90
KULTUR KOREA ,,PAVILLON DER EINHEIT“ - SINNBILD EINES GRO ß EN WUNSCHES ÜBER DIE FEIERLICHKEITEN ZUR EINWEIHUNG HERR „SO-MO“ IN SEOUL In Südkorea fand das erste internationale Musikfestival für geistig Behinderte statt BUCHLESER UNTER ARTENSCHUTZ Über einen Besuch der Internationalen Buchmesse Seoul ausgabe 2 / 2015

KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KULTUR KOREA

,,PAVILLON DER EINHEIT“ - SINNBILD EINES GROßEN WUNSCHESÜBER DIE FEIERLICHKEITEN ZUR EINWEIHUNG

HERR „SO-MO“ IN SEOULIn Südkorea fand das erste internationale Musikfestival für geistig Behinderte statt

BUCHLESER UNTER ARTENSCHUTZÜber einen Besuch der Internationalen Buchmesse Seoul

ausgabe 2 / 2015

Page 2: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des
Page 3: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

EDITORIAL

KULTUR KOREA / 1

Liebe Leserinnen und Leser,

der Jahresausklang ist ein guter Anlass, einen Moment innezuhalten. Im Rückblick auf 2015 sollten insbesondere zwei Jubiläen Erwähnung finden: der 70. Jahrestag der koreanischen Unabhängigkeit, der zugleich auch den Zeit-punkt der innerkoreanischen Teilung markiert, und der 25. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung.

Vor diesem geschichtlichen Hintergrund fanden in Berlin zwei Großereignisse statt, die den Wunsch der koreani-schen Bevölkerung nach einer friedlichen Wiedervereini-gung ihres Landes unterstreichen sollten: Ende Juli traf der Eurasien-Freundschaftszug in Berlin ein, der - nach seinem Start in Korea - eine symbolische Reise von 14.400 km quer über den eurasischen Kontinent zurückgelegt hatte. Diese Reise, die im Zeichen eines geeinten Eurasiens und einer erwünschten koreanischen Wiedervereinigung stand, endete mit einem bewegenden Festakt am Brandenburger Tor.

Darüber hinaus fanden unter Beteiligung von etwa 350 Gästen Ende November am Potsdamer Platz, diesem denk-würdigen Ort der innerdeutschen Teilung und der Einheit, die Feierlichkeiten zur Einweihung des koreanischen „Pavillons der Einheit“ statt, der ebenfalls den Wunsch nach einer Wiedervereinigung der koreanischen Halbinsel symbolisiert.

Fernab dieser historischen Jubiläen hatte ich Gelegenheit, in München einem Ritual der bedeutendsten Schamanin

Koreas, Frau Keum Hwa Kim, beizuwohnen. In dieser Ausgabe wird ihre deutsche Schülerin über die besondere Beziehung zu ihrer Meisterin berichten. Darüber hinaus freut es mich ganz besonders, dass die koreanische Kom-ponistin Younghi Pagh-Paan in diesem Jahr mit dem Preis der Europäischen Kirchenmusik ausgezeichnet wurde, wie Sie in dem Artikel „Von der Poesie des Widerstandes zur Spiritualität“ erfahren.

Ich hoffe auch, dass Sie Gelegenheit hatten, am JazzKorea Festival 2015 teilzunehmen, das in diesem Jahr bereits zum dritten Mal stattfand und seinen Radius noch einmal um Konzerte in Ungarn und Spanien erweitern konnte.

Anlässlich eines weiteren Jubiläums möchte ich alle sport-interessierten Leser auf ein kleines Spezial zum Thema Taekwondo aufmerksam machen. Vor 50 Jahren wurde das erste Taekwondo-Demonstrationsteam aus Korea nach Deutschland entsandt, um die koreanische Kampfkunst in Deutschland populär zu machen.

Als Leiter des Koreanischen Kulturzentrums wünsche ich Ihnen und Ihren Familien schöne Weihnachtsfeiertage, einen besinnlichen Jahresausklang und ein gesundes, neues Jahr 2016!

Gesandter-Botschaftsrat YUN Jong SeokKulturabteilung der Botschaft der Republik Korea

Festakt am Brandenburger Tor (31. Juli) aus Anlass der Ankunft des Eurasien-Freundschaftszuges in Berlin

Page 4: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

2 / KULTUR KOREA

INHALTSVERZEICHNIS

1EDITORIAL

TRADITIONELLE ARCHITEKTUR KOREAS

4„PAVILLON DER EINHEIT“- SINNBILD EINES GROßEN WUNSCHESÜber die Feierlichkeiten zur Einweihung Von Dr. Stefanie Grote

10DRACHEN, PFIRSICH UND FLEDERMAUSDer koreanische „Pavillon der Einheit“ in Berlin ist Ausdruck für das erneuerte Interesse an der traditionellen Baukunst in SüdkoreaVon Ulf Meyer

14DER KOREANISCHE PAVILLON SANGNYANGJEONG Von Dr. Cho In-Souk

KALEIDOSKOP

1614.400 KILOMETER QUER DURCH ASIEN UND EUROPA Der Eurasien-Freundschaftszug beendet seine Reise in BerlinVon Gesine Stoyke

19WIE DATE ICH IN KOREA RICHTIG? Von Sören Kittel

22SCHAUSPIELSTUDIUM AUF KOREANISCHVon Anna Rihlmann

25FLIEGENDE TURTLE SHIPS SÜDLICH DER ELBEHamburger Schachlehrer veranstaltet erstes Janggi-Turnier außerhalb AsiensVon Dr. René Gralla

27DAS XIV. DEUTSCH-KOREANISCHE FORUM Vom Han an die WarnowVon Rhan Gunderlach

29NEUGEBURT IN KOREA DURCH KIM KEUM HWA Wie ich zur Schamanin wurdeVon Andrea Kalff-Cordero

KUNST, MUSIK, FILM

31DAS JAZZKOREA FESTIVAL 2015Von Dr. Nabil Atassi

33VOM SCHMERZ DER TEILUNGWie Heryun Kim in Deutschland und Korea ihre künstlerische Heimat fandVon Anne Schneppen

36VON DER POESIE DES WIDERSTANDES ZUR SPIRITUALITÄTZum Preisträgerkonzert des Europäischen Kirchenmusikfestivals 2015Von Dr. Shin-Hyang Yun

38EUN NIM RODer Pinsel führt mich. Ich folge ihm!Von Prof. Claus Mewes

41GESCHICHTE DER MODERNEN KOREANISCHEN MUSIK Von Dr. Sebastian Claren

43„DIE FRAUEN IN MEINEN BILDERN SIND ALLE MEINE MUTTER“Im Gespräch mit dem Maler Ukn Lee über Erinnerung, Abschied und NeubeginnVon Dr. Stefanie Grote

46DAS GROßE THEATER DES ERZÄHLENSPansori „Jeokbyeokga“ – das „Lied vom Roten Felsen“ in Düsseldorf und HamburgVon Matthias R. Entreß

49BLOCK B Eine Boygroup mit vielen Facetten Von Prof. Ute Fendler

51A DAY IN THE PALACEDas Tanztheater des National Gugak Center im Berliner TempodromVon Dr. Sebastian Claren

Page 5: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KULTUR KOREA / 3

53„SO FERN... SO NAH... KOREA“Eine Keramikausstellung zum Thema „Korea“ in MünsterVon Angela Hoebink

55NEUE MUSIK KOREA++ Koreanische Identität im Spannungsfeld westlicher AvantgardeVon Matthias R. Entreß

57„DERZEIT WIRD DAS SPANNENDSTE KINO IN KOREA GEDREHT“Eindrücke vom Busan International Film Festival 2015 Von Fabian Kretschmer

LITERATUR

60BUCHLESER UNTER ARTENSCHUTZÜber einen Besuch der Internationalen Buchmesse SeoulVon Fabian Kretschmer

62STILLE DER BLÜTEN UND WINTERNACHT 0 UHR 5 MINUTENDer koreanische Dichter Hwang Tong-gyu auf Lesereise in EuropaVon Yun-Chu Cho

64„AUCH IN FREMDEN LEBENSWELTEN GIBT ES INNIG VERTRAUTES“Interview mit Tobias Burghardt, Verleger der Stuttgarter Edition DeltaVon Gesine Stoyke

REISEN UND KULINARIK

66SIMPLY KOREAN FOOD ! Auftaktveranstaltung zum gemeinsamen KochvergnügenVon Dr. Stefanie Grote

68BYEONSANBANDO Koreas einziger Nationalpark, der Berge und Meer bietetVon Rainer Rippe

72DIE KOREANISCHE KÜCHE - PASSEND ZU JEDEM ANLASSKoreanische Gerichte zu Feiertagen und anderen besonderen Gelegenheiten Von Hyein Kim

TAEKWON-DO IM FOKUS

74DIE ANFÄNGE DES TAEKWON-DO IN EUROPAVon Shin-Gyu Kang

76DER INTERNATIONALE TAEKWONDO-CUP 2015 IN BERLINVon Selahattin Turap

78TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig

81TAEKWON-DO FÜR JEDES ALTEREin faszinierender Sport und eine soziale Kultur des RespektsVon Prof. Dr. Jörn Düwel

PORTRÄT

83HERR „SO-MO“ IN SEOULIn Südkorea fand das erste internationale Musikfestival für geistig Behinderte stattVon Sören Kittel

85MAN SOLLTE NICHT NUR EINEN HASEN JAGENMoon Suk empfängt in ihrem Berliner SalonVon Gesine Stoyke

88IMPRESSUM

Page 6: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

TRADITIONELLE ARCHITEKTUR KOREAS

4 / KULTUR KOREA

„PAVILLON DER EINHEIT“-SINNBILD EINES GROßEN WUNSCHES-

Über die Feierlichkeiten zur Einweihung

Page 7: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KULTUR KOREA / 5

„PAVILLON DER EINHEIT“-SINNBILD EINES GROßEN WUNSCHES-

Über die Feierlichkeiten zur Einweihung

Foto: Koreanisches Kulturzentrum

Page 8: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Da steht er nun in all seiner Pracht, der koreanische „Pavillon der Einheit“, mitten im Zentrum von Berlin auf dem Potsdamer Platz. Zwischen den modernen

Bürohausfassaden wirkt der bunte, acht Meter hohe Holz-bau auf steinernen Stelen wie ein Relikt aus vergangener Zeit - und das ist er in gewisser Weise auch. Das hexagon-förmige Bauwerk ist dem Pavillon Sangnyangjeong nach-empfunden, der in der Gartenanlage des Königspalastes Changdeokgung aus der Joseon-Zeit (1392-1910) in der südkoreanischen Metropole Seoul zu bewundern ist.

Wie der Name des architektonischen Nachfahren in Berlin schon sagt, ist er aber mehr noch als eine Reminiszenz an die Architektur und Kultur des alten Korea. Vor dem Hinter-grund der 2015 für Deutschland und Korea bedeutenden Jubiläen, dem 25. Jahrestag der deutschen Wiederverei-nigung und dem 70. Jahrestag der koreanischen Unab-hängigkeit, steht der Pavillon symbolhaft für den Wunsch nach einer friedlichen Wiedervereinigung der koreani-schen Halbinsel. Mehrere Wochen war er unter großen Planen verhüllt und weckte die Neugier der Passanten und Korea-Interessierten, die schließlich am 25. November die Gelegenheit hatten, diese Besonderheit der koreanischen Baukunst zu betrachten.

Im Rahmen der Einweihungsfeier in der nahegelegenen Veranstaltungshütte auf dem Weihnachtsmarkt wurde unter Beteiligung prominenter Vertreter des öffentlichen Lebens aus Korea und Deutschland sowie anderer Gäste über die Einzelheiten des Bauprozesses und die Symbolik des Pavillons informiert. Etwa 350 Gäste drängten ab 10.30 Uhr bei unwirtlichem Novemberwetter in die Holz-hütte und versuchten mit großer Mühe, noch einen Platz zu ergattern. Zur Feier des Tages gab es Sekt und koreani-sche Snacks, ein Bläser-Quintett stimmte musikalisch auf die Veranstaltung ein.

„Wir Koreaner blicken in diesem Jahr auf 70 Jahre Unab-hängigkeit zurück, die gleichzeitig 70 Jahre Teilung bedeu-ten“, sagte Botschafter Lee Kyung-soo in seiner Rede. Der „Pavillon der Einheit“ möge die Besucher daran erinnern, „dass die Menschen in Korea immer noch unter der Teilung der koreanischen Halbinsel leiden“, ergänzte er. Einen Eindruck von der Schönheit der koreanischen Architektur möge er vermitteln und ein Ort der Besinnung soll er sein. „Der ‚Pavillon der Einheit‘ trägt den Geist der Einheit und der Überwindung der Teilung der koreanischen Halbinsel in das Bewusstsein der deutschen und internationalen Öffentlichkeit“, sagte der Abgeordnete Hartmut Koschyk, Vorsitzender der Deutsch-Koreanischen Parlamentarier-

6 / KULTUR KOREA

Foto

s: K

orea

nisc

hes

Kul

turz

entr

um

Von Dr. Stefanie Grote, Redaktion „Kultur Korea“

Page 9: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KULTUR KOREA / 7

BAUPHASEN IN BILDERN

Page 10: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

gruppe des Deutschen Bundestages und„erinnert uns als Deutsche immer an unsere Verantwortung, Korea auf dem Weg zu seiner Einheit beizustehen.“

Der Abgeordnete des Parlaments der Republik Korea, Woo Youn Geun, war mit einer Abgeordneten-Delegation aus Korea angereist. Stellvertretend für den Präsidenten der Nationalversammlung der Republik Korea, Chung Ui Hwa, unterstrich er mit seiner Rede die Bedeutung dieses Tages der Einweihung ebenso wie Dirk Hilbert, Oberbürgermeis-ter der Landeshauptstadt Dresden. Nicht nur ein Kunstwerk sei der Pavillon, sondern auch „ein Symbol für die enge Ver-bundenheit Koreas mit Deutschland“, hatte die Parlamen-tarische Staatssekretärin Iris Gleicke, MdB, und Vorsitzende des Deutsch-Koreanischen Konsultationsgremiums in ihrer übermittelten Videobotschaft gesagt.

Zahlreiche prominente Vertreter aus Politik, Kultur und Gesellschaft von koreanischer und deutscher Seite hatten im Vorfeld der Einweihung ihre Wünsche auf einen Ziegel geschrieben, mit dem das Dach des Pavillons gedeckt wurde – ganz nach koreanischer Tradition. Das bringt Glück. Botschafter Lee Kyung-soo brachte auf diese Weise seine Hoffnung zum Ausdruck, dass der Pavillon über die Grenzen der Teilung hinweg ein Symbol für die Öffnung und die Einheit der koreanischen Halbinsel sein möge. Auch der Re-gierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, beschrif-tete einen Dachziegel. „Frieden, Einheit und Sicherheit für die koreanische Halbinsel“, schrieb Prof. Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, und Lothar de Maizière, der erste demokratisch gewählte und zugleich letzte Ministerpräsident der DDR, wünschte den Koreanern eine gleichfalls glückliche Einigung, wie sie den Deutschen gelungen ist. Bundestagspräsident Prof. Norbert Lammert, MdB, versah den Ziegel mit den Worten: „Unter einem gemeinsamen Dach: Frieden, Freiheit, Einheit“. Sollte der

Wunsch von Berlinale-Direktor Dieter Kosslick nach einer „happy unification“ schließlich in Erfüllung gehen, „werde ich mit Ihnen anstoßen und feiern“, versicherte Botschafter Lee Kyung-soo seinen Gästen – „hier am ‚Pavillon der Ein-heit‘. Ich wünsche mir, dass dieser Tag bald kommen wird.“

Die Feierlichkeiten fanden unter Beteiligung aller Gäste bei weiterhin widrigen Wetterverhältnissen vor dem Pavillon ihre Fortsetzung. 통일정 („Pavillon der Einheit“) ist auf dem Schild zu lesen, das den Pavillon-Eingang schmückt und nun enthüllt wurde. Eine schmale Holztreppe führt hinauf in den Innenraum des pittoresken Kleinods koreanischer Ar-chitekturkunst. Wer sich den Blick durch die Fenster dieses kunstvoll gestalteten, hölzernen Hexagons nicht entgehen lassen wollte, nutzte die erstmalige Gelegenheit, mit Ein-wegschuhe auf den Spuren der traditionellen koreanischen Baukunst zu wandeln. „Dies soll ein Ort sein, an dem Sie die koreanische Kultur unmittelbar erfahren können,“ hatte Gesandter-Botschaftsrat Yun Jong Seok, Leiter der Kulturab-teilung der Botschaft der Republik Korea, zu Beginn der Er-öffnungsfeier gesagt. Das fällt nicht schwer. Wohl niemand konnte sich allein beim Anblick der aufwendig gestalteten Deckenbemalung dieser Faszination entziehen.

Der Bezug zum Thema Teilung und Wiedervereinigung fin-det seinen sichtbaren Ausdruck in den daneben aufgestell-ten drei Mauerteilen der einstigen innerdeutschen Grenze, die zugleich als Informationstafeln dienen. Nebst musika-lischem Begleitprogramm wurde fotografiert, gelächelt, von der Pavillonbalustrade gewunken, gefeiert - und dem Wetter getrotzt.

Im Anschluss an die Zeremonie zur Einweihung am Potsda-mer Platz gab es im nahegelegenen Koreanischen Kultur-zentrum Musik, Gespräche – und „Einheits-Bibimbap“!

8 / KULTUR KOREA

Foto

s: K

orea

nisc

hes

Kul

turz

entr

um

1 Prof. Hermann Parzinger2 Hans Modrow3 Dieter Kosslick

1

2 3

Parlamentarische Staatssekretärin Iris Gleicke, MdB(Videobotschaft)

Beschriftung der Dachziegel des Pavillons

Page 11: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KULTUR KOREA / 9

S.E. Lee Kyung-soo, Botschafter der Republik Korea, hält bei den Feierlichkeiten anlässlich der Einweihung des „Pavillons der Einheit“ am 25.11.2015 eine Rede.

Hartmut Koschyk, MdB, gibt dem koreanischen Fernsehsender KBS ein Interview.

„Pavillon der Einheit“ am Potsdamer Platz in Berlin

Page 12: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

TRADITIONELLE ARCHITEKTUR KOREAS

10 / KULTUR KOREA

D R AC H E N, P F I R S I C H U N D F L E D E R M AU SDer koreanische „Pavillon der Einheit“ am Potsdamer Platz in Berlin ist Ausdruck für das erneuerte Interesse an der traditionellen Baukunst in Südkorea

Von Ulf Meyer

Während Deutschland in diesem Jahr das 25. Jubi-läum der Wiedervereinigung begeht, jährt sich in Korea die Teilung zum 70. Mal. Um der Hoffnung

auf eine friedliche Vereinigung der koreanischen Halbinsel Ausdruck zu verleihen, hat die Kulturabteilung der Bot-schaft der Republik Korea mitten im neuen Zentrum von Berlin einen „Jeongja“ („Pavillon“) errichten lassen. Dieses „öffentliche Kunstwerk im Stadtraum“ steht direkt am Tilla-Durieux-Park und damit am Potsdamer Platz, der die beiden Berliner Stadthälften seit 1990 wieder miteinander verbindet. Wo Berliner Mauer und Todesstreifen verliefen, dient der neue koreanische „Pavillon der Einheit“ als Stätte der Besinnung und als politisches Symbol der Hoffnung (siehe S. 4/5).

Mehrere Handwerker-Teams waren in Etappen aus Korea nach Berlin gereist, um den Pavillon zu errichten, zu be-malen und zu gestalten. Der Aufwand hat sich gelohnt. In Korea werden Jeongja an Orten errichtet, die eine schöne Aussicht bieten und Einheit zwischen Mensch und Natur bedeuten. Seit etwa 300 Jahren gibt es diese spezifische Form der Baukultur in Korea. Der Berliner Pavillon ist im Grundriss in der Form eines Hexagons gestaltet. Drei originale Beton-Segmente der Berliner Mauer, die neben dem koreanischen Pavillon am Potsdamer Platz aufgestellt wurden, dienen als Informationstafel mit einem erläutern-den Text in Deutsch und Englisch.

Der koreanische Pavillon in Berlin aus Holz und Stein ist seit 25. November 2015 zu sehen und wird zunächst zwei Jahre lang an seinem prominenten Bauort zwischen Ost und West belassen. Der sechseckige Pavillon („Yuk-mojeong“ genannt) wurde in traditioneller koreanischer Zimmermannskonstruktion errichtet. Die Holzbalken und –ornamente sind in charakteristischen traditionellen kore-anischen Farben gestrichen, darunter Türkis, Gelb und Rot. Die erhöhte Plattform ist eine offene Aussichtsebene etwa 2,5 m über dem Gelände, die auf sechs Stützen steht, die auf steinernen Sockeln ruhen. Eine hölzerne Treppe führt hinauf. Das Dach des Pavillons ist mit schwarz lasierten Ziegeln gedeckt, die „Giwa“ genannt werden und aus Ton bestehen. Jeongja werden traditionell nur aus Holz und Stein gebaut. Weder Nägel noch Schrauben werden für die Verbindungen genutzt, sondern nur raffinierte Zapf- und Steckverbindungen. Die bunten Motive, mit denen Jeong-

ja dekoriert werden, wurden auch beim Berliner Pavillon von Hand aufgetragen.

Entworfen hat den Berliner Korea-Pavillon die Architektin Cho In-Souk vom Architekturbüro DaaRee aus Seoul, die als Denkmalpflege-Expertin gilt und fließend Deutsch spricht. Sie hat sich in ihrer Arbeit eng an den Sang Nyang Jeong-Pavillon angelehnt, der im Changdeokgung-Pa-last („Palast der glänzenden Tugend“) in Seoul steht. Er ist einer von fünf noch erhaltenen Königspalästen der Joseon-Dynastie (1392-1910) und gehört seit 1997 zum UNESCO-Weltkulturerbe. Ganz wie das Berliner Pendant wurde auch das koreanische Vorbild auf einem Granitso-ckel errichtet. Es stammt aus der Mitte des 19. Jahrhun-derts. Über dem Granitsockel erheben sich sechs ebenfalls aus Granit gefertigte Hauptstützen, die genau zehn Mal so hoch wie breit sind. Auf jeder steinernen Stütze ruht darü-ber eine solche aus Holz, die im Grundriss ebenfalls sechs-eckig geformt ist. Ausgefacht sind die sechs Fassaden des Berliner Pavillons mit Holztüren, deren Schnitzwerk mit stabilem Papier hinterklebt ist. Die hölzernen Schmuck-gitter sind jeweils in vier Felder unterteilt und mit einem Muster geschmückt, das zwei Kreise (Münzen) darstellt. Da der Innenraum des Pavillons klein ist, umgibt den Jeongja auf allen Seiten eine umlaufende Terrasse. Deren Brüstung ist mit Ornamenten in „Hahnenkamm“-Form geschmückt. Die Fußböden des Pavillons bestehen aus Holzbohlen, während die Decke aus zwölf Rauten gefügt wurde. Die Ornamente zeigen hier Wolken, Fledermäuse, Kraniche, Pfirsiche und Zitrusfrüchte. Das Ziegeldach hat einen spitzen Abschluss in Form einer „Jeolbyeongtong“, wie Koreaner dieses typische Dach-Detail nennen. Auf den Dachziegeln an der Traufe lassen sich weitere interessante Ornamente wie Spinnen und Drachen entdecken. Die Ziegel selbst ruhen auf einem hölzernen Dachstuhl, der eine Lage runder und darüber eine Lage eckiger Träger aufweist.

Für Berliner und Besucher der deutschen Hauptstadt ist es ein besonderer architektonischer Leckerbissen, sich einmal im Maßstab 1:1 mit der koreanischen Baukunst im Zentrum Berlins auseinandersetzen zu können. Aber ist die traditionelle koreanische Handwerkskunst überhaupt noch „lebendig“ oder wird hier eine Tradition bemüht, die überkommen ist?

Page 13: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KULTUR KOREA / 11

Wer Seoul oder andere Großstädte in Korea (Nord wie Süd!) besucht, hat den Eindruck, die moderne Architektur nach westlichem Vorbild hätte die koreanischen Städte flächen-deckend verändert und unwiederbringlich überformt. Erst bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass neben Jeongja auch das traditionelle koreanische Haus, „Hanok“ genannt, noch vereinzelt zu erleben ist – und derzeit eine späte, aber verdiente Renaissance erlebt: Das Hanok-Haus erscheint angesichts der weitverbreiteten Debatte um nachhaltige-res Bauen in mancher Hinsicht moderner als die Moderne selbst: Die ausgeprägte Sensibilität dem Bauplatz, den Himmelsrichtungen und dem Klima gegenüber, von der die vernakuläre Architektur – nicht nur – Koreas zeugt, gilt zeit-genössischen Architekten als vorbildlich. Die Idee der geo-mantisch günstigen Orientierung, das „Baesanimsu”-Prinzip der Ausrichtung des Gebäudes zum Wasser und einem Berg im Hintergrund, die „Ondol” genannten Fußbodenheizungen und die „Daecheong“ genannten überdachten Korridore, prägen die Architektur der Hanoks ebenso wie die von ei-nem weiten Dachüberstand vor Regen und Sonne geschütz-te Terrasse. Die Auslegung auf Querlüftung im Sommer macht die traditionelle koreanische Architektur „ökologisch“, lange bevor es dieses Wort im allgemeinen Sprachgebrauch überhaupt gab. Hanoks gibt es in regionalen Varianten: Ge-schlossene Hofhäuser im kalten Norden des Landes weisen den kalten Wind ab und haben keine Holzdecks und weniger Fenster. „L“-förmige Häuser findet man in der Mitte des Landes, im milderen Süden hingegen herrscht die „I“-Form vor. Hier wurden die Hanoks wie Reihenhäuser in einer Linie gebaut, um eine gute Ventilation sicherzustellen. Grundlage der traditionellen koreanischen Architektur waren die länd-lichen Gebäude in der Mandschurei, die schon früh mittels Ondol beheizbar waren.

Trotz ihrer praktischen und gestalterischen Vorzüge galt die traditionelle Architektur spätestens in den 60er und 70er Jahren, als eine massive Modernisierungswelle über Korea hinwegging, als hoffnungslos altmodisch und überkom-men. Schwindelerregend hohe Apartmenttürme wuchsen allerorts in den Himmel über Korea - und fast alle Hanoks wurden abgerissen und mussten den breiten neuen Straßen und modernen Neubauten weichen. Weniger als 1% aller Gebäude in (Süd-)Korea sind heute noch Hanoks.

Erst seit der Jahrtausendwende setzte in (Süd-) Korea ein Umdenken ein: Heute gilt das Wohnen im Hanok wieder als „chic“ – speziell, wenn die Häuser mit modernem, westli-chem Komfort ausgestattet werden. In einigen Stadtteilen von Seoul kann man auch die städtebaulichen Qualitäten der Hanoks studieren und erleben: In Gaesung beispielswei-se ist das enge Geflecht aus Gassen mit Hanok-Häusern eine beliebte Touristenattraktion. Früher wurde der Hanok-Haus-typ auch „Jooga“ oder „Jaetaek“ genannt. Das Wort „Hanok” setzte sich erst 1975 durch - als Antonym zu Gebäuden west-licher Bauart. Sprachlich werden Häuser mit Dach-Schindeln („Neowa-jib“) von solchen mit Ziegeldächern („Giwa-jib“)

Foto

s: D

anie

l Tän

dler

Dass sich die Architektur der Hanoks wachsender Beliebtheiterfreut, zeigt auch das vom Architekturbüro „urban Detail“ umgebaute Hanok in Seoul.

Page 14: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

12 / KULTUR KOREA

unterschieden. Hanoks sind meist „Giwa-jib”. Zu den um-weltfreundlichen Details eines Hanok-Hauses, die heute wieder hochrelevant erscheinen, gehören die natürliche Kühlung im Sommer mittels Querlüftung und die einfache Beheizbarkeit im Winter mittels „Ondol”, einem Doppelbo-den aus gebranntem Ton. „Daecheong“ genannte Räume hingegen haben hölzerne Fußböden.

Die Holzstützen eines Hanok-Hauses, „Daedulbo” genannt, sind meist auf Fundsteinen gelagert, sodass sie im Erdbe-benfall Vibrationen absorbieren können und Feuchtigkeit aus dem Erdreich nicht in den Kapillaren des Holzes auf-steigen kann. Alle Baumaterialien wie Ton, Holz und Stein sind natürlichen Ursprungs und leicht wiederverwertbar. Das Tragwerk besteht aus einem Holzskelett, das dann mit Steinen ausgefacht wird. Die Fassadenöffnungen bestehen aus Bögen aus „Hanji” (Maulbeerbaumpapier, das mit Boh-nen-Öl getränkt wird, um das Bau-Papier wasserabweisend zu machen, aber dennoch atmungsaktiv zu belassen). Mit Hanji bespannte Fenster und Innentüren lassen gefiltertes, diffuses Tageslicht ins Rauminnere.

Seouler Stadtteile wie Bukchon im Bezirk Jung-gu und andere in Jongno-gu, in denen noch einige Straßen mit Hanoks erhalten geblieben sind, finden großes touris-tisches Interesse: Viele sind zu Cafés, Restaurants oder Teehäusern umgestaltet worden und zeigen die Qualitäten der traditionellen koreanischen Baukunst bis heute.

Ein Revival in Berlin und Seoul Was der einen Generation als altmodisch, überkommen und unkomfortabel erschien, wurde von der nächsten als umweltfreundlich, identitätsstiftend und schön wiederent-deckt: So verhält es sich auch mit der traditionellen kore-anischen Architektur: Bis vor kurzem nahezu vollständig beseitigt, erlebt sie derzeit eine Renaissance – Beispiele dafür sind derzeit in Seoul und Berlin zu sehen. Kein Tourist verlässt Seoul, ohne Bukchon besucht zu haben. Das pitto-reske Altstadtviertel hat sich von einem verschlafenen, von der Modernisierungswelle verschonten Wohnviertel am Hang zu einem von Seouls angesagtesten und fußgänger-freundlichsten „In“-Quartiere gemausert. Der kleine und sympathische Maßstab der Hanoks und ihrer Gassen steht in starkem Kontrast zu den massenhaften Wohnhochhäu-sern, die Seouls Skyline heute prägen.

Einst als anachronistisch verschrien, gibt es heute ganz selbstverständlich „modernisierte Hanoks” mit Keller, Ein-bauküche und modernen Bädern. Die alten Bauprinzipien wirken dennoch weiter fort: Der charakteristische Über-stand der geschwungenen Dächer lässt die im Winter tief stehende Sonne hinein, während er im Sommer Schatten spendet. Die charakteristischen, geschwungenen Ecken der Walm- und Satteldächer werden „Cheoma“ genannt. Die Baumaterialien wie Holz, Lehm und Stein lassen Ha-noks heute als umweltfreundlich und „grün“ erscheinen.

Foto

s: D

anie

l Tän

dler

1 Das Hanok des Architekten Doo-jin Hwang entfaltet selbst auf kleinstemRaum einen ungewöhnlichen räumlichen Reichtum.

2 Innen- und Außenraum sind eng miteinander verzahnt.

1

2

Page 15: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KULTUR KOREA / 13

Kein anderer Architekt hat sich so eingehend mit dem alt-neuen Bautypus des Hanok beschäftigt wie der Ar-chitekt Doo-jin Hwang aus Seoul: Er hält Hanoks für den idealen Baustein für ein nachhaltigeres Bauen in Seoul, wenn es gelänge, diese Bautypologie in die Höhe zu führen und mehrgeschossige Hanoks zu entwerfen. Diese „Über-Hanoks“ könnten das explosionsartige, flächenmä-ßige Stadtwachstum in Seoul reduzieren. In der Architek-tur kann das Beharren auf hergebrachten Bauformen der Schlüssel zu einem „Schatz“ an räumlichen Qualitäten sein: Das Hanok als identitätsstiftende und unverwechselbar koreanische Bauform könnte in den Händen von mutigen und kreativen zeitgenössischen Architekten nach Willen von Hwang neu entdeckt und entworfen werden: Um die einseitige Betrachtung von Hanoks als „bloßem histori-schem Kulturschatz“ zu überwinden, muss man die heuti-gen Wohnbedürfnisse genauer studieren, fordert Hwang: Der bodenständige koreanische Esprit des „Silsagusi“ könnte auch der koreanischen Architektur auf die Sprünge helfen: Traditionen sollen schließlich nicht um ihrer selbst willen künstlich als bloßer Stil am Leben gehalten werden, sondern müssen funktionieren. Pragmatisches Denken hatte das „Hanok-Dorf“ Bukchon seinerzeit auch entstehen lassen. Es war einst von gänzlich nostalgie-freien Ge-schäftsleuten eilig gebaut worden.

Um den in Seoul stets knappen Baugrund effektiv zu nutzen und auch moderne Computer-Heimarbeit in der Wohnung zu erleichtern, hat Hwang ein Terrassen-Haus entworfen, in dem kleine Gärten jeweils auf einem Teil der Dachfläche des Geschosses darunter angeordnet sind. Wohnen und Arbeiten sollen in diesem „Gebäude wie eine Schichttorte“ (Hwang) ganz selbstverständlich gleichzei-tig möglich sein. Hwang träumt von fünfgeschossigen Hanoks aus Holz, Stahlrahmen und Beton. Er versteht sich als Architekt eines ganzen Stadtquartiers, der über den Tellerrand eines Einzelgebäudes hinausschaut und den städtebaulichen Kontext im Blick hat. Für Hwang Doo-jin bleibt es eine Lebensaufgabe, Hanoks „aus der Denkmalpflege-Ecke herauszuführen“ und stattdessen zur Grundlage einer neuen städtischen Architektur in Korea zu machen.

Das „Mumuheon” genannte Haus im Bezirk Jongno-gu von Seoul, das Hwang Doo-Jin 2005 entworfen hat, stand am Beginn dieser neuen Entwicklung, die „Tradition wieder wachzuküssen“, wie Hwang es nennt. „Mumuheon” bedeutet „Haus des Nichts”. Aus einem einfachen Hanok aus den 30er Jahren hat Hwang ein kombiniertes Wohn-haus, Studio und Mini-Museum für Holzmöbel gemacht. Schlafraum, Daecheong, Bad und Küche wurden um einen Gartenhof ergänzt. Heizung und Beleuchtung des Mumuheons sind modern, auch Telefon und moderne Hausgeräte wurden eingeführt, ohne den Charakter des Hauses zu stören. Gerade erst im letzten Jahr fertiggestellt wurde Hwangs neuestes Hanok in Seoul: Er heißt „Eaves of

Philosophy” (etwa: ‚das Traufendach der Philosophie‘). Die-sen poetischen Namen hat der Bauherr für sein 13 pyeong (etwa 42 Quadratmeter) großes Haus gewählt. Der Hanok von 1936 dient einem frisch vermählten Ehepaar und bringt das „traditionelle Ambiente eines Hanoks sowohl in Spannung wie auch in Harmonie zur Moderne“, wie der Architekt sagt. Selbst auf kleinstem Raum entfaltet sich im philosophisch inspirierten Hanok ein ungewöhnlicher räumlicher Reichtum: Der offene Grundriss mit kleinem Schlafraum und Bad und einem L-förmigen Wohn-Speise-Raum mit Küche hat Sitzgelegenheiten auf dem Boden und auf Sitzmöbeln, wie man es im Westen gewohnt ist. Im Dachstuhl hat der Architekt einen Lese- und Ruheraum eingerichtet, in dem man unter einem traditionellen ko-reanischen Dach in Ruhe lesen und sich der „Philosophie“ (oder anderen Texten) widmen kann.

Zwar lässt sich von Berlins neuester architektonischer Errungenschaft, dem Pavillon am Potsdamer Platz, aus kein Naturschauspiel bewundern, wie sonst bei koreanischen Jeongja üblich, jedoch ist auch der Berliner Pavillon ein Ort der Einkehr und der Besinnung, von dessen erhöhtem Plateau aus es sich gut über die Grenzen, die Menschen zwischen einander ziehen, kontemplieren lässt.

Ulf Meyer ist ein Architekturkritiker aus Berlin, derzeit als Professor an der Tamkang University in Taiwan tätig. Im Antaeus Verlag ist sein SEOUL ARCHITEKTURFÜHRER erschienen.

Foto

: pri

vat

»

Page 16: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

TRADITIONELLE ARCHITEKTUR KOREAS

DER KOREANISCHE PAVILLON SANGNYANGJEONG IN DEN ANLAGEN DES PALASTES CHANGDEOKGUNG

Von Cho In-Souk, Architektin

Der „Pavillon der Einheit“, der auf dem Potsdamer Platz in Berlin errichtet wurde, ist dem Pavillon SangNyangJeong in den Anlagen des Palastes

Changdeokgung in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul nachempfunden.

Die Pavillons im hinteren Garten dieses Palastes aus dem Joseon-Reich (1392-1910) haben eine unterschiedliche Entstehungsgeschichte, weisen eine Vielfalt an Formen auf und wurden über einen langen Zeitraum genutzt. Am Palast Changdeokgung und seinem hinteren Garten, die 1997 Aufnahme in die Weltkulturerbeliste der UNESCO fanden, wurden während des Joseon-Reiches über 110 Pa-villons errichtet. Heute sind noch etwa 40 davon erhalten geblieben. Auch wenn sie sich bei flüchtigem Hinsehen ähneln, gibt es nicht einen Pavillon, dessen Form der eines anderen völlig gleicht. Dies ist auf den jeweiligen Ent-stehungshintergrund, den Standort, die Präferenzen des jeweiligen Königs und andere Faktoren zurückzuführen. Der Unterschied zwischen koreanischen und westlichen Pavillons besteht darin, dass koreanische Pavillons nicht „wie mit dem Lineal geplant“ waren. Anders als in der stili-sierten westlichen Gartenkunst wurde in Korea ein Pavillon an einer Stelle erbaut, an der die natürliche Umgebung am besten zur Geltung kam. Indem das Bauwerk möglichst kleine Maße hatte, wurde die Wirkung der Natur, die der Mensch von dort erleben konnte, maximiert: Je nach Licht-verhältnissen und Jahreszeit ließ die Natur von Augenblick zu Augenblick ein völlig unterschiedliches Bild entstehen. So besitzt ein traditioneller viereckiger Pavillon (Samo-jeong) vier Sichtfelder und ein traditioneller sechseckiger Pavillon (Yukmojeong) sechs Sichtfelder, von denen aus

man die sich ständig wandelnde Natur beobachten kann.

Der Pavillon SangNyangJeong, der auf einer Anhöhe hinter der Halle Nakseonjae steht, erzielt eine Harmonie mit den noch erhalten gebliebenen Gebäuden der Nakseonjae-Hal-le (welche auch die angrenzenden Seokbokheon1- und Sugangjae2-Hallen umfasst) und ermöglicht einen schönen Blick auf die Landschaft. Der SangNyangJeong wurde als sechseckige Holzkonstruktion auf einem hohen Grundstein aus Granit errichtet. Er war zunächst als „Cheonji Jangnam Jigung“ („die Residenz des Kronprinzen in Himmel und Erde“) bekannt. Man geht davon aus, dass der sechseckige Pavillon Mitte des 19. Jahrhunderts in der Ära von König Heonjong (1827-1849) erbaut wurde. Das Schild mit dem ursprünglichen Namen des Pavillons, „Pyeongwonru“ (im Besitz des National Palace Museum of Korea), wurde aus einem Grund, der nicht näher bekannt ist, irgendwann ausgetauscht und durch ein Schild mit dem jetzigen Namen, „SangNyangJeong“, ersetzt. Es heißt, dass das Wort „Pyeongwonru“ auf dem Schild sowohl von König Gojong (1852-1919) als auch von dem Kalligrafen Weng Shukun (1786-1815), dem Sohn von Weng Fanggang (1733-1818)3 aus dem Qing-Reich, per Hand geschrieben worden sein könnte, der in freundschaftlicher Beziehung zu dem berühmten koreanischen Literaten „Chusa“ Kim Jeong-hui (1786-1856) stand.

Lassen Sie uns die Architektur des SangNyangJeong näher betrachten, der aus den Materialien Stein, Holz und Toner-de mit althergebrachten Techniken innerhalb der Palastan-lage errichtet wurde:

Foto

: Cho

In-S

ouk

Der Pavillon SangNyangJeong mit dem kreisförmigen Tor Manwolmun im Hintergrund

1 Residenz für die Konkubine des Königs (zwischen der Residenz des Königs und der Residenz seiner Mutter)2 Residenz der Königinmutter3 Weng Fanggang: chinesischer Philosoph, Kalligraf, Schriftsteller und Sammler

14 / KULTUR KOREA

Page 17: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Der Grundstein und die hexogonale steinerne Plattform des Pavillons bestehen aus Granit. Auf die erste steiner-ne Plattform wurde eine zweite gesetzt. Am Fuß ist die Plattform mit Sand, Lehm und Kalk ausgefüllt. Die Höhe der sechs steinernen Säulen (Juchoseok) beträgt nach historischen koreanischen Maßen 6 Ja4 6 Chi5 (1,98 m). Der untere Teil der Säulen hat eine Dicke von 6 Chi 6 Pun6, was etwa einem Zehntel der Säulenhöhe entspricht. Im oberen Bereich verjüngen sich die Säulen, was nicht nur eine Stabi-lisierungsmaßnahme ist, sondern auch der Ästhetik dient.

