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1 Kurt Mosetter / Reiner Mosetter Dialektische Neuromuskuläre Traumatherapie veröffentlicht in der Zeitschrift für Psychotraumatologie und Psychologische Medizin, ZPPM Heft 2 / 2005, © Asanger-Verlag, Heidelberg „Das Lockende und das Schreckende ist lockend und schreckend nur für ein Wesen, das sich richten, sich nähern und entfernen, kurz das sich bewegen kann.“ (Erwin Straus) Zusammenfassung In diesem Beitrag zeigen wir die praktische Anwendbarkeit des Dialektischen Veränderungsmodells von G. Fischer (1996; 2000b) an der Myoreflextherapie. Traumatische Erlebnisse werden als neuromuskuläre Erinnerungsspur in unser Körperschema eingebettet. Während sich ihr Aktivationsmuster unserem bewussten Zugang entzieht, kann uns die Dynamik des Körperlichen buchstäblich „auf Schritt und Tritt“ verfolgen. Psychische Traumata sind als eingefrorene neuromuskuläre Aktivationsmuster aktiv und doch nicht zugänglich. Für dieses Aktivationsmuster verwenden wir mit Fischer (2000b) den Begriff des Traumaschemas. Um die traumatische Erfahrung und ihre Repräsentanz im Traumaschema unter Kontrolle zu halten, entwickelt der Organismus ein System von Gegenmaßnahmen, das traumakompensatorische Schema : Die Repräsentationen der traumatischen Erfahrung werden abgekapselt, sequestriert. Sie schwelen gleichsam im Untergrund und sind doch nicht zugänglich. Das traumakompensatorische System "bildet im Sinne einer 'Sequestrierung' einen Schutzraum um den motorischen Flügel des Traumaschemas" (Fischer, 2000a, S. 74). Auf der körperlichen,

Kurt Mosetter / Reiner Mosetter - myoreflex.de · 3 Dialectic Neuro-Muscular Trauma Therapy Summary In this article we will show the practical applicability of the dialectical model

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Kurt Mosetter / Reiner Mosetter

Dialektische Neuromuskuläre Traumatherapie

veröffentlicht in der

Zeitschrift für Psychotraumatologie und Psychologische Medizin, ZPPM

Heft 2 / 2005, © Asanger-Verlag, Heidelberg

„Das Lockende und das Schreckende ist lockend und schreckend nur für ein

Wesen, das sich richten, sich nähern und entfernen, kurz das sich bewegen

kann.“ (Erwin Straus)

Zusammenfassung

In diesem Beitrag zeigen wir die praktische Anwendbarkeit des Dialektischen

Veränderungsmodells von G. Fischer (1996; 2000b) an der Myoreflextherapie.

Traumatische Erlebnisse werden als neuromuskuläre Erinnerungsspur in unser

Körperschema eingebettet. Während sich ihr Aktivationsmuster unserem

bewussten Zugang entzieht, kann uns die Dynamik des Körperlichen

buchstäblich „auf Schritt und Tritt“ verfolgen. Psychische Traumata sind als

eingefrorene neuromuskuläre Aktivationsmuster aktiv und doch nicht

zugänglich. Für dieses Aktivationsmuster verwenden wir mit Fischer (2000b)

den Begriff des Traumaschemas.

Um die traumatische Erfahrung und ihre Repräsentanz im Traumaschema unter

Kontrolle zu halten, entwickelt der Organismus ein System von

Gegenmaßnahmen, das traumakompensatorische Schema : Die

Repräsentationen der traumatischen Erfahrung werden abgekapselt,

sequestriert. Sie schwelen gleichsam im Untergrund und sind doch nicht

zugänglich. Das traumakompensatorische System "bildet im Sinne einer

'Sequestrierung' einen Schutzraum um den motorischen Flügel des

Traumaschemas" (Fischer, 2000a, S. 74). Auf der körperlichen,

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neuromuskulären Ebene geschieht dies in Form von Fixierungen und

Schonhaltungen.

In der Myoreflextherapie werden diese "Kontrolloperationen" therapeutisch

dekonstruiert, neue Schemata konstruiert und alte Schemata rekonstruiert,

indem die Spannungspunkte der neuromuskulären Erinnerungsbilder mit der

myoreflextherapeutischen Druckpunktstimulation übersteuert werden.

Schonhaltungen und Fixierungen werden so reflektiert und bewusst gemacht.

Nun "kann die Arbeit an dem eigentlichen Traumaschema unter verbesserten

Bedingungen wieder aufgenommen werden" (Fischer & Riedesser, 2003,

S. 115). Die Übersteuerung der Druckpunkte wird als Dekonstruktion

maladaptiver neuromuskulärer Schemata verstanden, welche die Konstruktion

neuer Schemata ermöglicht und eine Überarbeitung der festgefahrenen

Aktivationsmuster erlaubt (Rekonstruktion). Insofern die Begrifflichkeit des

„dialektischen Veränderungsmodells“ traumatherapeutische Prozesse auf der

psychischen wie der somatischen Ebene gleichermaßen erfasst, bewährt es

sich nach Auffassung der Autoren als integratives und übergreifendes Konzept,

das unser Verständnis heilsamer „Selbstentwicklung“ traumatisierter Patienten

leiten kann.

Schlüsselwörter: Basalganglien, klinische Anatomie, subjektive Anatomie, Psychomotorik,

Trauma Komplementär Therapie, Dialektisches Veränderungsmodell,

Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie

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Dialectic Neuro-Muscular Trauma Therapy

Summary

In this article we will show the practical applicability of the dialectical model of

changing by Fischer (1996; 2000b), taking the Myoreflextherapy as an example.

Traumatic experiences are imbedded into our body scheme as neuro-muscular

memory trails. While its activation pattern withdraws from our awareness, the

physical dynamics may follow us constantly. Therefore, psychic trauma are

active as frozen neuro-muscular activation patterns, but are still inaccessible.

To describe these facts, we use the term trauma-scheme. For keeping the

traumatic experience under control, the organism develops a system of

countermeasures, the trauma compensatory scheme: representations of

traumatic experiences are being isolated, sequestered. Although smouldering

beyond the surface, they are not accessible. The trauma compensatory system

forms, in the sense of a sequestration, a protection area around the motoric

flank of the trauma scheme. On the physical, neuro-muscular level, this

happens by fixation and pain avoiding postures (Fischer, 2000a).

With Myoreflextherapy , these “control operations” are therapeutically de-

constructed, new schemes are constructed and old schemes are re-constructed

by overmodulation of the neuro-muscular memory pictures´ stress points

applying myoreflex-therapeutic pressure point stimulation.

So, avoidance postures and fixations are reflected and made conscious. Now,

working on the underlying trauma-scheme can be taken up again under

improved conditions (Fischer & Riedesser, 2003, S 115). The overmodulation of

the pressure points can be understood as de-construction of maladaptive

neuro-muscular schemes, which only then enables the construction of new

schemes and a revision of stuck activation patterns (reconstruction).

