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K APITEL II Lagrange-Formalismus Die im letzten Kapitel dargelegte Formulierung der Mechanik nach Newton ist zwar sehr intuitiv: man zählt alle auf das zu studierende System wirkenden Kräfte auf, schreibt ihre Resultierende auf die rechte Seite des zweiten Newton’schen Gesetzes (I.2) auf, und löst die sich daraus ergebende Differentialgleichung — möglicherweise anhand eines numerischen Verfahrens. In der Praxis kann der hier skizzierte Vorgang sich als nicht so direkt herausstellen. Zum einen können die Kräfte nicht einfach formulierbar sein, insbesondere wenn es sich um eine Zwangskraft handelt, welche die Bewegung des Systems einschränkt, von dem Bewegungszustand aber abhängt. Dies passiert z.B. im Fall eines Pendels, in welchem die Stange eine Zwangskraft auf die Masse am Ende des Pendels übt, die von der Position und Geschwindigkeit der Masse abhängt. Zum anderen können die „natürlichen“ Variablen der Newton’schen Beschreibung, d.h. die zeitabhängigen Koordinaten von Ortsvektoren, nicht die geeignetsten sein. Zur Beseitigung der besagten Schwierigkeiten kann man zunächst die Newton’schen Bewegungs- gleichungen (I.2) verallgemeinern, um Zwangskräfte in einer geeigneten Form zu berücksichtigen: diese erste Erweiterung des Formalismus führt zu den sog. Lagrange (i) -Gleichungen erster Art . In ei- nem zweiten Schritt werden verallgemeinerte Koordinaten eingeführt und die Lagrange-Gleichungen erster Art so manipulieren, dass die Zwangskräfte in den resultierenden Gleichungen nicht mehr auf- treten. Somit erhält man die Lagrange-Gleichungen zweiter Art . Anstatt dieser Vorgehensweise zu folgen, (8) kann man die Lagrange-Gleichungen zweiter Art aus einem neu postulierten Prinzip folgern, dem Hamilton (j) -Prinzip. Um dieses mathematisch formulie- ren zu können, ist es notwendig, ein Ergebnis aus der Variationsrechnung einzuführen (Abschn. II.1). Abschnitt II.2 befasst sich zuerst mit den Definitionen der verallgemeinerten Koordinaten und ei- niger anderen Größen, die eine zentrale Rolle im Hamilton-Prinzip spielen. Dann wird das letztere formuliert und die daraus folgenden Lagrange-Gleichungen zweiter Art hergeleitet, die in diesem Rahmen öfter als Euler–Lagrange-Gleichungen bezeichnet werden. II.1 Ein Resultat aus der Variationsrechnung In diesem Abschnitt wird zunächst die Definition eines Funktionals, d.h. einer Funktion von Funk- tionen, gegeben (§ II.1.1). Dann wird ein nützliches Ergebnis dargelegt, um die Funktionen, die eine bestimmte Funktional extremal machen, zu charakterisieren (§ II.1.2). II.1.1 Funktional Im mathematischen Sinne ist eine Funktion oder Abbildung f eine Beziehung, die jedem Element x einer (Definitions-)Menge genau ein Element f (x) einer anderen Menge (Zielmenge) zuordnet. Im physikalischen Kontext ist die Definitionsmenge oft eine Untermenge — ein Gebiet — eines endlich- dimensionalen (Vektor)Raums V , insbesondere R, C, R n , oder C n , wobei n N. Das gleiche gilt für die Zielmenge V 0 . (8) Die interessierte Leserin kann diesen Zugang z.B. in Fließbach [1], Kap. 7–9 finden. (i) J.-L. Lagrange, 1736–1813 (j) W. R. Hamilton, 1805–1865

Lagrange-Formalismus - Universität Bielefeldborghini/Teaching/Theorie-I_15/11_09.pdf · 40 Lagrange-Formalismus AlsFunktional bezeichnenPhysikereineAbbildungF,derenDefinitionsmengeV

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KAPITEL II

Lagrange-Formalismus

Die im letzten Kapitel dargelegte Formulierung der Mechanik nach Newton ist zwar sehr intuitiv:man zählt alle auf das zu studierende System wirkenden Kräfte auf, schreibt ihre Resultierende aufdie rechte Seite des zweiten Newton’schen Gesetzes (I.2) auf, und löst die sich daraus ergebendeDifferentialgleichung — möglicherweise anhand eines numerischen Verfahrens.

