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Lebenserwartung und Invaliditätsrisiko bei Lebererkrankungen* Von H e 1 m u t G r o s, Saarbrücken Will man zur Lebenserwartung bei Lebererkrankungen Stellung nehmen, ergeben sich automatisch zwei Fragen. Wie groß ist die Lebens- gefahr bei der akuten Virushepatitis und wie ist die Prognose beim Endzustand einer chronischen Lebererkrankung, der Leberzirrhose? Bei der akuten Virushepatitis unterscheiden wir drei Formen, die A-, die B- und die Non A-Non B-Hepatitis. Sie haben unterschiedliche Prognosen. Die beiden erstgenannten Hepatitisformen lassen sich heute virologisch diagnostizieren, in erster Linie mittels des Anti-HAV-IgM bzw. des HB 6 -AG (früher Australia-Antigen genannt). Die Diagnose der Non A- Non B-Hepatitis ist — noch eine Ausschlußdiagnose. Die meisten Transfusionshepatitiden sind offenbar Non A- Non B-Hepati- tiden. eWitaus am häufigsten ist derzeit die B-Hepatitis. Sie macht in unserem eigenen Krankengut ca. 60 °/o aus. Die HB e -Ag- negativen Hepatitiden gehören etwa zur Hälfte der A- und der Non A- Non B- Form an. Die Letalität der Virus-A-Hepatitis wird in der Literatur mit 0,2 °/o angegeben. Sie ist allerdings altersabhängig und erreicht nach dem 60. Lebensjahr 0,5 -1,5 °/o. Auch bei Säuglingen und Frauen im Kli- makterium ist ein tödlicher Ausgang häufiger, nicht dagegen bei Schwangeren, wie dies wiederholt behauptet worden ist. Bemerkens- wert ist ein besonders bösartiger Verlauf mit hoher Letalität bei man- chen Epidemien wie in. Kopenhagen 1945 (38 °/o), Basel 1946 (20 °/o), Wuppertal 1950 (31 °/o) und Indien 1954 (42 °/o). (22). Er ist auf einen außerordentlich malignen Genius epidemicus zurückzuführen. Die Virus-B-Hepatitis hat generell eine nicht so gute Prognose wie die A-Hepatitis. Bei ihr ist die gefährliche fulminante (nekrotisierende) Verlaufsform mit 3,4 °/o sehr viel häufiger als bei der A-Hepatitis (0,6 °/o). Die Letalität der B-Hepatitis wird auf 4 - 6 °/o geschätzt, doch gibt es auch hier Krankheitshäufungen mit wesentlich höherer Leta- lität bis zu 20 - 30 °/o. * Vortrag, gehalten vor der Abteilung für Versicherungsmedizin des Deut - s ch en Vereins für Versicherungswissenschaft am 9. Mai 1979 in Köln.

Lebenserwartung und Invaliditätsrisiko bei Lebererkrankungen

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Lebenserwartung und Invaliditätsrisiko bei Lebererkrankungen*

Von H e 1 m u t G r o s, Saarbrücken

Will man zur Lebenserwartung bei Lebererkrankungen Stellungnehmen, ergeben sich automatisch zwei Fragen. Wie groß ist die Lebens-gefahr bei der akuten Virushepatitis und wie ist die Prognose beimEndzustand einer chronischen Lebererkrankung, der Leberzirrhose?

Bei der akuten Virushepatitis unterscheiden wir drei Formen, dieA-, die B- und die Non A-Non B-Hepatitis. Sie haben unterschiedlichePrognosen. Die beiden erstgenannten Hepatitisformen lassen sich heutevirologisch diagnostizieren, in erster Linie mittels des Anti-HAV-IgMbzw. des HB6-AG (früher Australia-Antigen genannt). Die Diagnoseder Non A- Non B-Hepatitis ist — noch — eine Ausschlußdiagnose. Diemeisten Transfusionshepatitiden sind offenbar Non A- Non B-Hepati-tiden. eWitaus am häufigsten ist derzeit die B-Hepatitis. Sie macht inunserem eigenen Krankengut ca. 60 °/o aus. Die HBe-Ag-negativenHepatitiden gehören etwa zur Hälfte der A- und der Non A- Non B-Form an.

Die Letalität der Virus-A-Hepatitis wird in der Literatur mit 0,2 °/oangegeben. Sie ist allerdings altersabhängig und erreicht nach dem60. Lebensjahr 0,5 -1,5 °/o. Auch bei Säuglingen und Frauen im Kli-makterium ist ein tödlicher Ausgang häufiger, nicht dagegen beiSchwangeren, wie dies wiederholt behauptet worden ist. Bemerkens-wert ist ein besonders bösartiger Verlauf mit hoher Letalität bei man-chen Epidemien wie in. Kopenhagen 1945 (38 °/o), Basel 1946 (20 °/o),Wuppertal 1950 (31 °/o) und Indien 1954 (42 °/o). (22). Er ist auf einenaußerordentlich malignen Genius epidemicus zurückzuführen.

