O. H. v. d. Gablentz, Die politischen Theorien seit der amerikanischen Unabhän-gigkeitserklärung, Köln/Opladen 1 9 6 7 3

K. Griewank, Die Französische Revolution, Graz/Köln 1 9 6 7 3

J. Habermas, Naturrecht und Revolution, in: Ders., Theorie und Praxis, Frank-furt/M. 1972 (Vierte, durchgesehene und erweiterte Auflage)A. Hartig/G. Schneider/M. Meitzel, Großbürgerliche Aufklärung als Klassenver-söhnung, Berlin 1972 (Voltaire)A. Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1972E. Hobsbawm, Europäische Revolutionen, München 1962L. Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied/Berlin 1966(Luchterhand)R. Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft, Liberalimus — Faschismus, Reinbekbei Hamburg 1971 (Rowohlt)W. Rosenbaum, Naturrecht und positives Recht, Neuwied/Darmstadt 1972G. F. Rude, Die Arbeiter und die Revolutionsregierung, in: W. Markow *(Hg.),Maximilien Robespierre 1 7 5 8 - 1 7 9 4 , Berlin 1961 , S. 2 8 7 - 3 0 9 (Rütten und Loe-

A. Soboul, Die große Französische Revolution, 2 Bde, Frankfurt/M. 1973.

B. Reformation und Bauernkrieg in DeutschlandE. Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, Frankfurt/M. 1969F. Engels, Der deutsche Bauernkrieg, in: Marx-Engels-Werke (MEW) 7, S.3 2 9 - 4 1 3 (Dietz Verlag)R. Wohlfeil (Hg.), Reformation oder frühbürgerliche Revolution? München1972

C. Die Arbeiterbewegunga) GesamtdarstellungenW. Abendroth, Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung. ErweiterteAusgabe. Frankfurt/M. 1972 (Suhrkamp)H. Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, München 1970 (dtv)Autorenkollektiv (W. Ulbricht u. a.), Geschichte der deutschen Arbeiterbewe-gung in acht Bänden (Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK derSED). Berlin (DDR), 1966 (Dietz-Verlag)W. Hofmann, Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 20. Jahrhun-derts, Berlin/New York 1971 (Sammlung Göschen)W. Schmidt, Kritik der Geschichtsfälschungen in den Hauptthemen und Leit-linien des vorherrschenden Geschichtsbildes in der westdeutschen bürgerlichenHistoriographie zur Geschichte der Arbeiterbewegung, in: W. Bertold u. a. (Hg.),Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung, S. 311—456. (Pahl-Rugenstein-Verlag) Köln 1970J. Streisand, Deutsche Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Einemarxistische Einführung, Köln 1972 (Pahl-Rugenstein-Verlag)

Page 348: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

b) Zur Situation der Arbeiter in der BRDDas Argument 61 u. 62 . Die Arbeiterklasse im Spätkapitalismus. Klassenstrukturund Klassenbewußtsein. Westberlin 1970F. Deppe, Das Bewußtsein der Arbeiter. Studien zur Soziologie des Arbeiterbe-wußtseins. Köln 1971 (Pahl-Rugenstein-Verlag)Klassen- und Sozialstruktur der B R D 1 9 5 0 - 1 9 7 0 , 2 Bde, Ffm 1973 u. 1974(Verlag Marxistischer Blätter)

D. Russische Oktoberrevolution und Novemberrevolution in Deutschland1. Autorenkollektiv, Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion,Ffm 1971 (Verlag Marxistischer Blätter)M. Hellmann (Hg.), Die Russische Revolution von der Abdankung des Zaren biszum Staatsstreich der Bolschewiki, München 1974 (dtv)J. Reed, Zehn Tage, die die Welt erschütterten (Fischer-Verlag und Dietzverlag)2. Autorenkollektiv, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 3, a.a.O.J. S. Drabkin, Die Novemberrevolution 1918 in Deutschland, Berlin (DDR)1968G. A. Ritter und S.Miller, Die deutsche Revolution 1 9 1 8 - 1 9 , Dokumente,Ffm/Hamburg 1968 (Fischer-Bücherei)

E. Das Ende der Weimarer RepublikK. D. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, Villingen i 9 6 0 3

E. Czichon, Wer verhalf Hitler zur Macht? Köln 1967 (Pahl-Rugenstein)G. Jasper, Von Weimar zu Hitler 1 9 3 0 - 1 9 3 3 , Köln/Berlin 1968 (Kiepenheuerund Witsch)A. Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, Ffm 1961 (EVA)K. Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, Mün-chen 1962 (Nymphenburger)

F. Der Kalte KriegG. Alperovitz, Atomare Diplomatie: Hiroshima und Potsdam, München 1966(Rütten und Loening)R. Badstübner/S. Thomas, Die Spaltung Deutschlands 1 9 4 5 - 1 9 4 9 , Berlin 1966(Dietzverlag)D. Horowitz, Kalter Krieg, Hintergründe der US-Außenpolitik von Jal ta bis Viet-nam, Bd. I—II, Berlin 1969 (Wagenbach)E.-U. Huster u. a., Determinanten der westdeutschen Restauration, Ffm 1972(édition suhrkamp)L. L. Matthias, Die Kehrseite der USA, Reinbek 1971 (rororo)E. Schmidt, Die verhinderte Neuordnung 1 9 4 5 - 1 9 5 2 , Ffm 1970 (EVA)