Die Stützenzone, die den mittleren, eigentlichen Teil des Pavillons ausmacht, besteht aus hölzernen Säulen und Türen. Der Säulenabstand beträgt nach damaligen Maßen 7 Ja (ca. 2,145 m), und die Säulen sind ebenfalls sechseckig. Die Papierschiebetüren an den sechs Seiten des Pavillons sind in jeweils vier Elemente unterteilt. Die Holzrahmen der Papierschiebetüren sind gitterförmig. In sie wurde ein Muster integriert, das zwei Kreise darstellt, die einander überschneiden. Das Muster stellt zwei ineinander ver-schlungene Geldstücke dar, die für Reichtum und Ruhm stehen. Das Innere des Pavillons ist mit einem Holzdielen-boden (Maru) ausgelegt, der ein rautenförmiges Muster hat. Um die Außenseite des Pavillons verläuft ein Steg aus Holzdielen, der von einer Balustrade mit Stützelementen in Hahnenkammform eingefasst ist. So sollte der beeng-te Raum im Pavilloninneren erweitert werden, um ein Sicherheitsgefühl zu vermitteln und die Ästhetik des Baus zu erhöhen. Als Besonderheit befindet sich im Inneren des Pavillons eine Eingrenzung mit Gittermuster, die „Gyoran“ genannt wird. Wenn man die unterteilten Türen öffnet, hat diese Eingrenzung die Funktion eines inneren Geländers. So wird der Raum visuell vergrößert, und gleichzeitig wird ein zusätzliches Gefühl der Sicherheit erzeugt. An den Balustraden mit Stützbalken in Hahnenkammform gibt es durchbrochene Zierelemente, die in Korea „Auge des Elefanten“ genannt werden. An der unteren Kante des Pa-villoncorpus befindet sich eine hölzerne Zierleiste namens Nakyang, die ein Verziehen des Holzes verhindern sollte und für eine räumliche Harmonie sorgt.

Die Holzdecke im Inneren des SangNyangJeong weist von allen Decken sechseckiger Pavillons aus der Joseon-Zeit das präziseste Design auf. In die Kassettendecke wurden 12 rautenförmige Holzelemente eingefügt. Bei der Konstruk-tion des SangNyangJeong wurden von den Säulen bis zur Decke genaueste geometrische Berechnungen angestellt, und durch die Muster wurde dem Gebäude eine symbo-lische Bedeutung verliehen. In den Deckeneinfassungen finden sich Muster von Fledermäusen, Pfirsichen und Bulsugam (ein Zitrusbaum, welcher der Hand Buddhas ähnelt). Die sechs Holzelemente am Rand sind mit Wolken und einem Drachen mit Geweih verziert, und die sechs in der Mitte mit Wolken und zwei Kranichen, die sich gegen-überstehen.

Das sechseckige Ziegeldach wird durch eine Spitze na-mens Jeolbyeongtong abgeschlossen. Für das Dach wurde eine Sutgiwa („Mönch“) genannte Ziegelform verwen-det, die mit einer Glasur in der Farbgebung Mittelasiens überzogen ist. Auf diese Weise wurde eine etwas exotische Wirkung erzielt. Diese Farbigkeit wird heute als Hinweis auf den kulturellen Austausch in der damaligen Zeit gedeutet. Die Abschlussziegel – Ammaksae (halbmondförmiger Abschlussziegel, „Nonne“) und Sumaksae (runder Ab-schlussziegel, „Mönch“) – besitzen alle die unterschiedlichs-ten Abbildungen wie Spinnen, Drachen und Zeichen für Langlebigkeit. Sie gelten als Symbole für ein langes Leben, Freude und Glück.

Der Dachstuhl besteht aus einem Zweikonsolensystem. In historischen Schriften spricht man von „Dapo Yang-sik“ (Form mit mehreren Konsolensystemen). Zwischen den Säulen verläuft ein horizontaler Verbindungsbalken (Changbang), aber darüber fehlt ein weiterer horizontaler Verbindungsbalken (Pyeongbang), was eher ungewöhn-lich ist; denn dieser zweite Balken findet sich bei vielen traditionellen koreanischen Pavillons. Die erste Schicht von Pfetten, welche die Dachsparren unterstützen, hat eine runde Form. Über der Schicht mit den runden Pfetten gibt es noch eine weitere mit eckigen. Dieses Zweischichtensys-tem verleiht dem Dach des Pavillons eine helle und heitere Ausstrahlung.

An den Laub- und Obstbäumen in der Nähe des Pavil-lons SangNyangJeong sprießen je nach Jahreszeit Blüten und reifen Früchte. Himmel, Pavillon, Bäume und Mauer bilden eine perfekte Einheit. Das auffälligste Merkmal des Pavillons SangNyangJeong sind das Tor Manwolmun („Vollmondtor“, steht für den Himmel) und die traditionelle „Blumenmauer“, eine mit Blumenmustern verzierte Mauer. Während in Wäldern gewöhnlich die Natur die natürliche Umgrenzung von Pavillons bildet, ist der Pavillon Sang-NyangJeong, der auf einer Anhöhe steht, von einem künst-lichen Bauwerk in Form dieser Mauer umgeben, welche die Jahreszeiten und die Natur symbolisiert. Es scheint, dass auf diese Weise das räumliche Empfinden des Pavillons noch deutlicher hervorgehoben wird.

(Übersetzung aus dem Koreanischen ins Deutsche: Gesine Stoyke)

Dr. Cho In-Souk ist Architektin und Vorsitzende von DaaRee Architect & Associates, Seoul. Darüber hinaus ist sie internationale Co-Direktorin des Arbeitsprogramms „Cultural Identity – Architectural Heritage“ der Union of International Architects (UIA).

Foto

: pri

vat

»4 Koreanische Fuß5 Koreanische Zoll6 Alte koreanische Maßeinheit

KULTUR KOREA / 15

Page 18: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Von Gesine Stoyke, Redaktion „Kultur Korea“

Der Abend des 30. Juli war wolkenverhangen und relativ kühl. Eigentlich war es ein Tag wie jeder andere am Berliner Hauptbahnhof -

Pendler und Fernreisende hasteten zu ihren Zügen – wäre da nicht auf der Anzeigetafel von Gleis 13 ein Hinweis zu lesen gewesen, der eine Abweichung vom normalen Fahrplan ankündigte: „Zug endet hier – Sonderzug von Warszawa Wschodnia – Bitte nicht einsteigen!“.

Über 14.000 km hatte der Eurasien-Freundschaftszug zurückgelegt, bevor er am Donnerstag, den 30. Juli, um 19.46 Uhr im Bahnhof der deutschen Hauptstadt eintraf. Darin saßen 200 Passagiere aus Korea. Sie hatten ihre Expedition im Süden der koreanischen Halbinsel begonnen und waren über China, die Mongolei, Russland und Polen bis nach Deutschland gereist. Ebenfalls mit an Bord: der Außenminister der Republik Korea, Yun Byung-se, und die Präsidentin der Korea Railroad Association (KORAIL), Dr. Choi Yeon-hye; sie waren allerdings nur einen Teil der Strecke mitgefahren. Auf dem Bahnsteig wurden sie vom Botschafter der Republik Korea in Deutschland, S.E. Lee Kyung-soo, einem Vertreter des Landes Berlin und einem Repräsentanten der Deutschen Bahn empfangen. Ein koreanisches Mädchen in Landes-tracht überreichte Blumen. Es folgten Fotosessions und Willkommensreden.

Trotz aller Freude über den gelungenen Abschluss

der Reise blieb ein Wermutstropfen: Aufgrund der Teilung der koreani-schen Halbinsel musste der Strecken-abschnitt, der durch nordkoreani-sches Territorium führte, ausgespart werden. 1945 wurde die koreanische Halbinsel in eine amerikanische und eine sowjetische Besatzungszone geteilt, was 1948 die Entstehung von zwei getrennten Staaten nach sich zog. 2015 begeht Korea nicht nur den 70. Jahrestag der Unabhängigkeit von japanischer Kolonialherr-schaft, sondern auch den 70. Jahrestag der Teilung des Landes. Aus diesem Anlass wurde der Eurasi-en-Freundschaftszug auf die Gleise geschickt, ein Projekt des Außenministeriums der Republik Korea und der südkoreanischen Eisenbahngesellschaft KORAIL. Mit der Zugreise sollte der Wunsch nach Frieden und Wiedervereinigung auf der koreani-schen Halbinsel und nach einer stärkeren Verbin-dung zwischen Asien und Europa sichtbar gemacht werden.

Korea blickt auf Deutschland, das im vergangenen Jahr den 25. Jahrestag des Mauerfalls und in die-sem Jahr den 25. Jahrestag der Wiedervereinigung zelebrierte. So war es nur natürlich, dass die Organi-satoren der Reise als Endstation Berlin wählten - die Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands im Herzen Europas.

QUER DURCH ASIEN UND EUROPADer Eurasien-Freundschaftszug beendet seine Reise in Berlin

1 4 . 4 0 0 K I L O M E T E R

KALEIDOSKOP

16 / KULTUR KOREA

Page 19: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Am 14. Juli hatten die Expeditionsmitglieder des Eurasien-Freundschaftszugs am Bahnhof Seoul an ei-ner Auftaktveranstaltung teilgenommen.1 Ihre Reise begann jedoch nicht an besagtem Bahnhof mit dem Zug, sondern am Internationalen Flughafen Incheon mit dem Flieger: Eine Gruppe brach nach Peking auf und die andere nach Wladiwostok - dort erfolgte der Umstieg in die Bahn mit dem Reiseziel Irkutsk. In Irkutsk trafen sich die beiden Teams wieder, um gemeinsam auf dem Schienenweg über Warschau bis nach Berlin zu reisen. Ihre Fahrt führte sie durch verschiedene asiatische und europäische Länder. An den einzelnen Zwischenstopps gab es Festivals, Empfänge mit Regierungsvertretern, Exkursionen zu historischen Orten, Konzerte, Ausstellungen und vie-les mehr – mit dem Ziel, die Freundschaft zwischen den Zugreisenden und den Menschen an der Strecke zu stärken und für die Wiederbelebung Eurasiens zu werben. In Eurasien – ein geografisch-geologischer Begriff für Asien und Europa als ein geeinter Konti-

nent - sind etwa 70 Prozent der Weltbevölkerung an-gesiedelt. Der Kontinent umspannt zwölf verschiede-ne Zeitzonen und ist die Wiege antiker Zivilisationen, die durch den Austausch entlang der Seidenstraße gefördert wurden. Mit der Reise, welche das Netz der Transsibirischen Eisenbahn, der Chinesischen Eisenbahngesellschaft und der Transmongolischen Eisenbahn miteinander verband, wurde die Idee der Seidenstraße mit neuem Leben erfüllt.

Fast 20 Tage hatte die Reise quer durch den eurasi-schen Kontinent gedauert, die am 30. Juli in Berlin endete. Die Expeditionsteilnehmer/innen bildeten einen Querschnitt der koreanischen Gesellschaft: Ganz normale Bürger saßen neben Regierungsver-tretern, Repräsentanten des Wirtschaftsbereichs neben Mitarbeitern der Medienbranche. Unter den Zugreisenden waren Künstler, Nachkommen von Aktivisten der koreanischen Unabhängigkeitsbe-wegung, Koreaner, die als Bergarbeiter oder Kran-Fo

tos:

Kor

eani

sche

s K

ultu

rzen

trum

Abend des 31. Juli: Festakt am Brandenburger Tor aus Anlass der Ankunft des Eurasien-Freundschaftszuges in Berlin

1 4 . 4 0 0 K I L O M E T E R

KULTUR KOREA / 17

1 Eigentlicher Ausgangspunkt der Reise waren die südkoreanischen Hafenstädte Busan und Mokpo.

Page 20: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

kenschwestern in Deutschland gearbeitet hatten, Studierende und Menschen, die die Sprache der bereisten Länder beherrschten.

Den Abschluss des Projekts bildeten am 31. Juli ein Forum über die koreanische Wiedervereinigung für koreanische und deutsche Studierende, ein Friedens-marsch von der Siegessäule bis zum Brandenburger Tor und ein Festakt auf dem Pariser Platz vor eben jenem Tor. Für den Festakt am Brandenburger Tor, einem Symbol für die deutsche Teilung und Wieder-vereinigung, war ein koreanisch-deutsches Orchester engagiert worden, das sich aus 70, in Deutschland wohnhaften, koreanischen und deutschen Musi-kern und Musikerinnen zusammensetzte. Ganz im Zeichen der Völkerverständigung zwischen den beiden Nationen wurden vor allem koreanische und deutsche Werke gespielt, abwechselnd dirigiert von dem koreanischen Dirigenten Jee Joongbae und dem deutschen Dirigenten Jürgen Bruns. Unter den Gästen waren der Außenminister der Republik Korea, der Botschafter der Republik Korea in Deutschland, der ehemalige Präsident des südkoreanischen Parlaments, Gang Chang-hui; der Gouverneur der Provinz Nord-Gyeongsang, Kim Kwan-yong; der erste demokratisch gewählte und zugleich letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière; der stellvertretende Leiter der Konzernpressestelle Deutsche Bahn, Achim Stauß, und die Passagiere des Eurasien-Freundschaftszugs. Als Interpreten traten die Sopranistin Jo Sumi, der Pianist Paik Kun-Woo und der Meister der koreanischen Perkussionskunst Samulnori, Kim Duk Soo, auf. Mit dem Lied „Schönes Geumgang-Gebirge“ verlieh Jo Sumi dem Wunsch nach einer Wiedervereinigung der koreanischen Halbinsel noch einmal Nachdruck. Denn das Geum-gang-Gebirge liegt im Norden der koreanischen

Halbinsel und ist für die Menschen aus dem Süden ein unerreichbarer Ort der Sehnsucht.

„Ich hoffe, dass der Tag kommen wird, an dem Süd- und Nordkorea wiedervereinigt sind und an dem man einen Zug besteigen kann, der im südkoreani-schen Busan aufbricht, Nordkorea durchquert und in Berlin ankommt!“ Diese Ansage der beiden Modera-toren des Festaktes in koreanischer und deutscher Sprache fand bei den über 500 anwesenden Gästen große Zustimmung. Sollte die koreanische Wieder-vereinigung Wirklichkeit werden, könnten tatsäch-lich Züge von den südkoreanischen Städten Busan und Mokpo ohne Unterbrechung bis in die deutsche Hauptstadt fahren. „Natürlich sind wir Koreaner be-müht, die Nord-Süd-Verbindung innerhalb Koreas zu öffnen, die Wiedervereinigung zu erreichen und den Eurasien-Freundschaftszug eines Tages ungehindert seinen Weg über den Kontinent antreten zu lassen“, sagte Botschafter Lee Kyung-soo in einem Interview (Frankfurter Rundschau, 25.07.15). „Um dieses Ziel zu erreichen, möchten wir Vertrauen schaffen und hof-fen auch auf Unterstützung von deutscher Seite.“

Das Konzert endete mit dem Entfalten einer riesigen koreanischen Flagge und dem gemeinsamen Singen des Liedes „Uri-ui Sowon-eun Tongil“ (,우리의 소원은 통일‘: ,Unser Wunsch ist die Wiedervereinigung‘), bevor die Passagiere des Eurasien-Freundschaftszugs den Bus bestiegen, der sie zu ihrem Hotel brachte.

So ging eine symbolträchtige Reise zu Ende – mit dem Wunsch, dass die koreanische Wiedervereini-gung in nicht mehr allzu ferner Zukunft liegen möge.

18 / KULTUR KOREA

Koreanisch-deutsches Orchester mit Sängerin Jo Sumi (li.); nach Konzertende wird eine riesige koreanische Flagge (Taegeukgi) entrollt (Mitte); Pianist Paik Kun-Woo (re.).

Page 21: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KALEIDOSKOP

Lee Myeong-Gil hat ganz weiße Zähne. Sie sind so weiß, dass sie aus seinem Mund hervorstrahlen. Das unterstreicht sein perfektes Äußeres: Das kurzärmli-

ge Hemd spannt am Bizeps, die Frisur sitzt wie aus Stein gemeißelt perfekt auf seinem Kopf, und der Händedruck ist so fest und selbstsicher wie der stechende Begrü-ßungsblick. Alles an Lee Myeong-Gil stellt sich auf das Gegenüber ein, und das muss er auch, denn Verbindlich-keit, das ist sein Geschäftsmodell. Er weiß so viel über das Daten wie kaum ein anderer Südkoreaner außer ihm. Weiße Zähne sind dabei nicht so wichtig wie gesundes Selbstbewusstsein, sagt er: „Man sollte sich fragen, ob man selbst jemand ist, mit dem man ausgehen würde.“ Diese Frage sollte man jeden Tag mit „Ja“ beantworten.

Lee Myeong-Gil hat auch ein bisschen gut reden: Er hat mit 34 Jahren seinen persönlichen Wunschzettel kom-plett erfüllt: Er wollte eine Frau, eine Familie, ein Einkom-men über 100.000 Dollar im Jahr und ein Buch geschrie-ben haben. Gerade ist sein neuntes Buch erschienen, es handelt - wie alles in seinem Leben - vom Daten. All der Erfolg hat auch damit zu tun, dass Lee Myeong-Gils Dating-Agentur ihren Hauptsitz direkt an der Station „Gangnam“ hat, mitten im Zentrum seiner Zielgruppe, könnte man sagen. „Die meisten meiner Klienten sind weiblich, Mitte 30 und Single.“ Ihnen will er mit seiner Agentur „Duo“ helfen, den Partner fürs Leben zu finden. Mit Tricks, mit Kursen, mit Anleitungen und sehr vielen schlauen Sätzen. Mehr als 500 Fernsehauftritte haben bei ihm dazu geführt, dass er die wichtigsten Probleme der Frauen von heute schon im Schlaf wiederholen kann.

WIE DATE ICH IN KOREA RICHTIG?

Lee Myeong Gil war früher ein Casanova und jetzt, als Familienvater, berät er diejenigen, die keine Beziehungen finden

Von Sören Kittel

KULTUR KOREA / 19

Page 22: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

„Früher“, beginnt er, „bedeutete die Heirat das Ende für ein gesellschaftliches Leben der Frauen.“ Aber heute seien Koreanerinnen wirtschaftlich unabhängig. Das bedeute auch: Sie brauchen den Mann nicht. Lee sagt: „Männer aber wollen nicht zum ‚Rollladen-Mann‘‚ werden.“ Das ist im Koreanischen der abfällige Begriff für die Ehemänner, die abends im Geschäft ihrer Frauen die Rollläden herunter-lassen. „Ich rate meinen Klientinnen, dass sie zu Hause eine kaputte Lampe nicht reparieren sollen, sondern einen be-freundeten Mann darum bitten – das schmeichelt ihnen.“

Daten, das ist in Südkorea weitestgehend noch immer eine konventionelle Art, jemanden kennenzulernen. In seltenen Fällen passiert das in Kneipen oder auf Partys. Den meisten Dates geht auch heute noch die Frage an die Freunde vor-an: „Kennst Du jemanden, der zu mir passen würde?“ Dann gehen die beiden zusammen aus, und wenn es gut läuft, treffen sie einander wieder. Wenn nicht, fragt man weiter im Freundeskreis – ab 30 beginnen auch die Eltern einen Partner vorzuschlagen. „Sogaeting“ ist das koreanische Wort für solch ein „Blind Date“, eine Art des Kennlernens, für die es inzwischen auch mehrere Apps gibt, allerdings nur auf Koreanisch. Sie sehen meist ähnlich aus wie Tinder, nur mit kleinen Comic-Kätzchen als Symbole.

Dating-Coach Lee Myung-Gil bringt zunächst seinen Klienten und Klientinnen bei, das richtige Maß zu finden beim Flirten, also der Zeit vor dem Date. „Alle wollen daten, aber niemand hat ihnen die richtigen Regeln beigebracht.“ Er sagt, dass Smalltalk und langsames Kennenlernen in

Korea oft ein Problem seien – sowohl beim Treffen als auch beim Chatten. „Manche Frauen schreiben zu oft SMS oder erwarten zu viel“, sagt er, „und Männer müssen lernen, Komplimente zu verteilen.“ Sogar der Handschlag zu Beginn des Abends ist etwas, das er seinen Schützlingen erst beibringen muss. Genauso ist es mit Codewörtern, die selbst viele Koreaner noch falsch verstehen. Eines der berühmtesten ist der Satz: „Möchtest Du mit mir Ramyeon (Nudeln) essen?“. Lee sagt, dass noch immer viele nicht wissen, dass das eine Einladung zum Sex ist.

Entstanden ist der Satz vor rund zehn Jahren, nachdem eine Sängerin im Refrain immer wieder vom Nudeln-Es-sen schwärmte. Seitdem sprechen Koreanerinnen auch offener davon, dass sie eine lose Beziehung zu einem ihrer Freunde haben. Männer sagen dann, sie haben „Some“ mit einer Frau. Das komme vom englischen Wort für „et-was“, man hat also „etwas miteinander“. Im Koreanischen funktioniert das als Verb: Ich some, du somest, wir somen. Vielleicht geht man nur miteinander ins Kino oder man macht Pärchenfotos mit einem Selfie-Stick – oder trifft sich in einem der vielen Liebeshotels, die es in jeder koreani-schen Stadt gibt. Davon wissen darf nur niemand: Nicht umsonst schrieb der „New Yorker“ kürzlich über Seoul, dass die Stadt die Technik aus dem Jahr 2050 habe und die Moralvorstellungen von 1950. Zwar werden hier die besten Mobiltelefone der Welt hergestellt, aber Eltern enterben ihre Töchter, wenn diese mit ihrem Freund unverheiratet zusammenziehen.

Links: Dating-Coach Lee Myeong-GilRechts: Ein koreanisches Pärchen im „Love Land“ auf der Insel Jeju - ein Park mit 140 Statuen zum Thema Liebe und Sexualität. „Love Land“ ist ein beliebtes Ausflugsziel für Koreaner.

Foto

s: Sö

ren

Kitt

el

20 / KULTUR KOREA

Page 23: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Lee kennt diese Einschränkungen seiner Kundinnen und Kunden, hat selbst in seiner Jugend genug angestellt. „Ich war früher ein Casanova und lebe jetzt wie der Dalai Lama.“ Er habe in seiner Jugend leicht Frauen zu einem Date überreden können, jetzt konzentriere er sich darauf, seinen Kindern ein guter Vater zu sein. Als er sich nach seinem Studium dann überlegte, was er am besten kann, dachte er: Frauen kennenlernen. So kam er in die Partner-Agentur und stellte sich als Paartherapeut vor, sagte, er kenne sich mit allen Altersklassen und Gesellschaftsschichten aus. Doch der Chef wies ihn ab. Lee ging auf die Herren-Toilette und verteilte seine Visitenkarten an jeden der Liebes-suchenden, der dort vorbeikam. Das bemerkte der Chef - und stellte ihn schließlich ein.

Seitdem unterrichtet er Singles im richtigen Daten. Bei Lee Myeong-Gil gibt es Regeln für das perfekte Rendezvous: „Am besten sollte es immer Donnerstag gegen Sonnen-untergang stattfinden, so gegen 18.30 Uhr.“ Donnerstag sei einerseits nahe am Wochenende, aber noch nicht mit den privaten Terminen vom Samstag belastet, und bei Sonnenuntergang scheine das Licht am sanftesten auf das Gesicht. Studien hätten gezeigt, das beste Date dauere zwei Stunden und 27 Minuten durchschnittlich. Doch auch wenn es kürzer sei, müsse man sich noch keine Sorgen machen. Frauen müssen nicht pünktlich sein und Männer müssen warten können. Dann spricht Lee von der Sitz-haltung („möglichst mit der Wand im Rücken“, sodass der Gesprächspartner möglichst wenig Ablenkung hat), vom Alkohol (wenig, auf keinen Fall Soju-Schnaps) und schließ-lich von Themen, die vermieden werden sollten: Compu-terspiele für Männer und Kinderwunsch für Frauen. „Die Rechnung bezahlt nach wie vor der Mann und den Kaffee danach inzwischen meist die Frau“, sagt Lee Myeong-Gil. Aber weil in Korea die Dessert-Cafés inzwischen aufgerüs-tet haben, ist der Unterschied inzwischen meist minimal.

Gangnam, wo das Büro steht, ist dafür der perfekte Ort. Nirgendwo sonst im Land ist ein Ort mit mehr Hoffnung aufgeladen: Hier laufen viele junge, gutaussehende Menschen durch die Straßen, lassen sich operieren, um mitzuspielen bei den von Natur aus Schönen, und hier in Gangnam sieht auch die Kleidung noch teurer aus, als ohnehin schon in vielen Teilen Seouls. Der „Gangnam Style“ ist Lee natürlich bekannt, das Lied von PSY, das die Oberflächlichkeit der Koreaner kritisiert. Und ja, er achte auf sein Äußeres, pflegt sich, putzt seine Zähne und macht regelmäßig Sport. Doch Gangnam erinnert auch ihn immer daran, dass es letztlich eben doch nicht nur das Äu-ßere ist, das zählt: „Viel wichtiger ist gerade hier bei all der Ablenkung in Gangnam das konzentrierte Zuhören.“ Auch das müsse er seinen Klienten immer wieder sagen: „Stellt das Mobiltelefon aus!“ Schon allein deshalb wird er noch viel Arbeit haben in den nächsten Jahren. „Genauso wie wir essen und schlafen müssen, müssen wir lieben – und dafür müssen wir daten, zum Glück.“

Sören Kittel war freier Journalist in Südkorea und ist derzeit Redakteur der Funke-Mediengruppe in Berlin.

Foto

: pri

vat

»KULTUR KOREA / 21

Page 24: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KALEIDOSKOP

SCHAUSPIELSTUDIUM AUF KOREANISCH

Von Anna Rihlmann

Im Rampenlicht stehen. Auf der Bühne, vor der Kamera – viele junge Menschen auf der ganzen Welt teilen den Traum vom Beruf des Schauspielers/der Schauspielerin.

Ich bin eine davon!

Jetzt studiere ich Schauspiel an der KARTS – der Korea National University of Arts in Korea - im ersten Semester.

Während meiner Schulzeit in Kaiserslautern machte ich einige Schauspielerfahrungen im Schulunterricht und als Statistin im Theater meiner Heimatstadt. Mein Interesse für Filme, vor allem für koreanische, war groß. So fing ich mein Studium der Medienwissenschaft und Koreanistik an der Universität Tübingen an. Während meines Auslands-jahrs in Korea besuchte ich den Theaterclub und stand das erste Mal auf einer koreanischen Bühne – und wusste: Hier gehöre ich hin. Deshalb informierte ich mich über koreanische Schauspielschulen und entschied mich dafür, nach Abschluss meines Bachelors zum Schauspielstudi-um nach Korea zu ziehen. Korea bietet eine Vielzahl von Studiengängen an. Ich besuchte einige der bekannten Universitäten und informierte mich in Gesprächen mit Professoren und dem Kollegium der Theaterwissenschaf-ten über die Aufnahmebedingungen, das Studium und das Studentenleben.

Im Frühling 2014 sprach ich das erste Mal mit Professor Sang-Ha Park von der Theaterabteilung der Korea National University of Arts. Das Büro im zweiten Stock war sehr klein, die Wand voll mit Theaterpostern. In den Bücherre-galen stapelten sich Bücher auf Koreanisch, Englisch und Russisch - Professor Park hatte 5 Jahre lang in Russland Schauspiel studiert. Er führte mich in das Leben der KARTS ein: Organisatorisches, Inhaltliches und eine Handvoll Anekdoten. Anschließend begleitete mich ein Student aus dem höheren Semester zu einer Tour über den Campus. Auf den Treppen probten zwei Studenten in mittelal-terlicher Aufmachung mit lauter Stimme Szenen – ich vermutete Shakespeare. Die Rasenfläche diente als Drehort für einige Studenten der Filmabteilung. Die Atmosphäre sprühte nur so vor Kunst und unterschied sich so sehr von allen anderen Universitäten, die ich bisher besucht hatte. Auf meinem Weg zur U-Bahn drehte ich mich noch einmal

um, sah auf den grauen Gebäudeklotz und dachte: Hier will ich hin.

Diesen Entschluss teilte ich mit rund 5000 Bewerbern, die sich jährlich für die Aufnahmeprüfung an der KARTS anmelden. Dementsprechend schwer sind auch die Prü-fungen. Dank der hilfreichen Tipps von Professor Park fing ich mit meinen Vorbereitungen an. Die Aufnahmeprüfung für den Masterstudiengang Schauspiel ist in drei Bereiche unterteilt: eine schriftliche Bewerbung, einen Englisch-Test und eine praktische Prüfung.

Die schriftliche Bewerbung musste bis Ende September eingereicht werden. Mit großer Sorgfalt schrieb ich mein Motivationsschreiben, erstellte eine Bewerbungsmappe mit meinen künstlerischen Leistungen, kopierte alle ange-forderten Unterlagen und brachte alles mit klopfendem Herzen zum Bewerbungsbüro an der Universität. Dort wurde mir gesagt, dass meine akademischen Nachweise so nicht akzeptiert werden könnten – es fehle die engli-sche Übersetzung und Apostille (ein vom deutschen Staat vergebener Beglaubigungsstempel), und zwar für jedes Dokument, angefangen vom Zeugnis der Grundschule! Die Zeit war knapp und ich verzweifelt. Unter Tränen versuchte ich, die Büroangestellten um mehr Zeit zu bitten. „Eindeu-tig School of Drama, was?“, bemerkte die Verantwortliche und gab mir 2 Wochen Verlängerungsfrist. Nun begann für meine Eltern die Arbeit in Deutschland: Übersetzungen anfertigen lassen, Apostillen besorgen. Alles musste auf schnellstem Wege nach Seoul geschickt werden. So schaff-te ich die erste Hürde.

Mit Selbstbewusstsein ging ich nun in die Englisch-Prü-fung Anfang November. Mit Englisch-Leistungskurs und viel Praxiserfahrung war ich mir sicher, ein gutes Ergebnis zu erzielen – für die Masterstudenten zählt diese Prüfung 30 Prozent. Selbstsicher lächelte ich die anderen Bewerber an, die nervös bis zum letzten Moment in ihren Vokabel-heften und Grammatikaufzeichnungen blätterten. Ich las die Prüfungstexte durch und freute mich, dass ich alles verstand. Als ich dann aber die Aufgabenstellungen las, verging mir das Lächeln augenblicklich. „Übersetzen Sie folgenden Abschnitt ins Koreanische“.

22 / KULTUR KOREA

1

Page 25: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Nach dieser zweiten großen Hürde war ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich auf diese Universität wollte, die es ihren Bewerbern so schwer machte. Ende November wurde ich dann zur praktischen Prüfung eingeladen. An einem reg-nerischen Freitagnachmittag nahm ich den Bus zur Univer-sität und fand mich in einem Raum voll nervöser Bewerber wieder. Komplett in schwarzer Trainingskleidung dehnten sich die schlanken Frauen und gut aussehenden Männer. Mit meinem kurzen Kleid fühlte ich mich etwas deplatziert und versuchte in einer Ecke, provisorisch meine Schultern zu dehnen. Als letzte Bewerberin des Tages wurde ich mit meiner Nummer aufgerufen. Im dunklen Klassensaal trat ich in das Scheinwerferlicht. Sechs Professoren der Univer-sität saßen vor mir. In der Mitte erkannte ich im Dunkeln das Gesicht von Professor Park.

„Guten Tag, Bewerberin Nummer 2“, stellte ich mich vor und führte meinen eingeübten Monolog auf Koreanisch vor – eine Szene aus Anne Frank. Anschließend wurde mir ein Stuhl angeboten und ich wurde etwa 20 Minuten interviewt. „Danke sehr, wir melden uns“ – und die letzte Chance war vorüber.

Es folgten Wochen des Bauchkribbelns und Wartens - dann kam endlich Anfang Dezember der Anruf. „Wir freuen uns, Sie als erste ausländische Bewerberin zum Masterstudien-gang Schauspiel an unserer Universität zu begrüßen.“ Ich weinte. Und freute mich unglaublich auf das kommende Jahr.

Noch vor Studienbeginn war ein Treffen für die Auser-wählten vorgesehen. Professor Park begrüßte seine neue Elf: Die Studenten des Masters-Schauspieljahrgangs 2015. Sechs Männer, vier Frauen und ich. Eine bunt gemischte Gruppe im Alter von 23 bis 38 Jahren. Während manche schon im Bachelor Schauspiel studiert hatten, gab es auch solche, die Jura, Anglistik, Französisch studiert hatten.

Auch ein Militärgeneral gehört zu unserer Gruppe. Profes-sor Park klärte uns über die nächsten 3 Jahre Studium auf und verkündete schon vorweg einige Bedingungen: Für 3 Semester dürfen wir uns nur auf das Studium konzentrie-ren. Deshalb sind jegliche Tätigkeiten beim Theater, Film

oder Fernsehen strengstens ver-boten. „Einwände? – Dann mögen Sie sich exmatrikulie-ren.“ Besonders bei den Masterstuden-ten handelt es sich um Schauspieler, die bereits viele prak-tische Berufserfah-rungen mitbringen. Darunter auch viele Angewohnheiten und Marotten. Um uns diese „auszutreiben“, sind im ersten Studienjahr keine Ferien vorgesehen, und die Ausbildung wird am Stück durchgezogen. „Einwände? – Dann mögen Sie sich exmatrikulieren.“ Nicht ein Mucks kam von den Studenten. Auch ich machte mich seelisch darauf gefasst, erst einmal nicht in die Heimat reisen zu können. Das ist der Preis, den ich für meine Aufnahme an der KARTS zahlen musste. Nach der offiziellen Einführung ging es zu einem weiteren wichtigen Teil der koreanischen Universi-tätskultur über – dem Trinken! Das wird für gewöhnlich bei einem verpflichtenden „MT - Membership Training“ zele-briert. So fuhren wir mit unserem Studiengang in die Nähe Seouls und verbrachten zwei Tage in der Natur zum Ken-nenlernen. Das war im Januar. Im Februar stand das MT mit unseren vorangegangenen Semestern an, im März wurden auch die Alumni zum MT eingeladen, und im April unter-nahm die komplette Abteilung der Theaterwissenschaften einen Ausflug in den Süden Koreas. Diese Reisen dienen den zwischenmenschlichen Beziehungen – besonders in der Schauspielbranche sind wir auf die enge Kooperation mit ganz unterschiedlichen Menschen angewiesen – da ist es wichtig, diese Zusammenarbeit schon früh zu fördern. Und außerdem macht es Spaß.

Anfang März begann nun der Unterricht. Der Stundenplan ist straffer als der eines Gymnasialschülers. Um 9.00 Uhr beginnt gewöhnlich der Unterricht. Alle zwei Wochen müssen um 8.00 Uhr die Klassensäle geputzt werden – das Schicksal der Erstsemester.

Foto

s: pr

ivat

KULTUR KOREA / 23

1,3,4 Schauspielunterricht2 Membership Training (MT) 2 3

4

Page 26: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Dafür ist der Lehrplan sehr abwechslungsreich: Auf dem Stundenplan standen Schauspielunterricht, Körperarbeit, Stimmbildung, Sprecherziehung, Gesang, Trommeln und Tanz. Dazu kamen noch theoretische Fächer wie Film- und Theatergeschichte, Dramaturgie und Drehbuchschreiben.Den Hauptteil bildet der praktische Schauspielunterricht. Wir lernten bei Professor Park nach dem Stanislawski-Sys-tem (russische Schauspielschule).

Russlands Schauspieltheoretiker Stanislawski sagte einmal, dass die Schauspielkunst nicht gelehrt werden kann, sie kann nur erlernt werden. Demnach lag es nun an unserem Fleiß und nicht am angeborenen Talent, uns im Unterricht zu beweisen. Volle Konzentration war gefordert. In den ers-ten Wochen ging es um die ganz essentiellen Elemente der Schauspielkunst – Aufmerksamkeit, Rhythmik, Körperbe-herrschung. Szenen aus unserem Alltag führten wir auf der Bühne, dem heiligen Ort für uns Studenten, vor. „Schau-spielere nicht“, wurden wir oft von Professor Park ermahnt, der die Natürlichkeit auf der Bühne forderte. Zum Ende des Semesters fingen wir auch mit kleinen Szenen zu zweit an. So verbrachten wir in der Woche den Großteil unserer Zeit an der Universität mit Proben, Gesprächen und Vorberei-tungen. Für einen Nebenjob bleibt da keine Zeit. Freunde und Familie sahen wir mit etwas Glück am Wochenende, und besonders kurz vor den Prüfungen verbrachten wir auch das Wochenende an der Universität.

Auch die anderen Fächer waren sehr zeitintensiv. Bei Pro-fessor Nam lernten wir Körperarbeit. Fünf Jahre lebte der zierliche Professor mit den lustigen Augen in Frankreich und erhielt an der Schauspielschule von dem berühmten Pantomimen Marcel Marceau Unterricht. Mit vielen humor-vollen Anekdoten aus seinem Leben in Frankreich lernten wir Körperbeherrschung und waren nach den anstrengen-den Akrobatikübungen immer sehr erschöpft.

Für Schauspieler ist eine gute Stimmbildung und Aus-sprache von großer Bedeutung. Vier Stunden die Woche lernten wir somit nach der englischen ‚Alexander Technik’ von null an, unsere Stimme zu benutzen. Das fing mit dem richtigen Atmen an – allein dafür waren zwei Unterrichts-wochen vorgesehen. Anschließend wurde uns das ‚richtige’ Aufstehen, Sitzen, Gehen gelehrt. Während des Unter-richts erfuhr man viel über sich selbst. So wurde ich auch im Alltag viel entspannter, Nacken, Rücken, Knie taten weniger weh, und wir hatten die Chance, mit Meditation jede Woche eine ‚Reise zu uns selbst’ zu machen. Dieser Zustand null ermöglicht einem dann als Schauspieler, sich in Zukunft in andere Rollen einzuarbeiten.

Koreaner sind sehr stolz auf ihre traditionellen Künste. Da

diese oft einen Teil von Theaterstücken, Soap-Operas und Filmen bilden, werden die Studenten an der KARTS im Trommeln und Tanz ausgebildet. In den Ferien, die keine Ferien sind, steht ein zweiwöchiger Intensiv-Workshop der traditionellen Musik auf dem Plan. 6 Stunden am Tag wurde getrommelt, getanzt und musiziert. Zur Aufführung waren die Professoren, Schulkameraden, Freunde und Familien eingeladen. Und dann geht es schon wieder los mit dem Schauspielunterricht bei Professor Park.

Das Studium an der Korea National University of Arts hat meine Erwartungen übertroffen. Ich kann nicht behaup-ten, dass es leicht ist. Oftmals verfolgt mich mein auslän-discher Akzent, und das Heimweh nagt an mir. Jedoch bin ich sehr froh über die tolle Ausbildung, die ich genießen darf, und freue mich schon auf das nächste Semester. 

Anna Rihlmann (koreanischer Name: 윤안나) machte ihren Bachelor der Medienwissenschaft und Koreanistik an der Eberhard-Karls-Univer-sität Tübingen. Derzeit belegt sie als erste aus-ländische Studierende den Masterstudiengang Schauspielstudium an der KARTS. Sie wohnt mit ihrer Gastfamilie im Norden Seouls. Ihr Traum ist es, über Länder- und Sprachgrenzen hinweg eine internationale Schauspielerin zu werden.

Foto

: pri

vat

»

24 / KULTUR KOREA

Page 27: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KALEIDOSKOP

FLIEGENDE TURTLE SHIPS SÜDLICH DER ELBEHamburger Schachlehrer veranstaltet erstes Janggi-Turnier außerhalb Asiens

Von René Gralla

Die Fahne der Republik Korea neben einem schwarz-rot-goldenen Wimpel: Die beiden Tischständer scheinen hinzudeuten auf bilaterale

Gespräche, die hier gleich beginnen. Und tatsächlich ist denn auch Konsul Tong-Q Lee von der konsularischen Ver-tretung der Republik Korea in der Hansestadt persönlich in Hamburgs südlichen Stadtteil Heimfeld geeilt, um die besondere Bedeutung dieses Tages zu unterstreichen.

Wobei das ein Dialog der ganz außergewöhnlichen Art ist, zu dem der 51-jährige Diplomat als Ehrengast geladen ist. Im Nebenflügel der Integrativen Grundschule Grum-brechtstraße wird am ersten Freitag im Juli ein Turnier im koreanischen Strategiespiel „Janggi“ (장기) ausgetragen. Und das ist eine echte Weltpremiere: Noch nie zuvor hat es einen vergleichbaren Wettkampf im „Janggi“, wie be-sagter Denksport in der Landessprache heißt, außerhalb Asiens gegeben.

Entsprechend zeigt sich Konsul Tong-Q Lee in seiner Be-grüßungsansprache angenehm überrascht, ein derartiges Event eröffnen zu dürfen: Das habe er in Hamburg „nicht erwartet“, zumal jenes Janggi in der jungen Generation seiner Heimat bisher nicht gerade zu den Rennern gezählt habe. Ungleich populärer sind dort E-Games wie „Star-Craft II“. Bei Weltmeisterschaften räumen südkoreanische Computerstrategen regelmäßig ab, und wichtige Matches werden von den Fans vor riesigen Public Viewing-Screens bejubelt.

Im Verhältnis zur digitalen Konkurrenz hat es das traditio-nelle Janggi schwer. Obwohl das koreanische Schach - so die Einordnung nach der Spieltheorie, weil das Schicksal einer Führungsfigur über Sieg und Niederlage entschei-det - weniger angestaubt ist, als es die Teens und Twens der K-Pop-Generation vermuten mögen. Zwar dürfte das älteste Set vor Ehrfurcht gebietenden 800 Jahren gefer-tigt worden sein; denn im Wrack des 2010 entdeckten

Foto

: Dör

te A

dler

KULTUR KOREA / 25Janggi-Turnier in der Integrativen Grundschule Gumbrechtstraße in Hamburg

Page 28: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Mado-Schiffes, das 1208 vor der Westküste Koreas sank, wurden neben Keramiken und den Resten einer Getrei-deladung auch Janggi-Steine in der Form abgerundeter Kiesel gefunden. Jedoch ist Koreaschach andererseits gewissermaßen die reformierte Ausgabe eines deutlich betagten Vorgängers: Das ist Chinas „Xiangqi“, vermutlich um 200 vor Christus entstanden und später adaptiert von den Koreanern, die den Import radikal modernisiert haben.

