2
NACHRUF DOI:10.1002/zaac.201190457 Kurt Dehnicke, 22.04.193116.01.2011 Die Herausgeber der Zeitschrift für anorganische und allgemeine Chemie, der Verlag Wiley- VCH, Freunde, Kollegen und Schüler trauern um Professor Kurt Dehnicke, der am 16. Januar 2011 nach unheilbarer und mit Würde und Geduld ertragener Krankheit gestorben ist. Unser aller Mitgefühl gilt seinen Angehörigen. Kurt Dehnicke wurde am 22. April 1931 in Köln geboren. Seine Jugend verbrachte er in Leipzig. Bevor er 1950 das Chemiestudium an der Universität Leip- zig aufnehmen durfte, war er ein Jahr lang Laborhilfs- werker im Braunkohlenkombinat Böhlen. 1954 schloß er das Studium mit einer Diplomarbeit bei Leopold Wolf ab. Die anschließend begonnene Doktorarbeit mußte er 1955 abbrechen und floh vor Repressalien des DDR-Regimes nach Westdeutschland. An der Technischen Hochschule Stuttgart fand er bei Josef Goubeau eine neue wissenschaftliche Heimstatt; bei ihm fertigte er eine neue Doktorarbeit an. Die wissenschaftliche Atmosphäre und besonders der menschliche Umgang im Arbeitskreis von Josef Goubeau, der seine Assistenten großzügig bei der freien Wahl ihrer Forschungsthemen förderte und un- terstützte, haben ihn zweifellos geprägt. Im Anschluß in die Doktorarbeit, 1957, erarbeitete er sich als wissenschaftlicher Assistent ein eigenes Forschungsgebiet mit Reaktionen von Verbindungen des elektropositiven Chlors (ClF, Cl 2 O, ClONO 2 , ClN 3 ). Mit Metallchloriden wurden daraus wasser- freie Verbindungen wie SnCl 2 F 2 , VO 2 Cl und TiCl 3 N 3 erhalten. 1965 habilitierte er sich mit diesen Arbeiten. 1968 folgte Kurt Dehnicke der Berufung auf einen Lehrstuhl für Anorganische Chemie an der Universi- tät Marburg. Dort war er 1970/71 der letzte Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät, die 1971 per Gesetz aufgelöst und durch Fachbereiche ersetzt wurde. Er wurde zum Gründungsdekan des neuen Fachbereichs Chemie gewählt. Kurt Dehnicke nutzte die Chance, und mit seinem Organisationstalent und Charme überzeugte er den www.zaac.wiley-vch.de © 2011 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Z. Anorg. Allg. Chem. 2011, 16271631 1630 Fachbereich von einer neuen Struktur und Organisa- tion: das war einerseits eine gemeinsame Verwaltung und Infrastruktur, mit Großgeräten, die für alle Wis- senschaftler zugänglich waren, andererseits die Zu- weisung von Etatmitteln und Stellen an die Arbeits- gruppen nach dem tatsächlichen Bedarf statt nach ei- nem vorgegebenen Schlüssel. Kollegen anderer Uni- versitäten fanden das zunächst befremdlich, doch der Erfolg gab ihm recht. Die Organisation erwies sich als höchst fruchtbar für die wissenschaftliche Forschung im Fachbereich Chemie der Universität Marburg, und sie kam besonders den Nachwuchswissenschaft- lern zugute. Kurt Dehnicke begeisterte ideenreich seine Mitar- beiter für die Forschung, was sich in 820 wissen- schaftlichen Publikationen niederschlug. Das fand Anerkennung durch die Verleihung des Wilhelm- Klemm-Preises der GDCh (1989), die Wahl zum Fachgutachter (19881992) und dann zum stellver- tretenden Vorsitzenden des Fachausschusses Anorga- nische Chemie (19911992) bei der Deutschen For- schungsgemeinschaft und durch die Ehrendoktor- würde der Universität Leipzig (1996). Im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Arbeit von Kurt Dehnicke stand immer die präparative anorgani- sche Chemie. Eines der Hauptthemen war die Syn- these von Nitriden und Nitrido-Komplexen der Über- gangsmetalle mit terminalen Metall-Stickstoff-Mehr- fachbindungen (z.B. [F 4 MoN] ) oder mit symmet- rischen und unsymmetrischen Nitrido-Brücken (z.B. [Br 5 TaNTaBr 5 ] ,[Cl 4 ReNCl 4 ReN]; hier sind nur einige einfache Beispiele genannt). Zur Syn- these wurden oft brisante Ausgangsverbindungen ein- gesetzt, wie Chlorazid oder NCl 3 . Als erstes Produkt der Reaktion der Metallhalogenide mit Chlorazid

Kurt Dehnicke 22.04.1931 – 16.01.2011

Embed Size (px)

Citation preview

NACHRUF

DOI:10.1002/zaac.201190457

Kurt Dehnicke, 22.04.1931�16.01.2011

Die Herausgeber der Zeitschrift für anorganische und allgemeine Chemie, der Verlag Wiley-VCH, Freunde, Kollegen und Schüler trauern um Professor Kurt Dehnicke, der am 16.Januar 2011 nach unheilbarer und mit Würde und Geduld ertragener Krankheit gestorbenist. Unser aller Mitgefühl gilt seinen Angehörigen.

