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Kultur D er Mann, der Martin Luther sein könnte, sagt den Satz sehr ruhig, aber der Satz hat durchaus Spreng- kraft: „Der Koran ist kein Gesetzestext“, sagt er, „der Koran ist ein Liebesbrief Gottes an die Menschen.“ Mouhanad Khorchide heißt der Mann, er ist Professor an der Universität Müns- ter, wo er das Zentrum für Islamische Theologie leitet, er ist einer der bekann- testen Reformvertreter des Islam in Deutschland, aber Martin Luther? Wird er nie sein. Eine Reformation braucht eine zentrale Autorität, gegen deren Missstände sie sich wendet, so wie es die katholische Kirche für Martin Luther war. Sie braucht eine verbindliche Lehre, Dogmen, eine religiöse Praxis, die ihren Ursprung sucht. Sie braucht einen Adressaten für die Wut. All das gibt es im Islam so nicht. Ja, im Grunde gibt es den einen Is- lam überhaupt nicht. Es gibt nur die 1,6 Milliarden Muslime, es gibt Schiiten und Sunniten, Sufis und Aleviten. Es gibt die muslimischen Realitäten mit all ihren Problemen – und ein riesiges Bildungsdefizit bei so vielen, die über den Islam reden. Sie, wir, die westlichen Mehr- heitsgesellschaften haben sich ein- fach nicht dafür interessiert all die Jahre, als es noch gut zu gehen schien. Religion war etwas für an- dere, Glaube war eine klebrige Sa- che, und Muslime waren eine diffu- se Masse, verborgen hinter einem Schleier des Unwissens. Aus diesem Unwissen erwuchs die Angst. Aus der Angst erwuchs die Aggression. Und diese Aggres- sion befördert auch immer wieder die Forderung, die wiederholt wird und wiederholt, nach jedem isla- mistischen Terroranschlag in der Welt, jedem Ehrenmordprozess in Deutschland, jeder Hinrichtung in Saudi-Arabien. Der Islam braucht eine Reforma- tion! Es ist eine Forderung, die ge- nauso vage und tendenziell ver- kehrt ist wie die Formulierung „Der Islam gehört zu Deutschland“. Wel- cher Islam denn? Der der Türken aus Anatolien oder der der Türken aus Istanbul? Der der Iraner oder der der Iraker? Der, der in Indonesien gelebt wird oder in Somalia? Der liberale, der konservative, der praktizierte, der all- tägliche, der widersprüchliche? Präziser wäre es zu sagen: Die Muslime gehören zu Deutschland, weil sie hier leben, hier gebo- ren sind, genauso wie Katholiken, Protes- tanten, Atheisten zu Deutschland gehören. Aber um Präzision geht es einigen längst nicht mehr. Es geht um schnelle Schlüsse, um die Bestätigung von Vorurteilen und darum, es schon immer gewusst zu haben. Die Reaktionen auf die Vorfälle in der Silvesternacht in Köln, in Hamburg, in Stuttgart haben das wieder einmal gezeigt. Es sei „die Religion“, die für das Jungmän- ner-Machotum verantwortlich sei, es sei eben „die Kultur“ dieser Menschen, die immer noch vor allem als Fremde wahrge- nommen werden. Und wenn man in diesen Tagen mit Muslimen spricht, dann merkt man es ihnen an: Sie sind langsam müde, sich wieder und wieder erklären und die immer gleichen Fragen beantworten zu müssen. Kopftücher, Ehrenmorde, ist der Islam eine frauenverachtende, eine demo- kratiefeindliche, eine fanatische, gar fa- schistische Religion? Keiner der Muslime, die wir für diese Geschichte getroffen haben, leugnet, dass es Probleme gibt, keiner verschließt die Augen davor, wie im Namen des Gottes, an den sie glauben, Taten gerechtfertigt werden, die nichts mit dem Koran zu tun haben, wie sie ihn verstehen. Im Gegenteil. Sie sind es ja, die zum Teil täglich konfrontiert sind mit den Rea- litäten des Islam in Deutschland, mit dem Einfluss der salafistischen Prediger oder dem Radikalismus Jugendlicher. Mouhanad Khorchide etwa, der nur mit Polizeischutz unterwegs ist, wenn er sich in Münster be- wegt. Seit Jahren wird er von Sa- lafisten bedrängt. Er bekommt Hass-E-Mails und Morddrohungen. Der Kölner Konvertit Pierre Vogel hetzt im Internet gegen ihn. Aber es gibt Muslime, die daran arbeiten, den Islam zu verändern, Professoren, Autorinnen, Psycho- logen, Prediger, ganz normale Gläubige, sie sind dabei, den Islam zeitgemäß zu deuten und zu leben, liberal, säkular, modern, wie im- mer man es nennen will. Die Er- neuerung, die so oft gefordert wird, findet längst statt. Khorchide, 44, ist als Sohn von Palästinensern in Saudi-Arabien aufgewachsen. Er sagt, er habe Ab- gründe und Widersprüche seiner Religion kennengelernt und wolle sie deshalb erneuern. Er wolle in seinen Seminaren „einen Raum schaffen, in dem die Studenten angstfrei über ihren Glauben de- battieren können“. 2012 begann dieses Experiment. Khorchides Institut ist eines von vier Islamzentren in Deutschland, die Imame und Religionslehrer aus- bilden. Das Projekt ist in vielem einzigartig in Europa und eine klei- ne Revolution. Es könnte den Is- 122 DER SPIEGEL / „Gott ist kein Diktator“ Glauben In Deutschland hat längst ein Kampf um die Deutungshoheit über den Islam begonnen. Moderne Muslime fordern Fundamentalisten heraus – und wollen ihre Religion erneuern. DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL Professor Khorchide Ein Martin Luther des Islam?