Vor allem die Elefantentruppe, deren Radius sich im Xiangqi-Original wegen eines auf dem Brett markierten Grenzflusses auf 50 Prozent des Spielfeldes beschränkt, ist im Janggi zu einer echten Macht aufgestiegen und kann überall zuschlagen. Außerdem haben die kreativen Koreaner die Beweglichkeit des Generals - entspricht dem „König“ im internationalen Schach - und seiner Offiziere spürbar erhöht in der zentralen Zone, die als „Palast“ gilt.Beinahe futuristisch muten die Kanonen an, die ebenfalls zum Arsenal der Janggi-Armeen gehören. Sie nutzen eigene oder fremde Steine, die vor einem anvisierten Ziel-punkt liegen, als Rampen für flotte Raumsprünge. Haben die Schöpfer des Janggi etwa die Schriften von Leonardo da Vinci (1452-1519) studiert? Schließlich tüftelte das itali-enische Universalgenie bereits in den Tagen der Renais-sance am Konzept eines Hubschraubers. Und Koreaner sind stets an der Spitze des Fortschritts marschiert, heute, im dritten Jahrtausend, aber auch gestern. Man denke nur an Admiral Yi Sun-sin, dessen revolutionäres „Turtle Ship“ (,Schildkrötenschiff‘, Koreanisch 거북선/Geobukseon), eine Art früher Panzerkreuzer, Ende des 16. Jahrhunderts gegen die Japaner und deren Flotte tödliche Schläge austeilte.

Die Helikopter-Kanonen im Janggi sind, was ihre Mobi-lität und Durchschlagskraft betrifft, quasi die fliegenden „Schildkrötenschiffe“ des Nationalhelden Yi Sun-sin. Wer will da noch länger behaupten, Janggi sei hoffnungslos Old School? Abgesehen davon, dass sich in Südkorea, wo das eigene Schach bisher als Freizeitspaß für Rentner galt, neuerdings eine Trendwende anbahnt: ein Verdienst des Rappers Psy, der in einer kurzen Sequenz seines Megahit-Videoclips „Gangnam Style“ zwei Männer zeigt, die sich über ein Janggi-Brett beugen. Foristen in den so-zialen Medien fordern Stolz auf den Denksport der Ahnen ein, und das öffentlich-rechtliche Fernsehen KBS berichtet über wichtige Turniere.

Ein Revival des Janggi, zu dem das Hamburger Turnier perfekt passt. Organisator Jürgen Woscidlo, der neben dem klassischen Schach westlicher Provenienz auch exoti-sche Seitenlinien unterrichtet - im Angebot sind Thailands „Makruk“ oder Äthiopiens fast vergessenes „Senterej“ - , outet sich als leidenschaftlicher Anhänger des korea-nischen Strategiespiels: „Du kannst von Anfang an mit allen Figuren attackieren, das finde ich toll!“ Konsequenz: Janggi gehört jetzt zum Schachlehrplan an der Schule

Grumbrechtstraße, und das ist einmalig in Deutschland. Die Heimfelder Mädchen und Jungen sind begeistert und haben auch für den Wettkampf am 3. Juli 2015 wochen-lang trainiert.

Konsul Tong-Q Lee startet die erste Runde, indem er stell-vertretend für einen der jungen Kandidaten den Auftakt-zug am Brett ausführt. Anschließend wird entschlossen losgeklackt: Virtuos setzen Jürgen Woscidlos Schützlinge ihre Steine, und die Kids scheint es überhaupt nicht zu stören, dass im Janggi keine Figuren, die auch für Laien verständlich sind, sondern mit koreanischen Schriftzei-chen markierte flache Plättchen zum Einsatz kommen. Die Schüler zocken, als wäre das Spielmaterial so simpel gestaltet wie „Mensch ärgere Dich nicht“-Pöppel, und Konsul Tong-Q Lee ist beeindruckt: „Ein guter Tag, der den Kulturaustausch zwischen Deutschland und Korea fördert.“

Am Ende hängt Turniergewinner Konrad-Leo Adler, 10, seine Verfolger Caner Kurt, 11, und den Drittplatzierten und erst achtjährigen Adriano Americo ab. „Das ist ein hoffnungsvoller Anfang“, kommentiert Konsul Tong-Q Lee. Und er verspricht spontan, das ehrgeizige Folgepro-jekt des Hamburger Janggi-Pioniers Jürgen Woscidlo zu unterstützen: ein Online-Match zwischen Heimfeld und einer Schule in Südkorea.

Das Janggi ist in Deutschland angekommen. Und das kann der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein.

Dr. René Gralla, Rechtsanwalt und freier Journalist aus Hamburg

Foto

: pri

vat

»26 / KULTUR KOREA

Page 29: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KALEIDOSKOP

DAS XIV. DEUTSCH-KOREANISCHE FORUM Vom Han an die Warnow

Von Rhan Gunderlach

Als ob auch das Wetter sich von seiner besten Seite zeigen wollte, schien vom 15. bis zum 17. Juli die Sonne über Rostock. Die koreanische Flagge wehte

am Mast des Tagungshotels vor einem strahlend blauen Himmel. Pünktlich zum 18. Juli, dem Abreisetag, regnete es dann in Strömen, sodass die koreanischen Gäste einmal mehr die Unbeständigkeit deutschen Wetters miterleben durften.

Rund 100 Gäste waren zum XIV. Deutsch-Koreanischen Forum in der Hansestadt an der Ostsee erschienen. Gut die Hälfte der Teilnehmer war aus Korea angereist. Vertreterin-nen und Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.

Der Auftakt fand im Barocksaal (siehe Bild oben) statt, im Zentrum Rostocks, am Universitätsplatz gelegen, 1750 erbaut, einer der schönsten Konzertsäle Norddeutsch-lands. Ein würdiger Rahmen für die hochkarätigen Gäste, die unter der Leitung der zwei Vorsitzenden, Frau Profes-sor Kim Sun-Uk, und Herrn Hartmut Koschyk, MdB und Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, zwei Tage lang zu relevanten Fragen der bilateralen, deutsch-koreanischen Beziehung diskutieren und sich austauschen sollten.

Nach der Eröffnung durch die beiden Vorsitzenden und nach den Grußworten gab Dr. Theo Sommer, Editor-at-

large, langjähriger Herausgeber der Wochenzeitung Die Zeit und einer der Gründungsväter des Deutsch-Koreani-schen Forums, insbesondere für die koreanischen Teilneh-mer einen Überblick über die aktuelle politische Situation in Deutschland. Für die deutschen Teilnehmer erläuterte Kim Young-Hie, ebenfalls Editor-at-large der Tageszeitung Joongang Ilbo, die Lage auf der südkoreanischen Halbinsel.

Erwartungsgemäß stand das innerkoreanische Verhältnis am Vormittag im Fokus des Forums. Sowohl der Botschaf-ter der Republik Korea in Deutschland, Lee Kyung-soo, als auch der deutsche Botschafter in Südkorea, Rolf Mafael, verwiesen darauf, dass die Regierung unter Präsidentin Park Geun-hye trotz der Provokationen des Nordens (Rake-ten- und Nukleartests) auf Nordkorea zugehe. Botschafter Lee Kyung-soo ging noch weiter und erklärte, Südkoreas Regierungen, egal welcher Partei sie zugehörig sind/wa-ren, hätten auf Signale eines Annäherungsversuchs aus dem Norden stets offen reagiert. Er erwähnte die Notwen-digkeit der Vermittlerrolle deutscher Nichtregierungsorga-nisationen und der deutschen politischen Stiftungen. Sie könnten sich, im Gegensatz zu südkoreanischen Institutio-nen, in Nordkorea einbringen und Themen vorantreiben. Dr. Thomas Schäfer, deutscher Botschafter in der Demokra-tischen Volksrepublik Korea, erläuterte, dass die deutsche Wiedervereinigung – genauer gesagt die Absorption der DDR - als Modell von der nordkoreanischen Seite abge-Fo

tos:

Rha

n G

unde

rlac

h

KULTUR KOREA / 27

Page 30: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

lehnt würde. Die Elite des Landes habe kein Interesse an einer Wiedervereinigung nach deutschem Vorbild. Den-noch betrachte Nordkorea Deutschland als wichtigsten Ansprechpartner in Europa.

Am Nachmittag diskutierten die Teilnehmer des Forums in vier Arbeitsgruppen zu den Themen „Wirtschaft“, „Migra-tion, Integration und nationale Minderheiten“, „Stand der Perspektiven der Kulturbeziehungen“, „Fortentwicklung der Koreanistik in Deutschland und der Germanistik in Korea“. Außerdem wurde die Frage gestellt: „Wie können wir die jungen Generationen beider Länder für die Fortent-wicklung unserer Beziehungen gewinnen?“. Die Resultate der Diskussionen sollten in die Schlussdiskussion und in die Empfehlungen an die Regierungsoberhäupter Koreas und Deutschlands einfließen. Wie immer wurde jede Formulierung, jede Wendung disku-tiert und wohlüberlegt zu Papier gebracht. Üblicherweise geschieht dies unter dem Vorsitz und der Moderation durch die zwei Ko-Vorsitzenden. In diesem Jahr musste mit dieser Tradition gebrochen werden, da der deutsche Ko-Vorsitzende Hartmut Koschyk kurzfristig nach Berlin zu einer wichtigen, außerordentlichen Abstimmung im Bundestag gerufen wurde.

Parallel zum Deutsch-Koreanischen Forum fand das Junior-forum statt. 35 Studierende aus Korea und Deutschland waren zusammengekommen. Einladung und Auswahl waren durch die Freie Universität Berlin und die Ewha Womans University in Seoul erfolgt. Die Agenda sah fol-gende Themen vor: „Menschenrechte“, „Meinungsfreiheit“, „Friedens- und Sicherheitspolitik“ und „Lebensmittelsicher-heit“. Wie die „Senioren“ sollten auch sie diskutieren und Empfehlungen formulieren.

Was den Dialog zwischen Süd- und Nordkorea anbelangt, schlugen die Teilnehmer die Etablierung eines nordostasi-atischen Energiedialogs vor. Statt einer Fokussierung auf sensible Sicherheitsfragen böte ein solches Format mit niedrigem Institutionalisierungsniveau die Gelegenheit, energiebezogene Fragen auf regelmäßiger Basis zu disku-

tieren. Die EU, so der Vorschlag weiter, könnte als Gastgeber neutralen Raum für diese Dialoge bieten.

Die Ergebnisse des Juniorforums wurden von einem Delegations-team am zweiten Tag des Forums dem gesamten Plenum vorge-stellt und diskutiert. Die Empfeh-lungen des Juniorforums wurden den Regierungsoberhäuptern mit den Empfehlungen des Deutsch-Koreanischen Forums zugesandt.

Das Deutsch-Koreanische Forum war nach Einschätzung aller Teilnehmer ein großer Erfolg. In Zeiten von Inter-net und digitaler Kommunikation mag man sich fragen: „Warum der Aufwand und so viele Personen in Rostock ver-sammeln“? In der Tat können Informationen auch digital ausgetauscht werden. Aber keine virtuelle Kommunikation vermag Menschen einander so nahezubringen, wie die persönliche Begegnung. Es ist ein offenes Geheimnis, dass kleine Gesten, Mimiken oft mehr verraten als das Gesagte, dass die Gespräche am Rande solcher Konferenzen manch-mal besser zur Verständigung beitragen als wohlformulier-te Sätze und Stellungnahmen. Diese Wahrheit trifft auch auf die Deutsch-Koreanischen Foren zu. Es ist bezeichnend, dass sich zu Beginn des Forums die Teilnehmer förmlich begrüßen. Bei den Verabschiedungen am Ende werden herzliche Umarmungen ausgetauscht und der Wunsch geäußert, man möge sich im nächsten Jahr, beim nächsten Forum 2016, dann in Korea, Gyeongju, wiedersehen.

Rhan Gunderlach ist als Kind nach Deutschland ge-kommen und hat an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) Deutsch und Geschichte studiert. Sie war über zehn Jahre als Fernsehjournalistin u.a. für die Deutsche Welle und den ARD-Sender mdr sowie als Pres-sesprecherin bei der EXPO 2000 in Hannover tätig. Seit 2001 ist sie Mitinhaberin einer Agentur für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit mit dem Schwerpunkt Internationa-le Politik / Entwicklungspolitik. Seit 2009 ist sie Geschäfts-führerin der Deutsch-Koreanischen Gesellschaft. Sie betreut das Deutsch-Koreanische Forum seit 2009.

»

28 / KULTUR KOREA

TeilnehmerInnnen am XIV. Deutsch-Koreanische Forum (15.-18.07.2015)

Page 31: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KALEIDOSKOP

N E U G E B U R T I N K O R E A D U R C H K I M K E U M H W AWie ich zur Schamanin wurde

Ich bin der Bezeichnung nach Schamanin. Früher war dies der Oberbegriff für Hebammen, Medizinmänner, Ratgeber und Berater. Der Schamanismus ist die Wurzel

für unser Wissen in der Medizin, wie wir sie heute kennen. Leider vergessen das viele Menschen und tun Schamanismus als „esoteri-schen Humbug“ ab. Einige Menschen, die mich konsultieren, waren zuvor bei Ärzten und oft auch bei Psycho-logen, die die Ursache ihres Leidens nicht finden konnten. Die Aufgabe des Schamanen ist es, eine Brücke zwischen Leben und Tod und auch zwischen Natur- und Schulmedizin zu bilden.Meine erste Begegnung mit Kim Keum Hwa, der weltbekannten koreanischen Meisterschamanin und meiner heutigen spirituellen Mutter, gleicht fast einem Märchen. Auch jetzt denke ich noch manchmal, dass alles ein Traum war und ich irgendwann wach werde.

2006 besuchte ein Freund von mir ei-nen Schamanenkongress in Österreich und fragte mich, ob ich ihn begleiten wolle. Zu dem Zeitpunkt empfand ich eine derartige Veranstaltung als ab-surd. Mein damaliger Mann und auch meine Tochter rieten mir jedoch zur Teilnahme, denn schließlich hätte ich nichts zu verlieren. Also begleitete ich meinen Bekannten - unter der Bedingung, dass ich an keinem Workshop teilnehmen und auch in keinerlei engeren Kontakt mit den Schamanen treten würde. Bereits bei Ankunft am Mondsee, noch vor dem Aussteigen aus dem Auto, schwirrte eine Gruppe Koreaner in farbenprächtigen Kleidern an uns vorbei. Mein Freund wollte diesen sofort folgen. Ich war sehr zögerlich, da ich ja keinen der Workshops besuchen wollte.

Doch irgendetwas fesselte mich, und ich ging für ein paar Minuten mit in den Saal. Dort hatte ich meine erste Begegnung mit Kim Keum Hwa. Als sie anfing, eine Rede zu halten, und ich ihre Stimme vernahm, fing mein Herz an zu rasen. Ich verließ sofort den Raum.

Später an diesem Abend, in der Pause der Eröffnungsze-

remonie des Schamanenkongresses am Mondsee, wurde ich von einem von Frau Kims Mitarbeitern nach meiner Telefonnummer gefragt. Sie wolle in Verbindung mit mir treten, wurde mir gesagt. Skeptisch verweigerte ich

zunächst die Kontaktaufnahme und ließ mich schließlich doch auf ein Gespräch mit ihr ein, zu dem mich mein damaliger Mann begleitete. Frau Kim konnte uns Einzelhei-ten aus unserem Leben berichten, die mich erschütterten, denn diese entsprachen der Wahrheit und waren höchst persönlich; außer meinem Mann und mir konnte eigentlich niemand davon wissen. Frau Kim gab mir die strikte Anwei-sung, mich einem Initiationsritual bei ihr zu unterziehen, da ich, wie sie es nannte, an der „Schamanenkrankheit“ litt. Sie erklärte mir, dass Personen, die dazu bestimmt sind, Schamane zu sein, und sogar ihre Angehörigen bis zu ihrer Weihung zum Schamanen körperliche und seelische Beschwerden aufweisen, was als „Schamanenkrankheit“ bezeichnet wird.

Tief beeindruckt von diesem Treffen und mit der Bitte von Frau Kim, ich solle sie in Korea besuchen, hatte ich versucht, in mein altes Leben zurückzukehren. Das war na-

Andrea Kalff-Cordero bei einer schamanistischen Zeremonie in Korea (neomudang.com)

Von Andrea Kalff-Cordero

KULTUR KOREA / 29

Page 32: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

hezu unmöglich. Kurze Zeit später erkrankte ich an Krebs.

Dass die Krebserkrankung von der „Schamanenkrankheit“ rührt, kann ich nicht zweifelsfrei beweisen. Allerdings war ich immer anders als alle anderen, schon als Kind. Natürlich befürchtete ich nun auch schwerwiegende Folgen für mei-ne Familie. Verzweifelt nahm ich zunächst eine Auszeit von allem und fuhr für eine Woche ans Meer, saß am Strand und dachte nach. Als schließlich mein damaliger Mann mir riet, nach Korea zu fliegen, machte ich mich auf den Weg. 2006 wurde ich von der weltberühmten Kim Keum Hwa zur „Mudang“ (Schamanin, Brückenträgerin) geweiht, und seitdem ist mein Leben ein anderes. In Korea gibt es inzwischen sogar eine Ausstellung über meine Person, die von einem ehemaligen Krebskranken ins Leben gerufen wurde. Sie berichtet über mich, meine Tätigkeit und die Zusammenarbeit mit dem Kranken.

Oft stelle ich mir die Frage, welche Kräfte am Werk waren, die mich auf diesen Weg, zu diesem Ort in Österreich und zu dem Zusammentreffen mit Kim Keum Hwa führten. Es gibt nur eine Erklärung: Es müssen spirituelle Kräfte und mein verstorbener Bruder gewesen sein. Kräfte, die über uns wachen und uns verbinden, die uns den Weg im Leben zeigen. Es liegt an uns, ob wir ihn annehmen.

Nach meiner Initiation hatte ich viel geweint: In Deutsch-land gab es niemanden, der mich verstand, niemanden, den ich fragen konnte, wie man als Mudang lebt, wie man den Alltag gestaltet, wie man richtig betet. Doch Kim Keum Hwa und ihre Geister sprachen bei meinem Initiati-onsritual 2006 folgende Worte zu mir: „Andrea, dein Weg ist sehr einsam, geh raus hoch erhobenen Hauptes, und du wirst viele Menschen heilen. Bete viel.“

Ich versuchte so oft wie möglich, nach Korea zu fliegen, um Kim Keum Hwa zu besuchen, um bei Ritualen dabei zu sein und zu lernen. Korea und die damit verbundene Kul-tur waren mir anfangs sehr fremd, bis ich ins Schamanen-haus nach Ghangwando kam. Plötzlich fühlte ich mich zu Hause, wie nie zuvor in meinem Leben. Nichts war fremd. Unerklärlich für mich, da der Verstand wusste, dass ich hier noch nie gewesen war.

Eine mir völlig fremde Frau aus einem fremden Land hat mich zu neuem Leben erweckt, mich auf meine Fähigkei-ten und meine Berufung aufmerksam gemacht, mit allen Konsequenzen. Ich sehne mich sehr, so viel mehr über die koreanische Kultur, über die Schamanen in Korea zu lernen. Meine Beziehung zu „Oma“ (Kim Keum Hwa) ist ein-zigartig, wir sind uns wohl schon in einem früheren Leben begegnet. Es bedarf zwischen uns nicht vieler Worte. Sie war immer bei mir, ist immer bei mir und wird es immer sein. Sie erscheint mir oft nachts, steht einfach an meinem Bett und streichelt mir über den Kopf. Diese Verbindung besteht über den Tod hinaus.

Nach meiner Initiation zur Schamanin hat mich meine spi-rituelle Mutter Kim Keum Hwa stets begleitet, damit ich in meiner Berufung als Schamanin wachsen konnte. Sie war immer unterstützend für mich da, wenn auch manchmal streng und rätselhaft für mich. Sie hat mich in Hawaii und Deutschland mehrmals besucht, um zusammen kranke Menschen zu heilen. Wir arbeiten sehr eng zusammen.

Manchmal gibt es sprachliche und kulturelle Hürden, die wir aber meistern. Unsere starke Herzensverbindung trägt uns durch die Welt, auf unseren Reisen und in unserer Berufung. Durch weitere Lehre und Prüfungen führte sie mich immer stärker an die Selbständigkeit heran. Seit ein paar Jahren hat sie mir den Mut und die offizielle Erlaubnis gegeben, eigene Schüler zu weihen und auszubilden. Die-se Verantwortung trage ich mit viel Respekt, Achtung und auch der nötigen Strenge, die dieser Weg erfordert.

Kim Keum Hwa beteuert immer wieder die Liebe zu mir und wie stolz sie auf mich ist. Wie kann ich ihr jemals für all dies danken? Sie ist neben meinen wundervollen fünf Töchtern die wertvollste und wichtigste Person in meinem Leben.

Andrea Kalff-Cordero ist im Chiemgau geboren und dort aufgewachsen. Bis zu ihrem 32. Lebensjahr war sie weit entfernt von ihrem spirituellen Weg. Im Jahr 2006 wurde sie von Kim Keum Hwa auf einem Schamanenkongress aus-erkoren. Frau Kim erkannte die Fähigkeiten und Berufung von Andrea, und so wurde sie 2006 als erste Europäerin in den koreanischen Schamanis-mus initiiert. „Andreas Sky“ (Natacha Nisic Echo) wurde 2014 bei ARTE ausgestrahlt.

Foto

: pri

vat

»

30 / KULTUR KOREA

Page 33: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KUNST, MUSIK, FILM

KULTUR KOREA / 31

Das JazzKorea Festival ist inzwischen eine bekannte Größe im Kulturkalender des Koreanischen Kulturzentrums in Berlin – und auch anderswo. Im dritten Jahr seines Bestehens finden innerhalb von 11 Festivaltagen über 20 Konzerte in sechs deutschen und drei europäischen Städ-ten statt. Neu ist unter anderem die starke internationale Ausrichtung des Festivals mit Konzerten in Warschau, Bud-apest und Madrid. Möglich wird das durch die Kooperation der Koreanischen Kulturzentren in ganz Europa. Einziger Wermutstropfen: Die geplanten Konzerte in Brüssel muss-ten aus aktuellem Anlass aufgrund der Terrorwarnstufe abgesagt werden. Das diesjährige Programm aus insgesamt fünf südkorea-nischen Bands ist stilistisch vielseitiger denn je. Und wie es aussieht, übertrifft JazzKorea 2015 in puncto Besucher-zahlen, Reaktionen und Medienecho einmal mehr alle Erwartungen.

JazzKorea – eine Erfolgsgeschichte

„Wir sind auch nach den tollen Reaktionen aus den letzten beiden Jahren immer wieder positiv überrascht von der Resonanz auf das Festival“, sagt Festivaldirektor und Gesandter-Botschaftsrat Jong Seok Yun. Dabei war das JazzKorea Festival schon immer ein ambitioniertes Projekt.

Am Anfang stand die Idee des Münchner Bassisten Martin Zenker, der selbst vier Jahre als Professor für Jazzbass und Jazzgeschichte an der Jazzhochschule in Daejon/Südkorea lehrte, einige Jazzmusiker aus Südkorea nach Deutschland zu holen. Schon im ersten Jahr (2013) wurde daraus ein umfangreiches Clubfestival in acht deutschen Städten, die Resonanz in allen Bereichen war überraschend gut. 2014 kamen als Neuerung ein Galakonzert im Berliner Tempo-drom mit der koreanischen Formation „MosaiKorea“ und ein erster internationaler Ausflug nach Warschau hinzu. In diesem Jahr wurde die Anzahl der Bands, Spielstätten und Konzerte in Deutschland etwas reduziert, aber es kamen neue Orte hinzu: Leipzig und Kempen. Neben den Konzerten in drei europäischen Hauptstädten, Warschau, Budapest und Madrid, fand in diesem Jahr erstmals ein großes Eröffnungskonzert im Kesselhaus der Kulturbraue-rei in Berlin statt – vor ausverkauftem Haus. Und vorläufig kann man feststellen: In puncto Besucherzahlen in den Spielstätten, Publikumsreaktionen und Medienecho dürfte es ein Rekordjahr werden. Interessant ist, wie JazzKorea inzwischen in Südkorea selbst wahrgenommen wird. Das zeigt sich nicht zuletzt an der exponentiell gestiegenen Anzahl der Bewerbungen von Musikern. Aus deren Kreisen ist zu hören: Die Teilnahme bei JazzKorea wird in Korea inzwischen als Karriereschub betrachtet.

DAS JAZZKOREA FESTIVAL 2015Von Dr. Nabil Atassi

Foto

s: K

orea

nisc

hes

Kul

turz

entr

um

Trio Closer

Page 34: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

32 / KULTUR KOREA

Der Jazz in Korea: zwischen Imitation und Entwicklung

Das Herzstück des JazzKorea Festivals ist die Musik. Ziel war und ist es, den koreanischen Jazz hier in Europa zu präsentieren. Mehr denn je wurde in diesem Jahr der Fokus auf die Entwicklung des koreanischen Jazz hin zu einem eigenständigen Stil gelegt. Doch wo steht der Jazz in Südkorea überhaupt? Gregor Dotzauer beschreibt ihn ganz aktuell im Tagesspiegel im Zustand der „Emulation“. Übersetzt heißt das: „Die Phase, die nach dem Kopieren und vor dem Schöpferischen kommt.“ Im Line-up des Festivals finden sich mehr oder weniger alle von Dotzauer beschriebenen Phasen wieder. Das Trio Closer zum Beispiel weckt berechtigte Hoffnungen auf kulturelle Jazzinnovati-onen aus Korea – mit komplexen rhythmischen Verwebun-gen, bis ins Detail ausstaffierten musikalischen Phrasen und echter Spielfreude. Dass sich die koreanischen Musiker mehr und mehr ihrer eigenen musikalischen Traditionen bewusst werden und diese auch für sich einnehmen, zeigten eindrucksvoll Han Seung Seok & Jung Jaeil. Sie kombinierten in ihrem Programm traditionelle koreanische Vokalmusik, das Pansori, mit modernen Elementen aus Elektronik, Pop, Blues und Jazz. Mit dieser energetischen Mischung und ihrer Bühnenshow erspielten sie sich die Herzen des Publikums von München bis Madrid. Heyjin, die Jazzvokalistin im Programm, sang sich gekonnt into-nierend und locker durch Jazzstandards und eigene Stücke und wusste mit ihrer charmanten Bühnenpräsenz den Weg in die Herzen des Publikums zu finden. Die Sängerin und ihre hervorragende Begleitband rund um Martin Zenker (b), Bernhard Pichl (p) und Kim Minchan (dr), hielten es musikalisch eng am swingbetonten Modern Jazz. Lyrisch und modern zugleich klingen die Linien der drei jungen Musiker rund um den Gitarristen Jo Young Deok. Sie hatten 2012 beim renommierten Jarasum Jazz Festival in Südkorea den Nachwuchspreis erhalten. Ihre Performance bei JazzKorea: musikalisch vielversprechend, elegant und etwas introvertiert. Ganz anders bei Nam Kyungyoon, der gemeinsam mit seiner Frau, der Schlagzeugerin Seo Mihyun, dem Bassisten Ko Jaekyu und – als special guest - dem belgischen Saxofonisten Toine Thys, bei JazzKorea auftrat. Ihre rhythmisch-moderne Pianomusik mit europäi-schen Einflüssen, garniert mit Thys’ leichtfüßigen Saxofon-soli, wurde zum Ohrenschmaus für das Publikum. Schlag-zeugerin Seo Mihyun erzählte während des Konzertes

auf der Bühne des Koreanischen Kulturzentrums in Berlin spontan von ihrem schwierigen Weg hin zum Traumberuf der Jazzschlagzeugerin in Südkorea – und sorgte damit für einen emotionalen Höhepunkt.

Jazz aus Korea – der Weg

Einmal mehr ist JazzKorea zu einem eindrucksvollen Fes-tival und sehenswerten Event geworden. Dahinter steckt unermüdliches Engagement und ein seit nunmehr fast vier Jahren konstant und erfolgreich arbeitendes Team. Das Ko-reanische Kulturzentrum als Kulturabteilung der Botschaft der Republik Korea in Deutschland steht als Organisator von Anfang an hinter JazzKorea. Musikalisch dürfte es auch in Zukunft spannend bleiben, denn die südkoreanische Jazzszene entwickelt sich rasant weiter – und das nicht nur in der Hauptstadt Seoul. Die Phase des Erstaunens über die Präsenz von Jazz im Land der Morgenstille ist lange vorbei, inzwischen ist Südkorea ein HotSpot auf der globalen Karte des Jazz. Allein in Seoul gibt es über 40 Jazzclubs, und das Jarasum Jazz Festival zählt mit jährlich ca. 150.000 Besuchern zu den wichtigsten seiner Art in Asien. Publi-kum ist derweil in Südkorea mehr als genug vorhanden, auch und gerade junge Leute lieben den Jazz. Stilistisch bekommen sie inzwischen alles geboten, vom Mainstream über Post-Bop, Swing und Electronica bis hin zu Jazz mit traditionellen Einflüssen. Das JazzKorea Festival kann jedes Jahr jeweils nur einen kleinen Teil davon abbilden. Umso spannender wird es sein, zu sehen, welche Entwicklungen dieses neue und wichtige Fenster des südkoreanischen Jazz nach Europa in Zukunft zeigen kann und wird.

Weitere Informationen unter http://jazzkorea.kulturkorea.org

Dr. Nabil Atassi ist Journalist, Hörfunkmoderator und Arzt. Er arbeitet unter anderem für den Norddeutschen Rund-funk, auf http://onlinejazzradio.de moderiert er seine eigene Talkshow als Podcast.

Foto

: pri

vat

»

Han Seung Seok Kim Sungsu, Trio CloserNam Kyungyoon Trio und Toine Thys (Saxofon)

Page 35: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KUNST, MUSIK, FILM

VOM SCHMERZ DER TEILUNGWie Heryun Kim in Deutschland und Korea ihre künstlerische Heimat fand

Von Anne Schneppen

Foto: © Kim Heryun KULTUR KOREA / 33

Page 36: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Wenige Wochen liegen zwischen ihren letzten beiden Ausstellungen in Berlin und Paris: An der Spree, im Koreanischen Kulturzentrum, zeigte

Heryun Kim im Februar 2015 „Golden Tears“ (‚Goldene Tränen‘), kurz darauf präsentierte sie sich an der Seine mit „Plus léger que le vent“ (‚Leichter als der Wind‘). Hier das Thema Teilung und Vereinigung, dort Flucht und Freiheit, künstlerisch umgesetzt. Die Traurigkeit der Betrachterin beim Anblick eines lachenden nordkoreanischen Soldaten; die Sehnsucht angesichts eines in den Himmel aufsteigen-den Papierdrachen. Das Schwere und das Schwebende sind für die südkoreanische Künstlerin nur scheinbar ein Widerspruch. Heryun Kim, die in Korea und Deutschland lebt und arbei-tet, lässt sich ungern festlegen, in Schubladen stecken. In Deutschland ist sie die Künstlerin aus Korea, in Korea die Künstlerin aus Deutschland. Lange hat sie ihren eigenen Weg gesucht, „und erst mit 50 Jahren hatte ich das Gefühl, künstlerisch angekommen zu sein“. Sie sagt dies nicht etwa kokettierend, wie man angesichts ihres umfang-reichen Werkes vermuten könnte, sondern bescheiden und doch bestimmt. „Es ist, als hätte ich viele Jahre lang experimentiert. Aber nun fühle ich, dass Körper und Pinsel korrespondieren. Der Pinsel ist zu einem Teil meines Kör-pers geworden. Ich muss nicht mehr kämpfen. Ich bin eins mit meiner Kunst.“  So ungewöhnlich wie ihre gesamte Karriere war schon der Anfang, der über die Wissenschaft und Theorie in die Male-rei führte. „Ich war ein sogenanntes Literaturmädchen, ich las Rinser und Rilke, sogar unter der Schulbank während des Unterrichts“, erinnert sich Heryun Kim, die 1964 in Changwon geboren wurde. Der Vater, aus bürgerlich-aka-demischem Milieu, erwartete, dass seine Tochter „etwas Solides“ studierte, und dachte an Rechtswissenschaft. Aber das erschien ihr kalt und langweilig. „Mich interessierten die großen existenziellen Fragen. Ich war feinfühlig und sensibel für Stimmungen und Emotionen“.  An der renommierten Seoul National Universität studierte sie in den Achtzigerjahren zunächst deutsche Sprache und Literatur und schloss 1990 mit einem Magister in Kunst-geschichte ab. Schon im Literatur-Studium vollzog sich der Schritt vom Text zum Bild. Langwierige Analyse und Interpretation lagen ihr nicht. Wichtiger waren ihr Vision, Gefühl, spontane Vorstellung. „Für das Erfassen eines Tex-tes braucht es Zeit. Ein Bild kann ich in einer Minute lesen.“ Folgerichtig entschied sie sich für die Kunstwissenschaft, mit besonderem Interesse für die klassische Moderne, die in Korea bis dahin nur in der Literaturwissenschaft wahr-genommen worden sei. Die Theorie indessen genügte ihr bald nicht mehr: „Ich wollte Künstlerin werden“.  So bewarb sich die junge Germanistin an der Universität der Künste in Berlin (UdK), wurde angenommen und

beendete 1994, als Meisterschülerin von Professor Klaus Fussmann, ihre Studien der Malerei. Wissbegierig, zielstre-big und immer auf der Suche nach weiterer Erleuchtung setzte Heryun Kim eine Doktorarbeit in Kunstwissenschaft an der Technischen Universität Berlin (TU) obenauf. Darin befasste sie sich mit Emil Nolde, der auf ihr späteres Werk erkennbar Einfluss nahm. Gleich auf den Abschluss folgte die erste Einzelausstellung der jungen Künstlerin, die ein positives Echo fand. Es war eine Zeit politischer Umwälzungen, in Korea wie in Deutschland. Dort das Ende der Diktatur, das Erwachen der Demokratie, hier die Wiedervereinigung. Heryun Kim, die zu Wendezeiten 1990 nach Berlin gekommen war, nahm dies zwar wahr, aber aus einiger Distanz: „Politische Aktion war nicht mein Weg, Demonstrationen nicht meine Ausdrucksform“. Ihre Welt bestand damals, wie sie mit einem feinen Lächeln sagt, „aus Klassik, Kunst, Schönheit, Vertrautheit, Natur“. Wenn Heryun Kim sich heute im Rück-blick beschreibt, dann hat man eine begabte und erfolg-reiche, aber auch orientierungslose und wenig selbstbe-wusste junge Frau vor Augen. „Ich hatte Angst, gesehen zu werden. Ich stand ungern im Mittelpunkt. Und ich wagte mich nicht an mutige Themen.“ 1998, sie hielt gerade das ersehnte Künstlervisum in Händen, hatte ihr Ziel erreicht, feierte die ersten Erfolge, empfand sie - Leere. Was sollte, was wollte sie malen, schaffen? Es fehlte das Thema, die Richtung. Statt zu warten, was das Leben bringen würde, tat Heryun Kim, was sie immer tat: sie nahm den nächsten Schritt. Diesmal zurück nach Korea, mit Mann und Sohn. Die Heimkehr erwies sich aber als schwerer als gedacht. Seoul, im Vergleich zu Berlin eine Weltstadt, war ihr fremd ge-worden. Sie vermisste  Ruhe, Natur. Durch Zufall geriet sie nach Paju, eine Stadt nordwestlich Seouls, in deren Nähe gerade ein Künstlerdorf entstand: Heyri. Heryun Kim be-schreibt dies als einen - persönlichen und künstlerischen - Wendepunkt in ihrem Leben. Heyri besteht heute aus einer Gruppe von mehr als 300 Malern, Schriftstellern, Musikern und Architekten, die dort ihre Werkstätten, Ateliers und Theater führen, und liegt nur wenige Kilometer vor der Entmilitarisierten Zone (DMZ). „Ich war sehr erschrocken“, sagt Heryun Kim, die mit dem Fahrrad Ausflüge in die Um-gebung unternahm. „Ich sah endlosen Stacheldraht den Fluss Imjingang entlang, vor dieser einzigartigen Land-schaft. Körperlich und psychisch, mit meinem Herzen habe ich den Stacheldraht gespürt. Ein Land so schön, und doch zerstört. Diesen Tag kann ich nicht vergessen.“ Die Jahre im wiedervereinten Berlin hatten sie empfäng-lich gemacht für die Wunden und Narben der Heimat. Zum ersten Mal verstand sie die Tragik der Teilung. „Ich hatte meinen Weg aus den Augen verloren, nur die Schönheit gesehen, und dann trat der Stacheldraht in mein Leben.“  Aus dieser Erfahrung entstand eine Serie aus 30 Werken:

34 / KULTUR KOREA

Page 37: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

„The river Imjingang - Injured Landscape“ (‚Der Fluss Imjin-gang. Verletzte Landschaft‘). Die mit Messern „verletzten“ Leinwände symbolisierten Kims eigenen Schmerz. Damit hatte die Künstlerin ihr Thema gefunden. „DMZ, Stachel-draht, Teilung. Meine Wurzel, meine Identität, in Korea, als koreanische Künstlerin“. In den folgenden Jahren wurden die Leinwände größer, ihre Sprache mutiger und expressiver. „Ich hatte mit deutscher Kunst begonnen und kehrte über Deutschland zu den koreanischen künstlerischen Wurzeln zurück. Ich verstand: Ich kann mich nicht von der politischen Realität trennen.“

Im Jahr 2014 war in dem Ort Panmunjeom an der innerko-reanischen Grenze eine Installation aus 16 Leinwänden mit dem Titel „The Last Barbed Wire - Ladder to the Sky“ (‚Der letzte Stacheldraht – Himmelsleiter‘) zu sehen. Es war die erste und bislang einzige Kunstausstellung in Panmun-jeom, am verbliebenen Symbol des Kalten Krieges, das nur wenigen Zivilpersonen überhaupt zugänglich ist. Es war schwierig und nicht ohne Risiko, in der gemeinsamen Sicherheitszone (Joint Security Area, JSA) eine Ausstel-lung einer südkoreanischen Künstlerin zu ermöglichen. Die Landschaftsmalereien an diesem hochsensiblen und hochpolitischen Ort kamen nach dem Urteil von Exper-ten gut an. Schwierige Motive „freundlich“ erscheinen zu lassen, mit den Kontrasten von schön und grausam, hell und dunkel gleichsam zu spielen, sei ihre „Waffe“, sagt Kim dazu. Auch auf der „Ladder to the Sky“ (‚Himmelsleiter‘) ist Stacheldraht zu sehen. Zehn Jahre nach der „Injured

Landscape“ (‚Verletzte Landschaft‘) am Fluss Imjingang, wo die Farben noch warm leuchten, erscheint diese Version, im wiedervereinten Berlin geschaffen, indes ungleich härter und schmerzhafter. Rot und schwarz brennt nun der Himmel, davor ein Busch aus unkontrollierbar wildem Stacheldraht. „Your Face“ (‚Dein Gesicht‘), eine Serie von mit Tusche auf koreanischem Papier gezeichneten Porträts (2014), unlängst in Berlin zu sehen, zeigt einen nordkoreanischen Soldaten, den Kim auf einem alten Foto entdeckt hatte (siehe Bild oben). Der porträtierte Soldat war als junger Mann in Panmunjeom stationiert, wo sich Nord und Süd bis heute feindlich gegenüberstehen. Auf dem Foto lächelt er - und es war dieses „hinreißende und liebenswürdige“ Lächeln unter widrigsten Umständen, das Kim bewegte, ihn wieder und wieder zu zeichnen. Insgesamt 59 Mal. Leid und Hoffnung, für Heryun Kim untrennbar.  

Anne Schneppen lebte von 2005 bis 2007 mit ihrer Familie in Seoul und arbeitete von dort – wie schon zuvor aus Tokio - als Fernost-Korrespondentin der Frankfurter All-gemeinen Zeitung. In Korea beschäftigte sie sich vor allem mit politischen, aber auch gesellschaftlichen Themen.Fo

to: K

orea

nisc

hes

Kul

turz

entr

um

Vernissage der Ausstellung „Golden Tears“ von Kim Heryun im Koreanischen Kulturzentrum in Berlin, 13. Februar 2015

Foto

: pri

vat

»

KULTUR KOREA / 35

Page 38: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KUNST, MUSIK, FILM

Younghi Pagh-Paan (Mitte) mit der Cellistin Christina Meissner und dem Organisten Poul Skjölstrup Larsen beim Preisträgerkonzert

VON DER POESIE DES WIDERSTANDES ZUR SPIRITUALITÄT

Zum Preisträgerkonzert des Europäischen Kirchenmusikfestivals am 22. Juli 2015

Von Dr. Shin-Hyang Yun

‚Mitten im Leben‘ hieß das Motto des 27. europäischen Kirchenmusikfestivals in Schwäbisch Gmünd (17.07.–09.08.2015), einer kleinen Stadt mit lebendiger Kirchen-musiktradition. Die zwei Pole der menschlichen Existenz, ‚Leben und Tod‘, und die alltagsnahe Spiritualität sollten im Mittelpunkt des Festivals stehen, so der Intendant Klaus Stemmler. So unterschiedlich die Bauwerke sind, die in dieser kleinen Stadt stehen, so bunt war das Repertoire des Festivals. Nicht nur alte und zeitgenössische Musik aus Europa, sondern auch Jazz und ein Repertoire mit außereu-ropäischen Sujets fachten die Hitze der heißen Sommerta-ge weiter an.

Das Programm des 22. Juli widmete sich der Musikwelt der diesjährigen Preisträgerin Younghi Pagh-Paan. Das aus München angereiste Vocal Ensemble Singer Pur würdigte die Komponistin mit Musik, deren Vokaltexte aus verschie-denen Weltreligionen stammen. Neben ihren Vokalwerken schufen Motetten aus der Renaissance und Gesänge zeit-genössischer Komponisten gleichsam einen stilistischen Ausgleich. Durch die Umrahmung der Motetten Media vita in morte sumus [Mitten im Leben] von Nicolas Gombert und Orlando di Lasso wurde das Motto des ganzen Festivals noch einmal deutlich. Die diversen Sprachklänge - hebrä-

ische, indische, koreanische, altdeutsche – kreuzten den Kirchenraum, den abendländischen Gedächtnisraum. Zu-gleich wechselten die Sänger flexibel und leicht zwischen Renaissance-Motetten und Gesängen der Gegenwart. Psalmentexte und Gedichte aus verschiedenen Weltreligio-nen standen nebeneinander.

