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LEBENS-SEITEN von Angelika Siska 1. Auflage tredition 2014 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 7323 0459 2 schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG

LEBENS-SEITEN - ReadingSample - Fachbücher … Lektorat: Erik Kinting / Foto: Leonore Tellgmann Fotobearbeitung u. technische Umsetzung: Karl-Heinz Roghöfer Umschlaggestaltung: Erik

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LEBENS-SEITEN

vonAngelika Siska

1. Auflage

tredition 2014

Verlag C.H. Beck im Internet:www.beck.de

ISBN 978 3 7323 0459 2

schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG

ANGELIKA SISKA

LEBENS-SEITEN

Copyright: © 2014 Angelika Siska E-Mail: [email protected] www.asiska.de Lektorat: Erik Kinting / www.buchlektorat.net Foto: Leonore Tellgmann Fotobearbeitung u. technische Umsetzung: Karl-Heinz Roghöfer Umschlaggestaltung: Erik Kinting / www.buchlektorat.net Bild am Kapitelanfang: Alizarinrot von Angelika Siska, Öl auf Leinwand, 100 x 100 cm, 2008 Verlag: tredition GmbH, Hamburg Printed in Germany Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich ge-schützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elek-tronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbrei-tung und öffentliche Zugänglichmachung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografi-sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Für Maja, Julia, Falk und Fenja.

Für Maja, Julia, Falk und Fenja.

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Herbst 2009. Ende des Aufenthalts in Kentucky. Fahrt über Tennessee, die Smokey Mountains, North und South Caroli-na, Georgia nach Florida und Flug nach Freeport / Grand Bahama Island. Der vergangene Winter war ein einschneidendes Erlebnis in Dunmor, im Westen von Kentucky. Die Temperaturen sanken unter null, starker Wind und Regen fegten über die Landschaft und verwüsteten Wälder, rissen Dächer ab und warfen Bäume über Wege und Straßen. Der Verkehr wurde lahmgelegt, elektri-sche Leitungen gekappt. Große Teile der Bevölkerung waren ohne Strom und Wasser. Der Frost hielt an, Regen fiel erneut und fror in dicken Schichten an den Bäumen fest, bis schwere Äste brachen und mit lautem Krachen herabfielen. Unheimliche Geräusche wie Gewehrfeuer begleiteten die Nächte, verursacht vom Bersten der Baumstämme und Äste im Frost. Der Notstand wurde ausgerufen, Notlager für die Menschen eingerichtet. Niemand in der Region konnte sich an ein derartiges Wetterge-schehen zu seinen Lebenszeiten erinnern. Masuren Farms blieb weitgehend verschont von schweren Holzschäden. Hier und dort waren einzelne Bäume umgefallen. Große Äste und ganze Stämme lagen kreuz und quer auf dem gut vier Kilometer langen Schotterweg, von der geteerten Straße zum Friedhof, und versperrten auch den Zugang zum Haus: Sunny Lake Lodge, zur Winterzeit unbewohnt, konnte nur von einem unerschrockenen jungen Mann, Cody, nach stundenlan-

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gem Kampf mit einem Fourwheeler kreuz und quer durch den Wald erreicht werden. Wir hatten Glück gehabt, das Haus war unversehrt geblieben und die herabgefallenen Äste um das Blockhaus und auf dem Weg dorthin konnten weggeräumt wer-den. Dann kam der Sommer 2009 und der Regen blieb wochenlang aus. Die Trockenheit setzte dem Wald erneut zu. Im August endlich regnete es in großen Mengen. Als Ekki und ich im September, wie jedes Jahr, aus Europa zu-rückkehren, erleben wir einen besonders farbenprächtigen In-dian Summer. Das Wasser im See ist noch warm vom Sommer und lädt zum täglichen Schwimmen ein, der Wald ist dicht, un-durchdringlich und beginnt erst allmählich herbstliche Farben zu entwickeln. Ich kann unter dem Vordach auf der Terrasse im Schatten malen und meine nächste Ausstellung im Duncan Cul-tural Center and Art Gallery in Greenville vorbereiten. Ekki sieht mit Connis im Wald nach dem Rechten, begutachtet die gemähten Lichtungen und offenen Flächen des Mine Fields, dem ehemaligen Steinkohletagebau aus den 40er-Jahren. Sie sind inzwischen teilweise zugewachsen, vor allem mit Zedern, aber auch Kiefern, Ahorn und großen Gebüschen von Essig-bäumen. Hier hält sich das Rotwild, White Tail Deer, tagsüber gerne im Schutz und Schatten der Bäume auf, auch Wildkanin-chen haben sich in den letzten Jahren angesiedelt. Die wilden Truthähne finden Grassamen und übernachten in den hohen Kie-fern am Rande der ehemaligen Ödfläche. Sobald unsere Ausflüge zur Kontrolle der jährlichen Arbeiten zu Ende sind, gehen die Männer zum Jagen oder Fischen, beobachten die Bi-ber an den Wasserläufen und reparieren die Hochsitze. Wenn es Abend wird, hier mitten im Wald, erleben wir das Dun-kelwerden ganz bewusst. Die Sonne verschwindet allmählich hinter den Bäumen und wirft ihr warmes Licht über den östlich vom Haus gelegenen See, auf die lang gezogene Grasfläche davor und dahinter und auf die hohen Bäume, bis das Licht in die Baumkronen aufsteigt und dann im Himmel verebbt.