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Kultur

Der Mann, der Martin Luther seinkönnte, sagt den Satz sehr ruhig,aber der Satz hat durchaus Spreng-

kraft: „Der Koran ist kein Gesetzestext“,sagt er, „der Koran ist ein Liebesbrief Gottes an die Menschen.“

Mouhanad Khorchide heißt der Mann,er ist Professor an der Universität Müns-ter, wo er das Zentrum für IslamischeTheologie leitet, er ist einer der bekann-testen Reformvertreter des Islam inDeutschland, aber Martin Luther? Wirder nie sein.

Eine Reformation braucht eine zentraleAutorität, gegen deren Missstände sie sich wendet, so wie es die katholische Kirche für Martin Luther war. Sie brauchteine verbindliche Lehre, Dogmen, einereligiöse Praxis, die ihren Ursprung sucht. Sie braucht einen Adressaten fürdie Wut.

All das gibt es im Islam so nicht.Ja, im Grunde gibt es den einen Is-lam überhaupt nicht. Es gibt nurdie 1,6 Milliarden Muslime, es gibtSchiiten und Sunniten, Sufis undAleviten. Es gibt die muslimischenRealitäten mit all ihren Problemen– und ein riesiges Bildungsdefizitbei so vielen, die über den Islamreden.

Sie, wir, die westlichen Mehr-heitsgesellschaften haben sich ein-fach nicht dafür interessiert all dieJahre, als es noch gut zu gehenschien. Religion war etwas für an-dere, Glaube war eine klebrige Sa-che, und Muslime waren eine diffu-se Masse, verborgen hinter einemSchleier des Unwissens.

Aus diesem Unwissen erwuchsdie Angst. Aus der Angst erwuchsdie Aggression. Und diese Aggres-sion befördert auch immer wiederdie Forderung, die wiederholt wirdund wiederholt, nach jedem isla -mistischen Terroranschlag in derWelt, jedem Ehrenmordprozess inDeutschland, jeder Hinrichtung inSaudi-Arabien.

Der Islam braucht eine Reforma-tion! Es ist eine Forderung, die ge-nauso vage und tendenziell ver-kehrt ist wie die Formulierung „DerIslam gehört zu Deutschland“. Wel-cher Islam denn?

Der der Türken aus Anatolien oder derder Türken aus Istanbul? Der der Iraneroder der der Iraker? Der, der in Indonesiengelebt wird oder in Somalia? Der liberale,der konservative, der praktizierte, der all-tägliche, der widersprüchliche? Präziserwäre es zu sagen: Die Muslime gehören zuDeutschland, weil sie hier leben, hier gebo-ren sind, genauso wie Katholiken, Protes-tanten, Atheisten zu Deutschland gehören.

Aber um Präzision geht es einigen längstnicht mehr. Es geht um schnelle Schlüsse,um die Bestätigung von Vorurteilen unddarum, es schon immer gewusst zu haben.