In the following article, we will explain the conceptional, neuro-anatomic and

neuro-physiological basics, to make clear their practical applicability.

Keywords: Basal ganglia, clinical anatomy, emotional anatomy, psycho-motoricity, trauma

complementary therapy, dialectics of change, multidimensional psychodynamic

trauma therapy

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Körper-Schema und Körper-Selbst

In diesem Beitrag werden wir zentrale Konzepte von Psychotraumatologie und

Traumatherapie auf ihrer somatischen Ebene darstellen. Dabei gehen wir von

einem „handlungstheoretischen Konzept“ der traumatischen Erfahrung aus.

Trauma wird in diesem Verständnis, das auch dem „Dialektischen

Veränderungsmodell“ (im folgenden DVM) zugrunde liegt, als „unterbrochene

Handlung“ betrachtet, als „Kampf- oder Fluchthandlung“ angesichts einer

existentiellen Bedrohung, die sich jedoch nicht realisieren lassen. Weder Kampf

noch Flucht hilft weiter. So stellt sich die Frage: Was tun wir, wenn wir nichts

mehr tun können? Einem handlungstheoretischen Verständnis nach wirkt die

traumatisch unterbrochene Handlung (das „Traumaschema“, s.u.) jetzt

intrasomatisch fort. Mit den folgenden Überlegungen wollen wir ein Verständnis

von Körperlichkeit und Handlung auf einer Ebene erarbeiten, auf der Leib und

Seele als unmittelbare Einheit erscheinen.

Tragendes Organ unserer Handlungen ist das Muskelsystem. Durch den Körper

stellen wir uns in die Welt - wir haben in ihm Zugriff auf diese Welt und setzen

uns mit ihr auseinander. Mimik und Gestik verbinden uns mit unserer sozialen

Umwelt, unserer Mitwelt. Der phylogenetische Hintergrund von Körperhaltungen

(z.B. als Ausdruck von Kampf- und Fluchtverhalten), die Artikulation

zwischenmenschlicher Beziehungen und die kulturspezifische Bedeutung von

Bewegung bestimmen unsere Motorik. Im Menschen als lebendigem

Schnittpunkt mehrerer Integrationsebenen ist der Körper zugleich empfundener

und empfindender Leib. „Bewusstsein ist Sein beim Ding durch das Mittel des

Leibes“ (Merleau-Ponty, 1966, S. 167/168). Mittel ist dabei nicht instrumentell

zu verstehen; es besagt nicht den Gebrauch eines Werkzeugs oder das

Verfügen über ein Material. Mein Körper-Sein ist mein ursprüngliches Medium –

„durch meinen Leib hindurch“ (ebd., S. 401) nehme ich wahr und handle ich.

„Im Vollzug wird unser Körper leibhafte Mitte unseres Verhaltens“ (Plessner,

1961, S. 170).

Das System der Muskulatur funktioniert so im und für den Menschen. Es

übernimmt Funktionen und Inhalte, die dem Körper allein nicht zu entnehmen

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sind, welche aber sehr wohl im Leib des Menschen repräsentiert sind.

Übergreifende Konzepte, die diesen Sachverhalt deutlich machen, sind daher

erforderlich. Als unser Anteil an der Umwelt stellt der Leib einen besonderen

Bezirk der Umwelt dar - und er ist zugleich der ursprüngliche Ort unseres

Selbst. Aus umweltbezogenem Handeln gehen das Körper-Selbst und die

Entwicklung des Körperbewusstseins hervor. Die Oberflächen- und die

Tiefensensibilität oder allgemein die Propriozeption (von lat. prorium capere =

das Eigene ergreifen oder wahrnehmen) sind Basis dafür, "dass der Körper sich

in den sensorischen Antworten auf motorische Impulse 'zu eigen nimmt'"

(Uexküll u.a., 1997, S. 17). Jede Leistung unseres Körpers bedarf "einer

passenden Gegenleistung seiner physischen Umwelt (ebd., S. 77)“. Das

Spüren der Umwelt und das Erfahren seiner Selbst bilden Basis und

zentrierende Referenz für das Ich-Empfinden und die darauf aufbauenden

Leistungen. Über ein alle Organsysteme umspannendes Reafferenzsystem ist

unser Körper reflexiv konstruiert. Dies ist die körperliche Grundlage des

Selbstbewusstseins. Unser Ich ist ein Körper-Ich (Freud). Unser eigener Körper

ist wesentlich „subjektive Anatomie“ (Uexküll u.a., 1997).

Gelingen diese subjektiven Körperprozesse und „Passungen“ nicht und werden

Handlungen traumatisch unterbrochen, so wird die „Mitte unseres Verhaltens“

verzerrt; unser Leib als „Ort unseres Selbst“ wird zu einem „unsicheren Ort“. Die

Verzerrung und Behinderung des Reafferenzsystems mündet in Fixierungen

und symptomatischen Sackgassen.

Dieser Umstand begründet die Herangehensweise der Myoreflextherapie als

Trauma-Komplementärtherapie. Die Propriozeption und die "Rückmeldung der

motorischen Impulse unseres Körpers ist Voraussetzung dafür, dass [und wie]

der Körper sich als 'selbst' erlebt" (ebd., S. 80). Die „subjektive Anatomie“ und

biopsychologische Dynamik des Psychotraumas kann therapeutisch

aufgegriffen und berührt werden.

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Myoreflextherapie und biologische „Selbstregulation“

Basis der Myoreflextherapie ist die funktionelle Anatomie mit klinischer

Handlungsrelevanz. Das Träger- und Ausdruckssystem in diesem Konzept ist

das System der Muskulatur. Jeder Muskel lässt sich mit einem Kraftvektor

vergleichen; das Zusammenspiel mehrerer Muskeln und Kräfte gestaltet die

reibungslose Bewegungsgeometrie (Mosetter & Mosetter, 2001).

Muskelinduzierte Symmetriestörungen und chronische Fehl- und Überlastungen

können zu einer Vielfalt von Symptomen führen. Sie führen zu Schonhaltungen,

Schmerzzuständen, vegetativen Dysregulationen und Unruhezuständen.

Seelische Verletzungen und Traumata im Sinne unterbrochener, eingefrorener

Handlungen beantwortet die Muskulatur ebenfalls mit Hypertonus (fight / flight)

und Erstarrung (freeze).

In der Myoreflextherapie werden in erster Linie Muskelansätze in funktionellen

Zusammenhängen und kinetischen Ketten behandelt. An diesen Stellen werden

Berührungsreize verstärkt wahrgenommen; wobei bereits eine leichte

Druckerhöhung zu einer Schmerzempfindung mit Ausstrahlungen an entfernte

Stellen führen kann. Bei der Palpation finden sich häufig schmerzhafte

Verhärtungen, Myogelosen und bindegewebige Aufquellungen. An den

entsprechenden Muskeln ist ein Hypertonus festzustellen. Nach genauer

Palpation und Druckpunktstimulation derartiger Punkte lösen sich die tastbaren

Veränderungen nach einer gewissen Zeit (Sekunden bis wenige Minuten) auf.