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Frühmorgens laufen wir unsere Runde durch den Wald. Der Weg führt vom Haus in Richtung Süden an einem Teich vorbei in eine Talsenke, wo die Eule in einer uralten Buche ihre Höhle hat und abends, besonders im Frühjahr, ihren Ruf durch das Tal hallen lässt: Who cooks for me, who cooks for you all? Dann steigt der Weg an und läuft durch eine Grasfläche, schwenkt in Richtung Norden auf einer Kuppe über dem meandernden Mud River, durchquert eine Lichtung mit einem Tümpel und be-schreibt eine langsam ansteigende Kurve in Richtung Süden, wo der Weg wieder abfällt, bis er am Wasserturm vorbeiführt, der uns, gespeist von einer Pumpe im Sunny Lake, mit Wasser ver-sorgt. Nach gut 40 Minuten erreichen wir das Wirtschaftsgebäu-de, Hickory Hill, das die Fourwheeler und den Mule, einen All-radantrieb mit Ladefläche für allerlei Gerät, und auch unser Gäs-teapartment beherbergt. Dann ist es nicht mehr weit zurück zum Haus am See. Mittags sitzen wir in der Sonne auf unserer Terrasse, Ekki hat noch seine Camouflage-Hose und das passende T-Shirt an, er kommt von seinem Testfeld, einem ganz besonderen Waldstück, das an einem Nordhang zum Fluss gelegen ist. Hier gibt es be-sonders mächtige Bäume. Nordhänge tragen den besten Wald, betrachtet man die Qualität und Quantität der Bäume. Sie wach-sen hier besonders gut, bekommen sie doch bei gleicher Nieder-schlagsmenge länger anhaltende Feuchtigkeit durch die schwä-chere Sonneneinstrahlung, sodass die Trockenphasen, die sich oft wochen- oder monatelang hinziehen, in nördlichen Lagen nicht so schädigende Einflüsse mit sich bringen, wie an den Südhängen oder auf den Höhenzügen. Das Testfeld hat Ekki schon 1995 ausgewählt und dort entsprechend gute Bäume mar-kiert, gemessen und auf einer Karte festgehalten. Jährlich aktua-lisiert er die Maße; er misst den Umfang und Durchmesser der Stämme in Brusthöhe. Den ganzen Vormittag habe ich heute an meinen Bildern ge-arbeitet, die Skizzen von vier vorbereiteten Holzplatten sind so weit fertig, dass ich als Nächstes meine Farben zusammenstellen