Kurt Dehnicke wurde am 22. April 1931 in Kölngeboren. Seine Jugend verbrachte er in Leipzig. Bevorer 1950 das Chemiestudium an der Universität Leip-zig aufnehmen durfte, war er ein Jahr lang Laborhilfs-werker im Braunkohlenkombinat Böhlen. 1954 schloßer das Studium mit einer Diplomarbeit bei LeopoldWolf ab. Die anschließend begonnene Doktorarbeitmußte er 1955 abbrechen und floh vor Repressaliendes DDR-Regimes nach Westdeutschland. An derTechnischen Hochschule Stuttgart fand er bei JosefGoubeau eine neue wissenschaftliche Heimstatt; beiihm fertigte er eine neue Doktorarbeit an.

Die wissenschaftliche Atmosphäre und besondersder menschliche Umgang im Arbeitskreis von JosefGoubeau, der seine Assistenten großzügig bei derfreien Wahl ihrer Forschungsthemen förderte und un-terstützte, haben ihn zweifellos geprägt.

Im Anschluß in die Doktorarbeit, 1957, erarbeiteteer sich als wissenschaftlicher Assistent ein eigenesForschungsgebiet mit Reaktionen von Verbindungendes elektropositiven Chlors (ClF, Cl2O, ClONO2,ClN3). Mit Metallchloriden wurden daraus wasser-freie Verbindungen wie SnCl2F2, VO2Cl und TiCl3N3

erhalten. 1965 habilitierte er sich mit diesen Arbeiten.

1968 folgte Kurt Dehnicke der Berufung auf einenLehrstuhl für Anorganische Chemie an der Universi-tät Marburg. Dort war er 1970/71 der letzte Dekander Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät,die 1971 per Gesetz aufgelöst und durch Fachbereicheersetzt wurde. Er wurde zum Gründungsdekan desneuen Fachbereichs Chemie gewählt.

Kurt Dehnicke nutzte die Chance, und mit seinemOrganisationstalent und Charme überzeugte er den

www.zaac.wiley-vch.de © 2011 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Z. Anorg. Allg. Chem. 2011, 1627�16311630

Fachbereich von einer neuen Struktur und Organisa-tion: das war einerseits eine gemeinsame Verwaltungund Infrastruktur, mit Großgeräten, die für alle Wis-senschaftler zugänglich waren, andererseits die Zu-weisung von Etatmitteln und Stellen an die Arbeits-gruppen nach dem tatsächlichen Bedarf statt nach ei-nem vorgegebenen Schlüssel. Kollegen anderer Uni-versitäten fanden das zunächst befremdlich, doch derErfolg gab ihm recht. Die Organisation erwies sich alshöchst fruchtbar für die wissenschaftliche Forschungim Fachbereich Chemie der Universität Marburg,und sie kam besonders den Nachwuchswissenschaft-lern zugute.

Kurt Dehnicke begeisterte ideenreich seine Mitar-beiter für die Forschung, was sich in 820 wissen-schaftlichen Publikationen niederschlug. Das fandAnerkennung durch die Verleihung des Wilhelm-Klemm-Preises der GDCh (1989), die Wahl zumFachgutachter (1988�1992) und dann zum stellver-tretenden Vorsitzenden des Fachausschusses Anorga-nische Chemie (1991�1992) bei der Deutschen For-schungsgemeinschaft und durch die Ehrendoktor-würde der Universität Leipzig (1996).