Über einen allmählichen manuellen Druckanstieg am Muskel-Sehnen-Knochen-

Übergang werden neuromuskuläre und bindegewebige Reaktionen ausgelöst.

Der Tonus der entsprechenden Muskeln sinkt über die therapeutische

Übersteuerung und die Einleitung entsprechender negativer

Feedbackmechanismen spontan und sehr deutlich ab.

Dadurch, dass über die neuromuskulären Schaltkreise nicht nur peripher am

Muskel oder Gelenk gearbeitet wird, sondern zentrale Programme

angesprochen und vernetzt (integriert) werden, können wir in einem weiten

Sinne auch von einer Neu- und Reorganisation zentraler Verschaltungen

sprechen (Mosetter u. Mosetter, 2005).

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Der palpierende Finger des Therapeuten gibt dem Patienten eine Spür- und

Wahrnehmungshilfe und zeigt (oder spiegelt) dem Organismus mittels

myoreflextherapeutischer Steuerung der sensomotorischen Aufmerksamkeit

körperliche und neuromuskuläre Zustände in ihrer Veränderlichkeit.

Speziell in der Region der oberen HWS und der Kiefer- und Kaumuskulatur

finden wir eine Rezeptorendichte mit tausendfach höherem

Innervationsmoment, wodurch sich diese Wahrnehmungs- und

Ausdrucksregion als besonders vulnerabel zeigt. Gleichzeitig führen

körpereigene Regulationen insbesondere in diesen Feldern zu einer

tiefgreifenden Entstressung und Entspannung über die gesamte Wirbelsäule mit

sympatikolytischen Effekten.

Die Dynamik des Körperlichen und die Dynamik des Psychischen sind eng

verwoben. Bei vielen scheinbar nur körperlichen bzw. motorischen

Auffälligkeiten zeigt sich, dass die Betroffenen seelischen und

psychotraumatischen Belastungsfaktoren ausgesetzt waren oder sind.

Entsprechend sind die Symptome im Sinne einer Bewältigungsstrategie und der

Traumakompensation zu verstehen (Fischer, 2000a; 2000b).

Ohne die Integration des psychodynamisch, seelischen und des

neuromuskulären, leiblichen Flügels können Dysfunktionen des Selbstsystems

und deren therapeutische Veränderung nur unzureichend verstanden werden.

Kasuistik: Frau B.

Im Herbst 2001 stellt sich Frau Gerda B. (ca. 30 Jahre alt) als akuter Notfall in

unserer Praxis vor. Hauptsymptom und Grund der Konsultation ist ein

Bandscheibenvorfall im Segment L5/S1 mit radikulärer Symptomatik der

unteren Extremität links mit Taubheit und brennendem Schmerz in der

Lendenwirbelsäule, im Becken und im Oberschenkel sowie ein Verlust von Kraft

und motorischer Kontrolle. Die Patientin ist stark verängstigt und vegetativ

dekompensiert. Aufgrund einer schmerzverzerrten lateralen Beuge-Kontraktur

ist die Patientin nicht in der Lage, aufrecht zu stehen, zu sitzen oder zu liegen.

Die Herzfrequenz beträgt in „Ruhe“ 108. Chronische Rückenbeschwerden von

Kindheit an führten über eine stetige Verschlechterung zu einer akuten

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Dekompensation. Ferner wurde ihr Atemnotsyndrom mit Herzrasen über einige

Jahre "vergeblich" behandelt.

In der ersten Untersuchung findet sich ein gravierend erhöhter Muskeltonus

über den ganzen Körper mit einer Fixierung speziell der Beugesysteme. So

findet sich insbesondere im Bereich des Beckens eine Zwangsbeugehaltung mit

kontraktesten Strukturen der Bauchmuskulatur, des M. iliopsoas und der

Adduktoren. Die Beugefixierung findet sich ebenfalls im Bereich der

Halswirbelsäule und des Schultergürtels mit einem eingefrorenen System der

Mm. scaleni. Der ganze Körper und speziell die Muskelansätze sind bereits

unter Palpation hoch schmerzhaft, der Schmerz wird jedoch von der Patientin

gut toleriert.

Über die myoreflextherapeutische Behandlung der Glutaealmuskulatur, der

Rückenstrecker, des Zwerchfells und der unteren Extremität (bei sitzender

Position der Patientin) wird nach der 5. Sitzung die Rückenlage der Patientin

möglich und die Strukturen des Beckens der Behandlung zugänglich. Ganz

allmählich - unter sehr respektvollem Vorgehen des Therapeuten bei den

Strukturen des M. iliopsoas - wird der Bereich des Beckens sowohl wieder

wahrgenommen als auch unter einem Sich-lösen der Kontraktion entlastet.

Schon bei der ersten Behandlung dieser Strukturen erfährt die Patientin eine

deutliche Verbesserung über zwei Tage. Nach weiteren fünf Behandlungen (in

wöchentlichem Abstand) geht es der Patientin wesentlich besser, wobei sie

über Beschwerden der Halswirbelsäule klagt.

Nach weiteren acht Sitzungen (Sitzung 18; weiterhin in wöchentlichem

Abstand), unter welchen sich das Beschwerdebild immer mehr stabilisiert (die

Patientin ist wieder arbeitsfähig), fragt die Patientin ihre Myoreflextherapeutin,

ob "denn noch etwas anderes gewesen sein könnte" und im Hintergrund des

Bandscheibenvorfalles stehe. Nach zwei weiteren Sitzungen mit sehr

zielgerichteter Behandlung des M. iliopsoas, der Bauchmuskulatur sowie des

Zwerchfelles stellt sie fragend fest, dass sie das Gefühl habe, dass weit in der

Vergangenheit "etwas ganz schlimmes" passiert sei, sie sich aber "einfach an

nichts mehr" erinnere; außerdem könne es "ja sowieso eigentlich nicht" sein.

In den darauffolgenden drei Sitzungen ist die Patientin im Becken "völlig"

beschwerdefrei und überlegt laut, ob "man denn immer alles wissen" müsse. In

der 22. Sitzung erinnert sich die Patientin unter der Behandlung des M.

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sternocleidomastoideus und des Occiput an eine Situation, in welcher sie am

Hals festgehalten, gewürgt und fast erdrosselt wurde. Gegen Ende der

Behandlungssitzung sagt die Patientin, sie wisse "jetzt auch, was damals

passiert ist": Die Patientin thematisiert eine Vergewaltigung im 18. Lebensjahr.

Zur psychotherapeutischen Aufarbeitung des so aufgedeckten Missbrauchs ist

die Patientin ab dieser myoreflextherapeutischen Sitzung in paralleler

psychologischer Betreuung. Über ein weiteres halbes Jahr finden nun im

Abstand von drei Wochen entlastende und stabilisierende Behandlungen statt.

Von der Patientin selbst wird der enge Zusammenhang zwischen ihren

körperlichen Symptomen (Wirbelsäulenbeschwerden, Bandscheibenvorfall) und

ihrer psychischen Befindlichkeit (Angst- und Panikstörungen, Depressionen,

Herzrasen und Instabilitätsgefühle) formuliert und wieder "zusammengesetzt".