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kann. Dann habe ich unser Mittagessen zubereitet. Wenn auch die Kartoffeln hier keine besondere Delikatesse sind, so mögen wir doch nicht ganz auf sie verzichten. Idaho, der amerikanische Kartoffelstaat, baut große Mengen von Kartoffeln an, aber eine feine, festkochende Kartoffel, wie ich sie liebe, ist leider nicht dabei. Dafür gibt es hier Bio-Fleisch bei Kroger, einer Lebens-mittelkette – Laura's Beef, das ich zu Hacksteaks verarbeitet habe – und auch Bio-Gemüse wie Zucchini, Tomaten, Zwiebeln und Knoblauch. Ein Glas Cabernet Sauvignon aus California für Ekki und für mich ein Pinot Grigio delle Venezie schmecken gut dazu. Nachmittags kommt Connis angefahren und die beiden Männer brechen auf, um einen Hochsitz zu reparieren. Ich male weiter unter dem Vordach des Hauses an der Westseite. Dieser Platz ist geschützt vor Sonne und Regen und groß genug, um meinen Tisch mit Farben, Pinseln und allen anderen Utensilien unterzu-bringen. Nur abends muss ich alles gut unter Verschluss neh-men, damit die Waschbären, die bei einbrechender Dunkelheit auf der Suche nach Fressbarem auf unsere Terrasse klettern, nichts umstoßen. Das Holzfeuer flackert im Kamin, ein paar Gaslampen sind an-gezündet und einige Kerzen dazu. Wir lesen, jeder in seinem großen, bequemen Sessel mit Blick auf das Feuer. Ekki kontrol-liert heute besonders oft mit einer weit leuchtenden Taschen-lampe, wie viele Rehe ans Haus kommen. Das White Tail Deer ist sehr viel größer als seine deutschen Verwandten. Noch bevor das Opossum aus seinem Bau an der Böschung zum See kriecht, erscheint ein Stinktier. Wir können es kaum glau-ben; in den fünfzehn Jahren, die wir nun hier sind, haben wir noch nie ein Stinktier so aus der Nähe gesehen. Hin und wieder haben wir im Auto den Geruch wahrgenommen, wahrscheinlich von einem überfahrenen Tier, das inzwischen im Graben gelan-det war. Im vergangenen Frühjahr war einmal gut hundert Meter entfernt eins am See aufgetaucht, am Damm zum kleinen See, südlich vom Haus.

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Jetzt wird es interessant, es kommt ein großes, ausgewachsenes Opossum aus seinem Bau und im Licht der Lampe, an dem sich die Tiere alle nicht stören, beobachten wir, wie es innehält, als es das Stinktier bemerkt, das gerade eine Möhre frisst und dann sofort umkehrt und wieder verschwindet. Das zweite ausge-wachsene Opossum kommt aus seinem Bau und bleibt vorsich-tig auf Abstand zum Stinktier, findet seine Gemüseabfälle und frisst zufrieden. Und dann erscheint auch das kleine, junge, un-erfahrene Opossum, läuft völlig unerschrocken und neugierig auf das Stinktier zu, das den buschigen Schwanz hebt und auf das junge Opossum richtet, aber offenbar nur droht und nicht sein Sekret spritzt. Dafür lässt es sich sogar von dem kleinen frechen Opossum beißen und lässt auch das Stück Leberwurst, an dem es gerade frisst, vor Schreck fallen. In aller Ruhe ver-speist das junge Opossum die Wurst. Das Stinktier sucht weiter und ein großes Opossum hat unterdessen die vordere Treppe hoch zur westlichen Terrasse erklommen, wo unter dem Vor-dach der Katzennapf steht. Dort macht es sich über die Reste von Masurskis Futter her. Masurski ist ein wilder, aus blauen Augen schielender Siam-kater, der uns vor zehn Jahren hier, mitten im Wald gefunden hat und seitdem mit Unterbrechungen jeden Tag da ist und gefüttert wird. Er lässt sich nicht anfassen, springt sofort auf, wenn wir zu schnell oder auf mehr als einen Meter an ihn herankommen, aber er gehört inzwischen zum Haus. Nach längeren regelmäßigen Abwesenheiten kommt er zerrupft und abgemagert zurück, um sich wieder zu erholen und zu fressen, bis sein Fell wieder glänzt und er gesund aussieht. Jodie, die hier für uns sorgt, kümmert sich während unserer Abwesen-heit nicht nur um Haus und Wald, sie sorgt auch für Masurski und stellt ihm im Winter ein Holzhaus auf, mit einer weichen Wolldecke, damit er bei Bedarf Schutz vor Nässe und Kälte hat. Heute Abend sind die Rehe nicht da. Sie haben wohl im Wald genug zu fressen, und scheinen sich deswegen nicht für die Maiskörner zu interessieren, die Ekki ausgelegt hat.