Mit Hwang To II [Gelbe Erde] (1989/1992) für 5 Männerstim-men, mit dem Singer Pur bereits vertraut war, intensivierte sich die Sprachkreuzung. Die Verse des koreanischen Gedichtes In einer regnerischen Nacht [Bi nae ri nun Bam e] wurden in der Muttersprache der Komponistin gesungen, die sie in das lateinische Alphabet beziehungsweise in eine eigene Lautschrift umschrieb. Das Gedicht tauchte bereits im dritten Teil von Hwang To I (1988/89) auf, wobei drei lyrische Gedichte aus dem Band Hwang To [Gelbe Erde] des koreanischen Widerstandsdichters Chi-Ha Kim verwendet wurden. Aus diesem Teil machte Pagh-Paan ein weiteres Stück, Hwang To II. Was wird aber vom Singen in der Mut-tersprache der Komponistin erwartet? Man mutet weder den Sängern noch dem Publikum die Verinnerlichung der bedeutungsimmanenten Worte zu, es geht vielmehr um das Anzeigen der in dieser Poesie enthaltenen leidvollen Emotion: ‚Aussichtslose Suche nach der Heimat‘. Fo

to: E

ung

Rae

PA

RK

36 / KULTUR KOREA

Page 39: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Die vier Gesangsreihen von Atish – e – Zaban [Fires of the tongue] [2006] von Sandeep Bhagwati hinterließen bei dem an Motetten gewöhnten Publikum einen besonderen Eindruck. Die Gesänge bezeugten zeitgenössisch-spezi-fische Ausdrucksqualität: Der Geräuschklang der Konso-nanten mit der Handgeste bei Fires I und der dazu kontras-tierende Meditationsklang ohne Worte bei Fires IV Miind rahmten weitere Gesänge mit indischer Liebeslyrik ein, die von einem pakistanischen Poeten stammen. Der aus der nordindischen Musik abgeleitete Titel ,Miind‘ meint, so der Komponist „ein emotionales Glissando“, das „viele Gestal-ten annehmen“ kann. Somit zeigte dieses Repertoire, wenn auch stilistisch unterschiedlich, eine gewisse Verbunden-heit zum Hwang To II [Gelbe Erde], welches Pagh-Paan aus der koreanischen Lyrik des Widerstandsdichters schöpfte.

Die Schaffenskraft der über 40 Jahre in Europa lebenden Komponistin lässt seit ihrer Emeritierung von der Bremer Hochschule kaum nach. Einzigartig ist dabei nicht nur die Konsequenz ihres Kompositionsstils, die von der Erfindung des Mutterakkordes ausging, sondern auch die Konzepti-on, die alle ihre Schaffensphasen durchzieht. Vor allem fällt auf, dass das Image des Schnees beim Sonnenuntergang, aus dem Nun [Schnee] (1979) konzipiert wurde und die weiteren Werke Hin Nun I [Weißer Schnee] (1985) und Hin Nun II [Weißer Schnee] (2005) entwickelt wurden, in das Licht-Topos übergeht. Allein die Titel, Unterm Sternenlicht (2009), Im Lichte werden wir wandeln (2010/11), Der Glanz des Lichtes (2013) - die Überarbeitung von Hohes und tiefes Licht (2010/2011) - lassen diese Tendenz erkennen.

Anders als frühere Lichtwerke bringt Younghi Pagh-Paan als Vokaltexte des Auftragswerkes In deinem Licht sehen wir: das Licht die kulturell weit auseinanderliegenden Texte für den A-Cappella-Gesang zusammen: Psalm 36 und 150 aus der Bibel sowie das vierte und achte Kapitel Tao Te King von Laotse. Die Intention, dass sie hier keine Lyrik, sondern Bi-belverse und asiatische Lehrverse verwendete, ließ sich aus der Vertonungsweise der Verse ablesen. Im Text stehen die akzentuierten Verse aus dem Psalm 36 und die Verse aus dem vierten Kapitel von Tao Te King asymmetrisch gegen-über: „Du bist die Quelle des Lebens, in deinem Licht sehen wir: das Licht“/„Es birgt seine Spitze, gießt aus seiner Fülle, bequemt seinen Glanz an“. Die Kreuzung der Worte ‚Quelle‘ und ‚Glanz‘ hat wohl mit ihrer jüngsten Auseinanderset-zung mit der Spiritualität „im Spiegel der Kulturen“ zu tun. Das Stück mündete schließlich in den durch asiatisches Klangkolorit gefärbten Kanon.

Auch zwei jüngste Orgelwerke der Preisträgerin bereicher-ten den Abend: Unterm Sternlicht (2009) für Orgelsolo, zu dem sie ein lateinischer Brief des verfolgten katholischen koreanischen Priesters Yang-Up Choi veranlasste, und Augenblicke – Gebet (2013) für Cello und Orgel, welches zum 200. Geburtsjahr des dänischen Philosophen und Theologen Søren Kierkegaard entstand. Verwendete sie im

Stück Bleibt in mir und Ich in euch (2007) zum ersten Mal die Orgel, deren Klang jedoch von der Akkordeonstimme des Werkes Ne Ma-Um übernommen wurde, so schuf sie mit Unterm Sternlicht zum ersten Mal ein neues Orgelstück. In den Orgelklang jedoch, der die Wanderszene des Priesters durch die dunklen Wälder nachzeichnen sollte, floss das Klangimage des Schneelichtes jener Jahre – wenn auch sporadisch - ein, und bei der Aufführung des Stückes Au-genblicke – Gebete war auch die Spur eines solchen Images nicht zu verkennen.

Im Hinblick auf die Inspirationsquelle des ersten Orgelstü-ckes von Pagh-Paan ist angesichts der kulturellen Biogra-phie des Instrumentes nicht schwer nachzuvollziehen, dass ihre Orgel-Kompositionen mit dem Lichtkonzept fast zusammenfallen. Unter ‚Licht‘ versteht Pagh-Paan jedoch weniger eine Metapher des Himmels als vielmehr seine wandelbare Eigenschaft, wie ein Wasserspiegel. Insofern ist ihre Wende zum Licht-Topos nicht als ein Bruch des frühe-ren Konzeptes, sondern als eine Wandlung von diesem zu verstehen. War in der Trauer jenes Schneelichtes bereits ein künftiger Lichtstrahl enthalten?

„Wo bist Du? Oh immer einsames Herz, wo erstarrst Du grausam zu Stein?“ Dieser Ausdruck von Emotionalität wird nicht allein die Komponistin selbst, sondern möge alle Menschen, die inmitten des digitalen Rituals leben, betref-fen. Je ratloser die Sprache zersplittert, umso drängender ist heute die Suche nach Gott – der spirituellen Mitte schlechthin - geworden, und dies ist überall spürbar. Wie verhalten sich aber jene Verse aus Hwangto, die Younghi Pagh-Paan in ihren Vokaltext einfließen ließ, zur Suche nach Gott im spirituellen Sinne? Sie drückt die spirituellen Bedürfnisse durch die gesamten Vokaltexte hindurch aus. Das wandelbare Lichtbild des Auftragswerkes ist Teil dieser Suche.

Dr. Shin-Hyang Yun studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Germanistik an der Universität Freiburg im Breisgau. 2001 promovierte sie in Musikwissenschaft an der Universität Köln. Anschließend folgten mehrere Lehraufträge an den Universitäten in Korea. Von 2003-2004 war sie Postdoc. Researcher am Korean Art Research Center der Korean National University of Arts, Seoul, und von 2006–2008 Gastprofessorin an der Fakultät für Musik und Darstellende Kunst der Keimyung-Universität, Taegu. Seit 2011 unterrichtete sie an zahlreichen deutschen Uni-versitäten, unter anderem an der Universität der Künste Berlin, an der Universität Leipzig, an der Universität der Künste Graz sowie an der Humboldt-Universität Berlin.

Foto

: pri

vat

»

KULTUR KOREA / 37

Page 40: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Im Koreanischen Kulturzentrum Berlin, Kulturabteilung der Botschaft der Republik Korea, wurde von Oktober bis Dezember 2015 eine umfangreiche Schau mit neuen

Werken von Eun Nim Ro gezeigt. Aus den vielen Bonmots der Künstlerin ist für die Ausstellung das Motto „Der Pinsel führt mich. Ich folge ihm!“ herausgesucht worden. Der Satz verweist auf das Arbeitsgerät der Künstlerin, den Malpinsel, und damit auf das von ihr favorisierte Medium, die Malerei. Allerdings ist nicht der klassische europäische Feinhaarpinsel als Instrument akademisch altmeisterlicher Darstellungstradition gemeint, sondern eine Skala von asiatischen Kalligrafiepinseln verschiedener Größe, mit de-nen Eun Nim Ro auf Papier zeichnet. Für freie Malerei war sie von 1990 bis 2010 Professorin an der Hochschule für Gestaltung (HAW) in Hamburg, und ab 1994 erhob sie die dort jährlich stattfindende Sommerakademie „Pentiment“ als künstlerische Leiterin auf ein anerkannt hohes Niveau. Sie öffnete „Pentiment“ für angewandte Bereiche und Alltagsästhetik wie Illustration, Mode, Design, Kalligrafie und Fotografie.

Zwischen diesen Polen ist auch die künstlerische Arbeit von Eun Nim Ro angelegt - von der intimen Zeichnung bis zur Glasfenster-Ausführung und zum Leuchtwand-Design. Die Wirkung ihrer Lehr- und Leitungstätigkeit geht über die Grenzen der Hochschule in Hamburg weit hinaus. Die Künstlerin ist vielfach mit Stipendien und Preisen aus-gezeichnet worden und hat umfangreiche Aufträge im Rahmen von „Kunst im öffentlichen Raum“ realisiert. 1995 erhielt sie die Ehrenbürgerschaft der Hauptstadt ihres Geburtslands Südkorea Seoul, wohin sie zwölfjährig mit ihren Eltern 1958 wechselte, die Highschool besuchte und ein Medizinstudium begann.

1967 veränderte der Tod ihrer Mutter schlagartig die Perspektiven der jungen Studentin, sie zog in das Grenz-gebiet zwischen Süd- und Nordkorea am 38sten Brei-tengrad, um sich dort mit medizinischen Hilfeleistungen im Rahmen eines Gesundheitsprogramms der Unicef zu betätigen. Aus der zivilisierten Großstadt ins damals harte, archaische Leben der koreanischen Bergdörfer verschla-

Eun Nim Ro: Der Pinsel führt mich. Ich folge ihm!

Von Prof. Claus Mewes

KUNST, MUSIK, FILM

Abbildung: Eun Nim Ro, Vogel und Schmetterling, 62x92 cm,Mischtechnik auf Maulbeerpapier, 2015

38 / KULTUR KOREA

Page 41: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

gen, in denen noch schamanische und animistische Kulte praktiziert wurden und ein Mondkalender galt, war Eun Nim Ro konfrontiert mit wilder Natur unter vorindustriellen Bedingungen. 1970 geht sie nach Hamburg und arbeitet im Hafenkrankenhaus als Krankenschwesterhelferin, dort zeigt sie 1972 erstmals ihre Zeichnungen in einer kleinen Ausstellung. Die Reaktionen auf ihre Arbeiten ermutigen die Autodidaktin, sich auf ein Studium an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg zu bewerben, es 1973 aufzunehmen und 1979 erfolgreich abzuschließen. Ihre Lehrer Hans Thiemann (1910 -1977) und Kai Sudeck (1928 – 1995) werden von der Künstlerin in allen Publi-kationen zu ihrem Werk genannt, damit signalisiert Eun Nim Ro, welche grundlegenden Anregungen sie während ihres Studiums erfahren hat. Konnte sie bei Thiemann ihre aus Korea mitgebrachten künstlerischen Energien ungebremst ausbauen, so schärften Sudecks zeichenhafte Schwarz-Weiß-Strukturen und deren Medienästhetik ihre Kenntnisse kalligrafisch asiatischer Traditionen. Besonders durch die Lehre des Spätsurrealisten Thiemann erhielt die Künstlerin wesentlichen Spielraum zur Entfaltung.

In dem ästhetischen Spannungsfeld zwischen Fabulier-fülle und zeichenhafter Strenge ist Eun Nim Ros Schaffen bis heute zu verorten. Ihre Figurenwelt zeugt sowohl von Kindheitserinnerungen als auch von einer Kenntnis der europäischen Kunstgeschichte, besonders auf den Spuren derjenigen Künstler und Künstlerinnen, die sich gegen akademische Dogmen gewendet haben, als sie, wie Picasso, Klee, Ernst, Dubuffet und Niki de St. Phalle, an Ausdrucksformen der außereuropäischen Kulturkreise, der Kinderkunst und der Manifestationen von psychisch Unangepassten anknüpften. Auch die märchenhaften und gespenstischen Fabeltiere der „Cobra“-Künstler gehören zum künstlerischen Referenzfeld von Eun Nim Ro. Ihre Erlebnisse aus Korea sind bis heute jedoch ein uner-schöpflicher Bildfundus von Lebewesen in seltsamen Kon-stellationen und magisch aufgeladenen Situationen. Ohne perspektivische Raumzwänge rücken die Tiere, Menschen und Mischwesen dem Betrachter nah vor den Blick und fesseln ihn unausweichlich mit fragend großen Augen-

paaren, manchmal mit einäugig stechender Autorität oder unverhohlener Neugier. Je nach Verfassung der Betrachter, oder nach Aufladung der Motive durch einen expressiven Pinselstrich, oszilliert der Anmutungseffekt zwischen Schrecken und Sympathie, zwischen Irritation und Kom-munikation. Ros Figuren lassen einen nicht kalt. Sie fordern die Aufmerksamkeit des Gegenübers heraus. Sie behaup-ten stets ihre Glaubwürdigkeit und ihre Identität, selbst wenn sie aus einer fremden Welt zu stammen scheinen.

Dabei wird der Stimmungsgehalt der Bilder erzeugt durch eine - über die Jahre zunehmende - schwelgerische Farbpalette, in der sich teppichartig ein buntes Dickicht wuchernder Natur mit Pflanzen und Tieren in den Ele-menten des Wassers, der Erde, der Luft und des Feuers ausbreitet. Wenn zum Beispiel auf dem Papier leuchtend rote Abdrücke der Handflächen Eun Nim Ros erscheinen, ist diese Künstlersignatur mit der Bedeutung des vierten Elements, des Feuers, verbunden: „Ich arbeite aber auch an den vier Elementen. (...) Es ist mir klar, dass die vielen Fi-sche Vertreter für das Element des Wassers sind. Und Erde, das symbolisiert die Menschen und die Krabbeltiere sowie die Bäume. Und die Luft wird durch die Vögel präsent. Aber dann sage ich, das Feuer, das muss ich selbst sein.“ (1)

Außer den fixierenden, wachsamen Augen besteht die Stärke der Figuren in einer eigenständigen Position des Gleichgewichts, denn selbst wenn sie schweben, wirken sie stabil. Der Betrachter wird auf Abstand gehalten wie durch eine gläserne Scheibe, zu der die Wesen ihre Hände, Füße, Flossen, Fühler und Flügel in Parallelstellung bringen, als wenn sie sich im Aquarium befänden – faszinierten menschlichen Blicken ausgesetzt. Mit dem Gedanken, Paul Klees 1925 gemalter „Goldfisch“ (Hamburger Kunsthalle) hätte für Eun Nim Ros Bildkonzeptionen Pate gestanden, lässt sich äußerlich ein Aspekt ihrer Bilder erfassen, wobei die Vorstellung des Blicks in ein Aquarium als Bildraum we-sentlich ist. Mit den frontalen Abdrücken der Innenfläche ihrer eigenen Hände befindet sich die Künstlerin auf der anderen Seite der gedachten Glaswand und signalisiert Anwesenheit im Bild und Abstand zum Betrachter. Dies

Foto

: Kor

eani

sche

s K

ultu

rzen

trum

KULTUR KOREA / 39Vernissage der Ausstellung „Der Pinsel führt mich. Ich folge ihm!“ von Eun Nim Ro am 22.10.2015 im Koreanischen Kulturzentrum in Berlin

Page 42: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

erscheint plausibel in der Kenntnis, dass die Künstlerin seit ihrer Kindheit eine Affinität zum Blick in das Wasser entwi-ckelt hat und als passionierte Taucherin die Meereswelten und Korallenriffe erlebt. Schon am Ort ihrer Kindheit such-te sie die Nähe des kleinen Bachs hinter dem Elternhaus, um täglich ihre „playmates“, die Fische, anzutreffen und um sich sogar nachts mit der Taschenlampe zu vergewissern, dass sie auch gut schlafen. (2)

Kurz: Eun Nim Ro zielt auf die Grenze zwischen Produk-tion und Rezeption. Für sie verschmelzen das Werk und seine Schöpferin untrennbar. Ro schafft eine Verbindung zwischen der unmittelbaren Ganzheitlichkeit kindlicher Ausdrucksformen, der zeichenhaft magischen, frühkultu-rellen und noch über den Globus verbreiteten Artefakte, sowie den wahrnehmungspsychologisch auf schnelle Erfassung angelegten Piktogrammen der hochmodernen industriellen Kommunikation. Die gemalten Botschaften werden von jedem verstanden – so komplex auch immer der hergeleitete Zusammenhang zwischen Natur- und Kulturgeschichte sein mag. Wie eine Bestätigung wirken die vielen textlichen Äu-ßerungen der Künstlerin, die häufig, programmatisch verkürzt, Gedichtform annehmen und asiatische Weisheit mit europäischen Denkmustern verknüpfen. Die in den Aphorismen versteckten Anspielungen reichen von hu-

morvoller Kollegenstichelei bis zu pointierten Inversionen. Demontiert zum Beispiel werden die großen Meister der Kunstgeschichte, etwa wenn Eun Nim Ro auf das kolpor-tierte Picasso-Zitat „Ich suche nicht, ich finde“ antwortet mit „Ich suche, was ich nicht verloren habe“. (3)

Nachweise

1. Vgl. kunststreifzüge. Porträts Hamburger Künstlerinnen und Künstler. Ein gemeinsames Projekt des Norddeutschen Rundfunks, der Hamburgischen Kulturstiftung und des Kunsthauses, Hamburg. 3. Band, Teil 3 der Schriftenreihe der Hamburgischen Kulturstiftung, Hamburg 1997, S. 24

2. Zu den „playmates“ vgl. Eun Nim Ro. Textes/Texts Eddy Devol-ver, Phillippe Giumiot Editeur, Bruxelles 1990 (s. Biographie). – Zur nächtlichen Begegnung mit den Fischen vgl. das Zitat in: Eun Nim Ro. Arbeiten 2010 – 2011, Mein Pinsel führt mich. Ich folge ihm, ohne Ortsangabe, Verlag B*Hands, 2011, S. 6

3. Motto der Ausstellung in der Fabrik der Künste, Hamburg, 12. - 27. Juli 2008, Eun Nim Ro. Ich suche, was ich nicht verloren habe, Ham-burg 2008, Cover.

Prof. Claus Mewes ist Kunsthistoriker, Kurator und Museumspädagoge. Von 1993 - 2013 war er Geschäftsführer und Kurator der Kunsthaus Ham-burg gGmbH, von 2003 – 2013 Dozent an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik, Studiengang Medienmanagement, und seit 2010 ist er Professor an der Beijing Normal University, Dept. DFI, Zhuhai/China. Zur Kunst des 19.–21. Jahrhunderts hat er zahlreiche Texte veröffent-licht und Vorträge gehalten. Seine Schwerpunkte sind die Kunst im Exil, die zeitgenössische Kunst und die Kunst in Hamburg. Fo

to: H

ayo

Hey

e, H

ambu

rg

»

40 / KULTUR KOREA

Page 43: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Der Vortrag ,,Geschichte, Generationund Spuren der modernen koreanischen Musik“

Von Sebastian Claren

Unter dem Titel „ Geschichte, Generation und Spuren der modernen koreanischen Musik“ hat Frau Dr. Shin-Hyang Yun im September 2015 am Koreanischen

Kulturzentrum in Berlin eine Reihe von Vorträgen gehalten, in denen sie eine Einführung in die Geschichte der koreani-schen Musik im 20. Jahrhundert gab. Dabei ging es nur am Rande um die traditionelle koreanische Musik, die mündlich überliefert und von den Musikern, die sie hervorgebracht haben, auch ausgeführt wird, sondern um Musik, die nach westlich-europäischem Vorbild von einzelnen Komponisten schriftlich ausgearbeitet und festgehalten wird, und dann in der Regel von anderen Musikern aufgeführt wird.

Es ist offensichtlich, dass es sich hierbei um zwei grundsätz-lich entgegengesetzte Konzeptionen von Musik handelt, und es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, zu welchen Verwerfungen es kommen muss, wenn eine historisch über-mächtige Musikkonzeption wie die westlich-europäische in eine musikalische Kultur einbricht, die auf völlig anderen Grundlagen beruht. Auch wenn Frau Yun diesen Punkt nicht in dieser Schärfe herausgestellt hat, spricht vieles dafür, dass genau dieses Aufeinandertreffen zweier grundsätzlich un-terschiedlicher Musikkulturen und die dadurch erzwungene Auseinandersetzung mit schriftlich komponierter Musik Koreas Eintritt in die musikalische Moderne markiert.

Ein Kuriosum der koreanischen Musikgeschichte im 20.

Jahrhundert, über das Frau Yun ausführlich sprach, ist die Entstehung der koreanischen Nationalhymne: Die erste koreanische Nationalhymne ‚Daehan Jeguk Aegukga‘ wurde 1902 von dem deutschen Komponisten Franz Eckert bear-beitet. 1910 wurde sie nach der Eingliederung Koreas in das Japanische Kaiserreich durch die japanische Nationalhymne ersetzt, die ebenfalls von Franz Eckert bearbeitet worden war. Der Text der heutigen Nationalhymne Südkoreas wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts entweder von dem Politiker Chi-Ho Yun oder von dem Unabhängigkeitsakti-visten Chang-Ho An geschrieben und ursprünglich auf die schottische Volksmelodie ‚Auld Lang Syne‘ gesungen. Der international erfolgreiche koreanische Komponist Eak-Tai Ahn komponierte 1937 eine neue Fassung dieser Hymne, die bis heute in Gebrauch ist.

Eak-Tai Ahn selbst ist ein perfektes Beispiel für den Umbruch im koreanischen Musikleben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Geboren in Pjöngjang, war seine musikali-sche Erziehung so international geprägt, wie man es sich nur wünschen kann: Sie führte ihn über Japan und die USA nach Wien und Budapest. Er dirigierte viele der großen Orchester Europas und erhielt von Richard Strauss Hilfe bei der Vollendung seines bekanntesten Werkes, der ‚Symphoni-schen Korea Fantasie’, in der der Einfluss von Strauss deutlich hörbar ist. Ab 1955 dirigierte er das Seoul Philharmonische Orchester und organisierte drei Jahrgänge des Seoul Inter-

KUNST, MUSIK, FILM

GESCHICHTE DER MODERNEN KOREANISCHEN MUSIK

KULTUR KOREA / 41

Page 44: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

national Music Festivals. 2008 wurde er als pro-japanischer Kollaborateur eingestuft, weil er 1941 ein Konzert zum zehn-jährigen Bestehen des von Japan besetzten Mandschukuo1 dirigiert hatte.

Für die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts iden-tifizierte Frau Yun drei Generationen von Komponisten, in denen sich die moderne koreanische Musik etablierte und von einer zu engen Bindung an westlich-europäische Vorbilder befreite. Als Vertreter der ersten Generation erwähnte Frau Yun die Komponisten Ki-Su Kim (1917-1986), Dong-Jin Kim (1913-2009) und Isang Yun (1917-1995). Ki-Su Kim ist hier aus heutiger Sicht besonders interessant, weil er der erste Komponist war, der sich intensiv mit der traditi-onellen koreanischen Musik auseinandergesetzt hat und sowohl Transkriptionen traditioneller koreanischer Musik, als auch neue Kompositionen für traditionelle koreanische Instrumente erarbeitete. Dagegen stellte Frau Yun von Dong-Jin Kim ein koreanisches Klavierlied vor, das ganz in der Tradition des europäischen Kunstliedes des 19. Jahr-hunderts befangen war. Isang Yuns Schaffen erfuhr durch seine Konfrontation mit der westlichen Avantgarde bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik eine deutliche Wende, da er sich von diesem Zeitpunkt an einerseits mit den Techniken der westlichen Neuen Musik auseinander-setzte, und andererseits einen bewussten Rückbezug auf die traditionelle koreanische Musik vollzog.

Zur zweiten Generation der koreanischen Komponisten zählte Frau Yun die Komponisten Sok-Hi Kang (*1934), Byong-Dong Paik (*1936) und Byong-Gi Hwang (*1936). Sok-Hi Kang studierte in Hannover und Berlin bei Isang Yun und Boris Blacher und gründete nach seiner Rückkehr nach Korea das ‚Pan-Festival‘ für Neue Musik. Er schrieb mit ‚Won-Saek Ui Hyang Yon’ (‚Bankett der Originalfarbe‘, 1966) die erste elektroakustische Musik eines koreanischen Kompo-nisten und setzte sich in ‚Buru‘ für Stimme und Instrumente mit dem koreanischen Buddhismus und Schamanismus aus-einander. Auch Byong-Dong Paik studierte bei Isang Yun in Hannover, wo er sich die Techniken der westlichen Avantgar-de erarbeitete. Im Unterschied zu Sok-Hi Kang findet bei ihm sehr früh eine Rückbesinnung auf die koreanische Tradition statt, die sich in Titeln wie ‚Changjak Gukak‘ und ,Changjak Gayagum’ niederschlägt. Byong-Gi Hwang, der in diesem Zusammenhang meistens nicht erwähnt wird, ist ein Son-derfall, da er als Gayageum-Virtuose fest in der traditionellen koreanischen Musik verwurzelt ist und fast ausschließlich für traditionelle koreanische Instrumente komponiert hat. Da er dabei viele Techniken der westlichen Neuen Musik auf die traditionellen Instrumente überträgt, stellt sein Werk einen sehr persönlichen Standpunkt im Aufeinandertreffen von westlicher Avantgarde und koreanischer Tradition dar.

Im Unterschied zu den beiden ersten Generationen koreanischer Komponisten sah sich die dritte Generation, zu der Frau Yun die Komponisten Geon-Yang Lee (*1947), Seong-Ho Hwang (*1955), und Man-Bang Yi (*1945) zählte,

als eine eigene Bewegung an, die sich bewusst von den ihr vorangegangenen Generationen distanzierte, indem sie sich von der westlichen Avantgarde abwandte und als Gegen-konzept die Idee der ‚dritten Welt‘ in den musikalischen Dis-kurs einführte. Geon-Yang Lee, der offenbar eine Art Wort-führer der Komponistengruppe war, versuchte in Stücken wie ‚Pun-No Üi Si’ (‚Gedicht des Zorns’, 1985) volkstümliches Musikvokabular aus Korea mit europäischer Kirchenmusik zu verbinden und dabei gesellschaftskritische Anliegen vorzutragen. Seong-Ho Hwang mischte in seiner elektroa-kustischen Musik computergenerierte Klänge mit Samples traditioneller koreanischer Instrumente, um so diese beiden sehr gegensätzlichen Welten aufeinanderprallen zu lassen. Man-Bang Yi schließlich, der allerdings nicht unmittelbar zum Zirkel der dritten Generation gehört, bezog sich in seiner Musik auf deutlich subtilere Weise auf die koreanische Tradition, indem er etwa in seinem Orchesterwerk ‚Mudang‘ (1982) die Harmonik von auf koreanische Modi bezogenen Obertönen erforschte oder in seinem Streichquartett ‚Amita‘ (1989) koreanische Rhythmuszyklen verwendete.

Frau Yun gelang es, ihre Geschichte der komponierten kore-anischen Musik im 20. Jahrhundert durch zahlreiche weitere Beispiele, die zum Teil auch aus der Populärkultur stammten, sehr anschaulich zu machen; angesichts der Menge des angeführten Materials war es leider unvermeidlich, dass sich selten die Gelegenheit zu einer Vertiefung der Betrach-tungsweise ergab.

1 Von Japan errichtetes Kaiserreich in der Mandschurei (Anm. d. Red.)

Dr. Sebastian Claren studierte Komposition, Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie in Berlin, Freiburg und Heidelberg. Seine Doktorarbeit schrieb er über das Ge-samtwerk von Morton Feldman (Neither, Die Musik Morton Feldmans, Hofheim 2000). Er erhielt Arbeitsstipendien für Los Angeles, New York, Paris und Rom und zahlreiche Preise, u.a. den Kranichsteiner Musikpreis, den Stuttgarter Kompositionspreis und den Ernst von Siemens Förderpreis. 2014 wurde er zu dem International Gugak Workshop in Seoul eingeladen. Seit 2014 nimmt er Daegeum-Unterricht bei Hong Yoo in Berlin. Ausführliche Informationen unter www.sebastianclaren.wordpress.com.

Foto

: pri

vat

»

42 / KULTUR KOREA

Page 45: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KUNST, MUSIK, FILM

Das wichtigste Bild von Ukn Lee hängt in dem koreanischen Restaurant „JoLee“ in Berlin. Beim Betreten dieses ansprechend designten Raums fällt

es unmittelbar ins Auge, hebt sich ab von der tiefgrünen Wand, fasziniert geschützt hinter Museumsglas, als ruhte es oder thronte gar, als sei es dem lärmenden Geschehen freudig plauschender Gourmets enthoben. „Mutter I“ lautet der Titel, 2012 ist es entstanden. Die Geschichte hinter dem Bild bewegt. Ukn Lee war zwei Jahre alt, als seine Mutter verstarb, und je länger er an diesem Abend über sein Leben, seine Arbeit, seine Gedanken erzählt, umso deutlicher wird, wie schmerzlich präsent der Verlust bis heute ist. „In meiner Familie wurde über den frühen Tod meiner Mutter nicht gesprochen, weil es in der traditionellen koreanischen Gesellschaft nicht vorgesehen war, dass eine Frau vor ihrem Mann starb. Ich selbst hatte keine Erinnerung an sie, es gab keine Memorabilien, das Thema war mit einem Tabu belegt.“ Als Ukn Lee viel später, im Alter von 24 Jahren, schließlich vom Schicksal seiner Mutter erfuhr, war das ein „Schock“.

Heute ist er Anfang fünfzig und hat vor drei Jahren zum ersten Mal ein Foto von seiner Mutter gesehen - das einzi-ge Foto, das es von seiner Mutter gibt - im Miniaturformat zumal. Sein Vater hatte es ein halbes Jahrhundert lang bei sich getragen - und ein halbes Jahrhundert lang darüber geschwiegen. Ukn Lee hat es abgemalt, auf 100 x 95 cm vergrößert und in Öl auf Leinwand verewigt. Sämtliche

Informationen auf seiner Website verbergen sich hinter diesem Bild. Ein Klick auf den Künstlernamen führt den Besucher zu „Mutter I“. Niemand kommt vorbei an diesem Bild. Er hat es verkauft – dennoch. An die Besitzerin des „JoLee“, eine Freundin. Es diene als Schutzengel und erset-ze auch der Freundin eine leibliche Mutter – symbolisch versteht sich.

Das Gesamtwerk des Malers wird von einer Farbenvielfalt dominiert. „Bunt bedeutet Lebensfreude. Mein Leben ist nicht immer leicht“, sagt Ukn Lee, „meine Gedanken sind oft schwer, aber in meinen Bildern möchte ich das Gegen-teil zum Ausdruck bringen; alles soll hell und leicht sein. Ich möchte den Betrachtern etwas Positives vermitteln, das ist meine Botschaft als Künstler.“ Ukn Lee verändert seine Bilder, indem er sie übermalt - Pentimenti nennt sich diese Technik. Deshalb malt er vornehmlich in Öl.

„Ich möchte, dass Kunst immer lebendig bleibt, denn Lebendigkeit ist Ausdruck für die Energie unseres Lebens“, erklärt er. „Im Laufe der Jahre male ich immer wieder viele Schichten übereinander. Manchmal sehe ich ein altes Bild nach 10 Jahren wieder und übermale es dann mit anderen Farben und Figuren.“ Da auch der Galerist WangHohmann in Wiesbaden um Lees Vorliebe für diese Technik weiß, hat er vor Beginn der zweiten großen Solo-Ausstellung von Ukn Lee im September/Oktober dieses Jahres die Gemälde früh genug in Berlin abholen lassen, vorsichtshalber… Und eine junge Studentin konnte von Glück sagen, dasselbe

„DIE FRAUEN IN MEINEN BILDERN SIND ALLE MEINE MUTTER“

Im Gespräch mit dem Maler Ukn Lee über Erinnerung, Abschied und Neubeginn

Foto

: © G

aler

ie W

angH

oman

n

KULTUR KOREA / 43

Mutter I, 100 x 95cm, Öl auf Leinwand, 2012Dieses Bild von Ukn Lee hängt in dem koreanischen Restaurant „JoLee“ in Berlin

Page 46: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Bild, das sie einst gesehen und nicht mehr vergessen hatte, 10 Jahre später unverändert vorzufinden und endlich kaufen zu können.

Die Bilder entstehen auf der Vorlage von Fotos, vielfach auf Reisen. Es fällt auf, dass Ukn Lee vornehmlich Gruppen-bilder malt, vielfach in Rückansicht. Eine Gruppe symbo-lisiere für ihn die Gesellschaft, erklärt er. Sie sei quasi der Gegenentwurf zu einer zunehmend individualisierten und weniger im Verbund lebenden Gesellschaft – er prognos-tiziert eine Verstärkung dieser Tendenz und hofft zugleich, er möge Unrecht behalten. Seine Gruppen versteht er als Interessens- und Schicksalsgemeinschaft, die gemeinsame Ziele und Gedanken haben. Sein Faible für die rückwär-tige Ansicht habe vielleicht mit seinem Charakter zu tun, mutmaßt er: „Von Angesicht zu Angesicht entsteht eine Spannung, aber wenn ich als Betrachter im Rücken der Menschen stehe, kann ich das Geschehen beobachten.“ Und genau das will er: beobachten.

Im weiteren Sinne bedeutet dies für Ukn Lee auch, die Feh-ler der Nachkriegsgeneration in Korea zu ‚beobachten‘, sie zu analysieren, und er wünschte, er könnte das Tempo des rapiden Wirtschaftswachstums in seinem Land drosseln, das diese Generation vorgelegt und ‚weitervererbt‘ hat. An diesem Punkt wird die Rückansicht in seinen Bildern gewissermaßen zu einer philosophischen Haltung. Die erste Gruppe/Generation solle vorausgehen und „wir als Nachfolger müssen sie genau beobachten und möglichst

langsam hinterhergehen.“

Ukn Lee ist jemand, der es ruhig mag. Das Malen ist zu-weilen ein einsamer Prozess. Er schätzt diese Zurückgezo-genheit und hat wenig Sympathien für Menschenmengen, Lärm und Hektik. „Seoul ist krank und verrückt“, hat er einst gesagt und wiederholt es nun. „Ich habe fast 30 Jahre in dieser Metropole gelebt, aber heute kann ich es dort nicht einmal mehr drei Tage aushalten. Die Stadt ist viel zu laut, man kann dort keine Gedanken entwickeln.“ Ungeachtet dessen fliegt er etwa zweimal jährlich für einige Monate nach Korea, um dort zu arbeiten. Sein Atelier liegt weit außerhalb vom Zentrum Seouls und hat sechs Meter hohe Wände – für die ganz großen Bilder. „In Korea kann man nicht ‚Nein‘ sagen. Der Kollektivgedanke prägt die Gesell-schaft, man ist ständig mit Kollegen zusammen, geht fast jeden Abend zusammen essen und trinken. Ich kann das nicht, deshalb lebe ich lieber in Deutschland.“

Eines seiner Bild trägt den Titel „Heimreise“ und impliziert vielleicht eine biblische Bezugnahme? Es zeigt Jesus, vielleicht auch einen Jünger, die Mutter Gottes mit Heili-genschein, andere Personen, vielleicht auch den Tod – eine kleine Gruppe. Es sei ein wenig schwierig zu erklären, wel-che Botschaft sich hinter dem Bild verberge. Seine großen Themen seien immer Mutter und Kind und die Gruppe als Symbol der Gesellschaft. Beide Themen finden sich auch hier in Gestalt der Mutter Gottes und der von Jesus sowie in der Darstellung der Kleingruppe wieder. „Ich bin Fo

tos:

© G

aler

ie W

angH

oman

n

44 / KULTUR KOREA

Menschenraum, 72 x 91 cm, Öl auf Leinwand, 2007-2013

Page 47: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

zwar Christ, fühle mich aber auch dem Buddhismus sehrverbunden. Das deutet auf mein grundlegendes Problem hin, immer in einem Spannungsverhältnis zwischen zwei Dingen zu stehen. Ich habe mit Korea und Deutschland zwei Heimaten, fühle mich zwei Religionen zugehörig, schwanke stark zwischen Positiv- und Negativenergien. Mein Wunsch wäre es, aus diesen zwei Welten eine Einheit zu bilden.“ Heimreise bedeute Weggehen von etwas und zugleich auch Rückkehr, nach Hause kommen, sagt er. Auf die Frage, was Heimreise, Heimat, nach Hause kommen für ihn bedeute, antwortet er: „Die Mutter“.

Immer wieder kehrt er dorthin zurück. „Die Frauen in meinen Bildern sind alle meine Mutter und die anderen Figuren sind alle ich. Obwohl meine Mutter tot ist, habe ich sie mein ganzes Leben lang beschützt.“ Wäre es nicht denkbar, dass auch der Vater für ihn Heimat bedeutet? „Nein. Niemals.“ Warum nicht? „Ehrlich gesagt: Es mangelt Männern an Emotionen und an Geistigkeit. Als Künstler missfällt mir diese Inhaltsleere. Über meine Kunst und meine Arbeit habe ich vor allem mit Frauen gesprochen. Männer verstehen das nicht und wollen es auch nicht wis-sen. Sie sind nicht neugierig, nicht sensibel genug. Sie sind nicht am Detail interessiert. Sie sind das Haus, das Gerüst, das Außen. - Vielleicht ist das auch gut so.“

Die Nähe zu seiner Mutter scheint ihn zu beschweren, zu beengen. Das Bild „Mutter II“, ebenfalls aus dem Jahr 2012, ist ein Versuch der Befreiung. „Ich möchte endlich fröhlich sein und meine Mutter vergessen. Umgekehrt soll auch meine Mutter mich vergessen, wir müssen uns endlich loslassen, Abschied nehmen.“ Das Bild ist die Wiederauf-nahme des Motivs von „Mutter I“. Die Hälfte des Gesichts ist mit koreanischen Schriftzeichen beschrieben. Es sind Worte des Dankes und Worte des Abschieds. „Ich wünsche mir, dass die Spannung zwischen uns wegfällt, damit ich mich auch als Künstler öffnen, frei sein und andere Motive malen kann, z.B. Landschaften und keine Menschen mehr. Ich möchte das schon so lange!“

Ukn Lee spricht über die alten Meister und Vorbilder Piero della Francesca und Fra Angelico, über die Prägung durch seinen Lehrer und Meister Norbert Tadeusz, den die fröhli-chen Farben und das Leichte in den Bildern seines Schülers an Ronald Brooks Kitaj erinnerten und der ihn gern zu sich nach Düsseldorf geholt hätte. Ukn Lee wollte lieber eigene Wege gehen, sich auch an dieser Stelle lösen von jeman-dem, der „wie ein Vater für mich“ war.

Vom 12. September bis 31. Oktober war seine zweite große Einzelausstellung in der Galerie WangHohmann - contem-porary east asian art - in Wiesbaden zu sehen. Er hat sich gewünscht, dass seine Kunst auf alle Betrachter positiv wirkt. Und sonst? „Wenn ich in Korea ausstelle, kommen ganz viele Leute, aber sie reden nur sehr wenig über die

Kunstwerke, die sie betrachten. Hier in Deutschland ist das ganz anders. Die Besucher kommen und sind wissbegierig, fragen ständig nach, was sich hinter den Bildern verbirgt. Das finde ich toll! Ich wünsche mir diese Art der Resonanz.“

Im Anschluss an die Vernissage schwärmte die Galerie: „Die Akzeptanz war durchweg positiv. Viele sprachen von einer weiter gewachsenen, positiven Offenheit in den Bildern, die in Farbe und Darstellung zum Ausdruck komme. Ein großer Teil der Gäste suchte zudem das direkte Gespräch mit dem Künstler, um mehr über Motiv und Technik zu erfahren.“ Damit war ein Wunsch schon in Erfüllung ge-gangen. „Staunen löste hier insbesondere der Auftrag von Öl auf seidenem Malgrund aus, ein Verfahren, das für viele gänzlich unbekannt war“, schrieb der Galerist.

Seide erinnere Ukn Lee an die traditionelle koreanische Kleidung Hanbok, erklärt er während unseres Gespräches in Berlin. Vielfach verwende er Seide als Grundlage, die er dann übermalt. Und auch dieses Mal findet sich der Bezug zu seiner Mutter, die in der Seide symbolhaft als schützen-de Grundlage anwesend ist. Seine Kunst gefällt. Die Kenner seiner Arbeiten erfreuten sich nach Ausstellungsbeginn an den „Naturelementen“ in den Bildern, die „in den beinahe durchweg figurativen Darstellungen bisher keinen Platz hatten“. Sie lobten auch die „Erweiterung in den außerstäd-tischen Raum“, bzw. das „Hereinbrechen der Natur in die Stadt“, berichtet die Galerie weiter. Ist das der Beginn des Abschieds von einem großen Thema? Vielleicht geht ja bald noch ein anderer Wunsch in Erfüllung.