In der bewussten Auseinandersetzung mit der Thematik beginnt für die

Patientin ein Verständnisprozess bezüglich einer ganzen Reihe von

Hintergrundsymptomen.

Während der Zeit der kombinierten psychotherapeutischen Behandlung

tauchen zuerst unspezifische Ahnungen bezüglich einer viel früheren

Verletzung auf. Während dieser Phase des Therapieprozesses verspürt die

Patientin wieder deutlich erhöhte Spannungen in der HWS und Schmerzen am

Hinterhaupt. Behandelt werden nun zuerst sog. Fernpunkte am Becken und der

BWS sowie das Zwerchfell. Über die Regulation dieser Zonen findet eine

allmähliche therapeutische Annäherung an den zerviko-kranialen Übergang

statt.

In der folgenden Zeit wurde der Patientin „klar, dass“ ihr „das schlimmste

zugefügt wurde“, was sie sich „jemals vorstellen kann“. Sie wurde über zwei

Jahre (vom 11. bis zum 13. Lebensjahr) von einem engen Familienmitglied

wiederholt missbraucht. Mit der Frage „Wieso darf so etwas geschehen?“ folgt

nun eine vorübergehende Phase von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, in

der die Patientin mit dem Schicksal hadert. Hier fordert die Patientin nun

wöchentliche Behandlungen, um „diese Sache“ bewältigen zu können. Im

Vordergrund der folgenden Behandlungssitzungen geht es nun nicht mehr um

Schmerz, sondern um eine körperlich-emotionale Stabilisierung

Stabilisierung als therapeutisches Grundmuster bedeutet, dass der Organismus

des Patienten und dessen Erlebnissituation aus automatisierten Engpässen

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heraus wieder mehr Flexibilität und Spielraum erhält. Eingefrorene motorische

Handlungsmuster der Kau- und Kiefermuskulatur, des Muskelsystems der

Halswirbelsäule, der Atem- und Atemhilfsmuskulatur, der gesamten Wirbelsäule

und dem Muskelsystem des Beckens sollten in der ersten Phase eine Befreiung

und Entspannung erfahren.

So führte bei Frau B. eine Behandlung der Segmente C1, C2 und C3 zu einem

Nachlassen der hypertonen, kontrakten Muskelzustände der Halswirbelsäule

und damit zu einem Rückgewinn der Flexibilität bezüglich Drehung des Kopfes

nach links, rechts, nach hinten, oben, unten und vorne. Die Grundlage für ein

gesundes basales Aufmerksamkeits- und Orientierungsverhalten kann so über

eine motorische Befreiung wieder erlangt werden.

Die fixierte Atemmuster mit Kontraktionen der Atemhilfsmuskulatur, der Mm.

scaleni, des M. serratus und des Zwerchfells erfahren während der Behandlung

eine Befreiung bezüglich der Exkursionsmöglichkeiten des gesamten Thorax

und des Atmens im Allgemeinen.

Über Spannungsveränderungen im Becken, in der Lendenwirbelsäule,

überwiegend über das Gleichgewicht des M. iliopsoas und des M. glutaeus wird

ein Aufrichten, ein Sich-Aufrichten aus der Wirbelsäule heraus wieder möglich.

Veränderungen eingefahrener Spannungsmuster der Kiefer- und

Kaumuskulatur sowie der mimischen Muskulatur mit neuroanatomisch

unmittelbar verankertem Stress- und Aggressionspotential erfahren eine

Veränderung sowohl bezüglich Selbstausdruck, wie auch bezüglich ihrer

Flexibilität im Wahrnehmungsprozess (Mosetter & Mosetter, 2001; 2003).

(Weitere Kasuistiken in Kilk, 2005)

Grundzüge der therapeutischen Arbeit

1. Bei der Myoreflextherapie geht es um die unmittelbare Lösung der zu hohen

körpereigenen Grundspannung und damit um eine Veränderung und

Entlastung der neuromuskulären und psychischen Grundregulation.

2. Der behandelnde Finger dient den Patienten als Spür- bzw.

Wahrnehmungshilfe, um ihr Körper-Ich zu spüren und ihr Körperschema zu

regulieren. Behandelt wird manuell bei in der Regel schwachem

Palpationsdruck ohne Manipulationen. Die genaue individuelle Lokalisation,

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Dosierung, Stärke und Zeiteinheit der Stimulation sind dabei von

entscheidender Bedeutung. Umstellungsreize führen den Organismus

wieder zu einer störungsfreien Selbstregulation.

3. In einem nonverbalen Dialog ist die Sensorik und Sensomotorik Zielsystem

der Myoreflextherapie. Die therapeutische Hand kann in diesem Prozess

taktiler Spiegel des betroffenen Organismus werden. Der Referenzpunkt

Körper so neu wahrnehmen und wahrgenommen werden. Mit der

motorsensorischen Reafferenz können Sackgassen und Einbahnstraßen im

Organismus, im Erleben des Organismus sowie in verschiedenen

Hirnregionen und deren Zusammenspiel neu reguliert werden.

4. Die Begegnung zwischen Therapeut und Patient ist auf einer meta-

kommunikativen Ebene zu suchen. Wenn der Patient erfährt, dass der

Therapeut ihn als Gegenüber wahrnimmt und mit ihm kommuniziert -

jenseits eines primär technischen, operativen Eingreifens und Reparierens

von Störungen -, dann kann diese gegenseitige Aufmerksamkeit und

Anerkennung zu einer ergiebigen regulativen Größe der weiteren

therapeutischen Veränderungen werden.

5. Die therapeutischen Regulationen führen zu einer neuen Stabilität im

körperlichen Selbsterleben. Der eigene Leib, unser körperliches

Referenzsystem verändert sich so von einem „unsicheren Ort“ zu einem

„sicheren Ort“.

6. Gleichzeitig rücken sich der sensorische und der motorische Flügel wieder

näher. Die Veränderungsschritte der therapeutischen Konstruktion und

Rekonstruktion können so in Gang kommen.

7. Speziell im Bereich der HWS und der Kaumuskulatur gehen im

myoreflextherapeutischen Regelkreis vom Patienten selbst beantwortete

Reizmuster unmittelbar mit sympathikolytischen Regulationen einher.

Körpergedächtnis und passive Wiederholung

Unsere Handlungen werden von der Muskulatur und den sie regulierenden

neurokognitiven Schemata getragen und aufbewahrt. Die neuromuskulären

Reaktionsmuster "unterliegen jenen Wiederholungstendenzen der rekognitiven

und reproduktiven Assimilation, die nach Piaget auch im Normalfall die

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sensorische und motorische Aktivität des Schemas steuern" (Fischer &

Riedesser, 2003, S. 113). Laufen diese unbewusst und ohne Selbstbezug

(fraktioniert) ab, "so kann das Selbst aus der abgespaltenen Erfahrung und ihrer

Re-Inszenierung im Traumaschema nicht lernen" (ebd., S. 114); Ähnlichkeit der

Umwelt wird durch Gleichheit ersetzt. Mit Fischer u. Riedesser (2003) können

wir hier von einer passiven Wiederholung sprechen.