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Ich habe lange genug draußen gestanden und kuschele mich wieder in meinen Sessel mit Whimsical Impetus, einem Katalog zur Ausstellung in Akureyri dies Jahr, von Maja, zusammen mit Laufey Johansen, Gudney Kristmannsdottier und Arna Gna Gunnarsdottir. Die vier Künstlerinnen werden mit Lebenslauf, Werkkritik und einigen ihrer ausgestellten Werken vorgestellt. Der nächste Morgen ist angebrochen. Es ist Schlussbesprechung mit Jodie, bevor wir dann abreisen. Jodie verwaltet für uns seit zehn Jahren Masuren Farms. Wir besprechen, was im Wald an Arbeiten anliegt. Mit unseren Jägern, die für das Recht zu jagen Aufgaben übernehmen, wird sie im Einzelnen ausmachen, wel-che Wege und Flächen frei gehalten werden müssen, damit sie nicht zuwachsen. Dazu ist ein Traktor mit einem Zusatzgerät erforderlich, ein Bushhogger. Am Blue Hole, einem tiefen Teich am ehemaligen Braunkohle-tagebau, muss der Weg, der beim Baumfällen geöffnet wurde, wieder mit einem Zaun und dem roten Tor zum Hauptweg ge-schlossen werden, der zum Friedhof führt und öffentlich ist. Wie in den USA üblich, ist privater Wald für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Es gibt aber auch genügend staatliche Wälder, die für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Alle Wege unseres Waldes müssen laufend kontrolliert werden, ob sie befahrbar sind. Wir haben es hier ausschließlich mit Na-turwald zu tun, das heißt, dass kein Baum gepflanzt wurde oder wird; es gibt Bäume, die sterben, weil sie alt oder krank sind oder der Wind sie umstürzt; sie bleiben alle im Wald und nur die Wege müssen freigeräumt werden. Hickory Hill, das Wirtschaftsgebäude, muss aufgeräumt werden, vor allem die Garage mit den Geräten für den Wald. Die Be-sprechung mit unserem Forstwirt, dem Forest Consultant, haben wir schon hinter uns. Die Holzpreise sind im Moment nicht gut genug, um weiter Holz zu schlagen, und wir sind nicht zufrieden mit der zerstörerischen Arbeit der Holzfäller die, weil sie im Akkord bezahlt werden, zu wenig oder gar keine Rücksicht auf die verbleibenden gesunden Stämme nehmen. Die Kronen der

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Bäume, die nicht verwertet werden, bleiben alle liegen. Der Wald bietet dann ein Bild totaler Verwüstung, von der allerdings nach gut drei Jahren nicht mehr viel zu sehen ist, aber uns gefällt diese rücksichtslose Vorgehensweise nicht und wir sind nicht zufrieden damit, dass der Forest Consultant nicht mehr Kontrol-le auf die Arbeiter ausübt. Die hiesige Praxis ist offenbar nicht zu durchbrechen. Deshalb haben wir beschlossen, die schweren Maschinen vorläufig nicht mehr hereinzulassen. Beim Mittagessen, es gibt Spaghetti Bolognese, sprechen wir über einen Artikel im Reiseteil des Wall Street Journal. Wir haben vor, mit dem Auto von Dunmor durch Tennessee, die Ca-rolinas und Georgia nach Florida zu fahren und sind auf der Suche nach Hotels für die Übernachtungen. Der Artikel be-schreibt in bewunderndem Ton ein Hotel in South Carolina, nicht weit von Charleston, das in einem Resort am Meer liegt und einen Golfplatz hat, wo Krokodile auftauchen. Wir überle-gen, ob wir das in unsere Reise einbauen, die am Donnerstag losgehen soll, also in drei Tagen. Auf jeden Fall wollen wir uns die Smokey Mountains ansehen, nach Ashville, Savannah und Stewart in Florida fahren. Der PT-Cruiser, den wir hier in Greenville gebraucht gekauft haben und der meinen stark ros-tenden Chevy Blazer auf Grand Bahama Island ersetzen soll, muss zur Verschiffung nach Freeport bei der Shipping Company in Fort Lauderdale abgegeben werden. Wie sich in dem Artikel weiter herausstellt, hat der Autor in dem Hotel in South Carolina zunächst einen Zimmerwechsel verlangt, weil man die benach-barten Gäste laut sprechen hörte, so hellhörig war der Raum. Wir entscheiden uns, das Hotel nicht zu buchen, wir wollen unsere Reise spontan gestalten. Die hellhörigen Wände rufen in mir Erinnerungen wach. Es muss im Frühsommer des Jahres 1970 gewesen sein, als ich mit unserer Tochter Maja in Cadzand an der holländischen Nordsee-küste war. Sie war im Januar ein Jahr alt geworden und wir wohnten in Köln in der Merlostraße. Ekki war in seine erste Stellung nach dem Examen bei Editions Rencontre eingebunden und nur an den Wochenenden abkömmlich. Er hatte uns mit