Das Gespräch führte Dr. Stefanie GroteRedaktion „Kultur Korea“

Weiterführende Informationen: http://uknlee.de

KULTUR KOREA / 45

Mutter II, 100 x 95cm, Öl auf Leinwand, 2012

Page 48: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KUNST, MUSIK, FILM

DAS GROßE THEATER DES ERZÄHLENSPansori „Jeokbyeokga“ das „Lied vom Roten Felsen“ in Düsseldorf und Hamburg

Von Matthias R. Entreß

Foto

: © D

KG

H 2

015

46 / KULTUR KOREA

Page 49: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Für Pansori in Deutschland ein Publikum zu finden, erscheint im ersten Moment ziemlich aussichtslos. Ein Sänger und ein Trommler, die zusammen einen

Roman vortragen? Auf Koreanisch? Und den Text soll man „simultan“ mitlesen?

Die weißgewandeten Musiker auf dem Plakat machen aber einen fröhlich-feierlichen Eindruck, und Erzählen wird hier offenbar doch zu einem Geschehnis. Und so ist es auch tatsächlich. Pansori ist ein minimalistisches Gesamtkunst-werk, das Literatur, Musik und Darstellende Kunst in größ-ter Kompaktheit und größter Effizienz in sich vereint. Alle künstlerischen Elemente kulminieren im Erzählen. Aber waren sie je getrennt? Ist der Ursprung dieser Kunst nicht das wunderbare alte Talent der Koreaner zum Erzählen und Zuhören? Und wurde im Pansori nicht das Sprechen zum Gesang, die Geschichte zum Roman und sogar die Re-aktion der Zuhörer zu der Konvention, die man „Chuimsae“ nennt, die lobenden Anfeuerungsrufe?

Im Pansori wird die aktive Phantasie des Zuschauers zum wichtigen Teil des Erlebnisses. Denn anders als ein Kinofilm ist Pansori kein Fertigprodukt aus Ton, Text und Bild. Und anders als im Theater gibt es nicht die Schauspieler, in die sich der Zuschauer per Identifizierung hineindenken könnte. Die Kunst des Pansori-Sängers und seines Beglei-ters besteht nämlich darin, den Zuschauer einzuladen, dem Erzählen beizuwohnen und das Erzählte gegenwärtig werden zu lassen. Die Textprojektion, immer nah über dem Kopf des Sängers, ist da bei uns unverzichtbar und hocheffektiv. Da der Zuschauer aufgefordert ist, die Erzähl-situation ganz persönlich zu nehmen und gern mit kleinen Ausrufen (Chuimsae) zu reagieren, wird eine Pansori-Auf-führung zum Gemeinschaftserlebnis. Ein Pansori ist eben kein Klavier-Abend.

Doch das muss der Deutsche erst einmal wissen.Am 29. September im Düsseldorfer Theatermuseum und am 3. Oktober im Hamburger Völkerkundemuseum (das sich schon zum vierten Mal seit 2004 für Pansori enga-gierte) wurde das Pansori „Jeokbyeokga“ - das „Lied vom Roten Felsen“, mit dem Sänger Yun Jin-chul und Cho Yong-su als Begleiter aufgeführt. Ohne die Einladung der Deutsch-Koreanischen Gesellschaft Hamburg, die sogar die Flugkosten für die Künstler übernahm, der großzügi-gen Zuwendung eines privaten Düsseldorfer Sponsors und die selbstlose und tätige Unterstützung des dortigen Theatermuseums wäre die kleine Tournee nicht zustan-degekommen. Trotz vollkommener Nichtbeachtung vonseiten der Presse waren beide Säle rappelvoll, und die Seelen aller quollen über vor Vergnügen und Belebung durch die intensive Ansprache - – eine Wirkung, die man in den westlichen Künsten so nicht kennt.

Die Stimme eines Pansori-Sängers entwickelt sich auch nach der Ausbildung weiter. Yun Jin-chul, jetzt mit 51 in

seinen besten Jahren, besitzt bei einer grundsätzlichen Klarheit der Stimme das volle Spektrum des Ausdrucks. Manche ältere Sänger - zum Beispiel war es so bei Yuns Lehrer Jeong Gweon-jin - haben im höheren Alter eine „Willy-Brandt-Stimme“. Der Qualität des Gesangs tut das keinen Abbruch, solang der Ausdruck nicht darunter leidet. Ausdruck ist die Substanz des Pansori-Gesangs, und der Ausdruck greift tief in die Seele des Menschen. Es sind die allgemeinverständlichen Urlaute des Leidens und der Freude und aller Dinge im Leben, die im Pansori-Gesang gestaltet werden. Die Melodien, die gleichwohl sorgfältig vom Lehrer auf den Schüler übergehen, verlieren dadurch die Dominanz, die sie im klassischen westlichen Kunstlied oder in der Oper haben. Die zahlreichen Exaltationen des Stimmlichen bringen den Pansori-Gesang aber in die Nähe sowohl von Rock und Blues, als auch von westlicher Avant-garde, hat doch z.B. in der Musik von Helmut Lachenmann das instrumentale Geräusch eine hohe Stellung, oder bei Giacinto Scelsi der subtil gestaltete Klang.

So auch bei Yun Jin-chul! Ausdrucksvolle Heiserkeiten stehen ihm neben einer klaren Sprechstimme in großer Zahl zur Verfügung.

Die Aufführung begann wie üblich mit einem Dan‘ga, ei-nem Lied zum Aufwärmen der Stimme und des Publikums, das Yun nutzte, die Chuimsae vom Publikum einzufordern. Das Pansori „Jeokbyeokga“ hub dann gemächlich an, mit einer langen Erzählpassage (Aniri), die die Erwartung steigerte und sich im ersten Gesang (Sori) entlud, und die Überraschung war den Zuschauern wohl die größte, dass ein krähendes Überschlagen der Stimme, das in schmerz-volles Heulen mündet und sich in einem Louis-Arm-strong-würdigen Knurren ausrollt, so sehr wohl tut.

Yun und Cho sind schon seit vielen Jahren ein einge-spieltes Team. Cho Yong-su war als Gosu (Begleiter) nicht nur ein aufmerksamer Wächter über die komplizierten Jangdan genannten Rhythmusmuster, sondern auch ein wunderbarer erster Zuhörer. Ihm wandte sich Yun immer wieder lebhaft zu, und dieser ließ oft ganze Kaskaden seiner Chuimsae hören, als wäre er drei Männer in einem.

Das Schlachtengemälde „Jeokbyeokga“ ist unter den fünf noch existierenden Pansoris das anspruchsvollste und war in Korea unter den Aristokraten, die ja erst Mitte des 18. Jahrhunderts begannen, Pansori als Kunst anzuerkennen, das beliebteste. Aber, nur Männer, keine Liebesgeschichte, unglaublich viele Namen historischer Helden und ausführ-liche Schilderungen von Politik und Strategien!? Wäh-rend die anderen vier, die jedes für sich keinem anderen gleichen, auf Volkserzählungen beruhen, welche in vielen asiatischen Kulturen existieren, geht „Jeokbyeokga“ direkt auf den riesigen „Roman von den Drei Reichen“ des chine-sischen Autors Luo Guanzhong aus dem 14. Jahrhundert zurück. Dieser handelte von den kriegerischen Ereignissen

KULTUR KOREA / 47

Page 50: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

1 ©

mdu

angd

ara

(htt

ps://

ww

w.fl

ickr

.com

/pho

tos/

mdu

angd

a-ra

/205

2119

9478

/), h

ttps

://cr

eativ

ecom

mon

s.or

g/lic

ense

s/by

-sa/

2.0/

2 Fo

to: M

aira

Nab

a

im untergehenden Kaiserreich der Han-Dynastie. Das Pan-sori „Jeokbyeokga“ konzentriert sich auf den Höhepunkt des Krieges und die schicksalhafte Schlacht am Roten Felsen im Jangtse-Fluß. Ich fragte Herrn Yun, inwieweit sich das Pansori noch auf diesen Roman beziehe, und er erklärte mir, es gebe gar keinen Unterschied zu den ande-ren Stücken. Der Roman sei schon bald nach Erscheinen auch in Korea äußerst beliebt gewesen, die Legenden auch schon vorher bekannt, und so habe er selbst als Besitz des Volkswissens gegolten. Die frühen Pansori-Sänger hätten, so Yun, ihn sich auf ihre Art und Weise angeeignet und ergänzt.

Die Spuren dieser langen und abwechslungsreichen Entstehungsgeschichte sind im Text von „Jeokbyeokga“ noch immer gut auffindbar, denn neben der „Story“ über den Plan dreier Kriegshelden, gegen den Kanzler des Han-Reiches, Cao Cao, aufzustehen und dessen Übermacht durch gewitzte Strategien zu brechen, finden sich die Ein-fügungen von edlen Gedichten, welche die Aristokraten des 19. Jahrhunderts bestellt hatten, sowie die Doneum genannten Hinzufügungen der Sänger selber, die offenbar an Steigerungen von Rührung und Groteske ihren Spaß hatten. Zur Handlung als solcher tragen Szenen wie z.B. der Wettstreit der Soldaten um die größte Trauer über den bevorstehenden Verlust des Lebens, oder die lange Schilderung der wahnwitzigen Verstümmelungen von Cao Caos wenigen überlebenden Soldaten nicht bei, sind aber Bestandteil des Pansori-Erlebnisses, welches auch aus dem Zusammensein und dem Amüsieren besteht. Und wie sich die Wonne dieser „himmlischen Längen“ anfühlte, haben die Zuschauer in Hamburg und Düsseldorf auch trotz einiger Kürzungen erleben können.

Matthias R. Entreß, geb.1957 in Hamburg, lebt und arbeitet in Berlin als freier Autor, Musikjour-nalist und -kurator. Er studierte Theaterwissen-schaft, Germanistik und Kunstgeschichte an der FU Berlin, kuratierte 2004 in Berlin und 2007 in Italien Festivals mit koreanischer Musik sowie Konzerttourneen mit Pansori (2009/2013/2015) und Volksmusik (2011). 2005 initiierte er die ersten deutschen Übersetzungen von Pansori, an denen er auch mitarbeitete. Musikjournalistische Schwerpunkte sind Neue Musik und Außereuro-päische Musik, für DLR, BR, DLF.

Foto

: pri

vat

Konzert von Block B

Zico von Block B

»

48 / KULTUR KOREA

1

2

Page 51: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KUNST, MUSIK, FILM

Im Februar 2015 hatte ich die Gelegenheit, Zico von der Boygroup „Block B“ in seinem Studio in Seoul zu treffen. Der Begründer von

Block B, ChoPD, hatte mir schon zuvor von dem charismatischen Leader erzählt, was sich nun in dieser Begegnung bestätigte. Zico betrat den kleinen Raum und füllte ihn sogleich mit einer - für einen Dreiundzwanzigjährigen - überraschenden Präsenz. Fast eine Stunde lang diskutierten wir über Musikvideos, die Resonanz auf Filme, über Ideen für neue Songs. Er war hochkonzentriert, sehr präsent, sodass man sich gut vorstellen kann, wie er arbeitet. Dabei ist er sehr höflich, nicht distanziert, nur interessiert, offen und auf sein Gegenüber eingestellt. Die Anspannung fiel erst nach dem Gespräch ab, als er mir mit einem Lächeln seinen Boss vorstellte und plötzlich sehr jung wirkte, eher wie ein Student und nicht mehr wie ein professioneller Producer und Performer, der ganz in seiner Ar-beit aufgeht und von genialen Einfällen beseelt zu sein scheint. In dem Vermarktungstrubel rund um K-Pop-Idols1 bleibt zu hoffen, dass er sich nicht darin verliert, sondern weiterhin mit seinem Talent überzeugt.

In dem Gespräch verwies er auch stets auf Block B, für deren Erfolg er arbeitet. Aus der anhal-tenden Welle von immer neuen Boygroups in Südkorea werden nur wenige wirklich bekannt und eine davon ist Block B, obwohl sie seit ihrer Gründung 2011 unter der Plattenfirma Stardom Entertainment schon eine Reihe von Höhen und Tiefen durchlebt habt. Sie sind mit Songs gestartet, die sich in K-Pop einreihen lassen wie beispielsweise „Tell them“ oder „Freeze“ (2011). Letzterer wurde aber trotz seiner leichten Art wegen einiger Textpassagen erst ab 18 Jahren freigegeben. Dieser Widerspruch zwischen leicht zugänglicher Musik mit einem Mix aus HipHop und Ballade und der Kritik an den Tex-ten ist sicher auch auf die Zusammensetzung der Band zurückzuführen. Die sieben Mitglieder vertreten sehr unterschiedliche Richtungen, wie dies häufig der Fall ist bei Pop-Gruppen. Drei Rapper, Zico, P.O., Kyung, und vier Sänger, Taeil, B-bomb, Jaehyo, U-kwon, die sich je nach Stil gut ergänzen: Taeil ist der Sänger, der für die Gesangseinlagen und Balladen steht. P.O. ist mit seiner tiefen Stimme die ideale Ergänzung zu Taeils klarer Stimme, ebenso wie sein Rap im Dialog zu Zicos Rap steht. Zico, der Bandlea-der, gilt als Underground Rapper, der einer der wenigen in der HipHop-Szene Südkoreas ist, der zwischen Rapper und Idol hin- und herwechselt, ohne dass sein Image dabei größeren Schaden nehmen würde. 2011 brachten sie ihr erstes Album heraus „New Kids on the Block“ mit „Nalina“ und 2012 „Welcome to the Block“ mit „Nilili Mambo“. Diese beiden Songs waren nicht nur sehr eingängige, von HipHop beeinflusste Songs, sondern sie erlangten durch die ge-konnte visuelle Inszenierung Aufmerksamkeit. „Nilili Mambo“ kombiniert HipHop mit traditi-onellen Elementen aus einem alten Volkslied. Das Video zum Song ist narrativ angelegt und inszeniert die Mitglieder als moderne Piraten, die in kriminelle Geschäfte verwickelt sind und lässt sie in die Rolle von „Helden“ schlüpfen, die sich dennoch nicht zu ernst nehmen. Dabei unterstreichen das Outfit ebenso wie Kame-raeinstellungen die Individualität der einzelnen Mitglieder.

Auch „Nalina“ greift Motive aus populären Filmen auf, in diesem Fall aus dem japanischen Film „Crows Zero“, in dem zwei Gangs ihre Kon-flikte mit Gewalt austragen. Damit reiht sich das Video in eine Tradition von Filmen und Videos, die die Anlehnung an HipHop und Street-gang-Kultur verstärken und Block B in diese Reihe eingliedern.

BLOCK B

Eine Boygroup mit vielen Facetten

Von Ute Fendler

KULTUR KOREA / 49

3

3 ©

mdu

angd

ara

(htt

ps://

ww

w.fl

ickr

.com

/pho

tos/

mdu

angd

a-ra

/206

8299

1946

/), h

ttps

://cr

eativ

ecom

mon

s.or

g/lic

ense

s/by

-sa/

2.0/

Page 52: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

2013 mussten Block B eine Zwangspause einlegen, da einer der Manager bei Stardom Entertainment Gelder der Band veruntreut haben soll. Zwangsläufig wechselte die Gruppe zu der Plattenfirma Seven Seasons, womit ein Wandel im Stil einherging. Presseberichten zufolge ist Seven Seasons eigens für Block B gegründet worden. Die Tatsache, dass das Label bislang nur Block B vertritt, würde diese Version bekräftigen. Damit wäre Block B wohl die erste K-Pop- Boygroup, die unter einem eigenen Label läuft. Das erste, unter Seven Seasons entstandene Minialbum, „Very Good“, erschien 2013. Es bringt verstärkt Rockelemente in die Hip-Hop-Songs mit ein, ebenso wie Balladen. Visuell überrascht das Comeback mit der neuen Company, denn das Video zum Titelsong „Very Good“ zeigt einen Banküberfall, der mit Sequenzen durchsetzt ist, in denen die Mitglieder sich in surreal anmutenden Settings wiederfinden. „Jackpot“, der Titelsong des Minialbums von 2014, setzt dies im dazu-gehörigen Video insofern fort, als die Mitglieder erneut mit Masken - wie schon bei der Banküberfall-Szenerie in „Very Good“ - als zum Leben erwachte Puppen oder als Komö-dianten einer Zirkusszenerie auftreten. Während die ersten Lieder sich also durch Assoziationen und spielerische Elemente auszeichnen und dabei von HipHop beeinflusst sind, setzen die neuen Alben auf eine Inszenierung der Gruppe, die sie stärker stilisieren, wodurch ihr Profil neue Facetten erlangt. Ebenfalls 2014 kam das Mini-Album „Her“ heraus, das auf theatrale Elemente zurückgreift, aber Neues ankündigt: Die Gruppe zeigt sich selbst als Teilneh-mer einer Fernsehshow und schafft damit eine ironische Distanzierung zur eigenen Arbeit. Zugleich war es ihr erklärtes Ziel, ein Liebeslied zu schreiben, das anders als die abertausend anderen sein sollte. Kennzeichnend ist daher für ihre Arbeit, dass sie Genres häufig wechseln und sie auch miteinander kombinieren, immer darauf bedacht, etwas neu oder anders zu machen.

Oberstes Ziel von Zico ist es erklärtermaßen, für die Gruppe zu arbeiten, Block B erfolgreich zu machen. Betrachtet man das Jahr 2015, so ist dem Bandleader dies mit seiner Grup-pe gelungen, denn vieles konsolidiert sich und zugleich zeichnen sich neue Wege ab. Im Frühjahr 2015 begann Taeil eine Solokarriere, während die Subunit mit B-bomb, U-kwon und P.O ein Debüt als „Bastarz“ starteten - mit dem Song „Zero for Conduct“. Damit haben sie ihre Position als „bad boys“ behaupten wollen, und nicht umsonst wurde das Stück von Zico geschrieben und produziert. Im Sep-tember 2015 schließlich ging Kyung mit einem Liebeslied an den Start.

2015 ist auch das Jahr, in dem Block B sich dem Ausland zuwendet. Sie starteten eine erste Europatournee (Paris, Warschau, Milan und Helsinki), gaben ihr Debüt in Japan und hatten erste Konzerte in den USA - im August 2015 traten sie schließlich bei der KCon in Los Angeles auf. Damit vertreten sie K-Pop im Ausland. Ein sicheres Zeichen für den Erfolg der Gruppe ist unter anderem auch ihr Auftritt bei MAMA (Mnet Asian Music Awards).

Während Block B Erfolge feiert, kann auch Zico zusätzlich eigene Wege gehen: Schon vor der Gründung von Block B war er Mitglied der Crew „Buckwilds“ und hatte eine Reihe von Raps online veröffentlicht, die sich vorwiegend mit sozialen Problemen, bzw. sich - wie im HipHop üblich - mit der Positionierung in der Szene beschäftigen. Daran an-knüpfend brachte er Ende 2014 den Song „Tough Cookie“ (feat. Don Mills2) mit Musikvideo heraus. In Interviews betonte er, dass das Video sich dem Spirit des amerika-nischen Rap annähern sollte. Leider wirkt das Video zu bemüht, fast wie eine Aneinanderreihung visueller Zitate. Im März 2015 trat er bei einem Konzert von einer der inter-national renommiertesten Rap-Gruppen Südkoreas, „Epik High“, auf. Ebenfalls 2015 war Zico in der populären MNet Fernsehshow „Show me the Money“ zu sehen, die eine Plattform für Nachwuchstalente unter den Rappern bieten will. In der vierten Staffel, die von Juni bis September 2015 ausgestrahlt wurde, betreute er zusammen mit dem Rap-per Paloalto ein Team. Von den vier Teams waren drei durch Labels vertreten (YG, AOMG, Brandnew). Das vierte Team nannte sich „ZiPal“. Dieser Name, der sich lediglich aus den Anfangssilben von Zico und Paloalto zusammensetzt, zeigt erneut, dass hier keine große Company dahintersteht. Dennoch hat Zico, der Leader von Block B, neben den gro-ßen etablierten Namen der Szene seinen Platz gefunden. Parallel hierzu hat er eine Reihe von Songs mit anderen Künstlern produziert und im Oktober einen neuen Song mit einem Animationsvideo herausgebracht.

In den letzten beiden Jahren nahm Block B damit an allen großen Musikevents in Korea teil, startete eine Karriere in Europa, Japan und den USA. Dieser Erfolg ist sicher auch Ergebnis einer ständigen Suche nach etwas Neuem und der Tatsache, dass die Gruppe dabei auch ihren Anfängen als HipHop-Gruppe im Grunde treu bleibt. Damit wurde sie in kurzer Zeit zu einer der vielversprechendsten Boygroups Südkoreas.

1 Idols sind K-Pop-Künstler, die von einer südkoreanischen Talentagen-tur ausgebildet und repräsentiert werden (Anm. d. Red.).2 Featuring Don Mills. Don Mills ist Koreaner aus Kanada und gilt als „underground rapper“, was gerade diesem Song auch den Anschein geben sollte, dass er nicht nur Idol in der Boygroup Block B ist.

Prof. Dr. Ute Fendler, Lehrstuhl für Romanische und Verglei-chende Literatur- und Kulturwissenschaften an der Universität Bayreuth. Forschungsschwerpunkte u.a. Intermedialität, Inter-kulturalität, Ästhetik, Populärkulturen, Performance/Tanz. Seit ihrem ersten Besuch in Seoul im September 2013 mehrere For-schungsaufenthalte in Seoul zu Musikvideos und Intermedialität ebenso wie zu HipHop und Reggae. Seit April 2014 Beauftragte der World Association of Hallyu Studies (WAHS) in Deutschland.

Foto

: pri

vat

»

50 / KULTUR KOREA

Page 53: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Am 24. September 2015 gastierte das Tanztheater des National Gugak Center aus Seoul im Rahmen seiner Europatournee zum ersten Mal in Deutschland. Auf

dem Programm der gut besuchten Vorstellung im Berliner Tempodrom stand mit „A Day in the Palace“ ein Abend, den die Tänzerin und Choreographin Han Myeong-ok entwor-fen hat, die seit drei Jahren die Tanzabteilung des National Gugak Center leitet.

Han Myeong-ok begann im Alter von fünf Jahren, den traditionellen koreanischen Tanz zu erlernen. Ihre gesamte Ausbildung und ihr gesamtes weiteres Leben hat sie dem Ziel gewidmet, ihre Kenntnisse des traditionellen koreani-schen Tanzes zu vervollkommnen. Nach einer umfangrei-chen Ausbildung in Korea folgte sie in den 1980er Jahren ihrem Mann für einige Zeit in die USA, wo sie sich intensiv mit der zeitgenössischen US-amerikanischen Tanzszene auseinandersetzte. Sie steht seit mehr als fünfzig Jahren auf der Bühne und ist eine der bedeutendsten Tänzerinnen und Choreographinnen Koreas.

Doch Han Myeong-ok ist nicht nur eine Bewahrerin des tra-ditionellen koreanischen Tanzes, sondern nimmt auch neue Ideen in ihr Repertoire auf, um die Tradition zu bereichern und am Leben zu erhalten. So titelte die New York Times schon 1991, als Han Myeong-ok eine Art Abschiedsvorstel-

lung choreographierte, bevor sie zurück nach Korea ging: „Alte und Neue Traditionen aus Korea. Frau Han gelingt in ihrer Choreographie ,Zeremonie für die Seele‘ eine völlig unakademische Verbindung zwischen dem Neuen und dem Alten“.

Im Gegensatz zum europäischen Publikum, das sich von der Fremdheit der koreanischen Tänze und der Farben-freude der koreanischen Kostüme angezogen fühlt, hat das moderne koreanische Publikum laut Han Myeong-ok zumindest teilweise das Verständnis für die langsamen Bewegungen und subtilen Gesten des traditionellen Hof-tanzes verloren. Ein Schlüsselerlebnis in dieser Hinsicht war für Han Myeong-ok eine Vorstellung ihres Ensembles am National Gugak Center, bei der sie in der Nähe des Aus-gangs stand. Nach einer halben Stunde stand ein Mann aus dem Publikum auf, ging auf den Ausgang zu und stöhnte: „Diese Aufführung ist eine Qual.“

Daraufhin fragte sich Han Myeong-ok, wie man dem mo-dernen Publikum die traditionellen Tänze wieder verständ-lich machen könne. Es war klar, dass die Tradition des Hof-tanzes bewahrt werden musste und daher die Tänze selbst nicht verändert werden durften. Was verändert werden konnte, war ihre Präsentation. Wenn das moderne Publi-kum die Bedeutung der Tänze nicht mehr verstand, musste

A DAY IN THE PALACEDas Tanztheater des National Gugak Center im Berliner Tempodrom

Von Sebastian Claren

KUNST, MUSIK, FILMFo

tos:

Kor

eani

sche

s K

ultu

rzen

trum

KULTUR KOREA / 51

Page 54: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

diese Bedeutung auf der Bühne spielerisch erklärt werden. So kam Han Myeong-ok auf die Idee, die Tänze in eine Geschichte einzubinden, die, ähnlich wie im klassischen europäischen Ballett, in der Aufeinanderfolge der Tänze erzählt wird. Im Unterschied zum europäischen Ballett fügt sie zusätzlich kleine Szenen und Dialoge ein, die es dem Publikum leichter machen, der Handlung zu folgen.

Eine solche Choreographie ist auch „A Day in the Palace“. Die Handlung lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfas-sen: Der Kronprinz soll das Regierungsamt übernehmen. Bevor er gekrönt wird, gibt ihm sein Vater, der König, den Auftrag, inkognito, also ohne dass er als Kronprinz erkenn-bar ist, die verschiedenen Provinzen Koreas zu durchwan-dern und das Leben der einfachen Leute kennenzulernen. Die verschiedenen Stationen seiner Reise werden in ein-zelnen Tänzen dargestellt. Nach der Rückkehr des Prinzen findet ein großes Bankett statt, bei dem das eingeladene Volk eine Reihe von Tänzen präsentiert.

Diese einfache Geschichte gibt Han Myeong-ok Gelegen-heit, eine Vielzahl unterschiedlichster Tänze in einer über-greifenden Handlung zusammenzufassen. Dabei erhalten wir einen umfassenden Überblick über die Gattungen des traditionellen koreanischen Tanzes mit Hoftänzen, alten Volkstänzen und neueren Volkstänzen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts entstanden sind.

Han Myeong-ok sagt, dass der Betrachter eine gewisse Geduld mitbringen muss, um die langsame Musik und die langsamen Bewegungen der Hoftänze zu genießen, und die Schönheit der Leere, die in der ostasiatischen Kunst betont wird, zu verstehen. Da diese Tänze für den König aufgeführt wurden, empfiehlt sie, sich in den König hin-einzuversetzen und sich die Schönheiten der Natur, die in diesen Tänzen dargestellt werden, wie Blumen, Schmetter-linge und Vögel, vor dem inneren Auge vorzustellen.

Ihren Studentinnen und Studenten sagt sie, dass ihre Bewe-gungen den Raum zwischen den langsamen Schlägen der Musik voll ausfüllen müssen und dass sie nicht an den kom-menden Tanzschritt denken, sondern sich voll auf die gera-de auszuführende Bewegung konzentrieren sollen. Auf die

Frage, was für sie eine gute Tanzauf-führung ist, hat Han Myeong-ok ge-antwortet, dass Tanz mit innerlicher Aufrichtigkeit ausgeführt werden müsse. Diese Aufrichtigkeit entstehe aus der Reinheit des Herzens, aus Erfahrung, aus Anstrengung, und aus Leidenschaft.

Als Laie hatte man allerdings den Eindruck, dass die Ideale, die Han Myeong-ok im Gespräch vertritt, in einer Aufführung wie „A Day in the Palace“ im Bemühen um einfache

Verständlichkeit ein wenig in den Hintergrund treten. Es war offensichtlich, dass die Dramaturgie des gesamten Abends darauf ausgerichtet war, das Gefühl von Län-ge oder Ereignislosigkeit um jeden Preis zu vermeiden. Das führte schon bei den Volkstänzen zu einer sehr eng getakteten Abfolge von Eindrücken, die in ihrer Fülle dazu tendierten, sich gegenseitig zu schwächen. Bei den Hoftän-zen, die in einer stark eingekürzten Version aufgeführt wurden, hatte man das Gefühl, dass der ihnen zugestan-dene Zeitrahmen nicht ausreichte, um ihren zeremoniellen Charakter zu entfalten.

Auch bei den Kostümen entstand der Eindruck, dass das Bemühen um Unterhaltsamkeit wichtige Charakteristika der Tradition verwischte: Han Myeong-ok macht selbst darauf aufmerksam, dass die Hoftänze in der farbenfrohen Kleidung der Adligen aufgeführt werden, während die Volkstänze durch die weiße Kleidung der arbeitenden Be-völkerung charakterisiert sind. Dieser Gegensatz war in „A Day in the Palace“ nur schwer zu erkennen, da die Kostüme der Volkstänze kaum weniger prächtig waren als die Kostüme der Hoftänze. Die einzige Ausnahme bildete der Han Myeong-ok besonders wichtige „Salpuri Chum“, der aus der schamanistischen Geistesvertreibung entwi-ckelt ist und, so Han Myeong-ok, das Gefühl des „Han“, der Trauer und Bitterkeit, durch die Gesten und Bewegungen der Tänzerin vertreiben soll. Hier stellte das traditionelle weiße Gewand der Tänzerin einen wohltuenden Ruhepunkt inmitten der häufigen Kostümwechsel dar.

Die Anforderungen an die Ausführenden sind an einem sol-chen Abend ohne Zweifel sehr hoch, da sie eine besonders große stilistische Bandbreite zwischen meditativer Ruhe in den Hoftänzen und akrobatischen Sprungeinlagen in den Volkstänzen beherrschen müssen, was den Tänzerinnen und Tänzern des National Gugak Center ohne Ausnahme souverän gelang. Im Gegensatz zu ähnlichen Veranstal-tungen, bei denen vorproduzierte Musik eingesetzt wird, wurde der Abend von einem Hofmusik- und einem Volks-musikensemble des National Gugak Center konzentriert und einfühlsam begleitet.

52 / KULTUR KOREA

Page 55: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KUNST, MUSIK, FILM

„SO FERN... SO NAH... KOREA“Eine Keramikausstellung zum Thema „Korea“ in Münster

Von Angela Hoebink

Seit Jahren lese ich mit großem Interesse das Magazin „Kultur Korea“ der Kulturabteilung der Botschaft der Republik Korea, früher „Ullim“.

Ich bin Lehrerin und vor allem seit 30 Jahren Keramikerin, die sich der altkoreanischen Brenntechnik „RAKU“ ver-schrieben hat. In meinem Kreativzentrum ___punkt___. in Münster vermittle ich in meiner Töpferwerkstatt das Modellieren und Brennen und organisiere Ausstellungen, die unter anderem auch Korea zum Thema haben. Dieses Land habe ich mehrfach besucht. Eine große Ausstellung fand vor 10 Jahren in Berlin statt, in einer Galerie am Perga-monmuseum.Ein Artikel in der Jubiläumsausgabe des Magazins „Kultur Korea“ hat mich sehr gefreut, ja begeistert. Er berichtet unter dem Titel „Die Wiedervereinigung ist die Zukunft“ davon, wie sich 70 Fahrradfahrer vom Brandenburger Tor aus aufmachen, um nach Seoul zu fahren. Das wollte ich gern ins Bild setzen, es war eine wunderbare Inspiration für meine neue Ausstellung am 8. August 2015. Und da ich aus einer Fahrradstadt komme, gestaltete ich spontan eine Vase, auf die 70 Fahrradfahrer eingeritzt sind. Sie radeln hier vom Brandenburger Tor über 15.000 km zum Parlament in Seoul. Als Grundfarbe wählte ich Grün, eine Referenz an die klassische Seladon-Glasur, die ich nur bewundern kann, aber nie erreichen werde. Die Radler und die beiden Gebäude sind mit eingelegter gelber Engobe hervorgehoben.

Was ist Raku?Die Raku-Brenntechnik stammt aus dem 17. Jahrhundert und nicht, wie die meisten annehmen, aus Japan. Sie wur-de von dem Töpfermeister Chojiro angewandt. Er war der Sohn eines von den Japanern deportierten koreanischen Handwerkers. Von dem Teemeister Sen-no Rikyo erhielt er den Auftrag, die Schalen für seine Teezeremonien zu fertigen. Heute sind seine Schalen hochberühmt, und die Raku-Technik erfreut sich bei vielen Töpfern seit einigen Jahrzehnten großer Beliebtheit.Vom 08. Bis zum 23. August 2015 habe ich in der Orange-rie des Botanischen Gartens in Münster zusammen mit Gabriele Hungerberg die Ausstellung unter dem Titel „Ton ART. Keramik + Bilder“ gezeigt. Um sie zu erklären, muss ich etwas weiter ausholen:Reiner Kunze, ein bekannter Lyriker, musste 1977 die DDR verlassen. Seine Kurzprosa „Die wunderbaren Jahre“ und seine Gedichte waren dort unerwünscht. Genau diese kurzen Texte und Gedichte aber las ich 1990 mit einer Klasse, in der plötzlich Schüler aus dem Westen und aus der gerade zusammengebrochenen DDR saßen. Wir lasen auch Auszüge aus den Stasi-Akten, die Reiner Kunze selbst veröffentlicht hatte. Er wurde unter dem Decknamen „Lyrik“ bespitzelt.Ich modellierte aus Ton einen Kasten, um dieses Buch darin aufzubewahren. So werden sie nicht vergessen, aber man kann buchstäblich einen Deckel darauf machen.Schon lange verfolge ich die Geschichte Koreas.Als ich von der Sonnenscheinpolitik des Präsidenten Kim Dae-jung1 erfuhr, wollte ich auch dies irgendwie darstellen.

Foto

s: A

ngel

a H

oebi

nk

KULTUR KOREA / 53

Vase mit Fahrradfahrern (Ausschnitt)

Page 56: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

So gestaltete ich ein Leporello, das sich in der Form an das „Trauerbuch“ anlehnt, das früher für verstorbene Könige zum Trost angefertigt wurde.Es entstand das von mir so genannte „Sonnenschein-Buch“. Die verschiedenfarbigen Tafeln wurden mit Gedichten von Reiner Kunze versehen – grün – und mit zeitgenössischen koreanischen Gedichten – mehrfarbig.Drei dieser Platten schickte ich 2005, als Korea Gastland der Buchmesse in Frankfurt war, an den koreanischen Präsidenten. Nun liegen sie in seiner Bibliothek (KDJPLM) in Seoul.Diese Platten können in einem Keramik-Kasten aufbewahrt werden, der ein Gegenstück zum Deckname-„Lyrik“-Kasten ist.Eine weitere Arbeit befasste sich mit dem Schicksal der bei-den Länder Deutschland und Korea:die Brücke.Ich besuchte in Südkorea einen der drei wichtigsten Tem-pel, den Tongdo-sa. Auf dem Weg dorthin gibt es eine steil gerundete Brücke – ohne Geländer. Flache Stufen führen hinauf, dann wölbt sie sich hoch über ein wild fließendes Gewässer. Ich habe sie mutig überquert.Diese Brücke hat mich zu meiner Arbeit angeregt. Auch hier führen Stufen hinauf, an ihrem Scheitelpunkt bricht sie jedoch jäh ab. An der Stirnseite und an der Vorderseite ist das Diamantgebirge, der Geumgang-san, mit einem seiner imposanten Wasserfälle angedeutet. Dieses wunderschöne Gebirge liegt in Nordkorea. Die Keramik-Brücke wird von einer Wand begrenzt, hier hat sich auf schmalem Grat ein Pferd aus Bronze hochgearbeitet. Oben angekommen, kommt es nicht weiter. Es steht über dem angedeuteten Brandenburger Tor, das seine mauerfreie Öffnung zeigt.Das Tor ist nicht nur für uns Deutsche das unbestrittene Symbol einer gelungenen, gewaltlosen Wiedervereini-gung.Im Jahre 2013 wurde Reiner Kunze 80 Jahre alt.Ich schenkte ihm ebenfalls drei Platten aus dem „Sonnen-schein-Buch“ zum Geburtstag und erfuhr bei dieser Gele-genheit, dass er seit kurzem auf seinem Grundstück einen koreanischen Poesie-Pavillon stehen hat. Er erhielt ihn von seiner koreanischen Übersetzerin des Gedichtbandes „Lindennacht“, Frau Prof. Young-Ae Chon, geschenkt.Der Pavillon wurde dem Original aus dem Garten des Königspalastes in Seoul genau nachgebaut, wieder ausei-nandergenommen und nach Deutschland verschifft. Hier errichteten ihn eigens eingeflogene koreanische Zimmer-leute und Spezialdachdecker neben seinem Haus. Sitzt man darin, so blickt man über die Donau hinweg nach

Österreich.Auf einem Stein daneben steht:„Die Botschaft: Der Pavillon soll die Kraft der Poesie bezeu-gen, Kontinente miteinander zu verbinden und mahnend an das gemeinsame Schicksal Koreas und Deutschlands erinnern, an Teilung und Diktatur.“Begeistert von der Botschaft modellierte ich 70 kleine Poesie-Pavillons, um diesem wunderbaren Gedanken Ausdruck zu verleihen. Die Zahl 70 kommt von den 70 Fahrradfahrern. Und ich begann Gedichte zu sammeln, die von Flüchtlingen aus meiner Umgebung stammen. Die Botschaft gilt auch für sie.Einige der Gedichte habe ich in der neuen Schrift „Han-gulatin“ geschrieben. Sie wurde von Frau Anita Jürgeleit entwickelt, auch davon erfuhr ich durch die Jubiläumsaus-gabe des „Kultur Korea“–Magazins. Sie hat unsere lateini-sche Schrift mit dem Schriftbild und der Schreibweise des koreanischen Hangeul verbunden.In der Ausstellung hingen sie leicht und luftig an Bambus-stäben oder waren auf Bambusstäbe aufgerollt.Ein letzter Aspekt der Ausstellung: An den Wänden hingen Bilder, darunter eines, das noch einmal das Thema Brücke aufgreift. Darauf das Gedicht:

ERASMUS VON ROTTERDAMEr wusste, was brücken wissen: Sie verbindenüber wasser, was unter wasserverbunden ist Doch das eine ufer war sumpf,das andere Feuer Von Reiner Kunze (durchgehende Kleinschreibung von ihm)

Dies und noch viel mehr war in meiner Ausstellung zu sehen.

1 Von dem damaligen südkoreanischen Präsidenten Kim Dae-jung initiierte Annährungspolitik an Nordkorea, für die er 2000 den Friedensnobelpreis erhielt.

Angela Hoebink, Keramikerinwww.haiku-in-raku.de

Foto

: pri

vat

»54 / KULTUR KOREA

Kasten für das „Sonnenschein-Buch“ Kasten „Deckname ,Lyrik‘ “

Page 57: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KUNST, MUSIK, FILM

NEUE MUSIK KOREA++ KOREANISCHE IDENTITÄT IM SPANNUNGSFELD

WESTLICHER AVANTGARDEEine Konzertreihe im Koreanischen Kulturzentrum

Von Matthias R. Entreß

Neue Musik aus Korea – dieser Begriff allein löst eine Lawine von Fragen und Diskussionen aus, denn, auf die Musikgeschichte als Ganzes bezogen, ist er voller

Überraschungen und Widersprüche.

„Neue Musik“ als Begriff kam in den deutschsprachi-gen Ländern auf mit dem Sprung in die Atonalität, dem Verzicht auf die Dur- und Molltonarten in der Musik Anfang des 20. Jahrhunderts. Dieser „Bruch“ war aber nur die natürliche Folge einer in der Spätromantik stetig sich steigernden Expressivität: von Wagner zu Bruckner zu Mahler zu Arnold Schönberg, welcher schließlich um 1921 die Ordnung der Zwölftonmethode in das Brodeln der Dissonanzen brachte. Die westliche Kunstmusik ist von jeher eine über zahllose Generationen von Komponisten verlaufende Entwicklung. Erneuerung, Innovation und deutliche Zäsuren bilden die Geschichte der westlichen Musik. Die koreanische Kunstmusik hingegen lebte durch Rekonstruktion und Anpassung; in der Hofmusik finden sich überall Spuren aus dem alten China, und die Musik der Volkstraditionen wuchs aus dem instrumentalen Lärm und den Klagegesängen der schamanistischen Rituale. Westliche Musik ist traditionell die Musik von individuellen

Künstlern, die alte koreanische Musik, etwas grob gesagt, vom überzeitlichen Kollektiv, das sich um ein musikali-sches Ideal bemühte, weshalb auch die Anzahl der Werke sehr gering ist.

Die westliche Klassik, eingeführt zwar von der japanischen Besatzungsmacht (1910-45), wurde in Korea die Quelle ganz neuer Freuden. Wer schon erlebt hat, wie sehr die Koreaner das Schöne, das Hübsche verehren, erkennt darin ein anderes Kunstverständnis und kann die so „unangenehme“ Neue Musik dort nicht einordnen. Aber überraschenderweise hat die Begegnung mit Neuer Musik des Westens das Gefühl für die große koreanische Tradi-tion neu geweckt. Nun, über 50 Jahre nach ihrer ersten Begegnung, fragen wir, was aus der Schnittmenge dieser beiden Musikkulturen – die Langsamkeit, die schmerzhafte Rauheit der Klänge und die philosophischen Konzepte – geworden ist.