Die Funktionen und Inhalte, mit welchen das Muskelsystem durchdrungen ist,

sind von dieser Warte aus nicht das Ergebnis einer Umwandlung oder

Verschiebung von Seelischem in Körperliches. Gemeint ist vielmehr ein

mehrdimensionaler Gesamtvorgang. - Verschiedene Blickwinkel zeigen

verschiedene Facetten. Häufig ist nicht der Körper selbst das primäre Störfeld -

wohl aber liegen im Erfolgsorgan unserer Handlungen bestimmte

mentale/psychische Störungen und Beschwerdebilder begründet. Aktualisiert

und wahrnehmbar werden diese über das Erleben des Körpers (- mittels der

myo-reflex-therapeutischen Spiegelfunktion).

Situationen und Grundkonstellationen werden dann traumatisch, wenn die

efferente Sphäre und damit einhergehend die afferente Sphäre nicht mehr

greifen. Der Situationskreis zerbricht. Im Sinne des Selbstschutzes und einer

aktiven „Gegenhandlung“ (Fischer, 1996b) muss der Organismus auch später

beide Sphären, die efferente und afferente, entkoppeln und ausblenden. Auch

auf der neuronalen Ebene der Selbstregulation führen diese Handlungsaspekte

ein abgekoppeltes Eigenleben.

Die sensomotorischen Hinweisreize, die in der passiven Wiederholung den

Kampf- und Fluchtimpulsen bzw. dem Totstellverhalten entsprechen und vitale

Bedrohung signalisieren, sind dabei zugleich ein Produkt dieses Eigenlebens.

Der Traumastate wird so erstens neuronal, zweitens körperlich / neuromuskulär

und drittens (diesem Stressmuster entsprechend) neurochemisch /

neuroendokrinologisch unterhalten.

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Im Sinne eines „switching“ können minimale Einzelhinweisreize zur

Akzentuierung und Aktivierung der gesamten traumatischen Handlungsmatrix

und der entsprechenden Bedeutungserteilung und –Verwertung ausreichen.

„Die Basalganglien erhalten die bereits verarbeitete Information und

wechseln die Verhaltensrichtung und die Reaktion (‚switching’), wenn

konkurrierende Informationen eingehen.“ (Birbaumer & Schmidt, 2003,

S. 645)

Funktion der Basalganglien In den Basalganglien wird über die Auswahl emotional gesteuerter

Handlungsmuster „entschieden“. Um innere Bedrohung zu vermeiden, greift der

Organismus auf die Notfallstrategien „körperliche Daueranspannung“ bzw.

„vollständiger Spannungsverlust“ zurück. Die Daueranspannung fungiert zum

einen als Kompensation der inneren Wiederholung (reparativer Aspekt des

traumakompensatorischen Schemas, TKS) und soll zum anderen weitere

Sicherheit leisten (präventiver Aspekt des TKS). Diese Strategie verhakt sich

jedoch, vor allem im sensomotorischen System, denn dieses liefert weitere

Reafferenzen aus der für die traumatische Erfahrung typischen Sensomotorik

von Flucht und Kampf.

Diese sensomotorischen Muster der Flucht und des Kampfes werden vor allem

durch den Nucleus caudatus getragen. Diese Struktur reguliert in einer

„Gatingfunktion“ normalerweise über das Pallidum die Übererregungszustände

der Aktivierungsschleifen und synchronisiert sie vom Thalamus aus mit dem

Neocortex, um gegebenenfalls Übererregungs-Tore zu schließen. (Vgl.

Abbildung 1, Outputstationen der Basalganglienschleife).

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Thalamus

prämotorischer, motorischer, präfrontaler und temporaler Kortex

Hirnstamm,Pons,

Ncl. ruberFR

Rückenmark und Motoneurone

Kleinhirn Hippokampus[1, 2]

[3, 4]

Amygdala

Abbildung 1, Outputstationen der Basalganglienschleife

Erläuterung: vereinfachte Darstellung der Strukturen der Basalganglien: 1 – äußeres Globus

pallidus; 2 – inneres Globus pallidus; 3 – Nucleus caudatus; 4 – Putamen; 5 – der

embryologische Zwilling Amygdala (nach Mosetter & Mosetter, 2005, Erläuterungen im Text)

Die Basalganglien sind nicht nur an direkter Bewegung (Bewegungsplanung, -

Ausführung, -Kontrolle) und der Erstellung von Bewegungsprogrammen

beteiligt, sondern auch an emotionalen und kognitiven Verarbeitungsschritten,

am Aufmerksamkeitsverhalten und an der Entwicklung und Abwägung von

Probehandeln.

Aus allen motorischen Zentren der Körperperipherie, vom Muskel-, Sehnen-,

und bindegewebigen Apparat wie aus allen Sinnesorganen, erhalten die

Basalganglien ihren Input. Über sie ist auch die Tiefensensibilität mit Stellung,

Bewegung, Gelenken, Muskeln und Sehnen im Körperschema verankert und

therapeutisch indirekt berührbar. Weiterhin wird der komplette

Erregungszustand des Kortex wird den Basalganglien mitgeteilt (vgl. Abbildung

2, Input der Basalganglien).

Im Zuge der sensomotorischen Entwicklung und Entwicklung des Körper-Ich,

wie auch im Erleben und der Konzeption von Handeln beeinflussen

Basalganglien und Motorik Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsprozesse.

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In ihrer Funktion von motorischer Aufmerksamkeit und Orientierungsverhalten

sind die Basalganglien verschaltet mit verschiedenen Thalamuskernen, dem

ventromedialen frontalen Kortex, dem Hippocampus, der basolateralen

Amygdala, den motorischen Feldern der Insel sowie mit Kerngebieten des

Mittelhirns. In seiner Zwillingseigenschaft mit der Amygdala bildet der nucl.

caudatus das Zentrum einer Motorik, die an der Ausgestaltung von Flucht,

Kampf und Erstarren sowie der Verankerung des Totstellreflexes beteiligt ist.

Die Basalganglien entscheiden über die Auswahl emotional gesteuerter

Handlungsmuster (Birbaumer & Schmidt, 2003). Sie erhalten aus allen

Regionen des ZNS differenzierten Input. Die Eingangsstation für diese Signale

liegt im Corpus striatum (Ncl. caudatus und Putamen). (Vgl. Abbildung 2, Input

der Basalganglien).

In einem internen Vorwärtsschleifensystem der Basalganglienkerngebiete

unterscheidet sich die Outputstation grundsätzlich von den Eingabefeldern. Auf

die dazwischenliegenden Arbeitsprozesse haben wir keinen bewussten Zugriff.

Auch die Folgen der Outputprojektionen über das Schließen entsprechender

Tore zum Thalamus können uns grundsätzlich nicht bewusst werden.