Die Reaktionen auf die Vorfälle in derSilvesternacht in Köln, in Hamburg, inStuttgart haben das wieder einmal gezeigt.Es sei „die Religion“, die für das Jungmän-ner-Machotum verantwortlich sei, es seieben „die Kultur“ dieser Menschen, dieimmer noch vor allem als Fremde wahrge-

nommen werden. Und wenn man in diesenTagen mit Muslimen spricht, dann merktman es ihnen an: Sie sind langsam müde,sich wieder und wieder erklären und dieimmer gleichen Fragen beantworten zumüssen. Kopftücher, Ehrenmorde, ist derIslam eine frauenverachtende, eine demo-kratiefeindliche, eine fanatische, gar fa-schistische Religion?

Keiner der Muslime, die wir für dieseGeschichte getroffen haben, leugnet, dasses Probleme gibt, keiner verschließt dieAugen davor, wie im Namen des Gottes,an den sie glauben, Taten gerechtfertigtwerden, die nichts mit dem Koran zu tunhaben, wie sie ihn verstehen.

Im Gegenteil. Sie sind es ja, die zumTeil täglich konfrontiert sind mit den Rea-litäten des Islam in Deutschland, mit demEinfluss der salafistischen Prediger oderdem Radikalismus Jugendlicher.

Mouhanad Khorchide etwa, dernur mit Polizeischutz unterwegsist, wenn er sich in Münster be-wegt. Seit Jahren wird er von Sa-lafisten bedrängt. Er bekommtHass-E-Mails und Morddrohungen.Der Kölner Konvertit Pierre Vogelhetzt im Internet gegen ihn.

Aber es gibt Muslime, die daranarbeiten, den Islam zu verändern,Professoren, Autorinnen, Psycho-logen, Prediger, ganz normaleGläubige, sie sind dabei, den Islamzeitgemäß zu deuten und zu leben,liberal, säkular, modern, wie im-mer man es nennen will. Die Er-neuerung, die so oft gefordert wird,findet längst statt.

Khorchide, 44, ist als Sohn vonPalästinensern in Saudi-Arabienaufgewachsen. Er sagt, er habe Ab-gründe und Widersprüche seinerReligion kennengelernt und wollesie deshalb erneuern. Er wolle inseinen Seminaren „einen Raumschaffen, in dem die Studentenangstfrei über ihren Glauben de-battieren können“.

2012 begann dieses Experiment.Khorchides Institut ist eines vonvier Islamzentren in Deutschland,die Imame und Religionslehrer aus-bilden. Das Projekt ist in vielemeinzigartig in Europa und eine klei-ne Revolution. Es könnte den Is-

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„Gott ist kein Diktator“Glauben In Deutschland hat längst ein Kampf um die Deutungshoheit

über den Islam begonnen. Moderne Muslime fordern Fundamentalisten heraus –und wollen ihre Religion erneuern.

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Professor KhorchideEin Martin Luther des Islam?

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Bloggerin Gümüșay

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Kultur

lam über Deutschland hinaus prägen undverändern.

Lange Zeit hat der Staat die religiöseBildung der Muslime Moscheegemeindenund Laienpredigern überlassen. Ideologenkonnten ihre radikale Interpretation desKoran unwidersprochen verbreiten. DieAbsolventen der Islamzentren in Münster-Osnabrück, Frankfurt, Erlangen-Nürnbergund Tübingen sollen ein differenziertes,aufgeklärtes Religionsverständnis weiter-tragen.

Khorchide unterscheidet zwischen denKoranversen, die Mohammed der Erzäh-lung nach als Prophet in Mekka empfan-gen hat, und jenen, die ihn später als„Staatsoberhaupt“ in Medina erreichten.Die mekkanischen Verse, die universelleWerte wie Gerechtigkeit, Freiheit, Men-schenwürde umfassen, seien bis heute gül-tig, so Khorchide: „Gott ist kein Diktator.“

Wenn es einen Moment gab, an dem derliberale Islam in Deutschland deutlichsichtbar wurde, dann war es Navid Ker-manis Auftritt in der Paulskirche im Okto-ber vergangenen Jahres, als er mit demFriedenspreis des Deutschen Buchhandelsausgezeichnet wurde.

Hier war ein Mann, der fest im Glaubenstand und aus dieser Festigkeit heraus mitseiner Religion rang. Es war ein doppeltesBild, das der Schriftsteller Kermani, 48,zeichnete. Da war einmal das Bild einesreichen Islam, der Mystik, des Sufismus.Und da war das Bild eines Islam, der he-rabgesunken ist „zu einem Vademekum,das man mit der Suchmaschine nach die-sem oder jenem Schlagwort abfragt“.