Die von dem jungen Dirigenten und Komponisten Yun Hyun-jin kuratierte Konzertreihe „Neue Musik Korea++“ (das Doppelplus steht für die Einbeziehung der Klassik wie auch Neuer Musik anderer asiatischer Länder) ließ

KULTUR KOREA / 55

Foto

: Kor

eani

sche

s K

ultu

rzen

trum

Page 58: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

nun ein überaus lebendiges Bild eines eigenen durchaus heterogenen „Länderstils“ erstehen. Aber halt! Neue Musik ist, zumindest heute, nach dem Zusammenbruch des Serialismus (erweiterte 12-Tonmethode), nicht „eine“ Mu-sik, also etwa ein Epochen-Stil, sondern jeder Komponist erfindet sich seine Musik neu. Es fließen seine persönlichen und kulturellen Erfahrungen ein, und es spiegeln sich die Kämpfe mit großen Vorbildern. Also wie und unter welchen Bedingungen erfinden sich die koreanischen Komponisten ihre Musik neu?

Cho Eun-hwa, derzeit Gastprofessorin an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin, wo sie auch studiert hat, ist mit ihrer impulsiven und mitreißenden Musik schon seit längerem international eine bedeutsame Stimme in der zeitgenössischen Musik. Im ersten Konzert der Reihe „Neue Musik Korea++“ am 1. Oktober waren ihr Klaviersolo „Et in arcadia ego“ und das Ensemblestück „protos chronos“ zu hören. Als Inspirationsquelle dienten ihr in beiden Werken Gegenstände der klassischen westlichen Geistesgeschich-te, ein mystisches Bild, bzw. eine antike griechische Rhyth-mustheorie. Sie lässt musikalische Gestalten nach dem Plan verborgener Gedanken tanzen. Ich fragte Frau Cho, ob ihre Musik denn koreanisch sei? – Sie sei Koreanerin, antwortete sie, also sei ihre Musik doch auch koreanisch. Als in den sechziger Jahren die initiale Begegnung Koreas mit der europäischen Avantgarde stattfand, erschien der Schritt zur koreanischen Tradition nur klein, und Neue Mu-sik zeichnet sich ja durch totale Offenheit gegenüber allen Denkbarkeiten des Klangs aus. Die typisch koreanischen Stilmittel und Denkweisen integrierten sich spielend leicht und wirkten keineswegs als Exotismen, sondern entfalte-ten einen für den westlichen Hörer gänzlich neuen Aus-druck. Da die koreanischen Komponisten der Konzertreihe fast alle in Deutschland ausgebildet wurden (nur Yim Jongwoo hat in Holland und Frankreich studiert) und unter den liberalen Bedingungen des deutschen Musiklebens arbeiten, richtete sich das Interesse auf die Frage, wie der Einzelne mit seiner doppelten kulturellen Erfahrung jeweils umgeht. Wie sich Neue Musik in Korea selbst entwickelt, wurde offen gelassen. Denn ich weiß von Erfahrungen von nach Korea zurückgekehrten Komponisten, die mit ihren hier erlernten Fertigkeiten dort auf komplettes Unverständnis gestoßen waren und ganz andere Wege des musikalischen Ausdrucks entwickelten.

Die international erfolgreichste koreanische Komponistin ist die in Berlin lebende Unsuk Chin, Trägerin des kore-anischen Nationalpreises, die in ihrem Werk zahlreiche Kulturen und Epochen umarmt, Renaissance, indonesische Musik, China..., aber ihre spielerische aus 2003 stammende „Etude Nr.5“ für Klavier, wegen der Steifheit der Töne das unkoreanischeste Instrument schlechthin, war eindeutig eine luzide Hommage an die genialischen und rhythmisch vertrackten Klavieretüden ihres Lehrers György Ligeti,

dessen unersättliches Interesse am Neuen und Fremden in so wunderbarer Weise auf Chin übergegangen ist. In diesen Tagen wird die Komponistin und ehemalige Bremer Kompositionsprofessorin Younghi Pagh-Paan 70. Ihre beiden relativ frühen Werke im ersten Konzert, dem Solo-Cello-Stück „Ag-Ga I,“ einem expressiven Monolog, bei dem kein Ton bleibt, was er war - fast jeder wird mit einem Glissando, einem Ausweichen, mitunter auch mit dem weiten Vibrato der koreanischen Volkstradition versetzt. In „Man Nam I für Klarinette und Streichtrio“ von 1977 steht die hyperaktive Unruhe, die Frau Pagh-Paan unverkennbar von ihrem damaligen Lehrer Brian Ferneyhough (dem Frontmann der New Complexity) „geerbt“ hat, in einem interessanten Konflikt mit den mäßigenden Tendenzen der asiatischen Philosophie. Die Unterwürfigkeit des koreanischen Schülers zu seinem Meister wird in diesem faszinierenden Stück unbewusst, so will es mir scheinen, zwiespältig diskutiert.

Die 1985 geborene Jeong Miseon brachte ins zweite Konzert am 5. November, das auch Komponisten aus China und Japan vorstellte, zwei Werke sehr unterschiedlichen Charakters ein. Ihr Geigenduo „Tik Tok“ bezog sich auf ein koreanisches Kinderspiel und arbeitete den Rhythmus eines Uhrwerks in einer Folge interessanter Charaktervaria-tionen unter Verwendung teils bruitistischer, teils virtuoser Spieltechniken (Bartok-pizzicato, Glissandi, Flageoletts u.a.) ab, während das Ensemblestück „Tumbleweed“ aus Energiestößen von kurzen Klangexplosionen bestand. Das eigens für dieses Repertoire gegründete multinationale ProjektEnsemble zeigte hier, wie durchweg in beiden Kon-zerten, rückhaltlose Hingabe und technische Bravour.

„Wir können“, erklärte Jeong Miseon mir in der Pause, „unser traditionelles Gefühl in Neuer Musik nicht deut-lich zeigen, sondern müssen es in ihr verdecken, es in sie hinein verschieben.“ Das war klug gesprochen; es schließt den Exotismus aus, der sich mit traditionellen Instrumen-ten hineindrängen würde, und es distanziert sich auch von der ersten koreanischen Avantgarde der 60er Jahre. Wenn man aus diesem Treffen dreier koreanischer Komponisten-generationen und ihrer allesamt eher frühen Werke eine Tendenz ersehen möchte, so scheint es die Emanzipation vom Nationalgefühl zu sein. Die jüngsten unter ihnen, die um die 30 – das gilt auch für die Chinesin Cong Wei und die Japanerin Eiko Tsukamoto – stehen nun da mit großem Talent und einer großen Zukunft: aber die Idole der „Neuen Musik“ sitzen ihnen noch im Nacken, und die Krisen der Selbstfindung und der Durchbruch zu ihrem eignen, wahr-lich Neuen liegen noch vor ihnen.

56 / KULTUR KOREA

Page 59: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

KUNST, MUSIK, FILM

„DERZEIT WIRD DAS SPANNENDSTE KINO IN KOREA GEDREHT“

Eindrücke vom Busan International Film Festival 2015

Von Fabian Kretschmer, Seoul

An manchen Tagen tanzt Jung-won in knappem Minirock und mit aufgesetztem Lächeln zu über-schwänglicher Popmusik, um vor neu eröffneten

Restaurantfilialen um Laufkundschaft zu werben. Die Pas-santen würdigen sie dann meist keines Blickes, sie wirken ebenso kalt wie die Minustemperaturen um sie herum. In ihrem zweiten Nebenjob richtet die junge Südkoreanerin Dekorationen für Hochzeitsfeiern her, und auch dort muss sie sich die größte Mühe geben, um ebenso fröhlich zu wirken wie die anderen Leute im Raum. Erst unter der Bettdecke, wenn der Feierabend-Soju ihre wahren Gefühle zum Vorschein gebracht hat, chattet Jung-won heimlich auf dem Smartphone mit ihrem digitalen Seelenverwand-ten: „Wie wollen wir es machen? Und wo?” lautet eine ihrer Nachrichten. Der Zuschauer denkt da noch, dass sich gera-de zwei Liebende zum Rendezvous verabreden. Bis die ver-störende Antwort auf dem Display erscheint: „Hauptsache, es tut nicht weh. Ich kann Kohlebriquetts besorgen. Oder

kennst du eine geeignete Brücke?”.

Das Busan International Film Festival (BIFF) (01.-10. Okt. 2015), das wichtigste in ganz Ostasien, bietet viele solch schwer zu verdauenden Geschichten wie die des Regis-seurs Cho Chang-ho in seinem Film „Another Way“. Die meisten Plots sind auf den Schlachtfeldern der südkorea-nischen Gesellschaft angesiedelt: in den Bürotürmen der neoliberalen Arbeitswelt, an den Wohnzimmertischen der erstummten Familien, und auch die grassierende Selbst-mordepidemie schleicht sich in fast jede Handlung hinein.

Benommen von der Melancholie schreite ich aus dem Kinosaal - und stehe schon bald an der sonnigen Promena-de von Busans berühmtem Strand Haeundae, die mit ihren Cocktailparties am Abend ein bisschen an die Croisette in Cannes erinnert. Zwischen Screenings voller Weltschmerz und Konsumkritik nehme ich ein Wellenbad am Strand,

Filmstill: „Stop“ (Regie Kim Ki-duk)

Foto

s Fi

lmst

ills:

© B

usan

Film

Fes

tival

KULTUR KOREA / 57

Page 60: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

LITERATUR UND SPRACHE

atme die salzige Meeresluft ein und schlendere entlang der unzähligen Grillrestaurants, an deren Tischen junge Pärchen frisch gefangenen Tintenfisch brutzeln lassen. Während dekadenter Sektempfänge am Abend bin ich in Gedanken bereits bei meinem morgigen Filmprogramm, das von früh bis spät mit Dramen über Einsamkeit, Ent-fremdung und Konsumkritik vollgespickt ist. Eben jener Widerspruch macht auch den Reiz des Filmfestivals Busan aus.

Im Pressezentrum eilen die Filmkritiker zwischen den Vorstellungen hastig zu ihren Laptops, um noch schnell ein paar Einschätzungen über das gerade Gesehene in die Welt zu schicken. Nur in den Raucher- und Kaffeepausen haben sie manchmal Zeit für ein kurzes Gespräch, doch in diesem Jahr scheinen sie dann merklich öfter zu meckern, als es ohnehin in ihrer Natur liegt: Um einen eher schwa-chen Jahrgang würde es sich handeln, bislang fehle unter den koreanischen Filmen noch ein klarer Favorit.

Dabei staunten noch um die Jahrtausendwende Cineasten aus allen Erdteilen, was sich da in diesem fernen, vorher international wenig beachteten Kinoland auftut: Schnell war von einer koreanischen Welle die Rede, Regisseure von Martin Scorsese bis Quentin Tarantino lobten ihre Kollegen Bong Joon-ho und Hong Sang-soo in den höchsten Tönen. Schon bald war sich auch das Feuilleton einig: Derzeit wird das spannendste Kino in Korea gedreht.

Für diese Bewunderung ist auch der deutsche Wieland

Speck mit verantwortlich, der in Busan nun für seine jah-relange Förderung koreanischer Filme einen Sonderpreis erhielt. „Gerade um die Jahrtausendwende waren die Filme ja extrem gewalttätig“, sagt der Kurator der Panorama-Rei-he der Berlinale, und dabei zieht er das Wort „extrem“ derart in die Länge, dass man vorm inneren Auge förmlich sehen kann, wie sich der Protagonist aus Park Chan-wooks Rache-Epos „Old Boy“ mit einem Schlaghammer durch die Schädel seiner Peiniger wütet: „Die Ästhetiken waren brüllend. Da musste was raus aus dem Gefängnis.“

Und was hatte sich in Südkorea nicht alles angestaut: Aus bitterer Armut explodierte das Land am Han-Fluss inner-halb weniger Jahrzehnte zur zwölftgrößten Volkswirtschaft der Welt – und bot auch den Regisseuren genug Material, sich an den rasanten gesellschaftlichen Veränderungen abzuarbeiten. In jeder Einstellung merkte man den Filmen die Dringlichkeit ihrer Geschichten an.

Darum bleibt es auch weiterhin spannend, dabei zuzuse-hen, wie Südkorea den gesellschaftlichen Teppich im Kino lüftet. In diesem Jahr war dies vor allem bei „The Battle of Gwangju“ der Fall, der das Massaker an den Anhängern der Demokratiebewegung mit Brecht‘schem Verfrem-dungseffekt aufgreift. Im letzten Jahr sorgte hingegen eine Dokumentation über das Sinken der „Sewol“ für einen handfesten Skandal. Der künstlerisch eher durchwachse-ne Film prangerte die politischen Verstrickungen in das Fährunglück an. Dieses Jahr hat der Staat seine Filmförde-rung für Busan nun um die Hälfte gekürzt.

Filmstill: „Another Way“ von Regisseur Cho Chang-ho

58 / KULTUR KOREA

Page 61: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Auch Südkoreas Enfant terrible wurde dieses Jahr nach einem spektakulären Kassenflop von seinen Geldgebern fallen gelassen: Dass Kim Ki-duks neuestes Werk „Stop“ für nur wenige Tausend Euro in zehn Tagen gedreht wurde, sieht man dem Film natürlich an: Die Aufnahmen sind mit wackliger Handkamera auf den Straßen von Tokio gedreht – und, wie die Blicke der unfreiwilligen Statisten hin und wieder verraten, wohl meist ohne Drehgenehmigung. Ein junges Pärchen zieht in dem Ökothriller während der Nachwehen von Fukushima einen Jungen auf, der auf-grund erhöhter Radioaktivität an einer unnatürlichen Hör-empfindlichkeit leidet. Nach 80 langen Minuten schluss-folgert der Film ein simples „Atomkraft: Nein danke“, und auch sonst schreckt „Stop“ nicht vor direkten politischen Botschaften zurück. Vom Schnitt bis zur Beleuchtung hat Kim Ki-duk den Film als Ein-Mann-Crew gestemmt - und allein dieser Kraftakt dürfte wohl Tausenden Jungfilmern rund um den Globus eine Blaupause für ihr Debüt liefern.

Nach der Vorführung schreitet Kim Ki-duk ganz unange-kündigt auf die Bühne des Kinosaals, die Arme wie immer verschränkt, die grauen Haarsträhnen zum Zopf gebun-den. Mit erstaunlicher Offenheit sagt er über sein Werk: „Natürlich bin ich mit dem Resultat nicht zufrieden, doch der künstlerische Prozess an sich hat mir große Freude be-reitet“. An Korea habe sich Kim bereits abgearbeitet, seinen nächsten Film werde er in China drehen, und überhaupt sei er der Meinung, dass seine künstlerische Schaffenskraft bereits am Verblühen sei. Bei anderen Regisseuren blieben solche Aussagen wohl nichts als Koketterie, Kim Ki-duk je-doch sprach aufrichtig und stoisch wie ein buddhistischer

Mönch.

Am Abend sitze ich schließlich im Jjimjjilbang, dem koreanischen Badehaus, und notiere meine Gedanken bei Instant-Nudeln und eingelegten Eiern. Bevor ich mich auf dem Steinboden zum Schlafen lege, schreite ich noch einmal auf die Dachterasse, von der sich ein beeindrucken-der Panoramablick über der südkoreanischen Küstenstadt auftut. In der Ferne ist die Gwangan-Brücke zu sehen, die majestätisch über dem Meer aufleuchtet. Unweigerlich muss ich an Jung-won denken, die verzweifelte Protago-nistin aus „Another Way“, die sich im Internet-Chat zum anonymen Selbstmord verabredet: Sie würde die Brücke sicher mit ganz anderen Augen sehen

Fabian Kretschmer, 1986 in Berlin geboren, studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaften in Wien, Shanghai und Seoul. Er arbeitet seit 2010 als freier Journalist für Zeitungen, Magazine, Onlinemedien und das Radio. Seit September 2014 ist er Korrespondent in Seoul, unter anderem für die taz, Wiener Zeitung und den Standard. Im August 2015 folgte die erste Buchver-öffentlichung im rowohlt Verlag: „So etwas wie Glück“.

Foto

: Hei

nric

h H

oltg

reve

Filmstill: „The Battle of Gwangju“ von Lee Ji-sang

»

KULTUR KOREA / 59

Page 62: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

LITERATUR

BUCHLESER UNTER ARTENSCHUTZÜber einen Besuch der Internationalen Buchmesse Seoul

Von Fabian Kretschmer, Seoul

„Gutenberg? Der kam doch erst 78 Jahre später“, ruft Kim Gi-il, ein älterer Herr in Karohemd und weit geschnittener Stoffhose, während sich an seinem Stand auf der Seoul International Book Fair (SIBF) (07.-11.Okt. 2015) allmählich eine Menschentraube ansammelt. Wie zum Beweis deutet der Südkoreaner mit seinem rechten Zeigefinger auf eine Druckplatte vor sich: Unscheinbar sieht sie aus, nicht größer als ein handelsüblicher Laptop. Auf einem solchem Gerät sei das weltweit erste, mit beweglichen Metalllettern gedruckte Buch entstanden, und zwar nur zwei Autostun-den entfernt, im Heungdeok-Tempel in Cheongju.

„Jikji“ heißt das buddhistische Gelehrtenwerk aus dem Jah-re 1377, und jedem interessierten Besucher der Internati-onalen Buchmesse Seoul druckt Herr Kim nun im Original-verfahren eine Seite an Ort und Stelle: Hauchdünnes Papier legt er dafür auf die mit Druckerschwärze bepinselten Lettern, beschwert es kräftig mit Holzkeilen und wartet ab, bis sich die schwarze Schrift auf der anderen Seite abzeichnet. „Damals war die koreanische Technologie des Buchdrucks der europäischen weit überlegen“, führt Kim aus. Das Papier sei leichter gewesen, die Druckerplatten stabiler und weitaus zuverlässiger. „Leider jedoch wurde das Verfahren später nicht mehr weiterentwickelt“.

Ausgerechnet in Südkorea also nahm der Buchdruck seinen Ausgang, dem Land der meisten Smartphones, schnellsten Internetverbindungen und der wohl techni-kaffinsten Bevölkerung der Welt. Altbacken, so möchte in Südkorea wirklich niemand bezeichnet werden. Sichtbar

wird dieser Fortschrittsglauben auch für die Besucher der Seouler Buchmesse, die auf ihrem Anfahrtsweg die gläsernen Bürotürme des Stadtteils Gangnam passieren, hinter denen sich in kleinen Seitenstraßen die boomenden Startups angesiedelt haben, und auch der erste Google Campus in ganz Asien ist nur einen Steinwurf entfernt. Im Schimmer der abertausenden Neonlichter wirken gedruck-te Bücher ein bisschen wie ein Relikt vergangener Tage – doch weit gefehlt.

„In meiner Klasse lesen die meisten auch in der Freizeit – und zwar wie ich, am liebsten richtige Bücher“, sagt die 11-jährige Hyo-ri, die gemeinsam mit ihrer Freundin Na-kyeong über eine Stunde mit der U-Bahn gefahren ist, um sich an diesem Samstagvormittag die Seouler Buchmesse anzuschauen. Zuletzt habe auf ihrem Nachttisch übrigens „A Mango-Shaped Space“ gelegen, ein Jugendbuch der amerikanischen Autorin Wendy Mass – „natürlich auf Eng-lisch“, wie Hyo-ri stolz anmerkt, bevor sie mit ihrer Freun-din in freudiger Erwartung in Richtung Ausstellungshalle schlendert.

Dort, zwischen den Buchständen aus Aserbaidschan, Saudi-Arabien und Deutschland, sticht merklich ins Auge: Auffallend jung ist das Publikum und vorwiegend weib-lich. Ein Blick auf die Statistiken belegt: Wenn es um das Leseverständnis geht, das Einordnen von komplexen Textinhalten und deren Reflexion, dann tauchen südkore-anische Schüler im OECD-Vergleich stets in den vordersten Rängen auf.

60 / KULTUR KOREA

Foto

(1)

: Par

k Sh

i-hye

ong

In Seouls U-Bahnen sind Bücher lesende Fahrgäste eher die Ausnahme (1) Seoul International Book Fair 2015, Messehalle im COEX (2)

Page 63: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Und dennoch liest der durchschnitt-liche Koreaner gerade einmal etwas über drei Stunden pro Woche in Büchern; Deutsche erzielen in dieser Kategorie fast einen doppelt so hohen Wert. Anders ausgedrückt: Auch wenn Seoul über 160 öffentliche Bibliothe-ken verfügt und die Lese-Cafés zu den schönsten der Stadt zählen, bleiben die Bücherstapel in den Auslagen oft nur dekorative Zierde. Meist kleben die Blicke der Leute dann doch eher auf dem Smartphone. Am extrems-ten ist dies in den U-Bahnwagons zu beobachten, in denen Zeitungs- oder

Buchleser fast schon unter Artenschutz stehen.

Noch vor 15 Jahren gab es in Südkorea über fünftausend Buchläden, heute sind es kaum mehr 1500. Gleichzeitig hat sich der Umfang des E-Book-Marktes innerhalb von nur drei Jahren laut Angaben des Korea Information Society Development Institute mehr als verdoppelt: Wurden 2010 gerade einmal 204 Millionen Euro umgesetzt, stieg die Zahl bis 2013 auf über 428 Millionen Euro an. Für die Folgejahre liegen zwar noch keine genauen Daten vor, doch erwar-tet wird, dass der Trend weiter anhält. Trotz des rasanten Wachstums ist der E-Book-Markt im internationalen Ver-gleich dennoch relativ klein. So macht der Verkauf digitaler Publikationen in Südkorea gerade einmal zwei Prozent des gesamten Buchmarktes aus. Auf dem eher konservativen deutschen Markt sind es immerhin 4,3 Prozent, in den USA hingegen über 15.

Die Seouler Buchmesse, die dieser Tage bereits zum 20. Mal stattfand, soll die Faszination für die jahrhunderteal-te Kulturtechnologie wieder ins Zentrum rücken – auch auf innovativen Wegen: So rief etwa die Stadtbibliothek im Rathaus zu einer Leseperformance in der U-Bahn auf. Deren Teilnehmer fuhren eine halbe Runde mit der Seouler Ringbahn, trugen dabei die Bücher in der einen, das Handy in der anderen Hand. Denn natürlich wurde auch in Echt-zeit von der Veranstaltung getwittert, Hashtags inklusive.Das europäische Ausland hat Südkorea, diesen Delfin zwischen den zwei Walen China und Japan, lange auf eine Handvoll gesellschaftlicher Eckdaten reduziert: den Konflikt mit dem Norden etwa, den aberwitzig rasanten Wirtschaftsaufschwung am Han-Fluss und die fleißigen Samsung-Manager. Auch heute steht die koreanische Literatur in der internationalen Wahrnehmung noch immer ein wenig im Schatten der beliebten Fernsehserien, des K-Pop und der Autorenfilmer. Umso stärker jedoch werden interessierte Leser von dieser faszinierenden Welt in ihren Bann gezogen, die sich in fast 50.000 neuen Publikationen pro Jahr manifestiert.

Natürlich bieten die rasanten gesellschaftlichen Entwick-lungen Südkoreas einen fruchtbaren Nährboden für die Li-teratur. Nicht zuletzt sind es doch die Schriftsteller, die sich eben den Geschichten jener widmen, die im Mainstream oft keinen Platz finden: den Schwachen der Gesellschaft, den Unterdrückten und Außenseitern. Oft schwingt dieser ganz spezielle Weltschmerz in den Romanen mit, „Han“ ge-nannt, dessen Bedeutung nur Koreaner so recht verstehen.Ko Un weiß genau um dessen Bedeutung. Mit Stroh-hut und schwarzer Rahmenbrille hat er sich zur Lesung eingefunden, und da es an diesem Sonntagmittag um das diesjährige Ehrenland Italien gehen soll, philosophiert er voller Inbrunst über Dantes „Inferno“, schwärmt von seinem liebsten Spaghetti-Restaurant in Venedig und lächelt nach der Veranstaltung auf Dutzenden Selfies mit dem vorwie-gend studentischen Publikum.

Dabei weist seine Biografie eben jene traumatischen Schwankungen auf, von denen die gesamte Nation in ihrer jüngeren Vergangenheit nachhaltig erschüttert wurde: In der Nachkriegszeit des zerbombten Landes bereiste der heute 82-Jährige als buddhistischer Bettelmönch das Land, später drohte er auf der Insel Jeju der Alkoholsucht zu verfallen und wurde später für seine Aktivitäten in der Demokratiebewegung mehrmals inhaftiert. Doch vom Schreiben konnte ihn nichts und niemand abbringen. Heute gilt Ko Un als einer der profiliertesten Literaten des Landes, der in den vergangenen Jahren immer wieder für den Literaturnobelpreis gehandelt wurde.

2015 ehrte die Seouler Buchmesse schließlich die Kin-derbuchautorin Hwang Sun-mi als Schriftstellerin des Jahres, die mit „Das Huhn, das vom Fliegen träumte“ auch in Deutschland Bekanntheit erlangte. Das Schreiben war jedoch auch Hwang keinesfalls in die Wiege gelegt: Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, blieb ihr die Oberschu-le aufgrund der für ihre Eltern nicht aufzubringenden Stu-diengebühren verwehrt. Nur dank eines verständnisvollen Lehrers, der ihr den Schlüssel zum Klassenzimmer überließ, konnte sie Nacht für Nacht die Schulbücher wälzen – und büffelte so bis zum Studium. Mit dem Schreiben fing die heute 52-Jährige jedoch erst an, als sie ihre zwei Söhne bekam – die Inspiration für ihre Bücher. Und was für eine Muse: Über eine Million Exemplare hat Hwang weltweit von ihren Werken bereits verkauft.

Vor dem Hintergrund dieser starken globalen Resonanz ist es umso bedauerlicher, dass die Seoul International Book Fair ihrem Namen nur insofern gerecht wird, als er sich auf die unterschiedliche Herkunft der ausstellenden Verlage bezieht. Tatsächlich bleibt es den Besuchern ohne Korea-nischkenntnisse weitgehend verwehrt, wirklich tief in das Programm einzutauchen. Bei den meisten Lesungen gibt es keine Übersetzungen, und auch das Gros der Veranstal-tungen wird lediglich in koreanischer Sprache abgehalten.

KULTUR KOREA / 61

Seoul International Book Fair 2015, Messehalle im COEX (2)

Foto

(2)

: Fab

ian

Kre

tsch

mer

Page 64: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

LITERATUR

Stille der Blüten und Winternacht 0 Uhr 5 MinutenDer koreanische Dichter Hwang Tong-gyu auf Lesereise in Europa

Von Yun-Chu Cho„Neben einem, der inständig auf etwas wartet,redet man nicht über Finsternis oder Licht!“(Aus: Winternacht 0 Uhr 5 Minuten)

Kürzlich erschienen zwei Gedichtbände 꽃의 고요 (Stille der Blüten) und 겨울밤 0시 5분 (Winternacht 0 Uhr 5 Minuten) des koreanischen Dichters Hwang Tong-gyu in deutscher Übersetzung. In diesem Herbst besuchte der Dichter Europa, um seine Werke persönlich dem Publikum in Deutschland vorzustellen. Am Abend des 16. Oktobers 2015 fanden sich mehr als 50 Gäste zu seiner Lesung im Koreanischen Kulturzentrum in Berlin ein.

Hwang Tong-gyu, emeritierter Anglistik-Professor der Seoul National University (SNU), ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Lyriker und Literaturkritiker Südkoreas. Er ist das älteste von vier Kindern des renommierten Schriftstellers Hwang Sun-won, dessen Kurzgeschichte Der Regenschauer in Südkorea ebenfalls ein fester Bestandteil des literarischen Kanons ist. Hwang Tong-gyu wurde am 9. April 1938 in Suckchon, Pyongan-namdo (Region im heutigen Nordkorea) geboren und wuchs in der Nähe von Pjöngjang auf. 1946 zogen seine Eltern kurz nach dem Ende der Kolonialzeit mit den Kindern aus dem Norden „hinunter“ in den Süden nach Seoul. Wenige Zeit später brach der Koreakrieg (1950-53) aus. Hwang gehört somit der Generation an, die sowohl die japanische Kolonial-herrschaft (1910-45) als auch den Koreakrieg als Zeitzeuge miterlebte. Seit rund sechs Jahrzehnten publiziert er Gedichte über die Liebe, die Natur und das Leben.

Zu Hwangs bekanntesten Gedichtbänden zählt Windbe-stattung, veröffentlicht 1984. Allerdings wurde schon 1956 in einer Schülerzeitung der Gedichtzyklus Fröhliche Briefe des jungen Hwang abgedruckt. Sein literarisches Debüt legte er im Jahre 1958 in der bekannten Literaturzeitschrift Hyundae Munhak (Zeitgenössische Literatur) mit seinen Gedichten Si-wol (Oktober), Dongbaek-namu (Kameli-enstrauch), und Jeulgeo-un pyeonji (Fröhliche Briefe) vor, die er aufgrund einer Empfehlung des renommierten Dichters Seo Jeong-ju veröffentlichte. Teilweise kritisierte man in seinen Gedichten „den Ton der Bourgeoisie“ aufgrund seiner Kontakte, die wegen seines berühmten Vaters als

privilegiert angesehen wurden. Seine etwa 800 Gedichte, die 15 Gedichtbände umfassen, wurden trotz solcher Kritik mehrfach ausgezeichnet und sicherten ihm einen festen Platz im dichterischen Kanon Koreas: 1968 beispielsweise gewann er den Hyundae-Munhak Newcomer Preis und 1980 den Literaturpreis Koreas. Für Winternacht 0 Uhr 5 Minuten erhielt Hwang 2009 zudem den Kim Dal-jin Literaturpreis.

Die Mehrheit seiner Gedichte beschreibt alltägliche Begebenheiten, ausgeschmückte eigene Erfahrungen. Die Fröhlichen Briefe aus seiner Anfangszeit beispielsweise sind von einer einseitigen, unglücklichen Liebe inspiriert. Sie gelten als Werke, die den Anfang der Moderne in der koreanischen Dichtung eingeläutet haben, da sie sich von der Tradition des wehmütigen gasiri (Bedeutung in etwa: „Gehen Sie?“) der Liebeslyrik des Joseon-Reiches (1392-1910) abgrenzen. An Stelle von Abstraktion beginnt Hwang, die konkrete Realität literarisch zu erkunden. Sein prägnanter Sprachstil kehrt die traditionelle Verslehre um und bemüht sich darum, eine realistischere Darstel-lungsform und einen simpleren Ton zu finden.

Hwang wird in Korea gefeiert als ein Autor, der aus den Inspirationen des Alltags wunderschöne Gedichte zaubert, der die Wahrheiten des Lebens besingt. Unlängst wurden seine Werke als solche beschrieben, die „die kleinsten Veränderungen der Natur, die leichtesten Gemütsbewe-gungen“ auffangen.

Foto

: Kor

eani

sche

s K

ultu

rzen

trum

62 / KULTUR KOREA

Page 65: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Im Koreanischen Kulturzentrum in Berlin präsentierte Hwang die vier Gedichte In einem Maß, kaum zu ertragen, Ich wollte mich tief verbeugen, Bleistiftzeichnung, und Das Orakel von Delphi aus seinem Werk Stille der Blüten, dem dreizehnten Gedichtband auf Koreanisch aus dem Jahr 2006. Es folgten drei Gedichte aus Hwangs fünfzehntem Band Winternacht 0 Uhr 5 Minuten aus dem Jahr 2009, wel-che exemplarisch für seine Auseinandersetzung mit dem alltäglichen Leben stehen: Daß man das Leben durchlebt, Winternacht 0 Uhr 5 Minuten und Fremde Einsamkeit. Der deutsche Schauspieler Michael Hase trug die deutschen Übersetzungen vor.

Nachdem das Publikum den Gedichten gebannt gelauscht hatte, gab es großen Applaus und viele Fragen, die zeigten, wie sehr sich die Gäste für Hwangs Lyrik interessierten.

Ob er immer schon Schriftsteller habe werden wollen, lautete eine Frage aus dem Publikum. Eigentlich habe er eine andere Karriere geplant, antwortete Hwang. Zu seiner Schulzeit glich Seoul aufgrund des vorangegangenen Krieges einem riesigen Schlachtfeld, und da er deswegen keinerlei „visuelle Freuden“ mehr entdecken konnte, kon-zentrierte Hwang sich nunmehr auf die Musik. Nach der Schule besuchte er täglich ein Musikcafé, um klassische Musik zu hören. Er wünschte sich, später ein Komponist zu werden. Leider war er musikalisch recht wenig begabt, erzählte er und brachte das Publikum zum Lachen. Da er von Kindesbeinen an durch seinen Vater mit Literatur aufgewachsen war, beschloss er, sich nunmehr ebenfalls

damit zu beschäftigen.

In dem weiteren Gespräch mit den Gästen offenbarte Hwang, dass er die Werke von Charles Baudelaire, Art-hur Rimbaud, Georg Trakl, und William Butler Yeats sehr schätze.

Zu seinem Gesamtwerk befragt, merkte er an, dass er an diesem Abend nur sieben seiner über 800 Gedichte vor-tragen werde, und dass er all seine Werke nicht in ein paar Worten zusammenfassen könne, da er sich auch als Dichter weiterentwickelt habe. Seine frühen Werke widmeten sich beispielsweise der Demokratisierung Koreas. Generell aus-gedrückt seien seine Arbeiten inhaltlich jedoch ständige Auseinandersetzungen mit dem eigenen Leben, und heute auch mit dem eigenen Altern. Gedichte würden mit Wor-ten geschaffen, die aus dem Leben an sich kämen.

Zu seinem Gedichtband Stille der Blüten, in dem er bei-spielsweise im Gedicht Flammen der Hölle das Christentum (in Form der Jesusfigur) und den Buddhismus (verkörpert durch Buddha) mittels eines Dialogs aufeinanderprallen lässt, erklärte er, dass beide Religionen zu seinem Leben gehören. Für ihn repräsentierten Jesus und Buddha Werte, die einander glichen oder ähnelten, jedoch auch manch-mal im Gegensatz zueinander stünden und in seinem Inneren einen immerwährenden Wechsel zwischen „Ko-operation und Ringen“ darstellten. Diesen inneren Kampf beschrieb er bisher in etwa 30 Gedichten. Diese Erklärung zeigte noch einmal mehr, wie der Poet mit den inneren und äußeren Konflikten in seinen Werken umgeht.

Das Gespräch in Berlin hinterließ das Bild eines ständig über sich selbst und über die Welt nachdenkenden, immer-zu und alles beobachtenden Literaten.

Im Oktober 2015 sind seine beiden Bände Stille der Blüten aus dem Jahr 2006 und Winternacht 0 Uhr 5 Minuten aus dem Jahr 2009 in deutscher Übersetzung und jeweils mit Abdruck der koreanischen Originale im OSTASIEN Verlag erschienen.

Yun-Chu Cho B.A., B.A., M.A., arbeitet freiberuflich als Dolmetscherin und interkulturelle Unternehmensberate-rin (koricon.de). Sie lehrte und promoviert an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Aufsätze, Texte und Rezensionen finden sich in Jahrbüchern und Sammel-bänden, wissenschaftlichen Zeitschriften und online (academia.edu). Sie ist Gründerin des Kultur-Magazinsstylistberlin.de.

Foto

: pri

vat

Schauspieler Michael Hase, Dichter Hwang Tong-gyu (re.)

»

KULTUR KOREA / 63

Page 66: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

LITERATUR

Der Stuttgarter Literaturverlag Edition Delta verlegt ausschließlich ausländi-sche Literatur in deutscher Übersetzung, darunter auch aus eher ungewöhnli-chen Sprachen wie Maya-K’iche‘, eine Maya-Sprache, und Sephardisch. Wie kam es zu dieser Ausrichtung?

Im Bereich der Belletristik erscheinen in Deutschland ebenso viele Über-setzungen aus anderen Sprachen wie deutschsprachige Originalbücher. Wir selbst sind Übersetzer, vor allem aus dem Spanischen, und haben folglich den Schwerpunkt auf übersetzte Literatur gelegt. In der Edition Delta erscheinen mehrere Buchreihen, darunter lateinamerikanische Lyrik, zu der natürlich auch die moderne indigene Poesie gehört, etwa aus dem Maya-K’iche‘ von Humberto Ak’abal, oder eben die sephardischen Gedichte mit dem Titel „dibaxu“ (,darunter‘) des großen argentinischen Autors Juan Gelman (1930-2014). Zudem veröf-fentlichen wir katalanische Poesie, lusophone Lyrik, d.h. portugiesisch-sprachige AutorInnen aus mehreren Kontinenten wie Lateinamerika (Bra-silien), Afrika (Angola und São Tomé e Príncipe) und Europa (Portugal), sowie spanische Poesie und neuerdings auch koreanische Literatur.

Seit Herbst dieses Jahres liegt Ihr Ver-lagslesekatalog „Koreanische Literatur“ vor, der in kurzen Auszügen fünf Lyrik- und fünf Prosawerke der koreanischen Literatur vorstellt, die in der Edition Delta veröffentlicht wurden. Welches der Werke würden Sie den Lesern besonders

empfehlen?

Anlässlich der ersten zehn koreanischen Bü-cher in der Edition Delta haben wir diese neue Literaturreihe auszugs-weise vorgestellt und sowohl als gedrucktes Lesebuch als auch online herausgebracht. Dabei wird ein freier Einblick in jedes einzelne Buch ge-geben, teilweise sogar zweisprachig, also mit dem koreanischen Original-text, zum Beispiel bei Kim Sun-Woo (* 1970) aus ihrem Lyrikband „Unter Pfirsichblüten eingeschlafen“, bei Shin Dal Ja (* 1943) aus ihrer Werkauswahl „Morgendämmerung“ oder bei Park Hijin (* 1931) aus seiner Gedicht-sammlung „Himmelsnetz“. So liegt die Auswahl bei den LeserInnen selbst, die sich hier einlesen können, um herauszufinden, welche koreanische Autorin, welcher koreanische Autor ihnen darunter besonders gefällt. Bei der Lyrik wäre das Buch „Augen aus Tau“ von Mah Chonggi (* 1939) zu nennen, der von dem Philosophen und versierten Rezensenten Ludger Lütkehaus in der Neuen Zürcher Zei-tung mit dem Lyriker Gottfried Benn (1886-1956) verglichen wurde: weni-ger „Kälte“ und „Nihilismus“ als jener, dafür mehr „Naturnähe des Taoismus, der buddhistischen Empathie“. Oder der neokonfuzianische Denker Toegye (1501-1570), eine Berühmtheit in Korea, der hier als Dichter vorgestellt wird. Bei den Prosaschriftstellern sind

sicherlich zwei Werke zu empfehlen: die Romane „Schwertgesang“ von Kim Hoon (* 1948) und „Mondestrunken“ von Jung Young Moon (* 1965), zu dem ein Essaywettbewerb stattfand.

Ihre koreanische Literaturreihe entstand in Kooperation mit dem Koreanischen Institut für Literaturübersetzungen (KLTI) in Seoul. Seit wann besteht diese Kooperation, und wie ist die Auswahl der übersetzten Werke erfolgt?

Seit etwa zehn Jahren arbeiten wir mit dem Koreanischen Institut für Literaturübersetzungen (KLTI) vielfäl-tig zusammen. Was die koreanische Buchreihe der Edition Delta seit 2007 betrifft, so erhielten wir erst Empfeh-lungen mit Textauszügen oder aber auch vollständig übersetzte Manu-skripte, aus denen wir dann auswäh-len konnten, welche wir zur Veröffent-lichung annehmen würden. Meist sind die koreanischen AutorInnen und ihre Themen hier unbekannt, weshalb die Vermittlungsarbeit im Vordergrund steht, wie wenn es sich um ein Debüt handelt.

„AUCH IN FREMDEN LEBENSWELTEN GIBT ES INNIG VERTRAUTES“Interview mit Tobias Burghardt, Verleger der Stuttgarter Edition Delta, die kürzlich ihren Verlagslesekatalog „Koreanische Literatur“ vorstellte.

Foto

s: D

elta

-Arc

hiv,

Stut

tgar

t

64 / KULTUR KOREA

Page 67: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Gute tradierte Literatur steht und fällt mit der Übersetzung. Wie erfolgte die Auswahl der Übersetzer?

Auf die Auswahl der Übersetzer hatten wir bisher keinen Einfluss, diese ge-schah vor Ort, während natürlich bei der Übersetzung das Verlagslektorat eine entscheidende Rolle spielt, das für die Rezeption wesentlich ist, um die authentische Stimme des Autors in der anderen Sprache noch zu hören. Deshalb bevorzugen wir gerade bei der Lyrik zweisprachige Ausgaben, die ja die beiden Ufer und die Überfahrt sinnfällig für uns Leser veranschauli-chen sowie all die Mühen der Über-setzer in den konkreten Rahmen zwischen zwei Kulturen stellen.

In Zusammenhang mit der koreanischen Literatur sprechen Sie davon, dass „die Peripherien der Weltliteraturen die kreati-ven Innovationszentren bilden“. Inwiefern sehen Sie Korea und seine Literatur als „kreatives Innovationszentrum“?

Neue Literaturen entstehen ständig weltweit. Der übersetzerische Ansatz der Edition Delta gilt dieser transkul-turellen Vermittlung der koreanischen Poesie und Prosa, die etliche interes-sante, herausragende und lesenswerte Werke hervorgebracht haben. Inno-vativ und kreativ sind zum Beispiel formale oder auch inhaltliche Ansätze wie etwa der Roman „Mondestrunken“ des jungen Schriftstellers Jung Young Moon, „ein seltener Versuch der Refle-xion östlichen Denkens mit den Mit-teln experimenteller Prosa“, worauf uns der Übersetzer Philipp Haas aufmerk-sam macht. Oder auch die Naturphilo-sophie Pung ryu do (,Weg des Pneu-ma‘), in der alles Leben vom Fließen des Pneuma (Chi) im All hergeleitet wird und die drei großen Strömungen des Konfuzianismus, Buddhismus und Taoismus zusammenfließen, wie bei Park Hijin und Toegye in vorzüglichen Hanshi-Vierzeilern oder einzeiligen Vier-Zeichen-Sprüchen (Sa ja song o) zu entdecken ist. Park Hijin schreibt poetologisch in seinem Gedicht „In ei-nem Vierzeiler“ (사행시 안에, Sahaeng-si an-e) über den koreanischen Vierzeiler: „Der Vierzeiler verbindet Erde, Wasser und Mond, / Wirklichkeit & Traum, See-

le & Körper, Heiliges & Weltliches./ Drei Elemente im Vierzeiler – Himmel, Erde und Mensch –“ (사행시 안에 지·수·화·풍이, 현실과 꿈이 있소. / 영혼과 육체, 聖·俗성·속이 꼬리를 물고 도오. / 사행시 안에 천·지·인 三才삼재의 조화가 있소.). Park Hijin ist schon ein bemerkenswerter Lyriker. Der Auswahlband von Toegye trägt den Titel „Als der Hahn im Dorf am Fluss krähte, hing der Mond noch im Dachgesims“, den der Schriftsteller Matthias Ulrich in seiner Buchbespre-chung als „einen der schönsten Titel für einen Gedichtband“ bezeichnet hat: „Poetisch und einprägsam.“

Korea wird seit einigen Jahren in der deutschen Öffentlichkeit immer stärker wahrgenommen: Koreanische Marken-produkte, K-Pop, die koreanische Küche und Taekwondo erobern sich zunehmend einen Platz in unserem Alltag. Denken Sie, dass dieses Phänomen auch das hiesige Interesse an der koreanischen Literatur beeinflusst?