Die Virus-B-Hepatitis hat generell eine nicht so gute Prognose wiedie A-Hepatitis. Bei ihr ist die gefährliche fulminante (nekrotisierende)Verlaufsform mit 3,4 °/o sehr viel häufiger als bei der A-Hepatitis(0,6 °/o). Die Letalität der B-Hepatitis wird auf 4 - 6 °/o geschätzt, dochgibt es auch hier Krankheitshäufungen mit wesentlich höherer Leta-lität bis zu 20 - 30 °/o.

* Vortrag, gehalten vor der Abteilung für Versicherungsmedizin des Deut-schen Vereins für Versicherungswissenschaft am 9. Mai 1979 in Köln.

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Exakte Letalitätszahlen für die Non A- Non B-Hepatitis liegen nochnicht vor, da eine virologische Diagnose der Virus-A-Hepatitis erst seitrelativ kurzer Zeit routinemäßig möglich ist und diese bis dahin mitder Non A- Non B-Hepatitis gemeinsam als HB B-Ag-negative Hepatitiszusammengefaßt wurde.

Der Vollständigkeit halber sei noch auf den „Hepatitistyp" der medi-kamentösen Schädigung hingewiesen mit einer Sterblichkeitsquote, wel-che nach den Literaturangaben mit 5 - 50 °/o innerhalb sehr weiterGrenzen schwankt, aber insgesamt sehr hoch ist. Wir selbst haben beidieser im Vergleich zur akuten Virushepatitis doch sehr seltenen Er-krankung allerdings noch keinen Exitus erlebt.

Tabelle 1

Letalität der akuten Hepatitis

Virus A-Hepatitis : .......................... 0,2 0/0

Nach dem 60. Lebensjahr .................... 0,5 - 1,5 %bei manchen Epidemien ..................... bis 20,0 - 40,0'%

Virus B-Hepatitis : .......................... 4,0 - 6,0 0/0

Non A- Non B-Hepatitis :.................... ?

„Hepatitistyp" der medikamentösenLeberschädigung ......................... 5,0 - 50,0 0/0

Ist die Beurteilung der Lebenserwartung bei akuten Lebererkran-kungen relativ einfach, so ist die Einschätzung der Prognose einerchronischen Erkrankung, die wie die Leberzirrhose zum Tode führenkann, mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden.

Generell ist zunächst festzustellen, daß die anhand großer Kollek-tive gewonnenen Zahlen Mittelwerte darstellen, die für den Einzelfallnatürlich nicht verbindlich sein können. Dabei besteht ein wesentlicherUnterschied, ob die Überlebensdaten an einem klinischen Beobach-tungsgut oder an einem Sektionsmaterial ermittelt worden sind. Dasletztere erfaßt eben nur bereits gestorbene Patienten, während Zirrho-tiker, welche mit ihrer Erkrankung u. U. viele Jahre leben, außerBetracht bleiben, woraus eine schlechtere Prognose resultiert (3). Außer-dem muß auch nicht jede auf dem Obduktionstisch festgestellte Leber-zirrhose die Todesursache gewesen sein.

Nur sehr wenige Statistiken berücksichtigen die unterschiedlicheÄtiologie der Leberzirrhose. Zirrhose ist eben nicht gleich Zirrhose!So ist die Prognose einer Alkoholzirrhose günstiger als die einer post-

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hepatitischen Zirrhose, vorausgesetzt, daß der Alkoholkonsum einge-stellt wird. Tygstrup und Mitarb. (23) haben festgestellt, daß die t)ber-lebensrate von Patienten mit einer beginnenden alkoholischen Zirrhose,die das Trinken eingestellt haben, in etwa (84 °/o) der einer gleichartigendänischen Bevölkerungsgruppe entspricht. Ob und inwieweit allerdingsin einem Kollektiv von Zirrhosekranken die einzelnen Patienten ihrenAlkoholkonsum eingestellt hatten, ist wohl kaum zu objektivieren.In allen Statistiken über die Ätiologie der Leberzirrhose stehen Virus-hepatitis und Alkohol mit weitem Abstand an der Spitze, mit einemje nach den regionalen Verhältnissen unterschiedlichen Verhältnis zu-einander. In ausgesprochenen Weinanbaugebieten nimmt der Alkoholden ersten Rang ein, sonst die Virushepatitis. In unserem Krankengutrangiert die Hepatitis mit 42,1 °,/o vor dem Alkohol (28,9 °/o). Nach die-sen beiden Ursachen mit zusammen 70 °/o folgen die kryptogenen Zir-rhosen (26,5 °/o). Die übrigen Zirrhoseursachen sind mit insgesamt 3,3 °/onur unbedeutend. Es ist allerdings zu bedenken, daß in der Gruppemit unbekannter Ätiologie sicher eine Dunkelziffer von nicht erkanntenAlkoholikern enthalten ist. Auch würde man wohl durch routinemäßigeAnti HB 0-Bestimmung wahrscheinlich manche „kryptogene" Zirrhoseals posthepatitisch identifiziert haben. Und schließlich muß man auchan nicht identifizierbare Non A- Non B-Hepatitiden denken.