In der Praxis kann der hier skizzierte Vorgang sich als nicht so direkt herausstellen. Zum einenkönnen die Kräfte nicht einfach formulierbar sein, insbesondere wenn es sich um eine Zwangskrafthandelt, welche die Bewegung des Systems einschränkt, von dem Bewegungszustand aber abhängt.Dies passiert z.B. im Fall eines Pendels, in welchem die Stange eine Zwangskraft auf die Masseam Ende des Pendels übt, die von der Position und Geschwindigkeit der Masse abhängt. Zumanderen können die „natürlichen“ Variablen der Newton’schen Beschreibung, d.h. die zeitabhängigenKoordinaten von Ortsvektoren, nicht die geeignetsten sein.

Zur Beseitigung der besagten Schwierigkeiten kann man zunächst die Newton’schen Bewegungs-gleichungen (I.2) verallgemeinern, um Zwangskräfte in einer geeigneten Form zu berücksichtigen:diese erste Erweiterung des Formalismus führt zu den sog. Lagrange(i)-Gleichungen erster Art . In ei-nem zweiten Schritt werden verallgemeinerte Koordinaten eingeführt und die Lagrange-Gleichungenerster Art so manipulieren, dass die Zwangskräfte in den resultierenden Gleichungen nicht mehr auf-treten. Somit erhält man die Lagrange-Gleichungen zweiter Art .

Anstatt dieser Vorgehensweise zu folgen,(8) kann man die Lagrange-Gleichungen zweiter Art auseinem neu postulierten Prinzip folgern, dem Hamilton(j)-Prinzip. Um dieses mathematisch formulie-ren zu können, ist es notwendig, ein Ergebnis aus der Variationsrechnung einzuführen (Abschn. II.1).Abschnitt II.2 befasst sich zuerst mit den Definitionen der verallgemeinerten Koordinaten und ei-niger anderen Größen, die eine zentrale Rolle im Hamilton-Prinzip spielen. Dann wird das letztereformuliert und die daraus folgenden Lagrange-Gleichungen zweiter Art hergeleitet, die in diesemRahmen öfter als Euler–Lagrange-Gleichungen bezeichnet werden.

II.1 Ein Resultat aus der VariationsrechnungIn diesem Abschnitt wird zunächst die Definition eines Funktionals, d.h. einer Funktion von Funk-tionen, gegeben (§ II.1.1). Dann wird ein nützliches Ergebnis dargelegt, um die Funktionen, die einebestimmte Funktional extremal machen, zu charakterisieren (§ II.1.2).

II.1.1 Funktional

Im mathematischen Sinne ist eine Funktion oder Abbildung f eine Beziehung, die jedem Elementx einer (Definitions-)Menge genau ein Element f(x) einer anderen Menge (Zielmenge) zuordnet. Imphysikalischen Kontext ist die Definitionsmenge oft eine Untermenge — ein Gebiet — eines endlich-dimensionalen (Vektor)Raums V , insbesondere R, C, Rn, oder Cn, wobei n ∈ N. Das gleiche giltfür die Zielmenge V ′.

(8)Die interessierte Leserin kann diesen Zugang z.B. in Fließbach [1], Kap. 7–9 finden.(i)J.-L. Lagrange, 1736–1813 (j)W. R. Hamilton, 1805–1865

40 Lagrange-Formalismus

Als Funktional bezeichnen Physiker eine Abbildung F , deren Definitionsmenge V ein unendlich-dimensionaler Funktionenraum ist, während die Zielmenge V ′ entweder R oder C ist. Der Wert einesFunktionals F für eine Funktion f ∈ V wird mit F [f ], oder manchmal mit F [f(x)], bezeichnet.

Im Folgenden wird die Zielmenge von Funktionalen immer R sein. Wiederum werden die Funk-tionen f der Definitionsmenge bestimmte Eigenschaften besitzen: meistens sind das (mindestenseinmal) stetig differenzierbare Funktionen.

