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42 Geographische Kommission für Westfalen Gebiet und Identität Naturraum Bevölkerung Siedlung Wirtschaft und Verkehr Bildung, Kultur und Sport Gesellschaft und Politik Landschaftsbilder der Vergangenheit: Urwälder und Altwälder in Westfalen Was sind Urwälder und Altwälder? In der Alltagssprache steht der Begriff „Urwald“ meist für einen Dschungel, einen tropischen Regenwald, ein undurchdringliches Dickicht mit Lianen und charakteristischen Bewohnern aus der Tierwelt. Fachlich definiert handelt es sich jedoch um jede Form eines Pri- märwaldes, eines vom Menschen voll- kommen unberührten, ungestörten Wal- des, in welchem niemals eine forstliche Nutzung zwecks Holzproduktion statt- fand. Weitere Merkmale des Urwaldes bestehen in seiner Gliederung in mehre- re Strukturphasen, d. h. die Abwechs- lung mehrerer Altersgenerationen der Bäume (Verjüngungsstadium, Heran- wachsstadium, Altersstadium), wodurch eine mehrschichtige Altersstruktur des Waldes verursacht wird. Auch reichlich liegendes und stehendes Totholz und Moderholz zeichnen einen Urwald aus. Heutzutage gibt es in Mitteleuropa kaum noch großflächige Urwälder und die wenigen dieser kostbaren Relikte überdauerten vor allem kleinflächig auf unzugänglichen, oft felsigen Lagen, welche die Nutzung dieser Waldbestän- de erschwerten oder gar unmöglich machten. Während der mittelalterlichen Rodungsperiode, die ihren Höhepunkt zwischen 1100 und 1250 hatte, fielen die Wälder in Mitteleuropa großflächig, aber konkret eher zahlreichen örtlichen Rodungen zum Opfer, da Holz als Uni- versalrohstoff für alle denkbaren Zwe- cke (u. a. Baumaterial, Brennmaterial) in großen Mengen benötigt wurde. Die Devastierung erreichte schließlich im 17. und 18. Jh. ihren Höhepunkt. Eine Ausnahme bildeten lediglich die sog. Bannwälder, in denen jegliche Nutzung wie Holzentnahme oder Waldweide untersagt blieb, so dass die natürliche Walddynamik kaum gestört wurde. So können die heute noch erhaltenen ent- sprechenden Waldbestände eine relativ naturnahe Struktur aufweisen. Finden sich also Wälder, die seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten nicht mehr durch den Menschen genutzt wurden, stellen sich in diesen dann langfristig wieder die natürlichen dynamischen Prozesse wie Alterung und Naturverjün- gung ein. Die lange andauernde Unbe- rührtheit des Waldes ohne den Druck der Holzproduktion war in den Bannwäl- dern eine Waldnut- zung, die das Heran- wachsen von Altbäu- men und Uraltbäu- men erlaubte. Solche größeren Waldbe- stände, welche die intensive Rodungs- periode unbeschadet überstanden haben und die durch die Dominanz von Alt- bäumen gekenn- zeichnet sind, wer- den daher auch als Altwälder bezeich- net. Nach den flä- chendeckenden Ro- dungen im Mittelal- ter entstanden erst im Zuge der preußi- schen Forstwirt- schaft seit Mitte des 18. Jh.s wieder ge- schlossene Waldbe- stände, da während dieser Epoche auf großer Fläche aufge- forstet wurde, um mit dem produzier- ten Holz Gewinn zu erwirtschaften. Die intensive Nutzung des Waldes, die durch das Anpflanzen von meist schnellwüch- sigen, standort- und gebietsfremden Baumarten wie Fichte und Waldkiefer geprägt war, führte zu einem stärker werdenden wirtschaftlichen Druck auf den Wald und meist zu Monokulturen aus einer bestimmten Baumart. Das Modell des „Holzackers“, auf welchem sich großflächige Kahlschläge und rasche Wiederaufforstung abwechsel- ten, erlaubte keine Ausbildung naturna- her Strukturen des Waldes wie Totholz- reichtum oder eine mehrschichtige Altersstruktur. Heutzutage wenden sich jedoch zunehmend mehr Forstleute und Waldbauern von diesem einseitig auf rein profitorientierte Holzproduktion ausgerichteten Wirtschaftsbetrieb des Waldes ab und berücksichtigen ver- mehrt Aspekte der Ökologie und des Naturschutzes. Verbreitung von Urwäldern und Alt- wäldern in Westfalen Urwälder gibt es in Westfalen bis auf möglicherweise wenige kleine Frag- mente so gut wie nicht mehr. Eine grö- ßere Ausdehnung erreichen die Altwäl- der in Westfalen in der Westfälischen Bucht bzw. im Münsterland. Auch im Sauerland existieren vereinzelt Altwald- bestände, auch wenn hier die Fichten- forste auf weiter Fläche dominieren. Bestände aus einheimischen Baumarten wie der Rot-Buche sollen langfristig zu naturnahen Wäldern entwickelt werden. Daher sind in einigen Forstbezirken im Sauerland Naturwaldzellen eingerichtet worden, wo die Bäume ein hohes Alter hin bis zum Absterben erreichen können und in denen keine forstliche Holzent- nahme erlaubt ist. Eine solche Natur- waldzelle ist der Wald „An der Frauen- grube“ auf 680 bis 720 m ü. NN im Abb. 1: Naturwaldzelle „An der Frauengrube“ mit Rot-Buche (Fagus sylvatica) als dominante Baumart sowie reichlich liegendem Totholz und gut ausgebildeter Krautschicht (Foto: P. GAUSMANN) Stand: 2010