Die Folge: „Die Sprachgewalt des Koranwird zum politischen Dynamit“, wie Ker-mani sagte. Der radikale Islam, auf densich die Terroristen berufen, braucht dieAngst. Er braucht Feindbilder. Er braucht

einfache Wahrheiten für komplizierte Zei-ten. Der Glaube ist dabei nicht das Pro-blem; es ist der falsch verstandene, derverkürzte, der missbrauchte Glaube.

Der „Islamische Staat“ ist eine apoka-lyptische Sekte. Er rechtfertigt seine Tatenaus dem Islam heraus, er benutzt den Ko-ran für seine Zwecke. Der Terror hat inso-fern mit dem Islam zu tun. Aber nichtsmit dem Glauben von Navid Kermani.

In seiner Frankfurter Rede zeichneteKermani eine Verfallsgeschichte des isla-mischen Denkens. Er sprach von einem„Niedergang auch und gerade des religiö-sen Denkens“. Seine Rede war aber auchein Versprechen: Kritik am Islam ist nichtnur möglich, sie ist das Wesen des Islam,der sich verändert, so wie er es über vieleJahrhunderte hinweg getan hat.

Islam bedeutet Interpretation. Es gibtoft nicht nur eine Auslegung des Koran,es gibt keine richtige und falsche Lehre.Der Zweifel ist im Islam angelegt. „DerKoran ist eine Schrift zwischen zwei Buch-deckeln, die nicht spricht“, zitierte Kerma-ni Ali, den vierten Kalifen des Islam. „Essind die Menschen, die mit ihm sprechen.“

Oder wie es der deutsche Islamwissen-schaftler Reinhard Schulze, 63, von der Uni-versität Bern formuliert: „Islam ist Plural.“

Für Ashraf El Sharkawy und seine Frau Om-nya Ebrahim ist das mehr als ein Satz. Esist eine Kurzfassung ihres Lebens. Wenner von seinem Glauben spricht, dann klingtdas ruhig und selbstverständlich. „Es warimmer klar: Du bist ein Muslim“, sagt erund balanciert seine einjährige Tochter aufdem Schoß. „Es war aber auch immer klar:Es gibt viele Wege zu Gott.“

Die Sharkawys leben in Berlin, er ist inSchwaben geboren, sie in Ägypten. Siesind gläubig, suchen sich aber aus der Tra-dition und dem zeitgemäßen Verständnis

der Religion das heraus, was ihnen ein-leuchtet und was sie brauchen.

Der Koran ist, wie die Bibel, voll vonunklaren und widersprüchlichen Passagen.Der islamische Glaube war fast von Beginnan gespalten zwischen denen, die versu-chen, den Koran auch aus seiner Entste-hung heraus zu verstehen, und denen, diedas ganze Werk als eine heilige Wahrheitansehen, unveränderlich für alle Zeiten.

„Ich wollte Antworten“, sagt El Shar-kawy, 44, der anfing zu beten, als er 15oder 16 war. „Ich wollte wissen, ob es soetwas gibt wie eine absolute Wahrheit.“

Seine Eltern kamen Ende der Sechziger-jahre aus Ägypten nach Deutschland. Erstudierte Wirtschaft, machte schnell Kar-riere. Sein Glaube gab ihm Halt. Er begannzu lesen, er studierte den Koran, aber derZweifel, der Pluralismus, die Offenheit, dasalles fehlte ihm. „Wir Muslime haben auf-gehört, im Guten und ohne Tabus überden Glauben zu streiten.“

Seine Frau Omnya Ebrahim, 30, wuchsin einem der ältesten Viertel Kairos auf.Kein Mädchen trug damals ein Kopftuch.Dort lebten auch koptische Christen. „Wirhaben gar nicht gemerkt, dass wir verschie-den sind“, sagt sie, „wir haben nie darübernachgedacht.“

Mitte der Neunzigerjahre fing es dannan. Zuerst war es ihre Tante, die irgend-wann nur noch voll verschleiert erschien,im Nikab. „Wir haben alles falsch ge-macht“, sagte ihre Tante damals, „nun ma-chen wir alles richtig.“

Die Angst trat in Ebrahims Leben. Kamman schon in die Hölle, wenn man sichdie Augenbrauen zupfte? Bald trug auchsie ein Kopftuch. Es war der Einfluss derwahhabitischen Prediger, es waren die Sit-ten, die viele Väter und Familien mitbrach-ten, die ein paar Jahre in Saudi-Arabienoder Katar gelebt und gearbeitet hatten.