Beispiel 1: In diesem und den folgenden Beispielen ist die Definitionsmenge der jeweiligen Funk-tionale der Raum der stetig differenzierbaren Funktionen f : R → R, die automatisch stetig undintegrierbar auf jedem endlichen Intervall sind.Seien zwei reelle Zahlen x1 < x2; die Integration über das Intervall [x1, x2] definiert ein Funktional:(9)

F [f ] ≡∫ x2

x1

f(x) dx.

Beispiel 2: Sei x0 ∈ R. Die Abbildung, die jeder Funktion f ihren Wert im Punkt x0 zuordnet, istein Funktional:

F [f ] = f(x0) =

∫ ∞−∞

δ(x− x0)f(x) dx,

wobei in der zweiten Gleichung das Dirac(k)-Delta eingeführt wurde.

Beispiel 3: Eine reelle Funktion x 7→ y(x) lässt sich günstig als Kurve in der (x, y)-Ebene darstellen.Wenn x1 < x2 zwei reelle Zahlen sind, dann ist die Länge `[y] der Kurve y(x) zwischen den PunktenP1 =

(x1, y(x1)

)und P2 =

(x2, y(x2)

)ein Funktional

`[y] =

∫ P2

P1

d` =

∫ P2

P1

√(dx)2 + (dy)2 =

∫ x2

x1

√1 +

[y′(x)

]2dx (II.1)

wobei y′ die Ableitung von y nach x bezeichnet.

Beispiel 4: Sei Φ eine reelle Funktion von drei reellen Argumenten und x1 < x2 zwei reelle Zahlen.Dann definiert die Formel

F [f ] =

∫ x2

x1

Φ(x, f(x), f ′(x)

)dx

ein Funktional, das wir im nächsten Paragraphen wieder diskutieren werden.

II.1.2 Extremierung eines Funktionals

::::::II.1.2 a

::::::::::::::::::Euler-Gleichung

Sei Φ eine stetig differenzierbare Funktion von drei reellen Variablen und x1 < x2 gegebenereelle Zahlen. Wir betrachten das Funktional

F [f ] =

∫ x2

x1

Φ(x, f(x), f ′(x)

)dx

mit f einer stetig differenzierbaren reellen Funktion auf dem Intervall [x1, x2] und f ′ deren Ableitung,wobei die Werte an den Grenzen gegeben sind: f(x1) = y1 und f(x2) = y2. Hiernach werden diepartiellen Ableitungen von Φ mit ∂Φ/∂x , ∂Φ/∂f und ∂Φ/∂f ′ bezeichnet.

Wir wollen eine notwendige Bedingung dafür herleiten, dass das Funktional ein Extremum —Minimum oder Maximum — für eine Funktion f0 hat. Das heißt, für alle Funktionen f(x), dief(x1) = y1 und f(x2) = y2 erfüllen, gilt F [f ] ≥ F [f0] (falls F minimal für f0) bzw. F [f ] ≤ F [f0](Maximum für f0).(9)Mathematisch wird eher das Integral als Funktional mit bestimmten Eigenschaften (wie Linearität) definiert. . .(k)P. A. M. Dirac, 1902–1984

II.1 Ein Resultat aus der Variationsrechnung 41

Sei δf eine beliebige stetig differenzierbare Funktion [x1, x2] → R, mit δf(x1) = δf(x2) = 0.Dann ist λ 7→ F [f0 + λ δf ] eine Funktion von R nach R. Damit F extremal in f0 sei, muss dieAbleitung dieser Funktion nach λ Null für λ = 0 sein:

dF [f0+λ δf ]

∣∣∣∣λ=0

= 0.

Mit dem Einsetzen des Ausdrucks von F [f0+λ δf ] als Integral und dem Austausch von der Ableitungnach λ und der Integration über x ergibt sich

dF [f0+λ δf ]

dλ=

d

[∫ x2

x1

Φ(x, f0(x)+λ δf(x), f ′0(x)+λ δf ′(x)

)dx

]=

∫ x2

x1

[∂Φ

∂fδf(x) +

∂Φ

∂f ′δf ′(x)

]dx,

wobei die partiellen Ableitungen im Punkt(x, f0(x)+λ δf(x), f ′0(x)+λ δf ′(x)

)zu berechnen sind.