Sicherlich sind solche Trends hinwei-send auf die Annäherungen zwischen diesen Kulturen, die sich auch im literarischen Austausch widerspiegeln, dank zunehmender Übersetzungen und Veröffentlichungen, die hier auf mehr Weltoffenheit, Sympathie und Einfühlung treffen.

Bislang hat die koreanische Literatur in Deutschland eher ein Nischendasein ge-fristet. Welche Impulse gehen gerade von der koreanischen Literatur aus, die sie für deutsche Leser lesenswert machen?

Die allgemeinen Kenntnisse der chi-nesischen und japanischen Weltlitera-turen, die hier bislang eher verbreitet und geschätzt sind, werden endlich erweitert durch die koreanische Weltli-teratur und vertiefen den neugierigen Blick in den äußersten Fernen Osten. Die Edition Delta legt darauf auch ihr besonderes Augenmerk. Vielleicht spielen zudem noch gewisse Paralle-len der historischen Erfahrungen einer Teilung des Landes (hier: Ost-West, dort: Nord-Süd) eine wiedererken-nende Rolle, die koreanische AutorIn-nen und ihre Werke interessant und lesenswert machen. Und der oben genannte poetische Vergleich der bei-

den Dichter-Ärzte Gottfried Benn und Mah Chonggi ist doch ein treffliches Beispiel interkultureller Betrachtung.

Inwiefern kann der Blick auf eine fremde Lebenswelt eine Bereicherung für unser eigenes Leben sein?

Auch im Vertrauten gibt es Fremdes, wie es in fremden Lebenswelten innig Vertrautes gibt.

Das Interview führte Gesine Stoyke, Redaktion „Kultur Korea“

Link zum Verlagslesekatalog: http://www.edition-delta.de/koreanische-lite-ratur/edition-delta-koreanische-literatur/Onlineversion:http://issuu.com/yaez/docs/edition_delta_ko-reanische_literatur

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlich-te mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie und zuletzt »September-erde & August-Alphabet« (2010). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Portugal, Serbien, Schweden und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt, der Herausgeberin und Illustratorin der ko-reanischen Literaturreihe in der Edition Delta, überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Her-ausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Werkausgabe des argentinischen Dichters und Denkers Roberto Juarroz.

»

KULTUR KOREA / 65

Page 68: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

REISEN UND KULINARIK

S I M P LY K O R E A N F O O D ! Auftaktveranstaltung zum gemeinsamen Kochvergnügen

Von Dr. Stefanie GroteRedaktion „Kultur Korea“

Zur Begrüßung gab es „Makgeolli“. Von Ferne erinnert der in Korea so beliebte koreanische Reiswein eher an ein Joghurtgetränk oder eine trübe Reissuppe als

an Wein. Wer aber zum Auftakt der vom Koreanischen Kul-turzentrum organisierten Kochkurs-Veranstaltung am 29. und 30. September in das Küchenstudio SieMatic am Leip-ziger Platz gekommen war, wollte die koreanische Küche schließlich kennenlernen. Entsprechend wurde mögliches Befremden gegenüber dem milchigen Getränk in bauchi-gen Weingläsern überwunden und einfach probiert.

Da die Anmeldeliste der Interessenten zu lang war für die begrenzten Räumlichkeiten im Küchenstudio, hatte schließlich das Los über die Teilnahme von jeweils 15 Perso-nen entscheiden müssen. „Ich koche leidenschaftlich gerne“, sagt ein Herr mittle-ren Alters, „und die koreanische Küche kenne ich bislang kaum.“ Diese Lücke möchte er schließen und begibt sich eifrig an die Zubereitung der Gerichte Bulgogi (Feuer-fleisch) und Bibimbap (Reisgericht mit Gemüse), die an

diesem und am nächsten Tag auf dem Kochkurs-Speiseplan stehen. Koreanische Küche sei im Vergleich zu der Vielzahl chinesischer und vietnamesischer Restaurants in Berlin immer noch unterrepräsentiert, bedauert er. Aber glück-licherweise gebe es da ja Bewegung. „Mich interessieren auch die Unterschiede zu den anderen Küchen und die Frage, was das spezifisch Koreanische eigentlich ist, wenn es das überhaupt gibt.“

Dann kommt schon die nächste Etappe der Zubereitung. Die koreanische Köchin, Frau Oh Hyon-hwa, demonstriert mit großem Geschick, wie Lauchzwiebeln erst geschlitzt und dann zerkleinert werden. Sie schneidet Rindfleisch, häckselt Möhren, wäscht Bambussprossen, zermalmt Se-samkörner, mischt Sojasoße, Knoblauch- und Pfefferpulver, erklärt, beantwortet Fragen, schmeckt ab und motiviert die Teilnehmer, es ihr gleichzutun. Bei Bibimbap „isst das Auge mit“, da sollen rote, grüne, orange, beige und gelbe Gemüsesorten harmonisch arrangiert werden, deshalb will das Schneiden von Gemüse gelernt sein.

66 / KULTUR KOREA

Kochkursteilnehmer/innen, Simply Korean Food

Page 69: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Foto

s: K

orea

nisc

hes

Kul

turz

entr

um

An zwei Küchenzeilen wird geübt, und wer glaubte, Ko-chen sei Frauensache, konnte sich angesichts der zahlreich geschürzten, schälenden und schnippelnden Männer erfreulicherweise vom Gegenteil überzeugen lassen. Langsam verbreitet sich ein angenehm süßlich-würziger Duft, der Appetit wird größer und die Stimmung heiter. Es fällt nicht schwer, sich hier wohlzufühlen, was nicht zuletzt auch dem Ambiente des Küchenstudios zu verdanken ist – warmes Licht, ansprechendes Design, klare Linien, modernstes Interieur, geschmackvolle Akzente, räumliche Weite, Transparenz.

Die Motive für die Teilnahme sind vielfältig und reichen von der Neugier auf Unbekanntes und der Vertiefung von bereits Vertrautem, über die Annäherung an eine gesunde Küche mit viel Fisch und Algen und Sprossen und Feigen-blättern, bis hin zum Anknüpfen an Liebgewonnenes, wie eine Teilnehmerin erzählt, die durch ihre vormalige Beziehung zu einem Koreaner mit der koreanischen Küche nicht nur in Berührung, sondern wortwörtlich auf den Ge-

schmack gekommen ist. Auf diese Gaumenfreude möchte sie nicht mehr verzichten: „Selbst ist die Frau!“ - Und der Mann.

KULTUR KOREA / 67

Page 70: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

REISEN UND KULINARIK

68 / KULTUR KOREA

Page 71: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Foto

: Rai

ner

Rip

pe

ByeonsanbandoKoreas einziger Nationalpark, der Berge und Meer bietet

Von Rainer Rippe

KULTUR KOREA / 69

Page 72: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Der Saemangeum Seawall trennt seit 2010 eine Fläche so groß wie Köln vom Gelben Meer ab. Die Trockenlegung eines Teils des bis dahin zweitgröß-

ten Wattenmeers der Welt soll Platz für eine neue Stadt namens Ariul schaffen, die einmal das koreanische Dubai werden könnte. Am südlichen Ende dieses fast 34 Kilome-ter langen Deichs liegt auf einer Halbinsel der Byeonsan-bando-Nationalpark. Die bis zu 500 Meter hohen Berge in seinem Zentrum laden ebenso zu Wanderungen ein wie seine Küste.

Vor ein paar Jahren hatte ich schon einmal ein Wochenen-de dort verbracht, um im südlichen Teil des Gebirges den Naesosa-Tempel zu besuchen. Sein Hauptgebäude wurde 1633 nur aus Holz errichtet – ohne einen einzigen Nagel – und ist einer der Nationalschätze Südkoreas. Der Tempel zählt zwar zu den kleineren des Landes, aber während meines Besuchs blühten gerade Kirschbäume und Magno-lien, und die ersten Lotuslaternen hingen schon, um das Tempelgelände für Buddhas Geburtstag zu schmücken. Es war herrliches Frühlingswetter; Jung und Alt waren auf den Beinen, um die wunderbare Atmosphäre zu genießen.

Damals war ich in der Pension BS Windflower an der Süd-küste der Halbinsel untergekommen. Mein gemütliches Zimmer bot nicht nur holzverkleidete Wände, sondern sogar eine Badewanne aus Holz und einen Blick direkt aufs Meer. Schon lange wollte ich gerne noch einmal den Byeonsanbando-Nationalpark besuchen, um seine Strände kennenzulernen. Daher sagte ich sofort zu, als die Freizeitgruppe «Climbing in Korea» (CIK) Mitte September eine Wanderung entlang dieser Küste anbot.

Der koreanische Herbst ist deutlich wärmer als der deut-sche, und als wir am späten Vormittag etwas südlich des Saemangeum Seawalls den Bus verließen, bedauerte ich bereits, dass ich eine lange Hose angezogen hatte. Doch vorerst war zum Umziehen keine Zeit, denn der Leiter, Herr Kim, drängte die fast 50 Wanderer zum Aufbruch.

Der 66 Kilometer lange, Byeonsan Masilgil genannte Küs-tenweg ist in acht Abschnitte gegliedert, von denen wir an diesem Tag die ersten drei bewältigen wollten. Für die insgesamt 18 Kilometer hatten wir viereinhalb Stunden eingeplant, Pausen nicht mitgerechnet.

Zunächst gingen wir durch weites Watt, dann wurde der Untergrund etwas felsig. Jen, eine Kanadierin, die schon im Bus neben mir gesessen hatte, bückte sich immer wie-der, um Meerglas aufzuheben – kleine, vom Wasser rund geschliffene Glasstücke. Nach etwa einer Stunde legten wir am beinahe menschenleeren Byeonsan-Badestrand eine Mittagspause ein, die ich nutzte, um eine kurze Hose anzuziehen. Von einem nahegelegenen Kiosk holten wir uns Eis und kühle Getränke, setzten uns in den Schatten der Kiefern, die den makellos weißen Strand säumten, und packten unsere Lunchpakete aus.

Einen Steinwurf von uns entfernt hatte sich ein Auto im Sand festgefahren. Einige Gruppenmitglieder halfen beim Anschieben. Zwar gelang es ihnen, den Wagen kurz zu befreien, doch fuhr er sich gleich wieder fest. Als unsere Gruppe weiterging, gehörte ich zu den Nachzüglern. Die Frau des Fahrers hatte rasch ein paar große Flaschen Energy-Drinks gekauft und drückte sie uns für die Helfer in die Hand, die schon vorausgegangen waren. Wir bedank-ten uns und steckten die Flaschen in unsere Rucksäcke. Ihr Mann rief derweil offenbar telefonisch eine Abschlep-philfe.

Hinter der nächsten Biegung hatten sich einige Dutzend Möwen im flachen Wasser niedergelassen. Kurz darauf wurde es zu felsig, um am Ufer weiterzugehen, und wir mussten eine Steigung erklimmen. Glücklicherweise hatte jemand ein Seil mitgenommen, an dem wir uns hoch-ziehen konnten. Oben angekommen, erwartete uns ein Waldweg, der schon bald zu einer Straße wurde und durch eine Siedlung führte.

Von dort aus gelangten wir zum Gosapo-Badestrand. Nur ein paar Fischer in einem Motorboot waren auf dem Meer zu sehen und einige Camper am Rande des Strands, die vor ihren Zelten saßen. Wie gerne wäre ich dort schwim-men gegangen, denn das Wandern in der Mittagssonne hatte mich ins Schwitzen gebracht, aber dafür sollte erst am Ziel Zeit sein. So zog ich stattdessen mit einigen ande-ren zusammen die Schuhe aus und ging von da an barfuss durchs Wasser, das sanft rauschend und angenehm warm unsere Füße umspülte.

Am Horizont waren mehrere kleine Inseln zu sehen und vor uns ein dicht bewaldeter Fels, der bis ans Meer ragte. Der spektakulärste Anblick: Unzählige Möwen, so weit das Auge reichte, bevölkerten das Ufer. Wenn einige von uns näher kamen, erhob sich eine Schar und flog kreischend von dannen.

Um den Fels zu umrunden, mussten wir dem Strand den Rücken zukehren. Wir gingen an ausgebreiteten Netzen und aufgebockten Motorbooten vorbei, bis wir wieder zu einem Waldweg kamen, der bergauf führte. Die Aussicht auf den Strand, das Meer und die Inseln in der Ferne war atemberaubend. Trotz der Schönheit der Natur wurden ei-nigen von uns langsam die Beine schwer. Als wir wieder zu einer Straße gelangten, versuchte die neben mir laufende Christina, ein Auto zu stoppen, aber es fuhr vorbei. Vijay, einer der Organisatoren, konnte sie motivieren, weiterzu-gehen. Der Weg führte etwa eine Viertelstunde durch den Wald, bevor er erneut auf die Straße traf.

Dieses Mal hatte Christina Glück: Zwei Koreaner hatten mit ihrem Auto am Straßenrand angehalten, um Fotos von der Landschaft zu machen. Sie fragte die beiden, ob sie uns nach Gyeokpo mitnehmen könnten, wo der Bus auf uns warten sollte. Ehe ich mich versah, saß ich mit Christina

70 / KULTUR KOREA

Page 73: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

auf dem Rücksitz, und wir fuhren mit den beiden Männern die grandiose Küste entlang. Wenig später wurden wir am Busbahnhof abgesetzt. Dort zeigte uns jemand den Weg zum Meer, der an zahlreichen Fischrestaurants vorbei-führte. Am Strand trafen wir unsere Gruppe wieder. Einige Wanderer kamen gerade zurück aus dem Wasser, und ich nutzte die durch die Autofahrt gewonnene Zeit, um auch noch rasch eine Runde zu schwimmen.

Eigentlich hätten wir gleich danach zurückfahren wollen, doch einige von uns hatten sich noch in einem der Restaurants eine Pfanne mit Meeresfrüchten bestellt, die größer war als gedacht. Das Verspeisen der Riesenportion würde länger dauern, das war klar. So kam es, dass auch ich noch gemütlich auf einer Terrasse saß, eine leckere Haemul Kalguksu (Nudelsuppe mit Meeresfrüchten) aß und der Sonne dabei zusah, wie sie langsam dem Horizont entgegensank.

Kurz überlegte ich, den Bus ohne mich fahren zu lassen, mich in der BS Windflower einzuquartieren und die Nacht in Byeonsanbando zu verbringen. Ich fuhr dann doch mit den anderen heim.

Aber ich werde wiederkommen, und dann werde ich mehr Zeit mitbringen, in Ruhe Vögel beobachten, am Strand liegen und schwimmen – und wieder meine Wanderschu-he einpacken für einen Abstecher in die Berge.

Weitere Informationen:Der Byeonsanbando-Nationalpark (변산반도국림공원) liegt in der Provinz Nord-Jeolla (전라북도). Nehmen Sie am Seoul Central City Bus Terminal (U-Bhf. Express Bus Terminal; Linie 3, 7, 9) einen Bus zum Buan Intercity Bus Terminal (Fahrtzeit: ca. 3 Stunden). Von dort nehmen Sie den Expressbus nach Byeonsan (Ausgangspunkt unserer Wanderung; Fahrtzeit: 30 Minuten) oder Gyeokpo (Endstation der Wanderung). Die Busse verkehren von 7.15 bis 20.40 Uhr und fahren alle 10 Minuten.

Wanderungen mit «Climbing in Korea» (CIK) finden das ganze Jahr über regelmäßig statt. Man kann sie buchen unter https://www.facebook.com/ClimbingInKorea und unter http://www.meetup.com/climbinginkorea/. Die Mitgliedschaft bei Meetup.com ist kostenlos. Die Busfahrt mit CIK hat 28.000 Won gekostet (ca. 21,45 Euro).Die Pension BS Windflower (변산바람꽃) findet man hier: http://bswindflower.co.kr/, Karte: https://goo.gl/xlvsZ2, Anschrift: 전라북도 부안군 진사면 운호리 343, Tel. +82-10-9584-1559.Der Naesosa-Tempel bietet auch ein Tempelstay-Programm an. Mehr dazu unter: http://naesosa.org/, Karte: https://goo.gl/u7G12C, Anschrift: 전라북도 부안군 진사면 내소사로 243, Tel. +82-63-583-7281 bzw. -3035.

Rainer Rippe lebt – mit einjähriger Unterbrechung – seit 2008 in Korea. Er ist seit Dezember 2012 Mitarbeiter der Fried-rich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

Foto

s: R

aine

r R

ippe

Tempel Naesosa

»

KULTUR KOREA / 71

Foto

: Ing

a So

mm

er

Nationalpark Byeonsanbando

Page 74: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

REISEN UND KULINARIK

DIE KOREANISCHE KÜCHE - PASSEND ZU JEDEM ANLASS Koreanische Gerichte zu Feiertagen und anderen besonderen Gelegenheiten

Von Hyein Kim

NEUJAHR – Reiskuchensuppe (떡국/ Tteokguk)Das Neujahrsfest nach dem Mondkalender ist einer unserer beiden höchsten Fei-ertage (der andere ist das Erntedankfest Chuseok). Familien versammeln sich, ko-chen und essen zusammen, wie an Weihnachten in Deutschland. Weil die meisten Familien eine Zeremonie (zum Gedenken an die Ahnen) begehen, werden dafür immer spezielle Speisen zubereitet, und nach der Feier frühstücken alle zusam-men an einem riesigen Tisch. Ebenso geht es beim Chuseok-Fest zu. Das wirklich besondere Essen zum Neujahrsfest ist die Reiskuchensuppe: Wir Koreaner sagen, dass man ein Jahr älter wird, wenn man dieses Gericht isst, da man nach der kore-anischen Altersberechnung am Neujahrstag (nicht am Geburtstag) ein Jahr älter wird. Es gibt lokale Unterschiede bei der Zubereitung der Suppe: In einigen Regio-nen unterscheidet sich die Form der Reiskuchen von der flachen, ovalen Standard-form. Im Norden (des ungeteilten Koreas) isst man eigentlich keine Reiskuchen-,

sondern Mandu-Suppe (Mandu sind gedämpfte Teigtaschen mit Fleisch darin, ähnlich wie Maultaschen), in Mittelkorea isst man in der Suppe Reiskuchen und Mandu zusammen, und im Süden der Halbinsel nur Reiskuchen. Was mir immer Spaß macht: mit den Verwandten zusammen auf dem Boden zu sitzen, Mandu zuzubereiten und zu quatschen.

IN DER VOLLMONDNACHT AM 15. TAG DES ERSTEN MONATS NACH DEM MONDKALENDER (정월 대보름/ Jeongwol Daeboreum) – Reis aus fünf Getreidear-ten (오곡밥/ Ogokbap)An diesem Abend ist es Tradition, Reis mit vier weiteren Getreidearten (üblicher-weise Hirse, Kolbenhirse, rote Bohnen und Bohnen) zu essen. Dadurch soll der Wunsch nach einer guten Ernte im neuen Jahr in Erfüllung gehen. Ein weiterer Brauch heißt Bureom – man knackt spät in der Nacht Hülsenfrüchte mit einer harten Schale (z.B. Walnüsse, Pinienkerne, Kastanien) und kaut auf ihnen, um mögliche Beulen und Geschwülste, die im neuen Jahr auftreten könnten, im Voraus zu „zerstören“. Die erste Nuss muss man wegwerfen, und ab der zweiten darf man sie essen.

BOK-NAL(복날) – Samgyetang (삼계탕)Bok-Nal (Cho-Bok, Jung-Bok, Mal-Bok) sind die drei heißesten Tage des Sommers. Zehn Tage nach der Sommersonnenwende kommt Cho-Bok, zehn Tage danach Jung-Bok, und weitere zehn Tage danach Mal-Bok. Um den Energieverlust durch die Hitze auszugleichen, isst man Samgyetang, eine Suppe (koreanisch Tang), die Ginseng (Sam), Hühnerfleisch (Gye), Klebreis, koreanische Datteln und andere Zutaten enthält.

In Korea sind viele Gerichte mit einer besonderen Bedeutung verbunden. Das fand ich als Koreanerin normal, bis ich andere Kulturen besser kennengelernt habe. - Und überrascht war, dass es zwar in anderen Ländern einige Traditionen gibt, aber nicht so viele wie bei uns. Vor allem eine gute deutsche Freundin von mir hat sich sehr für diese Bräuche interessiert, und so kam ich auf die Idee, über einige Esstraditionen aus Korea zu berichten.

Foto

s: Tt

eokg

uk (V

olks

arch

iv)

http

://ar

chive

.nfm

.go.

kr/S

earc

h/su

b_se

arch

.jsp?

quer

y=00

0731

64&

cont

ents

=se

arch

_end

.jsp,

Ogo

kbap

(Vol

ksar

chiv

) htt

p://

arch

ive.

nfm

.go.

kr/S

earc

h/su

b_se

arch

.jsp

?que

ry=0

0070

722&

cont

ents

=sea

rch_

end.

jsp, S

amgy

etan

g (V

olks

mus

eum

) htt

p://

efw

.nfm

.go.

kr/s

ervi

ce/b

ook/

phot

o/10

9/13

8172

/

72 / KULTUR KOREA

Page 75: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

CHUSEOK (추석) – Songpyeon (송편)Was das Erntedankfest Chuseok vom Neujahrsfest unterscheidet, außer der Bedeutung des Tages an sich, sind die Songpyeon, mit Kiefernadeln gedämpfter Reiskuchen mit Sesamkernen (oder Bohnen oder Kastanien) und Zucker bzw. Honig darin. Ebenso wie die Mandu sind auch die Songpyeon sehr aufwendig herzustellen: Alle müssen sich stundenlang damit beschäftigen. Daher kaufen heute viele Menschen, die für solche Dinge keine Zeit mehr haben, Songpyeon einfach im Supermarkt. Ich persönlich finde das zwar traurig, aber ich kann die Leute auch verstehen. Außerdem bin ich fast die Einzige in der Familie, die immer noch Songpyeon zu Hause zubereiten will. Deswegen muss ich zu jedem Chuseok-Fest meine Oma darum bitten.

DONG-JI (동지, Wintersonnenwende) – Rote Bohnensuppe (팥죽/ Patjuk)Die Wintersonnenwende ist der Tag, an dem die Sonne am kürzesten scheint. Die Vorfahren der Koreaner glaubten, dass an diesem Tag die negative Energie extrem hoch sei - und dass daher sehr viele böse Geister anwesend seien. Um sie abzuwehren und Glück für das nächste Jahr zu wünschen, wurde Rote Boh-nensuppe gegessen und auch an die Außenwände von Häusern geworfen, denn rote Bohnen stellen symbolisch eine positive Energie dar. Man isst dieses Gericht normalerweise mit kleinen Stückchen Reiskuchen, Sae-Al-shim. Sae-Al bedeutet „Ei des Vogels“, und die Reiskuchen heißen so, da sie in der Größe von Vogeleiern zubereitet werden.

SonstigesAM GEBURTSTAGSMORGEN – Seetang-Suppe (미역국/ Miyeokguk)Am frühen Morgen des Geburtstags duftet das Haus beim Aufstehen nach Seetang. Die Mutter kocht an jedem Geburtstag Seetang-Suppe mit Rindfleisch. Auch nach der Geburt eines Kindes spielt die Suppe eine besondere Rolle: Ei-gentlich nehmen die Wöchnerinnen ihre wesentliche Nahrung, die die Erholung von der Entbindung unterstützt, über diese Suppe auf.

VOR EINER WICHTIGEN PRÜFUNG – Bonbons aus Getreide und Malz (엿/ Yeot) oder Reiskuchen (찹쌀떡/ Chapssaltteok), aber keine See-tang-Suppe! Auf Koreanisch hat der Ausdruck ,(eine Prüfung) bestehen’ die gleiche Bedeutung wie ‚kleben’. Aus diesem Grund schenkt man klebrige Süßigkeiten wie Yeot und Reiskuchen, um Glück zu wünschen - damit der andere wie die Süßigkeiten an der Prüfung ,klebt’ (= sie besteht) Vor allem aber sollte man keine Seetang-Suppe essen. Der Seetang ist nämlich aalglatt, sodass man nicht kleben, sondern ausrutschen (= durchfallen) wird.

STRAFENTLASSENE - Tofu Wenn jemand aus dem Gefängnis kommt, schenken ihm Familie oder Freunde Tofu. Es gibt zwei Theorien dafür. Die erste Theorie: In der Zeit der japanischen Besetzung waren die Gefängnisinsassen ziemlich schlecht ernährt. Nach ihrer Entlassung schlangen sie allerdings Fleisch und fettiges Essen sehr schnell hinunter, und infolgedessen sind viele der Freigelassenen an Verdauungsstörungen gestorben. Um solche Tragödien zu verhindern, wurde öfter das gut bekömmliche Tofu ge-schenkt. Die zweite Theorie: Die Farbe Weiß steht für den Wunsch nach einem Neubeginn. Die anderen hofften, dass die Person niemals wieder in die dunkle Vergangenheit zurückkehren werde.

Hyein Kim lebt in Seoul und studiert Psychologie und BWL an der Seoul National University (Ba-chelor). Von 2014-2015 nahm sie an einem Austauschprogramm an der Freien Universität Berlin teil. Sie liebt das Reisen und interes-siert sich für andere Kulturen.Fo

tos:

Song

pyeo

n ©

Moo

n D

uk-g

wan

, Rot

e Bo

hnen

supp

e ht

tp://

blog

.nav

er.c

om/s

sana

i906

8/22

0217

1653

74

Seet

ang-

Supp

e ht

tp://

prog

ram

.life

styl

er.c

o.kr

/oliv

e/to

daym

enu/

5/bo

ard/

view

?b_s

eq=4

2

»

KULTUR KOREA / 73

Foto

: pri

vat

Page 76: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

TAEKWON-DO IM FOKUS

DIE ANFÄNGE DES TAEKWON-DO1 IN EUROPA

Von Shin-Gyu Kang

VOR 50 JAHREN BEGANN DIE ERFOLGSSTORY DES TAEKWON-DO IN DEUTSCHLAND... .

Als im Dezember 1964 der damalige Präsident der Repub-lik Korea Park Chung-Hee mit seiner Frau und 18 Regie-rungsmitgliedern für einen einwöchigen Staatsbesuch in Deutschland eintraf, wurden sie am Münchener Flughafen freundlich von einer Menschenmenge begrüßt, die Mini-aturausgaben der koreanischen Nationalflagge schwenk-te. Da Präsident Park nicht mit solch einer Begrüßung rechnete – Korea war zu der Zeit noch sehr unbekannt und wirtschaftlich unbedeutend - war er sehr überrascht und informierte sich, woher diese Menschen Korea kennen. Er erhielt die Information, dass einige von ihnen mit der koreanischen Kultur durch die Ausübung von Taekwon-Do in Berührung gekommen seien.

US-Soldaten in Deutschland, die während ihrer Stationie-rung in Korea mit koreanischen Kampfkünsten in Kontakt gekommen waren, und koreanische Bergarbeiter im Ruhr-gebiet gründeten die ersten Trainingsgruppen im Land.

Präsident Park veranlasste nach diesem Erlebnis die Entsendung eines Taekwon-Do-Demonstrationsteams nach Europa zur Bekanntmachung dieser koreanischen Kampfkunst und Koreas.

General Choi Duk-Shin, der damalige südkoreanische Botschafter in Bonn, nahm Kontakt zu den führenden Kampfsportexperten in Deutschland auf, um die Tour vor-zubereiten. Zu diesen Personen gehörten: Carl Wiedmeier, Mike Anderson, George Brückner und George Klein.

Im Oktober 1965 wurde das „National Taekwon-Do Goodwillteam“ (국기 태권도 친선 사절단, 19652) offiziell im Auftrag der koreanischen Regierung nach Europa ent-sandt, um Taekwon-Do und Korea in der Welt bekannt zu machen. Die fünf Mitglieder dieses Teams waren General Choi Hong-Hi, Han Cha-Kyo, Park Jong-Soo, Kwon Jae-Hwa

und Kim Joong-Geun (siehe Abb. 1). Sie landeten am 18. Oktober 1965 in Frankfurt am Main.Das Taekwon-Do Goodwillteam bereiste auf seiner Tour 6 Länder auf 3 Kontinenten und führte das Taekwon-Do offiziell als koreanischen Nationalsport im Ausland ein. In Deutschland besuchte es 5 Städte in 8 Tagen, präsen-tierte 8 Taekwon-Do-Vorführungen und veranstaltete ein Seminar.

STATION 118. Oktober 1965 - Frankfurt am Main (Siehe Abbildung 1)Die erste offizielle Taekwon-Do-Vorführung auf dem euro-päischen Kontinent fand in Frankfurt am Main statt. Ca. 300 Zuschauer wurden registriert. Bei der 2. Vorführung waren es ca. 500 Zuschauer. Heinz Günther (Jiu Jitsu – Offenbach) und George Klein waren an den Vorbereitungen für diese Veranstal-tung beteiligt.

STATION 220. Oktober 1965 - Garmisch-Partenkirchen (Siehe Abbildung 2)Mike Anderson und Hans Vierthaler bereiteten die Vorführungen in Garmisch-Partenkirchen vor. Die 3. Vorführung des National Taekwon-Do Goodwillteams fand in einer Eishalle der Sheri-dan-Kaserne (ehemals Jägerkaserne: Ritter-von-Epp-Kaserne) mit ca. 300 Zuschauern statt.

STATION 321. Oktober 1965 – Kaufbeuren In Kaufbeuren fand die 4. Taekwon-Do-Vorführung statt. Es wa-ren ca. 800 Zuschauer anwesend, darunter viele in Kaufbeuren stationierte US-Soldaten.

STATION 422.-24. Oktober 1965 - München (siehe Abbildung 3)Drei Tage verbrachte das National Taekwon-Do Goodwillteam in München. Diese Station wurde von Carl Wiedmeier vorberei-tet. 22. Oktober 1965: Erster Tag in MünchenAm 22. Oktober wurde das Team nach Fernsehaufnahmen zum Mittagessen von dem damaligen Ministerpräsidenten von Bayern, Dr. Alfons Goppel, eingeladen. Am Abend fand dann die 5. Taekwon-Do-Vorführung der Delegation in Europa statt.23. Oktober 1965: Zweiter Tag in MünchenAm 23. Oktober wurde das erste Taekwon-Do-Seminar in

2 31

74 / KULTUR KOREA

Foto

s: ta

ekw

ondo

-eur

ope.

eu

Page 77: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Europa in der Schule von Carl Wiedmeier durchgeführt. 41 Teil-nehmer aus den verschiedensten Kampfkunstbereichen kamen zusammen, um mit den Großmeistern aus Korea zu trainieren. Dies war das erste offizielle Taekwon-Do-Seminar auf dem eu-ropäischen Kontinent. Im Rahmen dieser Veranstaltung fand in den selben Räumlichkeiten die 6. Taekwon-Do-Vorführung statt. 24. Oktober 1965: Dritter Tag in München (siehe Abbildung 3,4)Am 24. Oktober fand eine große Vorführung mit ca. 1500-2000 Zuschauern unter großer Aufmerksamkeit der Medien (Wochen-schau TV) in der MTV–Halle in der Häberlstraße 11 in München statt. Diese Veranstaltung wurde unter dem Titel „Karate Welt-elite“ angekündigt. Die damalige MTV-Basketballhalle wurde für dieses Ereignis mit Stuhlreihen und einer großen Bühne aus-gestattet. Der Botschafter der Republik Korea besuchte dieses deutsch-koreanische Freundschaftstreffen, das unter dem Motto „München grüßt Seoul“ stand.

STATION 525.-27. Oktober 1965 - Berlin Veranstaltungsort der letzten Vorführung in Deutschland war am 25. Oktober die Columbia-Halle im damaligen West-Berlin. Diese Halle wurde seinerzeit von den Alliierten als Sporthalle genutzt. Heute ist dieser Ort ein beliebter Aufführungsort für Konzerte und andere Veranstaltungen. Zu dieser Vorführung fanden sich ca. 300 Zuschauer ein, darunter 20 koreanische Studenten, die sich zu der Zeit in Berlin aufhielten. Anschließend hatte das Team noch bis zum 27. Oktober Zeit, um die Stadt zu besichtigen. Am 27. Oktober um 13 Uhr ging die Reise dann mit dem Zug weiter nach Rom.

-Diese Tour markierte den Ausgangspunkt für die immer größere internationale Popularität des Taekwon-Do, das seit 2000 als olympische Disziplin anerkannt ist.

Genau 50 Jahre später verabschiedete sich Großmeister Kwon Jae-Hwa (Mitglied des ersten National Taekwon-Do Goodwillteams von 1965) von seiner aktiven Lehrtätigkeit aus Europa mit einer dreitägigen Taekwon-Do-Tour (23.-25. Oktober 2015) durch Deutschland, in der er die Städte Frankfurt, Kempten, München, Kaufbeuren, Fürth und Berlin besuchte. Nun ist es an der heutigen Generation von Taekwon-Do-Lehrern, das Erbe dieser Mission, die vor 50 Jahren erfolgreich begann, würdig zu pflegen und Taek-won-Do weiterzuentwickeln und zu verbreiten.

Weitere Informationen unter: www.taekwondo-europe.eu www.taekwondo-deutschland.de

1 Eine weitere Schreibweise ist „Taekwondo“. In diesem Beitrag wird die Schreibweise „Taekwon-Do“ verwendet, um das „Do“ (,der Weg‘) – in anderen Worten die geistige Entwicklung -, die man durch das

Üben von Taekwon-Do erfährt – hervorzuheben. Außerdem war dies die erste offizielle Schreibweise für Taekwon-Do, die bei der Goodwilltour verwendet wurde, wie man auf dem Pokal und an der Aufschrift der Taekwon-Do-Anzüge sehen kann (siehe Abbildung 4).

4

Shin-Gyu Kang (geboren 1983) studierte Physik an der Christian Albrechts Universität in Kiel. Zusätzlich absolvierte er das 2. Staatsexamen zum gymnasialen Lehramt für die Fächer Physik und Mathematik in Hamburg. 1988 begann er, Taekwon-Do zu lernen. Er ist direkter Schüler von Großmeister Kwon Jae-Hwa. Shin-Gyu Kang ist Gründer und Leiter der Traditionellen Taekwon-Do-Gruppen im Hochschulsport der Universitäten Kiel und Hamburg. Zurzeit arbeitet er als Lehrer an einem Gymnasium in Hamburg und betreibt zusammen mit seinem Kollegen Hans Buck zwei Taekwon-Do-Schulen in Kiel und Hamburg.

Foto

: pri

vat

»

KULTUR KOREA / 75

5

Abbildung 5:Dieses Plakat ist womöglich das erste veröffentlichte Plakat einer offiziellen Taekwon-Do-Veranstaltung mit einer Regierungsdele-gation der Republik Korea in Deutschland oder sogar in Europa.Obwohl es sich um eine Taekwon-Do-Veranstaltung handelte, wurde für das Plakat als Haupttitel die Überschrift „Karate Welteli-te“ gewählt. Zur damaligen Zeit war das Land Korea in Deutsch-land so gut wie unbekannt, im Gegensatz zu Japan oder China. Karate war in Deutschland schon weit verbreitet und wurde von der Bevölkerung bewusst wahrgenommen. Um den potentiellen Zuschauern eine gewisse Vorstellung von Taekwon-Do zu vermit-teln, wählte man also den bereits verbreiteten Begriff „Karate“. Die japanische Kriegskunst Jui-Jitsu war in Deutschland ebenfalls schon verbreitet, jedoch nicht so weit verbreitet und bekannt wie Karate.Der Botschafter der Republik Korea, General Choi Duk-Shin, war anwesend und unterstützte die Veranstaltung. Er war wesentlich an den Vorbereitungen für diese Goodwilltour beteiligt.Die Namen der Mitglieder des Goodwillteams sind teilweise falsch geschrieben.Neben Taekwon-Do ist auf dem Plakat auch der Name „Tae Soo Do“ zu lesen. Seinerzeit gab es noch Uneinigkeiten bei der gemein-samen Namensfindung für die Zusammenführung der koreani-schen Kampfkunstschulen (Kwans) mit ihren unterschiedlichen Stilen unter einem offiziellen Namen und einer gemeinsamen Stilrichtung.

Page 78: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

TAEKWON-DO IM FOKUS

DER INTERNATIONALE TAEKWONDO-CUP 2015 IN BERLIN

Von Selahattin Turap

Am 31. Oktober 2015 fand unter der Schirmherrschaft des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Michael Müller, der Internationale Taekwondo-Cup 2015 in

der deutschen Hauptstadt statt.

Die Vorbereitungen für das Turnier begannen bereits im April dieses Jahres. Es wurden konstruktive Gespräche zwi-schen Großmeister Chae Su-Ung, Inhaber der Sportschule Chae in Berlin, und Andreas Schwager, dem Leiter des Per-sönlichen Büros des Regierenden Bürgermeisters, geführt, die schließlich in den Internationalen Taekwondo-Cup mündeten. Fleiß hat auch seinen Preis. Sowohl der Erfolg und die Anzahl der Teilnehmer/innen am Cup als auch die Begeisterung der Zuschauer/innen zeigten uns, dass sich der unermüdliche Einsatz aller Beteiligten gelohnt hat.

Anlass für diese besondere Veranstaltung war das 50-jäh-rige Jubiläum der Entsendung des ersten Taekwondo-De-monstrationsteams von Korea nach Deutschland. 1965 gab es aus Korea erste Bestrebungen nach einer Interna-tionalisierung des Sports. In diesem Zusammenhang war Deutschland eine der ersten Anlaufstätten.

Am Tag der Veranstaltung war es für mich als Mitorgani-sator und verantwortliche Person sehr wichtig, dass alles nach Plan läuft. Als Erster erschien ich an der Sporthalle am Sachsendamm in Berlin-Schöneberg. Der Einlass war für 8.30 Uhr geplant, aber die meisten Mannschaften waren bereits deutlich früher da und warteten ungedul-dig. Um 9.00 Uhr begannen wir mit der Registrierung der Teilnehmer für die Wettkämpfe. Nach und nach füllte

sich die Sporthalle nun auch mit Zuschauern. Es nahmen Mannschaften aus unterschiedlichen Bundesländern und unseren Nachbarländern teil, darunter auch aus Polen und Schweden. Insgesamt beteiligten sich ca. 300 Sportler, und es kamen rund 600 Zuschauer.

Für das Turnier waren vier Kampfflächen vorgesehen, die wir bereits am Abend vor der Veranstaltung aufgebaut hat-ten. Der Cup begann mit dem Formenlauf, dem klassischen Poomsae1.

Punkt 11 Uhr erschienen unsere ersten Gäste: der Botschaf-ter der Republik Korea, S.E. Kyung-soo Lee, Vertreter der Kulturabteilung der Botschaft der Republik Korea sowie weitere koreanische Gäste, die von Großmeister Chae persönlich zu ihren Plätzen begleitet wurden.

Pünktlich um 12 Uhr trafen unsere Gäste aus dem Büro des Bürgermeisters ein. Zu den geladenen Gästen aus Berlin gehörten: Dilek Kolat, Stellvertreterin des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Andreas Schwager, Leiter des Persönlichen Büros des Regierenden Bürgermeisters, sowie Dennis Buchner, Landesgeschäftsführer der Berliner SPD.

Der Auftritt des geladenen Taekwondo-Demonstrati-onsteams aus Korea führte insbesondere die Disziplin dieses koreanischen Kampfsports vor Augen. Das Team präsentierte eine weltweit einzigartige, atemberaubende Vorführung, die viele akrobatische Elemente enthielt. Die Kultur des Landes wurde durch einen traditionellen Tanz repräsentiert, der von Tänzerinnen aus Korea aufgeführt

Foto

s: K

orea

nisc

hes

Kul

turz

entr

um

76 / KULTUR KOREA

Das Taekwondo-Demonstrationsteam des Kukkiwon

Page 79: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

wurde. Nach der Vorführung überreichte der Leiter des Taekwondo-Demonstrationsteams des Kukkiwon, Herr Suh Chang Hoon, Frau Kolat einen großen Blumenstrauß sowie ein Schreiben und einen Taekwondo-Anzug mit schwar-zem Ehrengürtel für den Regierenden Bürgermeister von Berlin. Auch Andreas Schwager erhielt einen Taekwon-do-Anzug mit schwarzem Ehrengürtel, überreicht von Großmeister Chae Su-Ung. Spontan zog sich Herr Schwa-ger das Oberteil des Taekwondo-Anzugs über, was vom Publikum mit viel Applaus begleitet wurde. Im Anschluss hatten die Anwesenden die Möglichkeit, auf der Veranstal-tungsfläche Fotos mit dem Taekwondo-Demonstrations-team und den geladenen Gästen zu machen.

Es folgte ein spannendes Turnier, bei dem folgende Plätze belegt wurden:

Platz 1: Taekwondoschule Pyo, BerlinPlatz 2: Taekwondo-Akademie, Hankensbüttel Platz 3: Taekwondoschule Chae, BerlinPlatz 4: Taekwondoschule Chae, Schweden.