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dem Auto nach Cadzand gebracht und dort ein schönes Hotel in Strandnähe gefunden. Nach der zweiten Nacht erschien der Ma-nager bei mir am Frühstückstisch und verlangte recht ungehal-ten, dass ich mit dem Kind ausziehe, da sich die Nachbarn, ein älteres holländisches Ehepaar, über das morgens in aller Frühe laut rufende Kind beschwert hatten. Ich war über die unfreundli-che Art und Weise, wie mir das gesagt wurde, ziemlich entsetzt. Es war schon richtig, dass meine Tochter früh aufwachte und mich dann aufweckte, aber offenbar lag es vor allem an der Hellhörigkeit einer nachträglich eingezogenen Wand des An-baus, dass die Nachbarn alles hörten. Auf jeden Fall machte ich mich gleich nach dem Frühstück daran, ein anderes Hotel zu suchen, was damit endete, dass ich ein frei stehendes Ferienhaus mit mehreren Schlafzimmern und einem großen Garten fand, wo wir uns dann sehr wohl fühlten; und weil wir so viel Platz hat-ten, luden wir noch Freunde und Verwandte ein. Meine Schwes-ter Leo mit ihrem Mann und den beiden Töchtern kamen aus Peine und wir verlebten herrliche Tage am Meer, bei warmem Sonnenschein und kräftigem Wind. Hängen geblieben ist mir noch ein Zwischenfall. Beim Spielen der Kinder kam es zu einer wilden Jagd durch Haus, Garage und Garten. Und die Garage hatte eine schwere Eisentür, in der sich Maja die Hand quetsch-te, als Linda, mein Patenkind, die Tür vor ihr zuschlug. Es gab ein großes Geschrei, die kleinen Finger waren ganz platt und ich holte Eis aus dem Kühlschrank, hielt ein Küchenhandtuch unter den Wasserhahn und verpackte die kleine Hand. Langsam hatte sich das Kind wieder beruhigt und der Schmerz nachgelassen. Als ich dann wagte nachzusehen, sah die Hand wieder fast nor-mal aus, Maja konnte die Finger bewegen und wir konnten von einem Arzt- oder Krankenhausbesuch absehen. Am späten Nachmittag kommt Connis vorbei und legt uns zwei grüne Früchte auf den Tisch, von denen er den Namen nicht mehr weiß. Connis ist hier in Dunmor aufgewachsen, sein Großvater hatte diese Früchte gern gegessen, aber er selbst hat sie noch nie gemocht. Jodie verrät uns, dass es Passionsfrüchte sind. Die Ranken der Passionsblume sollen hier in den Wäldern

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vorkommen und Jodie will uns eine Pflanze mitbringen, wenn sie eine findet. Das wäre ein ideales Mitbringsel für Majas Ge-wächshaus in Island, freue ich mich. Heute bin ich sehr zufrieden, ich habe mein Bild fertig gemalt, das schnell verlöschende Tageslicht hat mir ein wenig das Tem-po diktiert. Das blaue Bild, das mir nicht gefiel, habe ich voll-kommen übermalt; andere Farben, ein neuer Aufbau – die Far-ben der herbstlichen Blätter um mich herum: Goldocker, Orange bis ins Braun, ohne jegliches Blau, ohne Grün. Wir nehmen Abschied von Sunny Lake Lodge, das wir in zwei Tagen verlassen werden. Masurski hat sein Abendessen bekom-men, rechtzeitig genug, sodass das Opossum und das Stinktier der Katze ihr Futter nicht streitig machen. Heute Abend werden die Tiere nicht allzu viel Futter finden, so langsam müssen sie sich daran gewöhnen, dass wir nicht mehr da sind. Jodie wird täglich Masurski füttern und nach dem Haus sehen. Es ist inzwischen schon so dunkel, dass Ekki vom Angeln kommt, weil er nichts mehr sieht. Er hat mit dem kleinen Me-tallboot, das mit einem Elektromotor läuft, den See umkurvt und zwei Crappies gefangen, ein wunderbares Mittagessen für mor-gen. Die Fische werden auf der Terrasse beim Licht einer Öl-lampe geschuppt, filetiert und landen dann im Kühlschrank. Wir sind hier so weit auf uns selbst gestellt, dass wir mit einem Gasgenerator zwar Strom erzeugen können, aber sämtliche nöti-gen Geräte wie Kühlschrank, Küchenherd, Heißwasserboiler, Lampen und Ofen mit Gas laufen lassen. Wir haben einen Zehn-tausend-Liter-Tank in die Erde eingraben lassen, für jedes der beiden Gebäude. Den Generator lassen wir nur laufen, um die Außenbeleuchtung kurz anzuschalten, wenn wir bei Dunkelheit das Haus erreichen, den Föhn benutzen oder einen Küchenquirl brauchen. Eine Telefonleitung wurde uns gelegt, als unter Präsi-dent Bill Clinton eine Verordnung in Kraft trat, die jeder noch so abgelegenen Hütte ein Telefon auf Staatskosten zusprach. Sogar wir als deutsche Staatsbürger kamen in den Genuss. Un-ser Versuch, die fünf Kilometer lange Telefonleitung, die unter-