Handlungspläne unterschiedlicher Kortexareale werden innerhalb der

Basalganglienverschaltung als „machbar“ oder „nicht machbar“ eingeordnet und

entsprechend prozessiert. Dort werden die Weichen gestellt bzw. die Schalter

umgelegt. In einem traumatischen Körper-State können so willkürliche und

präfrontal-gesteuerte Handlungsentwürfe nicht nachhaltig gebahnt und

umgesetzt werden (Trepel, 2004; Zilles & Rekämper; 1998; Graybiel, 1995,

1995b; Hoover, 1993; Middleton; 1997).

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16

Thalamus

prämotorischer, motorischer, präfrontaler und temporaler Kortex

Hirnstamm,Pons,

Ncl. ruberFR

Rückenmark und Motoneurone

KleinhirnHippokampus

[1, 2]

[3, 4]

Amygdala

Abbildung 2, Input der Basalganglien

Erläuterung: vereinfachte Darstellung der Strukturen der Basalganglien: 1 – äußeres Globus

pallidus; 2 – inneres Globus pallidus; 3 – Nucleus caudatus; 4 – Putamen; 5 – der

embryologische Zwilling Amygdala (nach Mosetter & Mosetter, 2005, weitere Erläuterungen im

Text)

Die Basalganglien unterscheiden sich grundlegend vom thalamocortikalen

System mit dessen reziprok-reentranten Vernetzungen (Bergmann u.a., 1998).

Im Vorwärts-Schleifensystem finden selektive Schritte und Entscheidungen für

bestimmte Bewegungen und Handlungen statt. Diese werden in ihrer Abfolge

dann konsequent durchgeführt. Ist die Sequenz gebahnt (wie etwa die

Entscheidung, Ski zu fahren), können die dazugehörigen Bewegungsabläufe

und Muster nicht mehr verlassen werden (wie ein Skifahrer nicht in die

Bewegungsabläufe eines Stabhochspringers wechseln kann). Die Koordination

der kontextabhängigen Bewegungsabläufe ist dem reentranten

Verschaltungsmuster jetzt nicht mehr zugänglich. Da die Basalganglien sie

nicht in den Kortex zurückprojizieren, bleiben solche Schritte der

Verhaltensauswahl, einmal initiiert, späterhin unbewusst (Birbaumer & Schmidt,

2003). Aufgrund dieser Selektionsregeln sind die Basalganglien entscheidend

für die Motorik von traumatischen Erfahrungen und traumatischen Prozessen.

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„ ... die Neurone der Basalganglien sind plastisch, so dass einmal assoziierte

Verbindungen (z.B. ein Hinweisreiz aus dem Kortex für Flucht und eine

bestimmte Körperposition) rasch bei der Darbietung auch nur eines

Elementes der Reizsituation ausgelöst werden.“ (Birbaumer & Schmidt,

2003, S. 645)

In den langen Schleifen der Basalganglien sind Routinen und ggf. auch

Fehlabläufe verankert, die zu motorischen und kognitiven Stereotypien führen.

Sie gehen mit Erfahrungs- und Handlungsmustern einher, die von der

Persönlichkeit als „ich-dyston“ empfunden werden. Ein Beispiel sind

neurotische Verhaltensweisen, wie etwa Zwangshandlungen (vgl. Edelmann &

Tononi 2002).

Motorisches Lernen gründet in den Basalganglien. Die Inhalte weisen den

Status von prozeduralem, „implizitem“ Gedächtnis auf. Motorisches Lernen im

traumatischen Prozess führt zu Stereotypien, Einfrieren sowie zu

Schonhaltungen und Vermeidungsverhalten. Bei Gefahr, Furcht und Angst

erfährt das Corpus striatum der Basalganglien über die Substantia nigra und

den Nucl. subthalamicus Veränderungen in Melodie und Flexibilität der

Bewegungsprogramme (Zilles & Rekämper 1998). Einschränkungen in der

Koordination und Synchronisation motorischer Kerne und daraus resultierende

Stereotypien hemmen kortikale Zentren. In der Verschaltung mit der Substantia

nigra, dem Striatum und dem Thalamus kann ein dysregulierter

Dopaminstoffwechsel im Neurotransmitter- und Neuropeptidorchester zu

weiteren einseitigen Spannungsmustern und Parkinson-ähnlichen Symptomen

führen.

Fixierte Körperpositionen und Aktivitätsmuster von Flucht-, Kampf- oder

Erstarrungsverhalten triggern über die Schaltkreise das ganze Traumaszenario

und legen gleichzeitig den Schalter („switching“) in eine weitere Polarisierung

von Traumaschema und Traumakompensatorischem Schema. Die körperlichen

Symptome sind in der traumatischen Reaktion und im traumatischen Prozess

somit nicht nur als Begleit- oder Epiphänomene zu verstehen. Leibliche

Situiertheit und Bewegung spiegeln sich nicht nur im subjektiven Erleben des

Patienten wider, sondern auch in der neuroanatomischen Gesamtdynamik.

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Diese bildet damit den Ausgangspunkt einer mehrdimensionalen und

prozessorientierten Therapiestrategie.

Traumadynamik im Parallelogramm der Kräfte

Im folgenden rekonstruieren wir das oben beschriebene Diagnostik- und

Behandlungskonzept der Myoreflextherapie nach den Annahmen des

„Dialektischen Veränderungsmodells“ nach Fischer (1996) und der

„Pathodynamik des Traumas“.

In der Trauma-Situation wird ein "Wahrnehmungs- bzw. Handlungsschema

aktiviert, das [...] die traumatische Erfahrung im Gedächtnis speichert." (Fischer

& Riedesser, 2003) Im traumatischen Prozess, der auf die Notfall-Reaktion

folgt, werden sodann Gegen-Maßnahmen elaboriert, mit dem Ziel, die

traumatische Erfahrung unter Kontrolle zu halten und abzuwehren.

Ansatzpunkt der mehrdimensionalen psychodynamischen Traumatherapie nach

Fischer (2000b) ist dieses

„traumadynamische System, gebildet aus dem Traumaschema und dem

traumakompensatorischen Schema. [...] Das Traumaschema als

unterbrochenes Wahrnehmungs-/Handlungsschema (als unterbrochene

'fight-/flight-/freeze-Reaktion') drängt wie jedes Schema (im Sinne Piagets)

zur Reproduktion, was eine Retraumatisierung zur Folge hätte, wenn nicht

das kompensatorische Schema fortlaufend dieser Reproduktion dynamisch

entgegenwirken würde. Einen Kompromiss zwischen den beiden Kraftfeldern

der Traumadynamik bildet das 'minimale kontrollierte Handlungs- oder

Ausdrucksfeld.“ (Fischer, 2000b, S. 76)

Die Dynamik dieses Gleichgewichtsystems kann als "Parallelogramm der

Kräfte" (ebd.) veranschaulicht werden. Darin „bildet die Diagonale die

'Resultante' der in entgegengesetzte Richtung wirkenden Kräfte“ und drückt das

minimal kontrollierte Ausdrucks- und Handlungsfeld aus. „Diese Resultante

entspricht dem psychotraumatischen Symptom als einer 'Kompromissbildung’“

(Fischer, 2000b). Auch das Konzept der Myoreflextherapie im Sinne einer

neuromuskulären Traumatherapie lässt sich nach diesem Modell aufzeigen. Ein

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bekanntes Phänomen wird als „Wandern der Symptome“ bezeichnet. Es ist in

Abb. 3 als Abfolge von T1, T2 usf. auf der Diagonalen des

Kräfteparallelogramms eingetragen. Hierin wird ausgedrückt, dass sich

neuromuskuläre Symptome als Abfolge von schmerzhaften Verspannungen

und anschließender Schonhaltung bilden, wobei die Schonhaltung ihrerseits mit

der Zeit zu weiteren Symptomen führt. Es ergibt sich eine Sequenz aufeinander

folgender und auseinander hervorgehender Symptome, wie sie in Abb. 3

veranschaulicht ist.