„Diese Leute haben den Islam auf denKopf gestellt“, sagt Omnya Ebrahim. „Siehaben die Werte komplett entleert. Es gehtdoch nicht um Äußerlichkeiten, Schleieroder nicht, es geht darum, wie man mitanderen Menschen umgeht.“

Aber genau das ist die Lehre des wah-habitischen Islam, die von Saudi-Arabienaus mit missionarischem Eifer und vielGeld verbreitet wird, in Schulen und Mo-scheen, mit den Versprechungen einer rei-nen Lehre, strenger Regeln, einer einfa-chen Wahrheit.

„Maschinen“, so nennt Omnya Ebrahimdie Muslime, die nach den Regeln leben,wie sie vor allem in den Hadithen festge-legt sind, den überlieferten Aussprüchenund Taten Mohammeds. Diese Sammlun-gen beanspruchen heute oft einen fastgleichberechtigten Rang neben dem Koran.

„Aber die Hadithe sind von Menschengemacht“, sagt Omnya Ebrahim, die keinKopftuch mehr trägt. „Gläubig ist jeder,

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FABIAN H

AMMERL

Autor Kermani bei einer Lesung in einer Hamburger Moschee: Islam ist Plural

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der ein gutes Herz hat. Die Beziehung zwi-schen dem Koran, Gott und mir ist direkt.“

Das ist der Kern ihres Glaubens. Das istes auch, was Orientalist Schulze als Wesendes liberalen Islam definiert – eine Fröm-migkeit, die keine Autorität will undbraucht, um die heilige Schrift zu lesen undzu verstehen.

Schulze sieht darin eine Bewegung hinzum Koran. Es ist ein wenig wie LuthersReformationsversprechen: Der Glaubewird unabhängig von jeglicher Lehrauto-rität, er ist Privatsache und hat keine di-rekte politische Bedeutung.

Kübra Gümüşay ist eine moderne jungeBürgerin dieses Landes. Sie arbeitet alsBloggerin, Journalistin und Social-Media-Beraterin, aber sie trägt Kopftuch, aus „spi-rituellen Gründen“, betet fünfmal am Tag,fastet an Ramadan. „Ich habe muslimischeFreundinnen mit Kopftuch, Ärztinnen, Anwältinnen, überzeugte Feministinnen“,sagt sie. „Ich bin keine Ausnahme.“

Ihre Großeltern kamen als Gastarbeiteraus der Türkei nach Deutschland. Religionhat in der Familie stets eine Rolle gespielt;ihre Verwandten haben Gümüşay, 27, vor-gelebt, dass es kein Widerspruch ist, alsFrau den Islam zu praktizieren und trotz-dem zu arbeiten und mitten im Leben zustehen.

Der Koran, sagt sie, sei über Jahrhun-derte hinweg von Männern in patriarcha-len Gesellschaften interpretiert worden.Bei etlichen Muslimen habe sich ein Reli-gionsverständnis etabliert, das Frauen aufdie Rolle als Mutter und Gattin reduziert.Nichtmuslime würden muslimische Frauenmit Kopftuch ebenfalls oft als schwach undinfantil oder reaktionär diskreditieren.„Dafür haben wir nicht gekämpft!“, bekamGümüşay von Feministinnen zu hören, alssie mit Kopftuch an einer Podiumsdiskus-sion teilnahm.

Die islamische Geschichte sei reich anstarken Frauenfiguren, sagt Gümüşay. Cha-didscha, die erste Gattin des Propheten Mo-hammed, sei eine erfolgreiche Unternehme -rin gewesen, älter als ihr Mann und zuvorwohl dreimal verheiratet. Fatima al-Fihrihabe die älteste noch bestehende Universi-tät der Welt in Marokko gegründet. Und an-ders als das Neue Testament stelle der KoranGott nicht als Vater dar. Gümüşay findetsogar, der Koran könne als feministischerText gelesen werden, und für die Vorsteherder Moscheen fordert sie eine Frauenquote.

„Als ich jung war“, sagt Katajun Amirpur,44, „hat sich keine Sau für den Islam inter -essiert.“ Heute unterrichtet sie als Profes-sorin an der Akademie der Weltreligionen,die 2010 in Hamburg eröffnet wurde.