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irdisch vom Eingang unseres Waldes bis zum Haus verlegt wur-de, mit einer Stromleitung zu kombinieren, wurde nicht geneh-migt und eine separate unterirdische Stromleitung hätte unver-hältnismäßig viel Geld gekostet, eine oberirdische dagegen eine breite Schneise in den Wald geschlagen, was nicht unsere Zu-stimmung fand. Wie jeden Abend sitze ich am Kaminfeuer unter der Gaslampe in meinem großen, bequemen Sessel und lese. Ich nehme die Garden Design vom Februar 2008 wieder zur Hand, mit dem Artikel über Piet Oudolf. Ich suche nach Ideen für den Sommer, wenn ich in Starkenhofen den Teich, der gerade neu angelegt wurde, mit Pflanzen versorge und Teichpflanzen – schwimmend, wurzelnd oder in Plastikkörben – einsetzen. Um das Wasser herum stelle ich mir Telekien, Frauenmantel, Ligularia, Fette Henne, Margariten, Lupinen und Storchenschnabel vor, wobei mir klar ist, dass nur wenige Pflanzen davon auf dem lehmigen, schweren Boden gedeihen können. Ekki läuft jetzt auf der Terrasse auf und ab und beobachtet die Tiere. Hin und wieder erscheint er in der Terrassentür und be-richtet, aber außer dem Stinktier gibt es nichts zu sehen. Piet Oudolf, der berühmte holländische Gartengestalter, schnei-det Hecken in Wellen und liebt Stauden und auch Gräser. Er ist berühmt wegen seiner Gartenanlagen im Millennium Park in Chicago und The Battery und The High Line in New York. Sein eigener Garten in Hummelo in Holland wird hier genau be-schrieben und in Fotos vorgestellt. Seine naturnahe Gestal-tungsweise gefällt mir. Heute werden die letzten Besorgungen vor unserer Abreise ge-macht. Es regnet – gut für den Wald. Also fahren wir nach Greenville, etwa eine halbe Stunde über Penrod und Beachmont. Diese kleinen Ortschaften ziehen sich entlang der Route 949 scheinbar endlos hin und auch zwischen den Ortschaften finden sich einzelne Häuser im Wald an der Straße. In der Post halte ich dann den ganzen Betrieb auf, weil ich einen Luftpostbrief nach Island aufgeben möchte, was hier sonst nicht vorkommt,