In diesem Modell erweist sich das Muskelsystem als Ort und Träger der

Psychodynamik des Traumas. Die Schonhaltung fungiert als Abwehrbewegung

im traumatischen Prozess. Sie ist "als eine angstmotivierte unbewusst-

intentionale Gegen-Handlung zu verstehen" (Fischer, 1996, S. 31).

Abbildung 3, Das Parallelogramm der biodynamischen Kräfte

Die Symptome als das „minimal kontrollierte Ausdrucks- und Handlungsfeld“ (MKH/A)

entsprechen der Diagonale. Biodynamisch und neuroanatomisch entziehen sie sich einer

willkürlichen Kontrolle. TS steht für das Traumaschema, TKS für das traumatkompensatorische

Schema. In der Diagonalen sind Symptome eingetragen, die sich in der entsprechenden

zeitlichen Abfolge gebildet haben. Sie werden in der Therapie von oben nach unten hin

„dekonstruiert“, wie durch den rückwärts gebogenen Pfeil angedeutet wird. (Weitere

Erläuterungen im Text)

Die Gegen-Handlungen der Abwehrbewegung sind näher zu verstehen

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1. als eine Kontroll-Handlung (Schon-Haltung) im Sinne eines Ausblendens

des traumatischen, neuromuskulären Wahrnehmungs- und Handlungs-

schemas. Erinnerungen können "gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen"

aktiviert werden" - so auch in "Körperempfindungen, Körperspannungen und

Handlungsimpulsen" (Fischer, 2000b, S. 105/107). Solche neuromuskuläre

Spannungen können abschwenken und weg-wandern in andere

Körperregionen - und dort Symptome bilden (Mosetter & Mosetter 2001).

2. als Ausdrucksformen der nonverbalen Kommunikation (Mimik, Gestik;

Haltungen des Sich-klein-Machens, des Sich-Schützens usw.) und der

symbolischen Kontrolle.

Arbeitsbündnis und Übertragungsbeziehung

Myoreflextherapie einerseits sowie „Dialektisches Veränderungsmodell“ und

„Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie“ (MPTT) andererseits

wurden unabhängig voneinander entwickelt. Erstere behandelt neuromuskuläre

Verspannungszustände und Körperschmerz, letztere psychische Folgen von

Trauma und „Seelenschmerz“. Desto überraschender ist die Übereinstimmung

in Diagnostik und therapeutischem Ansatz zwischen den beiden Konzepten.

Diese Übereinstimmung scheint sich aus der Logik therapeutischer

Veränderung bei traumatisierten Patienten, wie sie in der klinischen Praxis zu

beobachten ist, zu ergeben. Diese wird im folgenden weiter ausgeführt.

Bei der myoreflextherapeutischen Behandlung psychotraumatisierter Menschen

gilt ebenso wie in der MPTT die "dialektische Strategie" der "Stärkung und

Differenzierung des traumakompensatorischen Schemas"; die Ziele der

"Eigentherapie", der Gegen-Handlung und des "Selbstschutzes" werden "positiv

aufgegriffen" (Fischer, 2000b). Dies wird in der MPTT vorbereitet durch Aufbau

und Entwicklung eines therapeutischen Arbeitsbündnisses, das der Patientin

ein Höchstmass an Selbstbestimmung und Eigeninitiative einräumt und darin

ihrer traumabedingten „erlernten Hilflosigkeit“ entgegen wirkt.

Voraussetzung für ein konstruktives Arbeitsbündnis ist somit, dass der

Therapeut die Strategien der Trauma-Kompensation unbedingt respektiert und

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keinesfalls zu früh angeht. Im myoreflextherapeutischen Setting heißt das, die

Strategie des Weg-Wanderns von Symptomen positiv aufzugreifen und

zunächst sogenannte Fern-Punkte zu behandeln. Der Therapeut legt den

Finger nicht direkt auf die Wunde, sondern arbeitet fern von dieser. Langsam

jedoch geht er so zusammen mit dem Klienten den Weg zurück (T7 - T6 - T5 -) -

immer näher - hin zu dem Punkt / Bereich, an dem die Phase der

Traumabearbeitung einsetzen kann (vgl. Abbildung 3, Das Parallelogramm der

biodynamischen Kräfte).

Im Sinne der optimalen Differenz im dialektischen Veränderungsmodell werden

die myoreflextherapeutischen Stimuli und neuen neuromuskulären Erfahrungen

(therapeutischen Inputs) dem alten Traumaschema "hinreichend angenähert“,

andernfalls bleiben sie „bedeutungslos". Sie müssen jedoch "zugleich

hinreichend unähnlich" ausfallen, so dass der Klient (1.) nicht überfordert und

retraumatisiert wird und (2.) das alte Schema überarbeitet und modifiziert

werden kann (Fischer 2000b). Im Laufe der neuromuskulären Traumatherapie

"lockert sich"

„das starre Gleichgewicht der traumadynamischen Ausgangslage. Aspekte

der im Traumaschema gespeicherten, bisher abgewehrten traumatischen

Erfahrung können dann dosiert zugelassen und schrittweise durchgearbeitet

werden.“ (Fischer, 2000b, S. 78)

Der Rhythmus des Betroffenen bestimmt die Wahl der therapeutischen

Behandlungspunkte, wie ihre jeweilige Regulierung. Bei Behandlungsbeginn

würde eine Behandlung etwa der Adduktoren und des Beckens für Frau B., die

Patientin aus dem obigen Beispiel, eine Retraumatisierung bedeuten. Es

werden also zunächst „Fernpunkte“ behandelt; bei Frau B. die

Rückenmuskulatur sowie Arme und Beine. Behandelt wird nicht bei liegender,

sondern bei sitzender Position der Patientin.

Ist die Differenz von Übertragung und Arbeitsbündnis am Anfang der Therapie

noch gering, so kann die Patientin im weiteren Verlauf der Therapie zwischen

Wiederholung und neuer Erfahrung differenzieren. Sie erfährt, dass die

Berührung der Therapeutin an den Adduktoren und am Becken keine

„Vergewaltigung“ ist, sondern im Kontext des Arbeitsbündnisses steht.