Im selben Jahr erschien Thilo SarrazinsBuch „Deutschland schafft sich ab“. DerBlick auf die Muslime hat sich damals ge-ändert, er wurde wieder feindlicher. Der„Sarrazin-Schock“ ist heute noch spürbarunter Muslimen.

Die „Ablehnung des Islam hat in denletzten zwei Jahren noch deutlich zuge-nommen“, heißt es in einer Sonderauswer-tung zum Thema Islam der BertelsmannStiftung aus dem vergangenen Jahr. Da-nach fordere ein Viertel der Bevölkerung,„dass die Einwanderung von Muslimen untersagt werden sollte“. 40 Prozent derDeutschen fürchteten sich vor einer Über-fremdung, die sie mit dem Islam verbinden.Und was sagen die Muslime zu dem Land,in dem sie leben? 90 Prozent aller sunniti-schen Muslime in Deutschland, die sich inder Umfrage selbst als „hochreligiös“ be-zeichnen, sehen in der Demokratie einegute Staatsform.

Das ist das Spannungsfeld, in dem Amir-pur ihre Studenten unterrichtet: auf dereinen Seite die Angst vor einer als ar-chaisch und antimodern wahrgenomme-nen Religion und andererseits die Realitätgelebter Demokratie.

Die Bundesrepublik, meint Amirpur,könnte idealerweise ein „Denkraum“ sein,um eine andere Lesart des Islam zu ent -wickeln. In ihrem Buch „Den Islam neu

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PIEGEL

Ehepaar Ebrahim, Sharkawy: „Gläubig ist jeder, der ein gutes Herz hat“

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Kultur

denken“ beschreibt sie, wie sich im späten 19. Jahrhundert Denker wie Jamal ad-Dinal-Afghani um eine Wiederbelebung derrationalistischen Strömung im Islam be-mühten – richtig gedeutet, so Afghani, „sei der Islam nicht nur vereinbar mit Vernunft und Fortschritt, sondern schreibesie sogar vor“.

Amirpurs Vater kam 1959 aus Iran nachDeutschland. Ihr Mann Navid Kermanistammt ebenfalls aus einer iranischen Familie. Amirpurs Gott ist ein gnädigerGott, sagt sie, kein strafender. „Gott istGerechtigkeit.“

Sie ist damit ein Gegenpol etwa zur Publizistin Necla Kelek, 58, die den Islamgrundsätzlich für rückständig und frauen-feindlich hält. Der Islam sei immun gegenReformen und deshalb mit Demokratieund Menschenrechten nicht zu vereinen.Der Glaube an Allah, argumentiert sie,schreibe blinden Gehorsam vor.

Dabei zeigt ein Blick in die Geschichtedas Gegenteil: Reformer, Kritiker, Tradi-tionalisten unterschiedlichster Prägung.Die „Kultur der Ambiguität. Eine andereGeschichte des Islams“ nennt das der Islamwissenschaftler ThomasBauer, 54, von der UniversitätMünster. Er sieht in dieserVieldeutigkeit einen Teil derSchönheit und der Menschlich-keit des Islam. Und er be-schreibt, wie diese Traditionheute tatsächlich bedroht ist:„Während Gelehrte des 14.Jahrhunderts die Variantendes Korantextes als Bereiche-rung empfanden, ist die Exis-tenz verschiedener Koranles-arten heutigen Muslimen viel-fach ein Ärgernis.“

Was bedeutet es also, wennSalafisten oder andere radika-le Muslime sagen, sie wolltenzurück zu den Wurzeln des Is-lam? Was wären genau dieseWurzeln? Kann man das be-stimmen bei einem Glauben,der sich über die Jahrhundertehinweg verändert hat, in Inter-pretation und Praxis?

Als Erstes, glaubt Amirpur,müsse der „religiöse Analpha-betismus“ unter Muslimen the-matisiert werden. „Es gibt vie-le, die nicht wissen, dass ihreReligion anders ist“, sagt sie.Nicht patriarchal, nicht frauen-feindlich, nicht aggressiv.