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und dazu verlange ich noch fünfmal die passenden Briefmarken für Postkarten nach Deutschland beziehungsweise England. Die beiden Ladys in Greenville müssen erst einmal herausfinden, wie hoch das Porto ist, dann stellen sie fest, dass sie dafür keine passenden Briefmarken haben, aber schließlich findet eine von ihnen doch Marken, die sie passend zusammensetzen kann, in ihrem kleinen Nebenzimmer. Inzwischen hat sich eine Schlange von neun Leuten gebildet. Als ich mich umdrehe und es bemer-ke, blicken die meisten wie unbeteiligt zur Seite und ich ent-schuldige mich für die eingetretene Verzögerung, aber offenbar hält das keiner für notwendig, jedenfalls sagt niemand etwas und sie verziehen keine Miene. Ich kann dann herzlich lachen, als ich draußen vor der Tür bin und durch den strömenden Regen möglichst schnell zum Auto laufe, in dem Ekki wartet. Er sagt etwas von einer Viertelstunde, die ich gebraucht habe, er hat inzwischen ein kurzes Schwätzchen mit Ralph, unserem Anwalt gehalten der, nur im Hemd, im strömenden Regen von der Old National Bank über die Straße in sein neben dem Postamt lie-gendes Büro gerannt kam. Wieder zu Hause, mache ich eine aufgetaute Ente bratfertig, Ekki schält dazu die Äpfel für die Füllung und schneidet den Rotkohl. Ich schiebe den Braten in den Backofen, für den späten Nachmittag; zum Mittagessen gibt es eine große Schüssel fri-schen Salat mit gebratener Entenleber und getoastetem Roggen-brot mit Kümmel. Dann spricht Ekki von den Hotelsuiten, die er auf unserer Reise nach Fort Lauderdale buchen möchte, damit wir gemütlich übernachten können, ohne auf der Bettkante zu sitzen, wenn wir eine Zeitung lesen wollen. Ich denke, wir wer-den das alles ganz spontan unterwegs entscheiden und organisie-ren und einfach so ins Blaue losfahren. Die Ente schmurgelt im Backofen. Wir nutzen die Zeit und fah-ren zu Connis und Dora. Sie wohnen mitten im Wald, in der Nähe von Jodie, von uns in südlicher Richtung etwa eine Vier-telstunde zu fahren. Das Haus liegt auf einer Lichtung an der Dora Road – wenn man eine Straße oder einen Weg auf dem eigenen Grundstück hat, darf man hier auch den Namen dafür

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selbst wählen. Wir sprechen ein Problem an, das Dora, die im County seit vielen Jahren politisch engagiert ist, angehen kann. Es geht um ein verwahrlostes Grundstück in unserer Nachbar-schaft, wo offensichtlich auch der Gebrauch, vielleicht auch die Herstellung von Amphetaminen nachzuweisen wäre. Etliche Tiere, Pferde, Schweine und Hunde bewegen sich auf dem ein-gezäunten Grundstück und werden nicht regelmäßig versorgt. Die Hunde liegen oft auf der Straße und Jodie füttert sie aus Mitleid, wenn sie des Weges kommt, und hat schon Auseinan-dersetzungen mit den Leuten gehabt. Dora hat die Missstände schon einmal gemeldet und will noch einmal nachhaken. Jetzt ist die Ente tranchiert, auch Soße, Rotkohl und Kartoffeln stehen auf dem Tisch. Während der Regen in Salven auf unser Blechdach trommelt, genießen wir bei Kerzenschein und flackerndem Kaminfeuer das Essen. Dann nimmt Ekki wieder seinen Platz auf der westlichen überdachten Terrasse ein, weil er die frische Luft braucht. Mir sind allerdings die 13 Grad zu we-nig und am Kaminfeuer ist es auch gemütlicher. Wenn ich mich bei kühlen Temperaturen draußen wohlfühlen soll, muss es schon ein ausgedehnter Marsch durch den Wald sein oder mei-netwegen auch Gartenarbeit, die habe ich schon bei noch niedri-geren Temperaturen und Nebel-nassen, eisigen Winden in Star-kenhofen gemacht, mit der entsprechenden Kleidung und einer warmen Pudelmütze auf dem Kopf; die Jacke und die warme Hose hatten die Patina der Arbeit und waren zusätzlich frisch mit feuchtem Boden besudelt, da bekam ich eines Tages den Besuch eines mit dem Auto angereisten Herrn, der unserer Ein-gangstür zustrebte, als er innehielt. Er blieb, als er meiner an-sichtig wurde, abrupt stehen, holte tief Luft und fragte mich höflich nach der Dame des Hauses. Sein Gesicht verzog sich ungläubig, als ich ihm erklärte, die Hauseigentümerin vor sich zu haben; dann übergab er mir zögernd ein Präsent. Das Blitzen in meinen Augen wagte er nicht mit einem Lachen zu quittieren. Um so mehr Spaß hatte ich noch bei der Gartenarbeit, als das Auto davongefahren war. Hier in Kentucky, in der Wildnis des ehemaligen Wilden Westens, gibt es solche Vorkommnisse