Der zweite Summand im Integranden des letzten Terms lässt sich mithilfe einer partiellen Inte-gration umschreiben:∫ x2

x1

∂Φ

∂f ′δf ′(x) dx =

[∂Φ

∂f ′δf(x)

]x2x1

−∫ x2

x1

d

dx

(∂Φ

∂f ′

)δf(x) dx.

Dank der Bedingung δf(x1) = δf(x2) = 0 verschwindet der integrierte Term auf der rechten Seite.Somit gilt

dF [f0+λ δf ]

dλ=

∫ x2

x1

[∂Φ

∂f− d

dx

(∂Φ

∂f ′

)]δf(x) dx.

Dies muss für λ = 0 verschwinden, d.h. wenn die partiellen Ableitungen im Punkt(f0(x), f ′0(x), x

)genommen sind. Da die Wahl der „Variation“ δf bis auf ihren Werten an den Rändern beliebigist, findet man einfach, dass die Differenz in den eckigen Klammern selbst identisch verschwindenmuss,(10) d.h.

∂Φ(x, f0(x), f ′0(x)

)∂f

− d

dx

(∂Φ(x, f0(x), f ′0(x)

)∂f ′

)= 0 ∀x ∈ [x1, x2].

Somit haben wir bewiesen das

Theorem: Sei Φ eine in allen ihren drei reellen Variablen stetig differenzierbare Funktion und x1, x2,y1, y2 gegebene reelle Zahlen mit x1 < x2. Für stetig differenzierbare Funktionen f : [x1, x2]→ R,die f(x1) = y1 und f(x2) = y2 erfüllen, wird das Funktional

F [f ] =

∫ x2

x1

Φ(x, f(x), f ′(x)

)dx (II.2a)

definiert. Wenn F ein Extremum für eine Funktion f0 hat, dann erfüllt f0 die Euler-Gleichung

∂Φ(x, f(x), f ′(x)

)∂f

=d

dx

(∂Φ(x, f(x), f ′(x)

)∂f ′

)∀x ∈ [x1, x2]. (II.2b)

Bemerkungen:

∗ Bei gegebener Φ ist die zugehörige Euler-Gleichung eine gewöhnliche Differentialgleichung zweiterOrdnung in f .

∗ Wenn die Funktion Φ bestimmte Bedingungen erfüllt, kann man auch zeigen, dass eine Lösungder Euler-Gleichung (II.2b) auch Lösung des Extremierunsproblems für F ist.

∗ Die Anwesenheit eines Extremum für das Funktional F wird (durch Physiker) oft mit der kurzenSchreibweise δF [f ] = 0 bezeichnet.(10)Dies bildet das Fundamentallemma der Variationsrechnung .

42 Lagrange-Formalismus

Das obige Theorem lässt sich auf den Fall eines Funktionals

F [f1, . . . , fN ] =

∫ x2

x1

Φ(x, f1(x), f ′1(x), . . . , fN (x), f ′N (x)

)dx (II.3a)

von N Funktionen fa, a = 1, . . . , N verallgemeinern, wobei Φ jetzt eine stetig differenzierbareFunktion von 2N + 1 reellen Variablen ist. Wenn ein Satz (f1, . . . , fN ) das Funktional F minimiertoder maximiert, dann genügen die zugehörigen Funktionen den N Euler-Gleichungen

∂Φ

∂fa=

d

dx

(∂Φ

∂f ′a

)∀x ∈ [x1, x2] (II.3b)

für jedes a ∈ {1, . . . , N}.Das Theorem kann auch verallgemeinert werden, um den Fall eines Funktionals zu berücksich-

tigen, dessen Argumente Funktionen mehrerer Variablen x1, . . . , xp sind:

F [f ] =

∫D

Φ

(x1, . . . , xp, f(x1, . . . , xp),

∂f(x1, . . . , xp)

∂x1, . . . ,

∂f(x1, . . . , xp)

∂xp

)dx1 . . . dxp, (II.4a)

mit D einem p-dimensionalen Integrationsgebiet. Dabei ist Φ jetzt eine stetig differenzierbare Funk-tion von 2p+1 reellen Variablen. Wenn eine Funktion f das Funktional F minimiert oder maximiert,dann erfüllt sie die Euler-Gleichung

∂Φ

∂f=

p∑j=1

∂xj

(∂Φ

∂(∂f/∂xj)

)∀x ∈ D (II.4b)

Schließlich lässt sich auch die Extremierung von Funktionalen von N Funktionen von p Variablenbehandeln, indem die zwei obigen Verallgemeinerungen kombiniert werden.