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Dekonstruktion, Konstruktion und Rekonstruktion

Nach dem Dialektischen Veränderungsmodell werden pathogene, z. B.

traumabedingte Schemata in der psychotherapeutischen Behandlung zunächst

„dekonstruiert“. In dieser aporetischen, ausweglosen Situation entwirft der

Patient ein neues Schema (Konstruktion), und überarbeitet oder „rekonstruiert“

von dieser Meta-Ebene aus das alte, pathogene Schema, indem er gleichsam

dessen „update“ herstellt. Die Momente von Dekonstruktion, Konstruktion und

Rekonstruktion entsprechen dem dialektischen Begriff der „Aufhebung“, der in

der deutschen Sprache die dreifache Bedeutung von „Entfernen“ (eliminare,

Dekonstruktion), „Aufbewahren“ (conservare, Rekonstruktion) und Emporheben

(elevare, Konstruktion) besitzt. In diesen drei Momenten vollendet sich nach

dem Dialektischen Veränderungsmodell ein therapeutisch begleiteter

Veränderungsschritt, so auch in der Myoreflextherapie.

Mit Hilfe der myoreflextherapeutischen Spür- und Wahrnehmungshilfe kann der

Patient sein neuromuskuläres Traumaschema Stück für Stück dezentrieren,

differenzieren und seine Gegen-Handlungen im Sinne der Schonhaltung auf

neuromuskulärer Ebene reflektieren. Verselbständigte, negierte Haltungs-

Formen können zum Gegenstand oder Inhalt einer neuen Regulations-Stufe

werden. Im Sinne einer dialektischen Aufhebung werden die Lösungsstrategien

und Wahrnehmungs- / Handlungsschemata Schritt für Schritt dekonstruiert; dies

beinhaltet stets zwei Momente:

Es wird eine neue und höhere Reflexions- und Regulationsstufe konstruiert, die

alternative Handlungs- und Bewegungsmöglichkeiten für die Zukunft zur

Verfügung stellt. Von diesem Plateau aus kann eine Zurückwendung in die

Vergangenheit geleistet werden. Einer gelingenden dialektischen Regulation ist

so der Schutz vor Retraumatisierung immanent.

Die reflexive, rekonstruktive Zurückwendung auf die eigenen Gegen- und

Schonhandlungen stellt einen Akt des (auf verschiedenen Integrationsebenen

stattfindenden, meist schmerzhaften) Bewusstwerdens und des Erinnerns dar.

Die Kontrolloperationen, insbesondere "kein Merken von Merken und Wirken",

hier das Abspalten der Tiefensensibilität und die neuromuskulären Aspekte der

"passiven Wiederholung" (Fischer & Riedesser, 2003) werden therapeutisch

übersteuert und so der regulatorischen Aufmerksamkeit wieder zugänglich.

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"Beim Patienten können Erinnerungen an das traumatische Ereignis für den

psychologischen Verarbeitungsprozess zugänglich werden (im sensorischen

Flügel), sobald eine Lösung der Traumadynamik auf der motorischen Ebene

gefunden wurde.“ (Fischer, 2000a, S. 74)

"In diesem konstruktiv-rekonstruktiven Zirkel wird ein Typus von Wissen

erworben", den wir mit Fischer als "Veränderungswissen" bezeichnen (Fischer,

1998, S. 60). Die therapeutische Dialogebene ist die neuromuskuläre, leibliche.

Jedoch lässt sich diese, wie gezeigt, nur künstlich von den psychischen und

mentalen Dimensionen des Menschen trennen. So gesehen verhält sich die

Myoreflextherapie bzw. neuromuskuläre Traumatherapie als Pendant zu einer

dialektischen Psychoanalyse und Psychodynamisch-dialektischen

Psychotherapie, wie der MPTT.

Die Vielfalt körperlich verwobener Symptombilder, ein Beispiel

Die traumatische Reaktion spricht auf der somatischen Ebene nur selten ein

einzelnes Organsystem an. Sie erfolgt vielmehr als ganzheitliche Antwort des

psychophysischen Organismus auf das vitale Diskrepanzerlebnis des Traumas.

Allerdings lassen sich einige typische, wiederkehrende Reaktionsmuster und

Gesetzmäßigkeiten unterscheiden. So z.B. ein Antwortsystem, bei welchem der

Musculus Iliopsoas angesprochen ist (Verlauf von Brustwirbelkörper 12 über

Lendenwirbelquerfortsätze durch die knöcherne Struktur des gesamten

Beckens bis zum Trochanter major). Er steuert normalerweise den aufrechten

Gang und stabilisiert die Wirbelsäule. Auf alle Angst-, Flucht- und

Kampfsituationen reagiert dieser Muskel mit einem Beugereflex und extremer

Tonuserhöhung. Dieses Beuge- und Spannungsmuster kann in einer

traumatischen Schocksituation fixiert oder durch kumulative Traumatisierung

immer von neuem ausgelöst und schließlich auf Dauer gestellt werden. So auch

bei Frau B.

Aus den kontrakten Einheiten des Muskelzugs können verschiedene, auch

wechselnde Symptombilder resultieren, wie z.B. unklare

Unterbauchbeschwerden, Darmaffektionen, Bandscheibenvorfälle, Schmerzen

in der Genital- und Leistenregion, ferner direkte und ausstrahlende

Hüftbeschwerden. Bei Affektion des thorakolumbalen Übergangs sind weiterhin

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Irritationen des Zwerchfells und der Atmung zu beobachten. In den körperlichen

Irritationen kommt einerseits die unterbrochene, primäre Kampf- oder

Fluchtreaktion zum Ausdruck (Traumaschema), andererseits auch das Schon-

und Vermeidungsverhalten, im Sinne der spontanen traumakompensatorischen

Tendenz des Organismus. Dieses gegenläufige Reaktionsmuster kann sich, je

nach anatomischen und biographischen Besonderheiten, in unterschiedlichen

Symptombildern manifestieren.

Ist die Erinnerung an die traumatische Situation verloren oder fragmentiert, so

repräsentieren traumatische Reaktion bzw. Prozess die traumatische Erfahrung

in der "impliziten Erinnerung", auf der Ebene des "Körpergedächtnisses". Der

sensorische und motorische Flügel des Traumaschemas sind voneinander

dissoziiert, was der Definition von Trauma als "unterbrochener Handlung"

entspricht. Während sich der motorische Flügel im kontrakten Muskelsystem

verselbständigt oder - bildlich gesprochen - "einfriert", werden im sensorischen

Flügel die Wahrnehmungs-/Erinnerungsfragmente gespeichert. Die Trauma -

Komplementärtherapie führt beide Flügel zusammen und kann grundsätzlich

von beiden Sphären aus ansetzen (sensorisch-motorisch oder motorisch-

sensorisch) (Fischer, 2000a; Mosetter & Mosetter, 2005; Kilk 2005).

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