Außerdem gelte es, das Ver-hältnis zwischen Religion undGewalt zu klären. Den Satz„Der Terror hat nichts mit demIslam zu tun“ findet sie falsch,weil er eine zu simple Antwortauf eine komplizierte Frage

ist. Religion, meint sie, habe ganz allge-mein das Potenzial, die Menschen aufzu-stacheln. „Wenn es einen Anschlag gibt,muss man sich schon mal die grundsätzli-che Frage stellen, was schiefgelaufen ist.“

Ahmad Mansour wird das oft gefragt in die-sen Tagen. Er ist Psychologe und hat dasTalent, die Dinge klar und einfach zu for-mulieren. „Der Kampf gegen den Islamis-mus findet nicht nur in Syrien statt“, sagter. „Dieser Kampf findet vor allem in un-seren Schulen statt.“

Mansour, 39, spricht in seinem kleinenBüro in Berlin-Friedrichshain von einer„Jahrhundertaufgabe“. Geboren wurde erin Israel, seine Eltern waren Palästinenser,er wuchs auf im Hass gegen Juden. Heutewarnt er vor Antisemitismus unter Musli-men. „Es geht nicht nur um Terroristen“,sagt er. „Sorgen machen mir die, die zurGesellschaft gehören und sich von unserenWerten abgewendet haben.“

Mansour kennt die Gründe, warum einJugendlicher entgleitet, es sind fast immerdie gleichen: die fehlende oder überstrengeVaterfigur, ein Gefühl der Bestimmung im

Glauben, Macht gegenüber anderen, derGeist der Rebellion und das Gefühl, zu ei-ner Elite zu gehören. Es ist auch seine Ge-schichte, Mansour war selbst Islamist.

„Durch die harten Lehren unseres Imambekam ich das Gefühl, im Besitz einerüberlegenen Wahrheit zu sein, die anderenverborgen war und mit deren Hilfe ichmein Leben rettete“, schreibt Mansour inseinem Buch „Generation Allah. Warumwir im Kampf gegen den religiösen Extre-mismus umdenken müssen“. „Ich glaube,wir Pubertierenden hätten damals für un-seren Imam fast alles getan.“

Heute beobachtet Mansour Verharmlo-sung und Realitätsflucht auf allen Seiten.Er wirft den islamischen Verbänden vor,dass sie sich „mit Hochglanzbroschürenund Mahnwachen aus der Verantwortungziehen“ wollten. Politiker, die immer nochForderungen unterstützen, dass muslimi-sche Mädchen aus religiösen Gründennicht zum Schwimmunterricht gehen müs-sen, kritisiert er. „Das sind im Grunde Ras-sisten“, sagt er. „Gleichberechtigung, Mei-nungsfreiheit, Religionsfreiheit, das ist al-les nicht verhandelbar.“

Aber nicht nur der Islammüsse reformiert werden,meint er, es müsse auch mehrWissen, Neugier, Verständnisin der Mehrheitsgesellschaftgeben –  und besonders diedeutschen Schulen müsstensich verändern. „Wir brauchenSchulen, die kritisches Den-ken fördern“, sagt er, „undLehrer, die radikales Denkenerkennen.“

In seinem Buch erzählt ervon einer Lehrerin, die stöhn-te, dass sie mit ihrer Klassenicht mehr zurechtkomme, 99Prozent seien Türken. AlsMansour in die Klasse kam,sah er Syrer, Bosnier, Marok-kaner und auch Türken. „Da-mit fängt es an“, sagt er. „Bio-grafieunterricht. Man musserst mal wissen, wer da sitzt.“

Und auch die Sozialarbeitmüsse verändert werden, weilsie in den Achtzigerjahren ste-cken geblieben sei. „Die Spra-che ist anders. Die Interessensind anders. Die Jugendlichenkommen doch nicht in eineBeratungsstelle oder ein Ju-gendzentrum. Die sind denganzen Tag im Internet.“

Ein Freitag in Berlin, in derŞehitlik-Moschee haben sichhundert Gläubige zum Gebetversammelt. Männer im An-zug und Jugendliche im Kapu-zenpullover, Frauen mit und

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Psychologe Mansour„Der Kampf gegen den Islamismus findet in unseren Schulen statt“

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Professorin Amirpur„Als ich jung war, hat sich keine Sau für den Islam interessiert“

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ohne Kopftuch, Familien mit Kindern,Rentner, Studenten. Sie knien auf dem Tep-pichboden. Durch die Kuppel fällt hellesMittagslicht.

„Meine verehrten Geschwister!“, ruftder Imam auf Türkisch von der Kanzel,„die Botschaft Allahs lehrt nicht Krieg, son-dern Frieden, nicht Terror, sondern Barm-herzigkeit.“ „Allahu akbar“, murmeln dieGemeindemitglieder. Ender Çetin, der Vor-sitzende der Gemeinde, wartet in der letz-ten Reihe, bis der Imam zu Ende gespro-chen hat, dann übersetzt er die PredigtWort für Wort ins Deutsche für all jeneGäste, die kein Türkisch verstehen.