::::::II.1.2 b

:::::::::Beispiel

Als Anwendung der Euler-Gleichung können wir den (bekannten!) kürzesten Weg zwischen zweiPunkten (x1, y1) und (x2, y2) in der Ebene suchen. Das heißt, wir möchten die Kurve f(x) finden,die f(x1) = y1 und f(x2) = y2 erfüllt und das Funktional

`[f ] =

∫ x2

x1

√1 +

[f ′(x)

]2dx (II.1)

minimiert. Dieses Funktional ist der Form (II.2a) mit Φ(x, f(x), f ′(x)

)=√

1 + [f ′(x)]2. Die zuge-hörigen partiellen Ableitungen sind

∂Φ

∂x= 0,

∂Φ

∂f= 0,

∂Φ

∂f ′=

f ′(x)√1 + [f ′(x)]2

.

Leitet man die letztere nach x ab, so ergibt sichd

dx

(∂Φ

∂f ′

)=

f ′′(x)(1 + [f ′(x)]2

)3/2mit f ′′ der zweiten Ableitung von f . Die Euler-Gleichung (II.2b) lautet dann

∂Φ

∂f=

d

dx

(∂Φ

∂f ′

)⇔ 0 =

f ′′(x)(1 + [f ′(x)]2

)3/2 .Dies gibt sofort f ′′(x) = 0: nach doppelter Integration unter Berücksichtigung der Randbedingungenin x1 und x2 kommt

f(x) = y1 +y2 − y1

x2 − x1(x− x1),

d.h. die Gleichung der Gerade zwischen den zwei Endpunkten, was zu erwarten war.

Bemerkung: Zur Berechnung der totalen Ableitung nach x von ∂Φ/∂f ′ kann man entweder denAusdruck der partiellen Ableitung direkt ableiten, oder die Kettenregel anwenden und dafür diedrei zweiten Ableitungen ∂2Φ/∂x ∂f ′, ∂2Φ/∂f ∂f ′ und ∂2Φ/∂f ′2 berechnen und mit jeweils x′ = 1,f ′(x) und f ′′(x) multiplizieren. Natürlich führen beide Wege zum gleichen Ergebnis.

II.2 Hamilton-Prinzip 43

II.2 Hamilton-PrinzipWas machen wir in diesem Abschnitt?

II.2.1 Definitionen

::::::II.2.1 a

::::::::::::::::::::::::::::::::Verallgemeinerte Koordinaten

Sei ein System Σ aus N Massenpunkten. Die N Ortsvektoren ~xa(t) mit a ∈ {1, . . . , N} sindäquivalent zu 3N Koordinaten. Wenn die Massenpunkte sich unabhängig voneinander bewegenkönnen, dann besitzt das System genau s = 3N Freiheitsgrade.

In der Praxis untersucht man oft aber Probleme, in denen es (feste) Zusammenhänge zwischenden 3N Koordinaten gibt: z.B. ist der Abstand zwischen zwei Massenpunkten festgelegt, oder dieMassenpunkte müssen auf irgendeiner Fläche bleiben. In solchen Fällen sind die 3N Koordinatender Positionen nicht unabhängig von einander, d.h. die Anzahl s der Freiheitsgrade des Systems istkleiner als 3N . Es ist daher sinnvoll, mit nur s Größen zu arbeiten, anstatt mit N .