Im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Arbeit vonKurt Dehnicke stand immer die präparative anorgani-sche Chemie. Eines der Hauptthemen war die Syn-these von Nitriden und Nitrido-Komplexen der Über-gangsmetalle mit terminalen Metall-Stickstoff-Mehr-fachbindungen (z.B. [F4Mo�N]�) oder mit symmet-rischen und unsymmetrischen Nitrido-Brücken (z.B.[Br5Ta�N�TaBr5]�, [�Cl4Re�N�Cl4Re�N�]; hiersind nur einige einfache Beispiele genannt). Zur Syn-these wurden oft brisante Ausgangsverbindungen ein-gesetzt, wie Chlorazid oder NCl3. Als erstes Produktder Reaktion der Metallhalogenide mit Chlorazid

NACHRUF

entstanden Azide, aus denen dann die Nitrideerhalten wurden. Reaktion der Nitride mit PCl3 oderPPh3 führte zu Phosphaniminato-Komplexen wie[Cl5Mo�NPCl3]�. Andere Phosphaniminato-Kom-plexe konnten mit Me3SiNPPh3 gewonnen werden(z.B. [Ta(NPPh3)4] TaCl6, [Cl2Al(NPPh3)]2) Mitunterwurden recht ungewöhnliche Verbindungen erhalten,zum Beispiel Halogennitrene mit der AtomgruppeM�N�X (X � Cl, Br, I, z.B. Cl3V�N�I) oderder zum Carbonat-Ion isostere Ligand N4

4�

im [Cl5W�N�N(�N)�N�WCl5]2�-Ion. 1995 initi-ierte er das DFG-Schwerpunkprogramm „Nitrido-brücken“.

Aus den Nitriden wurden mit Schwefel oder S2Cl2Chlorthionitrene und Thionitrosyle erhalten (z.B.[Cl3Re(�N�S)(�N�S�Cl)]2�). Solche Verbindun-gen wurden aber vor allem aus Metallhalogeniden mit(NSCl)3 erhalten (z.B. Cl4Os(�N�S�Cl)2). Aus(NSCl)3 und Metallcarbonylen wurden außerdemCyclothiazenokomplexe mit dem Chelat-LigandenN3S2

3� erhalten (z.B. [MoCl3(N3S2)]2S2�N2). Ausden Chlorthionitrenen wurden wiederum neuartigeLiganden erhalten, wie NSN4� im [Cl5W�N�S�N�WCl5]2� oder der Chelat-Ligand N�S-S�N2� im[Cl4Re(N2S2)]�. Weitere Schwerpunkte waren Arbei-ten über Polyselenide (z.B. bicyclisches Se10

2�) undPolychalkogenido-Komplexe (z.B. [Zn(Se4)(Se6)]2�),Alkin-Komplexe (z.B. [Br5W(BrCsCBr)]�) und Nit-rosyl-Komplexe.

Von seiner Emeritierung (1999) bis 2010 hat KurtDehnicke wieder intensiv im Labor experimentiertund dabei zahlreiche neue Verbindungen des Berylli-ums synthetisiert. Noch im Januar 2011 publizierte ereine Arbeit über eine Verbindung mit einem Be3O3-Ring.

Marburg, Oktober 2011

Ulrich Müller

Z. Anorg. Allg. Chem. 2011, 1627�1631 © 2011 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.zaac.wiley-vch.de 1631

Zur Aufklärung der Strukturen und Bindungsver-hältnisse der zahlreichen Verbindung hat Kurt Dehni-cke, seinem Mentor Goubeau folgend, in erster Liniedie Schwingungsspektroskopie eingesetzt.

Nach der deutschen Wiedervereinigung engagiertesich Kurt Dehnicke in besonderem Maße bei der För-derung der chemischen Fachbereiche an den Universi-täten Potsdam und Leipzig.

Kurt Dehnicke war Initiator des Chemikum, einerInstitution in Marburg, die beim Laienpublikum dasInteresse an der Chemie wecken soll. Es bietet Experi-mentalvorlesungen und � auch für Blinde � dieMöglichkeit, selbst gefahrlose Experimente durchzu-führen. Bei Kindern und Jugendlichen findet es vielAnklang. Die Stadt Marburg hat seinen engagiertenEinsatz 2010 mit der Verleihung des HistorischenStadtsiegels geehrt.

Von 1997 bis 2007 sorgte sein Engagement als Mit-herausgeber der Zeitschrift für anorganische und all-gemeine Chemie für eine hohe Qualität der Zeit-schrift. Seine Erfahrungen und Ratschläge halfen vie-len jungen Autoren zur Verbesserung ihrer Publika-tionen. Die Mehrzahl seiner eigenen Publikationen istin dieser Zeitschrift erschienen, stets auf deutsch.

Wir haben einen großen Meister der präparativenChemie verloren, der mit scharfem Verstand undschneller Auffassungsgabe kritische und manchmalgefürchtete Fragen stellte. Er hatte ein Gerechtigkeits-empfinden, das er auch gegen sich gelten ließ, gingmit Kollegen und Untergebenen redlich und freund-schaftlich um und war immer zu Späßen aufgelegt.Wir werden Kurt Dehnicke in ehrenvoller Erinne-rung behalten.