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nicht, wir sind nur nach Voranmeldung durch einen Anruf er-reichbar. Außer Jodie hat niemand den Schlüssel für das Tor, das den Weg absperrt, der vom Hauptweg in Richtung Friedhof ab-zweigt. Vom Tor sind es noch gut fünfhundert Meter über eine Lichtung, die wir High Rock nennen, durch ein Tal, in dem die ehemalige Bahnlinie mit den Wagen zum Abtransport der Kohle entlang führte, und weiter aufwärts an dem kleinen Teich ent-lang zur Sunny Lake Lodge, die auf den großen See blickt. Wir schreiben heute den 28. Oktober 2009 und das ist der letzte Tag in diesem Herbst hier. Jodie kommt noch einmal mit dem roten Trecker angefahren und bringt uns das Wall Street Jour-nal. Sie erzählt, dass sie gestern mit einer Freundin unterwegs war, nach Frankfort, Kentuckys Hauptstadt – ein verträumtes, kleines Provinznest mit einem Weißen Haus in Miniatur. Sie haben ein Paket mit wichtigen Papieren für die Regierung abge-geben. Im Dunkeln wieder zuhause angelangt, ging sie dann ihre geliebten Hühner einsperren. Da es stundenlang stark geregnet hatte und obwohl sie eine Taschenlampe dabeihatte, glitt sie vor dem Hühnerhaus aus und landete der Länge nach in einer gro-ßen Wasserpfütze, die Lampe im hohen Bogen neben ihr. Heute findet sie das sehr lustig und freut sich immer noch über den Ausflug und die lange Fahrt von hin und zurück über zehn Stun-den, mit Mittag- und Abendessen in Restaurants am Wege. Abgesehen von ein paar Unterbrechungen bin ich den ganzen Tag mit dem Packen unserer Koffer beschäftigt. Für jeden ein Handgepäck mit allem, was man für fünf Tage Reise braucht. Dann für jeden einen großen Koffer, den wir auf dem Flug von Fort Lauderdale nach Freeport einchecken wollen, ein weiterer Koffer pro Person, der mit dem Auto verschifft werden soll und zusätzlich ein kompletter Golfschlägersatz. Wir erfreuen uns an unserem morgendlichen Rundgang durch den Herbstwald, der Regen hat gegen Mitternacht aufgehört und mit Gummischuhen, Muckboots, von Palle und Maja aus Reyk-javik mitgebracht, sind die aufgeweichten Wege kein Problem. Abends schenkt Ekki sich einen Kentucky Straight Bourbon

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Whiskey Russell Reserve ein, nichts für mich allerdings. Seit über dreißig Jahren habe ich keinen mehr angerührt, seitdem Pop, Robins Vater in Sevenoaks in Kent, mir ein Glas reichte, nach dem Frühstück, denn er trank jeden Morgen nach seinem Porridge eines. Wir waren mit unseren Kindern zu Besuch und wohnten in ihrem schönen Haus. Ich habe es damals, um es nicht unhöflich stehen zu lassen, in einem günstigen Moment hinter mir in einen Blumentopf im Fenster gegossen. Der nächste Morgen bringt uns einen bedeckten Himmel und herbstliche 12 Grad Celsius. Nach unseren Yogaübungen laufen wir zum Abschied noch einmal die Runde durch den Wald. Dann geht es vollbepackt mit dem PT-Cruiser auf die Fahrt, erst einmal in Richtung Nashville, die uns bekannte Route durch das fruchtbare Land an der Road 431 nach Lewisburg, vorbei an überschwemmten Bohnenfeldern, dem Logan Aluminiumwerk, an Rinderfarmen und durch ausgedehnte Wälder. Allmählich gehen die Rolling Hills über in ebenes Land, das weniger Wald und mehr Landwirtschaft aufweist. Wir fahren durch Russelville, eine Stadt, die durch die Steinkohle zu Reich-tum gekommen ist. Die Altstadt besteht aus stattlichen Villen vom Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Die Gärten sind gepflegt und hundertjährige, prächtige Bäume werfen ihre Schatten über Rasenflächen. Halloween-Dekorationen aus Kür-bissen, Maisstroh und blühenden Chrysanthemen zieren die herrschaftlichen Eingänge und über den Dächern leuchten die herbstlich gelb, rot und orange gefärbten Blätter der Bäume. Weiter südlich werden die Felder immer größer, wir passieren einzelne prächtige alte Landsitze im Südstaatenstil, mit großen Säulenportalen und altem Baumbestand. Auch hier führen die Flussläufe nach einem trockenen Sommer und den ergiebigen Regenfällen der letzten Wochen Hochwasser. Adairville hat hübsche, kleinere Häuser, umgeben von gepfleg-ten Gärten. Jesus Christ is Lord steht in großen Lettern an zwei Maissilos und erinnert uns daran, dass wir uns im Bible Belt befinden, einer Region, wo besonders die Baptist Church stark