G. Kolonialismus und Entkolonialisierung — Imperialismus und Dritte WeltG. Grohs/B. Tibi, Zur Soziologie der Dekolonisation in Afrika, Ffm 1973 (Fi-scher-Bücherei)E. Krippendorff (Hg.), Probleme der internationalen Beziehungen, Ffm (éditionsuhrkamp) 1972W. I. Lenin, Der Imperialismus als letztes Stadium des Kapitalismus, u. a. in:Werke Bd. 22, S. 1 8 9 - 3 0 9 (Dietzverlag)H. Magdoff, Das Zeitalter des Imperialismus, Ffm o. J. (Verlag Neue Kritik)G. v. Paczensky, Die Weißen kommen. Die wahre Geschichte des Kolonialismus,Hamburg 1970 (Hoffmann & Campe)D. Senghaas u. a., Imperialismus und strukturelle Gewalt, Ffm 1972 (éditionsuhrkamp)

348

Page 349: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

H. Wissenschaftlicher Sozialismus und IdeologiebegriffK. Beutler, Marx in den Sozialkundebüchern, in: Blätter für deutsche und inter-nationale Politik Nr. 5 / 1 9 7 1 , S. 4 9 9 - 5 0 6K. Lenk, Ideologie, Neuwied-Berlin 1 9 7 0 4 (Zusammenstellung wichtiger Texte)Marx-Engels-Studienausgabe, Bd. I—IV (hrsg. v. I. Fetscher), Ffm 1966 (Fi-scher-Bücherei)H. Reichelt, Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffes bei Karl Marx, Ffm1971 (EVA)Projekt Klassenanalyse, Materialien zur Klassenstruktur der BRD, I. Teil, Theo-retische Grundlagen u. Kritiken, Westberlin 1973 (VSA)Zur Kritik der politischen Ökonomie, Einführung in das ,Kapital' Band I (Marx-Arbeitsgruppe Historiker), Ffm 1972 (EVA)

Die Autoren

Reinhard Assling, geb. 1948, studiert seit 1969 Geschichte, Politik, Germanistikin Marburg.

Jürgen Burger, geb. 1949, studiert seit 1969 Geschichte, Politik und Pädagogikin Marburg.

Horst Hagemann, geb. 1943, studiert seit 1971 Politik und Geschichte in Mar-burg.

Michael Kern, geb. 1951 , studiert seit 1971 Politik und Soziologie in Marburg.Rainer Klebe, geb. 1948, studiert seit 1969 Politik, Anglistik, Pädagogik in Mar-

burg.Reinhard Kühnl, geb. 1936, ist Professor für wissenschaftliche Politik an der

Universität Marburg. Veröffentlichte u. a.: Die nationalsozialistische Linke1925 bis 1930 (1966) ; Das Dritte Reich in der Presse der Bundesrepublik(1966) ; Die NPD. Struktur, Ideologie und Funktion einer neofaschistischenPartei ( 1 9 6 9 ) ; Deutschland zwischen Demokratie und Faschismus (1969) ;Formen bürgerlicher Herrschaft I, Liberalismus — Faschismus (1971) ; (Hg.:)Formen bürgerlicher Herrschaft II, Der bürgerliche Staat der Gegenwart (1972) .

Amelie Methner, geb. 1950, studiert seit 1969 Politik, Anglistik und Philosophiein Marburg.

Uwe Naumann, geb 1951 , studiert seit 1970 Sozialkunde, Germanistik undPädagogik in Marburg und Hamburg.

Gerhard Schäfer, geb. 1949, studiert seit 1969 Pädagogik, Politik und Anglistikin Marburg.

Sylvia Schöningh, geb. 1949, studiert seit 1969 Germanistik, Politik und Päd-agogik in Marburg.

Gerd Wayand, geb. 1945, studierte von 1967 bis 1970 an der Erziehungswissen-schaftlichen Hochschule Koblenz, zur Zeit Studium der Politik in Marburg.

Page 350: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

Die Bücher kosten nur noch ein Fünftel ihres früheren Preises . . .

Page 351: Kuhnl Geschichte Und Ideologie

... schrieb der Bischof von Aleria 1467 an Papst Paul II. Das warGutenberg zu verdanken.

Heute, 500 Jahre später, kosten Taschenbücher nur etwa ein Fünf-tel bis ein Zehntel des Preises, der für gebundene Ausgaben zu zah-len ist. Das ist der Rotationsmaschine zu verdanken und zu einemTeil auch - der Werbung: Der Werbung für das Taschenbuch undder Werbung im Taschenbuch, wie zum Beispiel dieser Anzeige, dieIhre Aufmerksamkeit auf eine vorteilhafte Sparform lenken möchte.