Es stellt sich jetzt zunächst die Frage, wie häufig eine akute Virus-hepatitis nicht ausheilt, sondern chronisch wird. Die Heilungsquote derakuten Virushepatitis wird im allgemeinen auf 80 - 90 °/o geschätzt (15).Dementsprechend wird die Häufigkeit des Überganges einer akuten ineine chronische Hepatitis mit etwa 5 -12 °/o beziffert (13, 22). Ob eineakute Hepatitis ausheilt oder nicht, hängt nicht vom Virusbefall, son-dern von der Immunantwort des Körpers gegen virusinfizierte Hepa-tozyten ab. Ist die Immunantwort unvollständig, wird das antigeneMaterial nicht eliminiert. Es entwickelt sich eine chronische Hepatitis.Damit erklärt sich auch, daß nicht so sehr schwere, sondern relativleichte, aber protrahiert verlaufende Erkrankungen chronisch werden,bei denen als Ausdruck mangelnder Abwehr eine Viruspersistenzresultiert.

Für die Beurteilung der Prognose ist noch außerordentlich wichtig,daß es zwei verschiedene Formen einer chronischen Hepatitis gibt, diechronisch-persistierende und die chronisch-aggressive. HB e-Ag-positiveund HB g-Ag-negative Hepatitis gehen etwa gleich häufig (3,4 bzw. 3,0 °/o)in eine chronisch-persistierende Hepatitis über. Diese hat eine im Prin-zip gute Prognose und heilt in der ganz überwiegenden Mehrzahl derFälle aus, wenn auch nicht selten erst nach etlichen Jahren. In etwa10 °/o der Fälle erfolgt allerdings ein Übergang in die chronisch-aggres-sive Hepatitis.

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Die HB B-Ag-positive Hepatitis geht im Unterschied zur HB8-Ag-nega-tiven Form sehr viel häufiger in eine chronisch-aggressive Hepatitisüber (6,8 gegenüber 0,6 0/0). Nachdem die Möglichkeit gegeben ist, inner-halb der HBa-Ag-negativen Hepatitis A-Hepatitis und Non A- Non B-Hepatitis voneinander zu trennen, wird vermutet, daß die A-Hepatitiskaum einmal, die Non A- Non B-Hepatitis dagegen ähnlich häufig wiedie B-Hepatitis chronisch wird (16). Diese Annahme läßt sich allerdingsmit den eben genannten Zahlen nicht in Einklang bringen, nach denendie Non A- Non B-Hepatitis viel seltener chronisch werden müßte alsdie B-Hepatitis. Für den Übergang einer chronischen Hepatitis in eineLeberzirrhose besitzt fast nur die chronisch-aggressive HepatitisBedeutung. Diese Gefahr wird von manchen Autoren zwar nurgering eingeschätzt (ca. 0,5 0/o) (13), doch werden meist wesent-lich höhere Zahlen genannt (1,2 - 9 0/0) (22), die sicher der Realität eherentsprechen. Wie lange ist nun die Zeitspanne von der akuten über diechronisch-aggressive Hepatitis bis zur Entstehung einer Leberzirrhose?Meist vergehen bis dahin einige oder viele Jahre, doch kennen wirauch Fälle, bei denen sich in weniger als einem Jahr eine kompletteZirrhose entwickelt hat.

Es muß in diesem Zusammenhang allerdings darauf hingewiesenwerden, daß die chronisch-aggressive Hepatitis nicht immer Folge einerakuten Virushepatitis sein muß. In etwa 1/4 der Fälle lassen sich beileerer Hepatitisanamnese Autoantikörper, jedoch kein HB -AG nach-weisen,

nach-weisen, vornehmlich bei jüngeren Frauen. Der Krankheitsbeginn istoft plötzlich wie bei einer akuten Hepatitis. In einer australischenArbeit (14) konnte an 32 unbehandelten Patienten mit chronisch-aggres-siver Hepatitis gezeigt werden, daß die Letalität in den ersten zweiJahren am höchsten war und nach fünf Jahren 50 0/o gestorben waren.Die Überlebenden hatten dann eine deutlich bessere Prognose. Daßeine unbehandelte chronisch-aggressive Hepatitis auch stationär blei-ben oder sogar ausheilen kann, geht auch aus einer Zusammenstellungvon Ammann u. Mitarb. (1) hervor. Sie konnten ferner zeigen, daß dieSterblichkeit im Beobachtungszeitraum bei schweren Verläufen doppeltso hoch war wie bei leichteren.