Der Umgang zwischen den Teilnehmern unterschiedlicher Nationen war harmonisch und respektvoll – unabhängig davon, ob die Wettkämpfe gewonnen oder verloren wur-den. Dies spiegelt die Kultur des Taekwondo wider. Sport verbindet!

Sport und Internationalität sind für unsere Stadt Berlin sehr wichtig: Sport bereichert die Vielfalt unserer Stadt. Durch sportliche Turniere werden Menschen aus verschiedenen

Nationen zusammengebracht. Das hat auch einmal mehr der Internationale Taekwondo-Cup in Berlin unter Beweis gestellt.

Zum Schluss möchte ich mich bei dem Regierenden Bürgermeister von Berlin sowie bei Großmeister Chae Su-Ung und bei der Botschaft der Republik Korea für die freundliche Unterstützung und vor allem für die zeitauf-wendige Vorbereitung und Planung bedanken, ohne die die Realisierung des Turniers nicht möglich gewesen wäre. Auch möchte ich mich bei allen beteiligten Mannschaften und Gästen bedanken, deren Enthusiasmus diese Veran-staltung zu einem ganz besonderen Erlebnis gemacht hat.

1 Poomsae stellen einen Kampf gegen imaginäre Gegner dar und wurden insbesondere für die bessere Erlernbarkeit der Taekwon-do-Grundtechniken ohne Verletzungsgefahr geschaffen (Anm. d. Red.).

Selahattin Turap (42) hat sich seit 1990 mit verschiede-nen Kampfsportarten beschäftigt, erkannte aber schnell, dass seine Vorlieben und Stärken beim Taekwondo liegen. Heute trägt er mit Stolz den 3. DAN und arbeitet neben-beruflich als Taekwondo-Meister in der Sportschule Chae. Er ist Mitorganisator des Internationalen Taekwondo-Cups 2015, der Ende Oktober in Berlin stattfand.

Der Internationale Taekwondo-Cup am 31. Oktober 2015 in der Sporthalle Schöneberg, Berlin

»

KULTUR KOREA / 77

Foto

: pri

vat

Page 80: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

TAEKWON-DO IM FOKUS

TRADITIONELLES TAEKWON-DO EIN SPORT WIE JEDER ANDERE?

Gesundheit l iche und andere Aspekte

Von Prof. Dr. med. Frank Moosig

Körperliche Aktivität kann das Leben erheblich verlängern. Nicht grenzenlos, aber immerhin: bis zu sechs Jahre lassen sich doch gewinnen. Noch erfreulicher: dieser Effekt setzt nicht lebenslanges Training voraus, sondern greift überwiegend auch dann noch, wenn man erst relativ spät, z.B. mit über 40, startet. Umgekehrt sieht die Weltgesund-

heitsorganisation (WHO) in körperlicher Inaktivität den viertgrößten Risikofaktor für Sterblichkeit, noch vor Übergewicht und übertroffen lediglich von Rauchen, Bluthochdruck und Zuckerkrankheit. Die WHO empfiehlt mehrmals wöchentlich moderate, oder besser intensive sportliche Aktivität.

DIE WELTGESUNDHEITSORGANISATION (WHO) EMPFIEHLT:

• …150 Minuten moderate aerobe körperliche Aktivität pro Woche oder 75 Minuten intensive aerobe körperliche Aktivität• …Trainingseinheiten von mindestens 10 Minuten• …für zusätzliche positive Effekte eine Steigerung des Pensums auf 300 Minuten moderate oder 150 intensive Aktivität• …an mindestens zwei Tagen pro Woche ein muskelkräftigendes Training

Quelle: WHO: Global recommendations on physical activity for health. 2010 ISBN 9789242599979

78 / KULTUR KOREA

Foto

: KU

KK

IWO

N

Page 81: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Bleibt nur, aus der Fülle der Möglichkeiten zu wählen. Meine Wahl fiel auf traditionelles Taekwon-Do. Warum? Zugegeben, eine Analyse der gesundheitlichen Vor- und Nachteile lag auch meiner Entscheidung fürs Taekwon-Do zunächst nicht zugrunde. Vielmehr interessierten sich mei-ne Kinder für Kampfkunst, probierten dies und das aus und waren schließlich vom traditionellen Taekwon-Do fasziniert. Die traditionelle Form des Taekwon-Do unterscheidet sich von der olympischen Variante durch die Kontaktlosigkeit und den überhaupt eher in den Hintergrund tretenden Wettkampfgedanken. So in Kontakt gekommen, versuchte ich es selbst und bin seitdem überzeugter Anhänger dieser Bewegungskunst.

Nach der unmittelbaren Erfahrung, der spürbaren Steige-rung des Wohlbefindens nach jeder einzelnen Unterrichts-stunde, kam die Rationalisierung später nach. Tatsächlich gibt es eine veritable Menge an sportwissenschaftlichen und sonstigen Untersuchungen über Taekwon-Do.

Für den lebensverlängernden Effekt von Sport ist wesent-lich die Reduktion des Risikos von Herz-Kreislauferkrankun-gen, also Schlaganfälle, Herzinfarkte u.a. verantwortlich. Taekwon-Do-Training ist Ausdauertraining mit dem zusätz-lichen Charakter eines Intervalltrainings. Es fällt - unabhän-gig von den Unterschieden einzelner Schulen - sicher in die Kategorie einer intensiven körperlichen Aktivität und zählt zu den Sportarten mit dem höchsten Energieumsatz über-haupt. Kardiovaskuläres Training ist allerdings bei weitem nicht alles, was Sport zur Gesundheit beitragen kann. Inso-fern schöpfen einseitig hierauf ausgerichtete Betätigungen wie z.B. Laufsport, die Möglichkeiten nicht annähernd aus. So sind zusätzliche Kräftigungsübungen sinnvoll und ent-sprechen den WHO-Empfehlungen. Hierdurch kann nicht nur eine Verbesserung der Muskelkraft selbst erreicht wer-den. Die gestärkte Muskulatur hilft auch dem Stoffwech-sel, z.B. durch Vermeidung von Zuckerkrankheit, und ist wichtige Energiereserve. Kräftigungsübungen sind darüber hinaus gesund für die Knochen und helfen, Osteoporose zu vermeiden. Im Taekwon-Do gehören solche Übungen, die abwechslungsreich und ohne Geräte eingebunden werden, zu jeder Trainingsstunde. Ebenso sind Dehnungsübungen ein ständiger Bestandteil des Programms. Hierdurch lassen sich auch für den Alltag die Bewegungsumfänge verbes-sern und erhalten. Gutes Dehnen beugt zudem Sportver-letzungen vor. Koordination und Konzentration runden die umfassende körperliche Ausbildung im Taekwon-Do ab. Durch komplexe - und je nach erreichtem Leistungsstand immer komplexer werdende - Bewegungsfolgen wird ein hohes Maß an Konzentration und Koordination entwickelt, das sich auch außerhalb des Taekwon-Do messen lässt wie z.B. Studien zur Verbesserung der allgemeinen Konzentra-tionsfähigkeit bei über 40-jährigenTaekwon-Do-Anfängern schon bei geringer Trainingsfrequenz beweisen. All dies trägt zudem zu einer Verringerung des alltäglichen Unfall- und Verletzungsrisikos bei. Die allgemeinen Gesundheits-

wirkungen, speziell des traditionellen Taekwon-Do, wurden u.a. von Dr. Aman, selbst Schulleiter, eingehend untersucht. Seine Studie (siehe nachfolgende Infobox) konnte u.a. eine deutliche Verminderung von Arzneimittelverbräuchen nachweisen. Dieser, auf den ersten Blick sehr bemerkens-werte Erfolg ist keineswegs überraschend, bedenkt man nur, dass sehr häufig Medikamente allein wegen chroni-scher Schmerzen des Bewegungsapparates eingenommen werden. Diese lassen sich, abgesehen von Muskelkater, durch Taekwon-Do nachhaltig verringern.

Schwieriger zu messen, in der medizinischen Literatur aber auch gut belegt und für den Erhalt der Motivation sicher sehr wichtig, sind die oft als „mental“ bezeichneten Effekte. So führen schon wenige Trainingseinheiten zu messbarer Stimmungsaufhellung, fördern eine optimistische und selbstbewusste Haltung und reduzieren Ängstlichkeit und Aggressivität. Exemplarisch wurden diese Eigenschaften des Taekwon-Do sogar erfolgreich therapeutisch einge-setzt, z.B. beim heute oft diagnostizierten „Zappelphil-ippsyndrom“ (ADHS). Aber wie sieht es in Anbetracht der oft spektakulär vorgeführten und beeindruckenden Techniken, etwa bei den Bruchtests, bei denen Bretter oder Steine zerschlagen werden, oder den schnellen Partnerübungen mit dem Ver-letzungsrisiko aus? Dank der Gründlichkeit des deutschen Versicherungswesens lässt sich hierüber Auskunft geben: Wie bei anderen Kampfsportarten auch, ist das Risiko von Verletzungen überraschenderweise extrem gering (siehe Abbildung nächste Seite) und innerhalb der Kampfsport-arten beim Taekwon-Do mit am Geringsten. Grund hierfür dürfte die angestrebte große Körperbeherrschung, die insbesondere wegen der Kontaktlosigkeit trotz dynami-scher Techniken notwendig ist, sein. Hinzu kommt die hohe Befähigung der Lehrer - unterrichten dürfen nur hochgra-duierte Taekwon-Doin (Praktizierender des Taekwon-Do)1 nach jahrelanger gründlicher Vorbereitung. Wer weniger risikobereit ist, kann sich eigentlich nur dem Schachsport zuwenden.

EINE BEFRAGUNG VON 1300 TAEKWONDO-AKTIVEN ERGAB:

• ...bei 38% eine Reduktion von Medikamentenbedarf• ...bei 2/3 einen sehr guten Einfluss auf Beschwerden am Bewegungsapparat• ...bei 2/3 einen positiven Einfluss auf psychische Faktoren• ...bei 50% einen positiven Einfluss auf Allgemein- erkrankungen

Daten freundlichst überlassen von Herrn Dr. RJ Aman, Kulmbach

KULTUR KOREA / 79

Page 82: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Wie auch der Gesundheitsbegriff heute nicht mehr nur eng als Abwesenheit von Krankheit definiert wird, so reichen auch die positiven Eigenschaften des Taekwon-Do deutlich weiter. So tragen die Grundprinzipien, die besonders im traditionellen Taekwon-Do gelebt werden, zur „Charak-terbildung“ im klassischen Sinne bei. Respekt, Höflichkeit, Toleranz und Geduld, aber auch Stärke und Unbezwingbar-keit sind Ziele, die durch die besondere Art des Trainings und das Vorbild der Meister verfolgt und vermittelt werden. Schließlich gehören zur Gesundheit auch soziale Aspekte. Ganz ohne Studien und wissenschaftliche Litera-tur: Offenbar zieht diese Art der körperlichen Betätigung besonders angenehme Zeitgenossen an. Jedenfalls bin ich beim traditionellen Taekwon-Do bisher auf keine unsym-pathischen „Hau-drauf-Typen“ getroffen, wie es gelegent-lich das Image von Kampfsport fürchten lassen könnte, sondern auf ein buntes Völkchen weltoffener Menschen. Der Umstand der Kontaktlosigkeit ermöglicht zudem, ge-meinsam mit Kindern, z.B. den eigenen, zu trainieren, ohne dass die in anderen Sportarten vorhandenen Leistungs-unterschiede zu stark zum Tragen kämen. Traditionelles Taekwon-Do ist damit auch idealer Familiensport. Alters-grenzen, auch für den Einstieg, gibt es praktisch nicht, da die Vielfältigkeit der Übungen und die Einstellung der Lehrer jeden bei seinem Leistungsniveau „abholen“ und individuell fördern.

Zum Schluss: Natürlich kommt Taekwon-Do aus Korea. Die Beschäftigung mit Taekwon-Do weckt zwangsläufig Interesse für das Land und die Leute, vor deren Flagge man sich bei Trainingsbeginn und –ende verneigt. Das Wecken von Neugier auf Unbekanntes ist zweifelsfrei etwas sehr Gesundes und Taekwon-Do damit ein großartiger Bot-schafter Koreas.

1 Die Endung „–in“ kommt ursprünglich aus dem Chinesischen und bedeutet „Mensch“ (Anm. d. Red.).

Nach Raschka C et al. 1999, Rose T et al. 2006 & aus Engelhardt M.

Sportverletzungen Urban & Fischer 2009

Laut Daten deutscher Versicherungen ist das Verletzungsrisiko beim Taek-

won-Do vergleichsweise sehr gering. Beim Volleyball hingegen werden mehr

als 40 Verletzungen pro 1000 Trainingsstunden angeben.

Frank Moosig lebt in Kiel und ist Facharzt für Innere Medizin, Rheumatologie und Hämato-Onkologie. Seit einigen Jahren ist er begeistertes Mitglied des Kang-Center Kiel und trainiert dort, zusammen mit sei-ner Familie, in der Schule für traditionelles Taekwon-Do unter der Schulleitung von Meister Shin-Gyu Kang und Meister Hans Buck.

Foto

: pri

vat

»

80 / KULTUR KOREA

Page 83: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

TAEKWON-DO IM FOKUS

Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des Respekts

Von Prof. Dr. Jörn Düwel

Sport ist für viele nicht nur eine Nebensache. Kein Wunder, schließlich fördert regelmäßiges Training das allgemeine Wohlbefinden. Längst sind die Zeiten

vorbei, in denen sportliche Betätigung kaum mehr war, als eine feste Unterrichtsstunde in der Woche in der Schule. Stand für manche allein der gesundheitsfördernde Aspekt im Vordergrund, sind inzwischen auch die positiven Folgen des Sports auf soziale und kulturelle Verhaltensweisen eine unbestrittene Selbstverständlichkeit. Sport ist Lifestyle, oder, ohne angelsächsische Entlehnung, ein herrliches Le-bensgefühl! Die Möglichkeiten und Varianten sportlichen Vergnügens sind ebenso zahlreich wie unterschiedlich. Es kommt darauf an, eine individuell passende Sportart zu finden. Erwachsenen fällt es naturgemäß leichter, sich zu entscheiden. Sie haben bereits Verschiedenes kennen-gelernt und ausprobiert. Ungleich schwieriger ist es, für Kinder ein geeignetes Angebot zu finden. Gewiss, schon im Kindergarten und erst recht in der Schule werden auch die Kleinen mit Naheliegendem versorgt. An erster Stelle dürfte der Fußball stehen. Dafür braucht es zunächst nicht viel: Ein Ball, ein paar Mitspieler und eine fast beliebige Fläche. Dem Volkssport Nummer eins ist kaum zu entkom-men. Doch darum geht es hier nicht. Vielmehr möchte ich von einer Entdeckung berichten, die schon das zweite Jahr in Folge unsere ganze kleine Familie verzaubert.

Am Anfang stand eine Annonce: „Mudo-Kids für Kinder zwischen 4 und 6 Jahren, das Training findet mit den Eltern statt“. Das Angebot ließ aufhorchen. Üblicherweise haben Eltern nur die Aufgabe des Bring- und Abholservice zu leisten. Während die Kleinen Freizeitangebote wahr-

nehmen, warten Eltern geduldig oder erledigen Besor-gungen. Ein gemeinsames Trainieren der Kinder mit den Eltern ist jedoch die unerhörte Ausnahme. Im Hamburger Kang-Center, einer Schule für traditionelles Taekwon-Do, zählt das Miteinander von Kleinen und Großen zum Selbst-verständlichen.

Shin-Gyu Kang, Meister und Inhaber der Schule, kam selbst im Alter von fünf Jahren zum Taekwon-Do. Für ihn ist das Taekwon-Do nicht einfach eine Sportart, sondern eine bewusste Lebenshaltung. Sportliche Leidenschaft und charakterliche Sekundärtugenden sind für ihn eins, deshalb gehören beide auch im Training zusammen. Die Kinder schätzen und achten diese Haltung. Unser Sohn, der als einer der Jüngsten mit drei Jahren zum Taek-won-Do kam, nahm diese Form des Trainings von Anfang an an. Seine Begeisterung behielt er auch nicht für sich. Er teilte sie zunächst mit Freunden im Kindergarten und später mit Klassenkameraden in der Schule. Klar, im Laufe der Zeit machten sich die Kleinen im Training selbständig. War es anfangs gut, gemeinsam vor dem Meister zu trai-nieren, und zu sehen, dass die Eltern keinesfalls schneller lernen und auch nicht besser sind, emanzipierten sich die Kleinen rasch. Nichtsdestotrotz trainieren wir noch immer gemeinsam. Neben dem speziellen Kindertraining freut er sich auf die souveräne Teilnahme am Training der Erwachsenen. Inzwischen hat mein Sohn uns beide, meine Frau und mich, überholt. Scheinbar mühelos eignet er sich die mannigfaltigen Bewegungsfolgen an, die zum Kanon des Taekwon-Do gehören. Wenngleich er uns vorauseilt, stehen wir ihm in der Freude am Training nicht nach.Fo

to: S

wen

ja E

ricss

on

KULTUR KOREA / 81

T A E K W O N - D O F Ü R J E D E S A LT E R

Page 84: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

Prof. Dr. Jörn Düwel ist seit dem Jahr 2002 Professor für Geschichte und Theorie der Architektur an der HafenCity Universität Hamburg (HCU). Vor zwei Jahren entdeckte er für seine Familie und sich das Taekwon-Do.

Foto

: Dan

iela

Wal

ter

Denn Taekwon-Do fördert und stärkt Körper und Geist. Deshalb begeistert Taekwon-Do und beflügelt stets zu neuen Leistungen. Seinen Ursprung hat die waffenlose Kunst der Selbstverteidigung in Ostasien. Der koreanische Sport ist geprägt von Höflichkeit und Integrität, er mo-tiviert zur Geduld und stärkt die Selbstdisziplin. Sinnge-mäß bedeutet Taekwon-Do „der Weg des Fußes und der Hand“. Die drei Silben des Taekwon-Do umfassen also die Gesamtheit von Bewegungen mit dem Fuß – Tae – sowie mit der Hand – Kwon – und beschreiben auch die geisti-ge Konzentration – Do. Schnelligkeit und Kraft gehören ebenso zum Taekwon-Do wie eine ritualisierte Choreo-graphie von Bewegungen. Gewiss, ein Mannschaftssport ist Taekwon-Do nicht, vielmehr steht hier die individuelle Entwicklung der Persönlichkeit im Vordergrund. In Inter-aktion mit dem Meister ist das ausdauernde Üben in der Gruppe die unverzichtbare Voraussetzung für das Erlernen der ebenso kraftvollen wie dynamischen Abläufe und Figuren. Ein beweglicher, kraftvoller Körper und präzise Technik gepaart mit anmutigen Bewegungen spiegeln sich in dieser Kampfkunst wider, die nicht zuletzt auch wegen ihrer Schönheit begeistert.

Die Geschichte des traditionellen Taekwon-Do ist noch heute untrennbar mit dem Streben nach Freiheit und Gerechtigkeit verbunden. Schließlich war nach der Anne-xion Koreas 1910 auch die jahrhundertalte Tradition der vielseitigen Kampfkunst des Landes unterdrückt worden. Nach der Unabhängigkeit Koreas 1945 entstand das Taek-won-Do in seiner noch immer gültigen Form. Von Anfang an verkörperte dieser Sport den Willen zur stolzen Selbst-behauptung, verbunden mit dem Anspruch, ein friedliches Miteinander zu sichern. Diese Tugend ist allgegenwärtig.

Die Grundtechniken des Taekwon-Do sind in variantenrei-chen Schritt- und Technikfolgen festgelegt. Wenngleich Taekwon-Do ein Kampfsport ist, ist der Gegner nur ima-ginär. Im Unterschied zu vielen anderen Kampfsportarten wird das traditionelle Taekwon-Do ohne Körperkontakt

ausgeführt. Dies erfordert ein Höchstmaß an Körper-beherrschung. Die vielgestaltigen Bewegungsfolgen verlangen neben körperlicher Kondition auch geistige Konzentration. Im Einklang zwischen beidem liegt das eigentliche Ziel dieser nunmehr seit fünfzig Jahren auch in Deutschland beheimateten Kunst des Kampfsports.Rituale stiften Sicherheit und Zusammenhalt. Diese Erfahrung nimmt Taekwon-Do auf. Dazu zählt auch das Verneigen. Es artikuliert Respekt und dient ferner der eigenen Sammlung und Konzentration. Trainiert wird im weißen Dobok, einem weit geschnittenen Anzug, der auch Arme und Beine bedeckt. Die Füße bleiben unbekleidet. Jedes Training beginnt mit einem höflichen Begrüßungs-zeremoniell. Kein Training ohne intensives Aufwärmen der Muskulatur und kräftigende Dehnübungen. Im kulturellen Kontext Koreas entstandene und exakt festgelegte Hyongs bilden den Kern des Taekwon-Do. Das sind Bewegungs-abläufe unterschiedlicher Komplexität, die mannigfaltige Grundtechniken der Bewegung immer wieder neu kombi-nieren.

Die Vielseitigkeit des Taekwon-Do fördert körperliches und geistiges Wohlbefinden. Kondition, Kraft und Konzen-tration stehen im Mittelpunkt dieses Sports und haben selbstredend großen Einfluss auf unsere Lebensfreude. Taekwon-Do stärkt somit auch das eigene Selbstvertrauen.

Im Taekwon-Do bewegen sich Körper und Geist. Diese Grunderfahrung hat inzwischen auch unsere Familie geprägt.

»

82 / KULTUR KOREA

Page 85: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

HERR „SO-MO“ IN SEOUL

Von Sören Kittel

In Südkorea fand das erste internationale Musikfestival für geistig Behinderte statt. Jörn Sommer aus Buxtehude hatte seinen größten Auftritt

Knieschloddern. Das ist das Gefühl, das Jörn Sommer hatte, als er auf die Bühne in Korea trat. „Es war ja nicht nur mein größtes Konzert“, sagt er, „sondern

auch gleichzeitig vor so vielen Politikern und Kulturschaf-fenden.“ Dann erzählt er, wie er vor den 250 Gästen sein Lied singt, zusammen mit einer Gitarristin, die er erst ein paar Tage zuvor kennengelernt hat. „Natürlich hatte ich da ganz schön Knieschloddern.“ Geholfen hat ihm ein Trick: „Ich habe immer in das Scheinwerferlicht gesehen“, sagt er. „So habe ich nicht so sehr gemerkt, wie viele Leute da vor mir sitzen.“ Doch was danach kam, hat er sehr wohl noch im Kopf. Doch dazu später.

Zunächst muss man über Jörn Sommer wissen, dass er sehr langsam spricht, wenn er von seinem Auftritt in Asien erzählt. Er kann sich zwar gewählt ausdrücken, redet deutlich, und doch klingt es, als wäre seine Zunge dreimal schwerer. Das hat mit einem Autounfall zu tun, in den Jörn Sommer als Zweijähriger verwickelt war. Sechs Tage Koma, die Eltern bangten um ihn, aber er hat überlebt. Geblieben ist bis heute eine starke Sprech- und Gehbehinderung, auch ist er etwas langsamer als seine Altergenossen in der Schule. Trotz dieser „Halbseitendifferenz“ begann Jörn Sommer mit zehn Jahren, Instrumente zu spielen, erst Schlagzeug und später Klavier. Er schrieb Lieder und ließ sich dabei begleiten. Er trat ein paarmal bei kleineren Festen und einmal im Radio seiner Heimat auf. Mit seinem englischen Künstlernamen beweist er Humor: „Slow-Joe“.

Doch dass er mit diesem Künstlernamen einmal im südkoreanischen Pyeongchang auftreten würde, hätte er nicht gedacht. Dazu gekommen ist es fast spontan: Im Juni dieses Jahres hörte seine Gesangslehrerin in Deutschland vom „Special Music Festival“ in Pyeongchang, es ist das dritte Festivaljahr, aber zum ersten Mal mit „internationalen Gästen“. Von jetzt an sollen jährlich Menschen mit Behinde-rungen aus aller Welt zusammenkommen, Musik machen – und von den besten lernen. In diesem Jahr waren Teilneh-mer aus den USA, Südamerika, Deutschland, Frankreich, Brasilien und Ungarn dabei. Sie spielten Pop-Lieder und

Foto

1: S

ören

Kitt

el, F

otos

2/3

: Pye

ongc

hang

Spe

cial

Mus

ic F

estiv

alPORTRÄT

1 Jörn Sommer in Seoul2 Auftritt von Jörn Sommer beim Pyeongchang Special Music Festival3 Abschlussveranstaltung des Pyeongchang Special Music Festival

KULTUR KOREA / 83

1

2

3

Page 86: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

klassische Musik. Darunter war zum Beispiel der Stargast Nicholas McCarthy aus England. Er wurde mit nur einer Hand geboren – und gilt als einer der besten Klavierspieler, füllt Säle mit seiner Musik.

Die Direktorin der Veranstaltung Na Kyung-Won hofft, dass dieses Festival für die kommenden Jahre noch mehr Türen öffnet. „Menschen mit Behinderungen sollen sich inspiriert fühlen“, sagt sie, „sich von Musik herausfordern zu lassen.“ Besonders beim gemeinsamen Spielen habe sie gese-hen, dass Teilnehmer mit unterschiedlichen Religionen, Sprachen und Behinderungen zusammen Musik machen konnten. „Wir möchten, dass die Teilnehmer, die einmal hier waren, wiederkommen und zeigen können, wie sie sich entwickelt haben.“ Die Teilnahme von Jörn Sommer hat sie besonders beeindruckt, weil er nicht nur singt und Instrumente spielt, sondern auch selbst komponiert. „Das hat mich inspiriert, noch im kommenden Jahr eine Katego-rie Komposition einzuführen.“

Als Ort für das Festival wurde bewusst Pyeongchang gewählt, jene Stadt in Südkorea, in der im Jahr 2018 die Olympischen Spiele ausgetragen werden sollen. Zudem fand dort gerade eine Kunstbiennale statt. UN-Generalse-kretär Ban Ki-moon betonte in seinem Grußwort zu Beginn des Special Music Festivals denn auch, dass gerade an die-sem Ort die Message an alle Menschen gesendet werden sollte, dass Musik, Kunst und Sport eine universale Sprache sprechen und die Macht hätten, „die Welt zu verändern“. Südkorea hatte im Umgang mit Menschen mit Behinde-rungen lange Zeit eher ein gespaltenes Verhältnis, da gera-de in einer Stadt wie Seoul oft auf Perfektion hingearbeitet wird. Da passt eine Behinderung nicht ins Bild. Doch ein Festival wie dieses trägt mit Sicherheit zu mehr Akzeptanz und Offenheit in der Bevölkerung bei.

So ist es für das Festival aber eine Selbstverständlichkeit, dass Musik-Größen wie Lee Byung-Woo mitmachen, er ist nicht nur einer der bekannten südkoreanischen Musik-professoren, sondern hat auch die Filmmusik für „Mother“ oder „The Host“ geschrieben. Lee also, mit seiner großen Kastenbrille auffällig, setzte sich mehrere Stunden mit Jörn Sommer hin und bearbeitete mit ihm zusammen das Lied für den großen Auftritt. „Es war natürlich nicht einfach, weil ich mein Englisch nicht so gut ist“, sagt Jörn Sommer, „aber ich hatte es bisher nur mit der Gitarre gespielt und deshalb nur einige Akkorde aufgeschrieben.“ Jörns Bruder Bastian Sommer übersetzte für ihn, und so konnte sich Lee ausführlich dem Stück widmen und bastelte daraus ein Arrangement. „Schon nach zwei Proberunden waren wir so weit, es mit einer Schülerin von ihm einzuüben.“ Ihr gelang die Umsetzung auch sehr schnell, und so konnten sie noch Variationen proben.

Zwischen diesen Übungseinheiten hatten die Organisato-ren immer wieder Touren und Ausflüge geplant, dazwi-

schen wurde Sommer immer wieder interviewt, was die Aufregung vor seinem Auftritt und das „Knieschloddern“ bei der Abschiedsfeier nicht unbedingt verminderten. „Die hatten so viele Fragen“, sagt er, „wie mir Korea gefalle, seit wann ich Musik komponiere, worum es in meinen Liedern geht, die ich vortrage.“ So wurde Jörn Sommer zu einem Star für ein paar Tage, auch wenn sein Name in Korea etwas anders klingt: „So-Mo“.

Außerdem musste er noch mit einem Chor die ABBA-Lieder „Dancing Queen“ und „Thank you for the music“ einüben – letzteres sogar auf Koreanisch: „Uri-chum-eul-chul-dae“, das kann er auch Wochen später noch rezitieren. Es ist sein Text aus einem ABBA-Lied. In seinen eigenen Liedern verar-beitet er Erfahrungen, Freundschaften, seine erste Liebe. Er hätte hier in Südkorea auch sein englisches Lied „Trust me“ singen können, aber er hat sich für das entschieden, das so heißt wie er selbst: „Sommer“. Er meint konkret in dem Lied den Sommer 2001, Jörn war 16 Jahre alt, er singt von einem Urlaub in Ungarn mit seiner Familie. Ein Straßenfest in Budapest und Maiskolben am Strand. In einer Strophe singt er das Wort „glücklich“ und den Refrain gleich vier Mal, weil er sich so schön reimt: „Ich fahr so gern zum Ballaton, und das jedes Jahr, ich packe meine Koffer schon, und das im Januar.“

Das, was danach kommt, wird Jörn Sommer zu Hause in Buxtehude immer wieder erzählen - noch bevor er vom guten, scharfen Essen schwärmt, von den tollen Ausflügen zu den Tempeln und den Seouler Hochhäusern, und sogar bevor er über die Luftfeuchtigkeit schimpft, die so hoch war während seines Besuchs. Vor all dem wird er von dem Moment erzählen, als er nicht mehr in die Scheinwerfer blickte, sondern in sein größtes Publikum. Da sind rund 250 Menschen, die für ihn klatschten und aufstanden. Er sagt: „Es gab wirklich Standing Ovations für mich.“ Das Knieschloddern ist in dem Moment sehr weit weg.

84 / KULTUR KOREA

Page 87: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

PORTRÄT

MAN SOLLTE NICHT NUR EINEN HASEN JAGEN

Moon Suk empfängt in ihrem Berliner Salon

„Gesamtkunstwerk“ und „Königin von Berlin“ – so wird die in Berlin lebende Sopranistin, Dichterin, Schauspielerin, Moderatorin und Künstlerin Moon Suk zuweilen in den deutschen Medien beschrieben. Als ich an einem sonnigen Herbstnachmittag vor ihrem Wohnhaus stehe, das sich in einer ruhigen Nebenstraße des Kudamms befindet, habe ich keine Vorstellung, was mich gleich erwarten könnte. Ich betrete das von außen eher unscheinbar wirkende Haus aus der Gründerzeit. Über die gediegene, dunkle Treppe geht es in den ersten Stock, und schon stehe ich in Moon Suks Wohnung. An den Wänden des Eingangsbereichs hän-gen schätzungsweise hundert Hüte in den unterschied-lichsten Formen und Farben. Durch eine halb geöffnete Tür blicke ich auf großformatige Malereien in leuchtenden Schattierungen. Bevor ich alles in mich aufnehmen kann, werde ich auch schon herzlich von der Gastgeberin be-grüßt, die an diesem Tag eine schlichte, weiße Tunika, eine weiße Hose und einen beigen Hut trägt. Vor mir steht eine Frau, deren Freundlichkeit nichts Aufgesetztes hat und deren Zugewandtheit auf Anhieb für sie einnimmt.

Als erstes bietet sie mir eine Führung durch die Räume an. Ich bin gespannt, denn nicht umsonst heißt es, dass die

Wohnung der Spiegel der Seele sei. Und tatsächlich scheint die Bewohnerin auf dieser Fläche von 200 qm all die Dinge versammelt zu haben, die ihr in ihrem Leben besonders wichtig sind.

Vom Flur der geräumigen Beletage-Wohnung gehen mehrere Türen ab. Wir betreten den ersten Raum, das Wohnzimmer. Hier befinden sich ein Flügel, ein riesiges Sofa und ein langer, einladender Holztisch. Die Wände sind mit Malereien und Familienfotos dekoriert; eine Tür führt zu einem Balkon, den die Blumenliebhaberin Moon Suk in einen kleinen Urwald verwandelt hat. Doch zu diesem Zimmer später mehr.

Weiter geht es in eine Art Durchgangszimmer, in dem zwei Schreibtische stehen. Hier geht die Künstlerin einem Projekt nach, das ihr sehr am Herzen liegt, ihrem 2011 gegründeten gemeinnützigen Verein „Fun-For-Writing e. V.“. Nachdem Moon Suk in einer Charlottenburger Bezirks-versammlung sehr engagiert über das Thema Integration gesprochen hatte, wurde sie von der Integrationsbe-auftragten und dem Bezirksbürgermeister gebeten, ein Konzept für ein Projekt zu erarbeiten. „Ich spreche immer

KULTUR KOREA / 85

Im Wohnzimmer

Foto

: SA

LON

MO

ON

Page 88: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

noch nicht so perfekt Deutsch, aber ich liebe die deutsche Sprache!“, bekennt sie. Beim Reden achte sie nicht so sehr auf die Richtigkeit von Deklination oder Artikeln. Erst das Schreiben zwinge sie zu einem reflektierteren Umgang mit der deutschen Grammatik. So entstand die Idee für einen Verein für kreatives Schreiben, der sich insbesondere an Menschen mit Migrationshintergrund richtet und sie darin unterstützen soll, durch die bewusste Auseinandersetzung mit der Sprache ihre Fähigkeiten im schriftlichen Aus-druck zu vertiefen. Viel wichtiger als ein hoher literarischer Anspruch sei aber der Spaß am Schreiben, betont die Initiatorin und 1. Vorsitzende des Vereins. „Fun-For-Writing“ veranstaltet regelmäßig den Schreibwettbewerb „Feder-leicht“, der die Kategorien SMS, Liedtext, Gedicht, Brief, Kurzgeschichte, Märchen, Roman und neuerdings auch Schönschreiben umfasst. Die Gewinnertexte wurden in vielen Genres vertont – von Klassik bis Rock – und verwan-delten die Preisverleihungen der vergangenen Jahre in ein musikalisches Theaterstück. Die diesjährige Preisverleihung fand am 6. November in der Berliner Filmbühne statt.

Aber nun zurück zur Wohnung: An den Raum schließt sich ein weiterer an, das Arbeitszimmer von Moon Suks Lebens-gefährten. Er ist ein kulturbegeisterter Wissenschaftler und unterstützt mit großem Engagement ihre Projekte. Ein allseitiges, deckenhohes Bücherregal mit sowohl kore-anischen als auch deutschen Publikationen nimmt alle Wände ein. Hier kommt Moon Suk auf ein weiteres Thema zu sprechen, das ihr besonders viel bedeutet, die Bildung. „Der Bildungswille ist in mir immer noch massiv präsent“, bekräftigt sie. Das glaubt man ihr gern, wenn man ihre Lebensgeschichte hört: Weil sie ohne Eltern aufwuchs, konnte sie nur bedingt auf familiäre Kontakte zurückgrei-fen, die für eine Karriere sehr nützlich sein können. So schien ihr die Bildung schon früh der einzige Weg, um ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Die Protestantin

besuchte als einziges von ihren Geschwistern die Kirche. Denn sie hatte beobachtet, dass Leute, die in die Kirche gingen, „gut reden und gut singen“ konnten. Später, als sie bereits an der renommierten EWHA Womans University in Seoul Kirchenmusik und Gesang studierte, war sie in ihrer Gemeinde nicht nur Bibellehrerin, sondern auch Leiterin des Jugendchors und Solistin des Erwachsenenchors. Am Abend besuchte sie den Lesekreis für Studierende, wo sie Werke von Heidegger, Joyce, Kafka, Kant, Hegel, Sartre und de Beauvoir las. Durch ihre kirchlichen Ämter und Aktivitä-ten finanzierte sie nicht nur zur Hälfte ihr Studium, sondern entdeckte auch ihre Liebe zur Literatur und Philosophie. Ihr Lieblingsphilosoph ist der Däne Søren Kierkegaard, der sie lange auf ihrem Lebensweg begleitete.

Wieder im Wohnzimmer angelangt, lassen wir uns an dem langen Holztisch nieder. Moon Suk erzählt nun über die Tätigkeit, die gegenwärtig den Großteil ihrer Zeit bean-sprucht, ihren SALON MOON. Hier, in diesem großen, reprä-sentativen Raum, empfängt sie regelmäßig ca. 50 Gäste. Der Salon verbindet ein anspruchsvolles Klassikprogramm mit Kulinarik und zeichnet sich durch eine besondere Mischung des Publikums aus: An diesem Ort treffen Promi-nente und Nichtprominente, Jung und Alt, Klassikliebhaber und Menschen aufeinander, die erst nach dem Besuch des SALON MOON zu Klassikfans werden. Während andere Salons Künstler engagieren, steht in Moon Suks Salon die Salonnière selbst als Sängerin auf der Bühne. Nach dem musikalischen Vortrag gibt es ein informelles Beisammen-sein mit Snacks und Spezialitäten wie schwäbisch-koreani-scher Maultaschensuppe. Dazu wird ein exzellenter Wein gereicht. Im November wurde das einjährige Jubiläum gefeiert, im Dezember ist eine Weihnachtsgala geplant, und im Januar 2016 ein mehrtägiges Festival mit dem Titel „SALON MOON spielt verrückt“, bei dem jeden Tag ein anderes Kammermusikensemble auftritt. Fo

to: S

ALO

N M

OO

N

Im Wohnzimmer

86 / KULTUR KOREA

Page 89: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

1999 entschied sich Moon Suk für den Umzug von Süd-deutschland nach Berlin, da sie das Unfertige, nicht Glatte der Stadt mochte und sich hier als Künstlerin einbringen wollte. Sie tauchte ein in die Avantgarde-Szene, die expe-rimentelle Szene, die Szene für Kunst und Literatur und saugte alles in sich auf. Es folgten Filmrollen, Auftritte als Moderatorin im ZDF-Morgenmagazin, eine Fotoausstel-lung, ein Gedichtband, ein Interviewband mit 22 Promi-nenten, eine eigene Opernproduktion und vieles mehr. Inzwischen ist sie wieder zu ihren Wurzeln zurückgekehrt und möchte sich in den nächsten Jahren ganz auf ihre Tätigkeit als Sopranistin konzentrieren.

Woher nimmt sie die Motivation für ihr Handeln, und was bietet ihr Orientierung im Leben? Schon in Korea hat sie sich beigebracht, was es heißt, ganzheitlich zu leben: Nicht hinter den Möglichkeiten, die das Leben bietet, zurückzu-bleiben. Als elternloses Kind musste sie früh lernen, eigene Entscheidungen zu treffen, selbstständig und unabhängig zu sein. Das gab ihr ein Selbstvertrauen, aus dem sie bis heute schöpft. Inzwischen hat sie sich in der deutschen Gesellschaft etabliert: Zu ihren Freunden und Bekannten zählen Prominente und bekannte Vertreter der Medien-branche. Sie versteht es, Menschen für ihre Projekte zu gewinnen und mediale Aufmerksamkeit zu erzielen. Nie hat sie sich auf ein Genre festgelegt, stets hatte sie den Mut, Neues auszuprobieren. Mit der selben Zielstrebigkeit studierte sie an der Musikhochschule Karlsruhe zwei Stu-diengänge parallel – Operngesang und eine künstlerische Ausbildung in Lied und Oratorium. „In Korea gibt es ein Sprichwort: ,Man sollte nur einen Hasen jagen‘. Aber wenn man weiß, wie man zehn Hasen jagt, warum sollte man dann nur einen Hasen jagen?“. Dieser Kommentar Moon Suks scheint ihre Lebenseinstellung ziemlich gut zu treffen.

Nach ungefähr zwei Stunden muss die Gastgeberin das Gespräch beenden. Der nächste Termin wartet auf sie: die Einladung zu einer Filmpremiere.

Das Gespräch führte Gesine Stoyke Redaktion „Kultur Korea“

Weitere Informationen zum SALON MOON:www.salonmoon.de

Weitere Informationen zu Moon Suk:www.moonsuk.de

Blick vom Salon

KULTUR KOREA / 87

Foto

Sal

on: S

ALO

N M

OO

N, F

oto

Moo

n Su

k: K

arst

en B

arte

l

Moon Suk

Page 90: KULTUR KOREA · Von Selahattin Turap 78 TRADITIONELLES TAEKWON-DO Ein Sport wie jeder andere? Von Prof. Dr. med. Frank Moosig 81 Ein faszinierender Sport und eine soziale Kultur des

HERAUSGEBERKoreanisches Kulturzentrum

Kulturabteilung der Botschaft der Republik KoreaLeipziger Platz 3, 10117 Berlin

www.kulturkorea.org

LEITERGesandter-Botschaftsrat

Jong Seok Yun

REDAKTIONDr. Stefanie Grote Gesine Stoyke

GESTALTUNGSetbyol Oh

KONTAKTTel: (030) 269 52-0

Fax: (030) 269 52-134E-Mail: [email protected]

AUFLAGE4500 Exemplare

DRUCKConcept Medienhaus GmbH

VERTRIEBKoreanisches Kulturzentrum

Kulturabteilung der Botschaft der Republik Korea

Bezug gratis über den Herausgeber

Diese Printausgabe ist eine Zusammenstellung ausgewählter Beiträge unseres Online-Magazins „Kultur Korea“

(www.kulturkorea.org).

Haftungshinweis: Die Redaktion übernimmt keine Haftung für die Inhalte und Angaben der veröffentlichten

Autorenbeiträge. Die Geltendmachung von Ansprüchen jeglicher Art ist ausgeschlossen.

Kontaktieren Sie uns bitte unter [email protected], falls Sie unser Kulturmagazin nicht mehr erhalten möchten.

IMPRESSUM

88 / KULTUR KOREA