Somit führt man zur Charakterisierung eines mechanischen Systems s verallgemeinerte bzw.generalisierte Koordinaten q1(t), q2(t), . . . , qs(t) ein, welche die folgenden Bedingungen erfüllen:

i. Sie legen den Zustand des Systems eindeutig fest, d.h. jede Position ~xa(t) mit a ∈ {1, . . . , N}lässt sich als eine bestimmte Funktion — die auch mit ~xa bezeichnet wird — der Zeit und ders verallgemeinerten Koordinaten schreiben:

~xa(t) = ~xa(t, q1(t), . . . , qs(t)

)∀a ∈ {1, . . . , N} (II.5)

ii. Sie sind alle voneinander unabhängig, d.h. es existiert keine Funktion f von s+1 Argumenten,für die f

(t, q1(t), . . . , qs(t)

)= 0 für jede Zeit t gilt.

Die Newton’schen Bewegungsgleichungen sind Differentialgleichungen zweiter Ordnung, so dassman neben den Positionen ~xa(t) noch die N Geschwindigkeiten ~̇xa(t) betrachten muss, um dieZeitentwicklung für t′ > t zu bestimmen. Laut Gl. (II.5) sind diese Geschwindigkeiten Funktion vonder Zeit t, den verallgemeinerten Koordinaten qi(t) für i ∈ {1, . . . , s}, und von deren Zeitableitungen.Dementsprechend muss man auch die verallgemeinerten Geschwindigkeiten q̇i(t) in Betracht ziehen.

Genau wie die Geschwindigkeiten ~̇xa(t) im Allgemeinen unabhängig von den Positionen ~xa(t),gilt dies auch für die verallgemeinerten Geschwindigkeiten und Koordinaten.

Der Kürze halber werden die s generalisierten Koordinaten qi(t) bzw. Geschwindigkeiten q̇i(t)kollektiv als ein s-dimensionaler Vektor q(t) bzw. q̇(t) bezeichnet.

Bemerkungen:∗ Während die Anzahl s der Freiheitsgrade für ein bestimmtes Problem eindeutig festgelegt ist,gilt das im Allgemeinen nicht für die verallgemeinerten Koordinaten qi(t), entsprechend z.B. derFreiheit bei der Wahl von Koordinaten.

∗ Genau wie es schon der Fall bei „üblichen“ Koordinaten ist, haben verallgemeinerte Koordinatennicht unbedingt die Dimension einer Länge.

::::::II.2.1 b

::::::::::::::::::::::::::::::Lagrange-Funktion. Wirkung

Jedem System aus s Freiheitsgraden kann eine reelle Funktion von 2s + 1 (reellen) Variablenzugeordnet werden, die Lagrange-Funktion L, welche die Bewegung des Systems völlig bestimmt,und die (physikalische) Dimension einer Energie hat. Dabei nimmt die Funktion als Argumente dieZeit t, die s verallgemeinerten Koordinaten qi(t) und s verallgemeinerten Geschwindigkeiten q̇i(t):

L(t,q(t), q̇(t)

). (II.6)

Somit ergibt sich eigentlich eine Funktion der Zeit t alleine.

44 Lagrange-Formalismus

Die Form der Lagrange-Funktion wird später angegeben, nachdem ihre Rolle in der Bestimmungder Bewegungsgleichungen eines Systems genauer präzisiert worden ist (vgl. § II.2.3). Es sei aberschon hier erwähnt, dass diese Form nicht eindeutig festgelegt ist, auch wenn die verallgemeinertenKoordinaten gewählt wurden.

Seien jetzt zwei Zeitpunkte t1 < t2. Das Integral der Funktion (II.6) über das Zeitintervall [t1, t2]definiert die Wirkung , die auch Wirkungsintegral genannt wird:

S[q] ≡∫ t2

t1

L(t,q(t), q̇(t)

)dt. (II.7)

In der Schreibweise wurde schon berücksichtigt, dass die Wirkung von den verallgemeinerten Koor-dinaten und Geschwindigkeiten qi(t), q̇i(t) abhängt, so dass es sich um ein Funktional handelt —weshalb S[q] auch als Wirkungsfunktional bezeichnet wird.

Die Wirkung hat die Dimension des Produkts von Energie und Zeit, d.h. die zugehörige Einheitim SI-System ist das J s = kg m2 s−1.