Landschaftsbilder der Vergangenheit: Urwälder und ...€¦ · (Eriophorum vagina-tum) und Wald-Schach-telhalm (Equisetum syl-vaticum) sowie Zwerg-sträucher wie Heidel-beere (Vaccinium

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Page 1: Landschaftsbilder der Vergangenheit: Urwälder und ...€¦ · (Eriophorum vagina-tum) und Wald-Schach-telhalm (Equisetum syl-vaticum) sowie Zwerg-sträucher wie Heidel-beere (Vaccinium

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Landschaftsbilder der Vergangenheit:Urwälder und Altwälder in Westfalen

Was sind Urwälder und Altwälder?In der Alltagssprache steht der Begriff„Urwald“ meist für einen Dschungel,einen tropischen Regenwald, einundurchdringliches Dickicht mit Lianenund charakteristischen Bewohnern ausder Tierwelt. Fachlich definiert handeltes sich jedoch um jede Form eines Pri-märwaldes, eines vom Menschen voll-kommen unberührten, ungestörten Wal-des, in welchem niemals eine forstlicheNutzung zwecks Holzproduktion statt-fand. Weitere Merkmale des Urwaldesbestehen in seiner Gliederung in mehre-re Strukturphasen, d. h. die Abwechs-lung mehrerer Altersgenerationen derBäume (Verjüngungsstadium, Heran-wachsstadium, Altersstadium), wodurcheine mehrschichtige Altersstruktur desWaldes verursacht wird. Auch reichlichliegendes und stehendes Totholz undModerholz zeichnen einen Urwald aus.Heutzutage gibt es in Mitteleuropakaum noch großflächige Urwälder unddie wenigen dieser kostbaren Relikteüberdauerten vor allem kleinflächig aufunzugänglichen, oft felsigen Lagen,welche die Nutzung dieser Waldbestän-de erschwerten oder gar unmöglichmachten. Während der mittelalterlichenRodungsperiode, die ihren Höhepunktzwischen 1100 und 1250 hatte, fielendie Wälder in Mitteleuropa großflächig,aber konkret eher zahlreichen örtlichenRodungen zum Opfer, da Holz als Uni-versalrohstoff für alle denkbaren Zwe -cke (u. a. Baumaterial, Brennmaterial)in großen Mengen benötigt wurde. DieDevastierung erreichte schließlich im17. und 18. Jh. ihren Höhepunkt. EineAusnahme bildeten lediglich die sog.Bannwälder, in denen jegliche Nutzungwie Holzentnahme oder Waldweideuntersagt blieb, so dass die natürlicheWalddynamik kaum gestört wurde. Sokönnen die heute noch erhaltenen ent-sprechenden Waldbestände eine relativnaturnahe Struktur aufweisen. Findensich also Wälder, die seit Jahrzehntenoder gar Jahrhunderten nicht mehrdurch den Menschen genutzt wurden,stellen sich in diesen dann langfristigwieder die natürlichen dynamischenProzesse wie Alterung und Naturverjün-gung ein. Die lange andauernde Unbe-rührtheit des Waldes ohne den Druck