Die Șehitlik-Moschee, Deutschlandszweitgrößte muslimische Gebetsstätte, liegtmit ihren beiden Minaretten für jedermannsichtbar am Columbiadamm im StadtteilNeukölln. Sie wird, wie viele deutsche Mo-scheen, von der türkischen Religionsbe-hörde Diyanet betrieben, doch unter ihremVorsitzenden Ender Çetin hat sie sich inden vergangenen Jahren der Außenweltgeöffnet wie kaum eine andere muslimi-sche Einrichtung in Deutschland.

„Wir wollen ein Ort sein für Muslimeund Nichtmuslime“, sagt Çetin. Er sitztnach dem Gebet in der Teestube der Mo-schee. Aus dem Hof dringt Stimmengewirr.Kinder spielen auf dem Boden.

Çetin ist 39 Jahre alt. Er trägt Jeans,Drei-Tage-Bart, kurze braune Haare. SeineEltern kamen als Gastarbeiter aus dem Sü-

den der Türkei nach Deutschland. Er hatin Berlin Erziehungswissenschaften undPolitik und im Fernstudium IslamischeTheologie studiert. Als er vor viereinhalbJahren den Job des Gemeindevorstehersübernahm, stand er vor einem Problem,das Moscheen und Kirchen gleichermaßenumtreibt: Die Gemeinde schrumpfte, jungeGläubige blieben den Gebeten fern.

Für die Einwanderer der ersten Genera-tion sei die Moschee noch ein Rückzugs-raum gewesen, erzählt Çetin, ein Ort, andem sie Schutz suchten vor einer Umwelt,die sie teilweise als fremd wahrnahmen.Ihre Kinder und Enkel hingegen wuchsenin dem Bewusstsein auf, Teil der Gesell-schaft zu sein. „Sie wollen ihren Glaubennicht verstecken.“

Die Moscheen, meint Çetin, müsstensich dem Lebensgefühl junger Muslime anpassen. Er verordnete seiner Gemeindeein Reformprogramm. Die Predigten wer-den übersetzt. Freiwillige bieten Führun-gen durch das Gebetshaus an. 30000 Gästeempfing die Șehitlik-Moschee im vergan-genen Jahr. Çetin sucht den Austausch mitan deren Religionen. Er engagiert sich inder Salaam-Schalom-Initiative, die Musli-me und Juden zusammenführt.

In seinem Einsatz für einen tolerantenIslam wirkt Çetin beinahe wie ein Getrie-bener. Er sagt, er wolle Grenzen ausreizen.Vergangenes Jahr lud er Schwule und Les-ben in seine Moschee zu einem Gespräch

über Homophobie und Islamophobie. Is-lamistische Zeitungen in der Türkei hetz-ten daraufhin gegen seine Gemeinde.

Reformanhänger wie Çetin kämpfen anverschiedenen Fronten: Sie werden vonkonservativen Religionshütern aus demAusland unter Druck gesetzt, von älterenGläubigen, denen der Wandel ihrer Ge-meinde missfällt, und von Rechten, dieMuslime generell ablehnen. Auf die Şehit-lik-Moschee wurden in der VergangenheitBrandanschläge verübt, Farbbeutel auf dieMauern geschleudert, die Grabsteine imFriedhof mit Hakenkreuzen beschmiert.

Er wolle sich aber nicht einschüchtern las-sen, sagt Çetin, weder von Islamisten nochvon Rassisten. Auch Mansour wird seit ei-niger Zeit bedroht, er kann sich nicht mehrfrei bewegen. Er nimmt die Bedrohungscheinbar gelassen. Er glaube an einenbarmherzigen Gott, sagt er, nicht an einenGott, der „uns mit der Hölle bedroht“.

Glaube und Zweifel, das sind die beidenPfeiler dieser Veränderungen. Oder wie esNavid Kermani in seiner Frankfurter Redesagte: Wer als Muslim nicht mit dem Islamhadere, „nicht an ihm zweifelt, nicht ihnkritisch befragt, der liebt den Islam nicht“.

Georg Diez, Maximilian Popp

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Neuköllner Gemeindevorsitzender Çetin: „Ein Ort für Muslime und Nichtmuslime“

Videoreportage: Zu Besuch inder Neuköllner Sehitlik-Moschee

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