II.2.2 Hamilton-Prinzip. Euler–Lagrange-Gleichungen

Es seien t1 < t2. Bei dem Hamilton-Prinzip handelt es sich um ein Extremalprinzip, laut dem dieZeitentwicklung eines Systems im Intervall [t1, t2] so erfolgt, dass die physikalisch realisierten verall-gemeinerten Koordinaten q(t) und Geschwindigkeiten q̇(t) das Wirkungsfunktional (II.7) extremal(oder „stationär“) machen. Dies wird oft kurz als

Hamilton-Prinzip: δS[q] = 0 (II.8)

ausgedrückt.Gemäß dem in § II.1.2 a angegebenen Theorem genügt dann das Integrand des Wirkungsintegrals,d.h. die Lagrange-Funktion L, den Euler-Gleichungen (II.3b), die in diesem Kontext als Euler–Lagrange-Gleichungen bezeichnet werden:

∂L(t,q(t), q̇(t)

)∂qi

=d

dt

(∂L(t,q(t), q̇(t)

)∂q̇i

)∀i ∈ {1, . . . , s}. (II.9)

Diese s Differentialgleichungen zweiter Ordnung für die s verallgemeinerten Koordinaten stellen dieBewegungsgleichungen des Systems dar.

Bemerkungen:

∗ Das Hamilton-Prinzip wird auch als das Wirkungsprinzip, das Prinzip der stationären Wirkungoder, fehlerhaft, das Prinzip der kleinsten Wirkung bezeichnet.Wiederum werden die Euler–Lagrange-Gleichungen (II.9) noch Lagrange-Gleichungen zweiter Artgenannt.

∗ Die Lagrange-Funktion für ein gegebenes System ist nicht eindeutig: wenn L(t,q(t), q̇(t)

)eine

mögliche Lagrange-Funktion bezeichnet, dann ist

L′(t,q(t), q̇(t)

)≡ L

(t,q(t), q̇(t)

)+

d

dtM(t,q(t)

)(II.10)

eine äquivalente Lagrange-Funktion, die zu denselben Euler–Lagrange-Gleichungen führt, wobeiMeine beliebige stetig differenzierbare Funktion der Zeit und der generalisierten Koordinaten ist.

II.2 Hamilton-Prinzip 45

Beweis: das mit L′ berechnete Wirkungsintegral lautet

S′[q] ≡∫ t2

t1

L′(t,q(t), q̇(t))

dt = S[q] +

∫ t2

t1

dM(t,q(t)

)dt

dt = S[q] +M(t2,q(t2)

)−M

(t1,q(t1)

).

Unter Variationen q→ q + δq, mit δq(t1) = δq(t2) = 0 bleiben die zwei letzten Terme unverän-dert, d.h. sie haben keinen Einfluss auf die Position des Extremums bzw. auf die Euler–Lagrange-Gleichungen. 2Alternativ kann man die totale Ableitung nach der Zeit dM

(t,q(t)

)/dt durch die partiellen

Ableitungen (nach t und nach den qi) ausdrücken. Dann findet man, dass der zusätzliche Termin der Lagrange-Funktion Beiträge zu den beiden Seiten der Euler–Lagrange-Gleichungen liefert,die sich gegenseitig kompensieren.

Die Invarianz der Bewegungsgleichungen unter Transformationen (II.10) wird manchmal als Eich-invarianz bezeichnet, und eine derartige Transformation als Eichtransformation.

∗ Die Euler–Lagrange-Gleichungen (II.9) sind Form-invariant oder kovariant unter den gleichzei-tigen Transformationen

qa(t)→ q′a(t) = q′a(t,q(t)

)(II.11a)

L(t,q(t), q̇(t)

)→ L′

(t,q′(t), q̇′(t)

)≡ L

(t,q(t,q′(t)

), q̇(t,q′(t)

)), (II.11b)

entsprechend einem Koordinatenwechsel.

Beweis: ohne Schwierigkeit.

Definition: Der verallgemeinerte Impuls wird definiert als

pi(t,q(t), q̇(t)

)≡∂L(t,q(t), q̇(t)

)∂q̇i

(II.12)

Falls die Lagrange-Funktion nicht explizit von einer verallgemeinerten Koordinaten qi abhängt,dann folgt sofort aus der entsprechenden Euler–Lagrange-Gleichung, dass der zugehörige generali-sierte Impuls pi eine Erhaltungsgröße ist.