der Holzproduktionwar in den Bannwäl-dern eine Waldnut-zung, die das Heran-wachsen von Altbäu-men und Uraltbäu-men erlaubte. Solchegrößeren Waldbe-stände, welche dieintensive Rodungs-periode un beschadetüberstanden habenund die durch dieDominanz von Alt-bäumen ge kenn -zeichnet sind, wer-den daher auch alsAltwälder be zeich -net. Nach den flä-chendeckenden Ro -dungen im Mittelal-ter entstanden erstim Zuge der preußi-schen Forstwirt-schaft seit Mitte des18. Jh.s wieder ge -schlossene Waldbe-stände, da währenddieser Epoche aufgroßer Fläche aufge-forstet wurde, ummit dem produzier-ten Holz Gewinn zuer wirtschaften. Diein tensive Nutzung des Waldes, die durchdas Anpflanzen von meist schnellwüch-sigen, standort- und gebietsfremdenBaumarten wie Fichte und Waldkiefergeprägt war, führte zu einem stärkerwerdenden wirtschaftlichen Druck aufden Wald und meist zu Monokulturenaus einer bestimmten Baumart. DasModell des „Holzackers“, auf welchemsich großflächige Kahlschläge undrasche Wiederaufforstung abwechsel-ten, erlaubte keine Ausbildung naturna-her Strukturen des Waldes wie Totholz-reichtum oder eine mehrschichtigeAltersstruktur. Heutzutage wenden sichjedoch zunehmend mehr Forstleute undWaldbauern von diesem einseitig aufrein profitorientierte Holzproduktionausgerichteten Wirtschaftsbetrieb desWaldes ab und berücksichtigen ver-mehrt Aspekte der Ökologie und desNaturschutzes.

Verbreitung von Urwäldern und Alt-wäldern in WestfalenUrwälder gibt es in Westfalen bis aufmöglicherweise wenige kleine Frag-mente so gut wie nicht mehr. Eine grö-ßere Ausdehnung erreichen die Altwäl-der in Westfalen in der WestfälischenBucht bzw. im Münsterland. Auch imSauerland existieren vereinzelt Altwald-bestände, auch wenn hier die Fichten-forste auf weiter Fläche dominieren.Bestände aus einheimischen Baumartenwie der Rot-Buche sollen langfristig zunaturnahen Wäldern entwickelt werden.Daher sind in einigen Forstbezirken imSauerland Naturwaldzellen eingerichtetworden, wo die Bäume ein hohes Alterhin bis zum Absterben erreichen könnenund in denen keine forstliche Holzent-nahme erlaubt ist. Eine solche Natur-waldzelle ist der Wald „An der Frauen-grube“ auf 680 bis 720 m ü. NN im

Abb. 1: Naturwaldzelle „An der Frauengrube“mit Rot-Buche (Fagus sylvatica) als dominanteBaumart sowie reichlich liegendem Totholz undgut ausgebildeter Krautschicht(Foto: P. GAUSMANN)

Stand: 2010

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WESTFALEN REGIONAL

Urwälder und Altwälder

Forstbezirk Schmallenberg (Abb. 1).Dieser Buchenwald gehörte früher zumBesitz des Klosters Grafschaft und ist1840 begründet worden. Zwar wurdendie Buchen hier gepflanzt und sind nichtaus Naturverjüngung hervorgegangen,jedoch hat sich dieser Wald mittlerweile170 Jahre weitgehend ungestört entwi -ckeln können. Die große Höhenlageführt zu einer Schwächung des forstli-chen Ertrages bei der Buche, so dass diefinanziellen Interessen an diesem Waldgering waren. Heute ist diese Natur-waldzelle eher wissenschaftliches Ob -jekt als Wirtschaftswald, denn forstlicheInstitutionen untersuchen die natürlicheBaumartenzusammensetzung des dorti-gen Waldes, in dem neben der Bucheauch die Vogelbeere eine Rolle imBestandsaufbau spielt. Floristischbemerkenswert sind hier vor allem diegroßen Bestände des Sprossenden Bär-lapps (Lycopodium annotinum), der denWaldboden stellenweise flächenhafteinnimmt und den Wald als montanenBärlapp-Hainsimsen-Buchenwald(Luzulo-Fagetum lycopodietosum) cha-rakterisiert. Auffallend ist der Reichtuman Farnen in der Krautschicht, vondenen Großer Dornfarn (Dryopterisdilatata), Kleiner Dornfarn (Dryopteriscarthusiana) und Eichenfarn (Gymno-carpium dryopteris) die häufigsten sind;seltener ist der Wald-Rippenfarn (Blech-num spicant).

Der Karpatenbirken-Bruchwald imNaturschutzgebiet „Hamorsbruch“Das Naturschutzgebiet „Hamorsbruch“liegt unmittelbar am Kamm des Arnsber-ger Waldes zwischen Meschede und War-stein in einer Höhe zwischen 485 und 552m ü. NN. Es umfasst einen hervorragenderhaltenen Lebensraum aus Zwischen-mooren, torfmoosreichen Birkenmoor-wäldern und Hainmieren-Erlen-Auen-wäldern, welche auf Gehängelehm überOberkarbon (Grauwacken, Schiefer)stocken, im Komplex mit naturnahenBuchenwaldgesellschaften, meist vomTyp des bodensauren Hainsimsen-Buchenwaldes (Luzulo-Fagetum), undhat eine Gesamtgröße von ungefähr 44ha. Der hier im Gebiet auf Torfsubstratstockende Wald besteht hauptsächlich auseinem montanen Karpatenbirken-Bruch-

wald (Betuletum carpa-ticae), welcher überwie-gend von der Karpaten-Birke (Betula carpatica)(Abb. 2) aufgebautwird und der in Nord-rhein-Westfalen auf dasBergland be schränktist. An krautigen Pflan-zen sind im Karpaten-birken-Bruchwald Sie-benstern (Trientalis eu -ropaea), Igel-Segge (Ca -rex echinata), Pfeifen-gras (Molinia caerulea),Scheidiges Wollgras(Eriophorum vagina-tum) und Wald-Schach-telhalm (Equisetum syl-vaticum) sowie Zwerg-sträucher wie Heidel-beere (Vaccinium myrtil-lus) und Preiselbeere(Vaccinium vitis-idaea)dominant. Von Bedeu-tung ist auch die dichteMoosschicht mit domi-nantem Goldenem Frau-enhaar (Po lytrichumcommune), Weißmoos(Leucobryum glaucum)und verschiedenen Torfmoos-Arten(Sphagnum), welche typisch für Birken-bruchwälder sind. Durch das Gebietfließt der Bilsteinbach, in dessen Aueauch der Hainmieren-Erlen-Auenwald(Stellario-Alnetum) aus Schwarz-Erle(Alnus glutinosa) als dominante Baum-art anzutreffen ist. Bei zunehmenderVernässung im Hamorsbruch durch diewasserstauenden Schichten des Gehän-gelehms ist eine Weiterentwicklung desKarpatenbirken-Bruchwaldes zu einemHangmoor möglich, so dass wohl auchdieser Wald einmal – dann aufgrundnatürlicher Landschaftsentwicklung –verschwinden könnte. Wegen der Unzu-gänglichkeit des Gebietes und der nied-rigen Holzqualität des Birkenholzesblieb dieser Wald vor den Auswirkungendes Holzeinschlags weitgehend ver-schont. Pollenanalytische Untersuchun-gen belegen, dass der Karpatenbirken-Bruchwald im Hamorsbruch seit ca. 650bis 750 Jahren in unveränderter Strukturexistiert und deshalb Urwaldcharakter

besitzt. Wegen seiner Flächengröße unddes guten Erhaltungszustandes nimmtdas ge schlossene Waldgebiet desHamorsbruches heute eine regionalbedeutende Stellung innerhalb der Wäl-der im Naturraum „NordsauerländerOberland“ ein. Der Karpatenbirken-Bruchwald ist eine in Nordrhein-West-falen von Natur aus seltene Pflanzenge-sellschaft. Die hier sto ckenden Bestän-de zählen zu den größten im gesamtenBundesland, daher besteht eine hoch-gradige naturschutzfachliche Bedeu-tung des 1942 unter Naturschutzgestellten Gebietes. Nach dem Schutz-konzept der europäischen Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (Natura 2000) sinddiese nährstoffarmen, torfmoos- undzwergstrauchreichen Moorwälder prio-ritäre Lebensräume und daher mittler-weile auch nach internationalem Natur-schutzrecht geschützt.

PETER GAUSMANN, HENNING

HAEUPLER und GÖTZ HEINRICH LOOS

Abb. 2: Karpatenbirken-Bruchwald im Natur-schutzgebiet „Hamorsbruch“ mit der Karpa-ten-Birke (Betula carpatica) als dominanteBaumart sowie flächendeckend Zwergsträu-chern wie Blaubeere (Vaccinium myrtillus)und Preiselbeere (Vaccinium vitis-idaea) imUnterwuchs (Foto: P. GAUSMANN)