Der Ausgangspunkt für die Entstehung einer Alkoholzirrhose istnicht, wie noch häufig angenommen, die Fettleber, sondern die sichdavon unabhängig entwickelnde Alkoholhepatitis. Zwar stellt die Fett-leber die häufigste Form der alkoholischen Leberschädigung dar undüber mehrere Jahre besteht die Antwort des Körpers auf eine stärkereAlkoholzufuhr lediglich in einer Leberzellverfettung, die aber rever-sibel ist. Selten früher als nach 6 Jahren entwickelt sich eine Alkohol

-hepatitis, aus der bei Fortdauer des Alkoholabusus eine Leberzirrhoseentstehen kann, nach einer Zeitspanne von etwa 20-25 Jahren bei

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jedem 2. Alkoholiker. Akute Alkoholexzesse können jedoch diese Ent-wicklung ganz erheblich beschleunigen. So kann eine Zirrhose durchHinzutreten einer akuten Alkoholhepatitis innerhalb eines Jahres ent-stehen.

Tabelle 2

Spontanverlauf der unbehandelten chronisch-aggressiven Hepatitis

Leichte Verlaufsform Schwere Verlaufsform

Fallzahl ............... 47 24

Beobachtungszeit ...... 6 - 8 Jahre 6 - 12 JahreZirrhose-Entwicklung .. 30 (64 %) 20 (83'%)

Davon gestorben ...... 11 (23 %) 11 (46 %)

Stationär .............. 9 (19 1%) 1 (4 %)Ausheilung ............ 8 (17 %) 3 (13 %)

(Ammann u. Mitarb. 1971)

Sammelstatistiken über die Lebenserwartung bei der Leberzirrhoseohne Berücksichtigung der Ätiologie liegen in größerer Zahl vor. Siestützen sich ganz überwiegend auf die Bestimmung der Überlebenszeit,berechnet vom Zeitpunkt der Diagnosestellung aus. Dieses Auswahlkri-terium birgt zweifellos eine ganze Reihe von Unsicherheitsfaktoren insich, wie Unterschiede im Stadium und im Aktivitätsgrad des Leber-prozesses, Vorliegen oder Nichtvorliegen von Komplikationen. Dadurchwird auch die Vergleichbarkeit von verschiedenen Statistiken sehrbeeinträchtigt. Vom Krankheitsbeginn auszugehen wäre jedoch bei derAlkoholzirrhose sowieso nicht realisierbar und auch bei der posthepa-titischen Zirrhose ein sehr unsicherer Maßstab. Nicht jede Gelbsucht inder Anamnese eines Zirrhotikers bedeutet eine akute Hepatitis, son-dern ist nicht selten — wie wir nur allzuhäufig sehen — die klinischeErstmanifestation einer bis dahin unbekannten Zirrhose. Nicht wenigeZirrhosen sind Folge einer anikterischen Hepatitis, so daß hier derKrankheitsbeginn in der Regel gar nicht feststellbar ist.

In einem Teil der Statistiken wurde die mittlere Überlebenszeit er-rechnet, datiert vom Zeitpunkt der Diagnosestellung. Drei der vierStatistiken kommen zu übereinstimmenden, im Ganzen gesehen rechtungünstigen Ergebnissen. Eine Arbeit kam zu einem sogar noch schlech-teren Resultat.

Es liegt eine größere Zahl von Arbeiten vor, in denen die 5-Jahre-Überlebenswahrscheinlichkeit ermittelt wurde. Die Zahlen der einzel-nen Autoren divergieren stark. Zu dem weitaus günstigsten Ergebniskam Brügel (5), doch handelt es sich hier ausschließlich um kurfähige

28 Zeitschr. f. d. g. Versicherungsw. 3

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Tabelle 3

Mittlere Überlebenszeit bei Leberzirrhose

Fälle Jahre

Baker et al. (1959) ................. 115 3,3

Franzinin et al. (1968) .............. 430 1,6

Piesbergen et al. (1969) ............ 327 3,5

Becker (1971) ...................... 433 3,3

Tabelle 4

5 Jahre tlberlebenswahrscheinlichkeit bei Leberzirrhose

Fälle '%

Creutzfeldt u. Beck (1966) .......... 560 8

Herman et al. (1966) ................ 74 45

Brügel (1967) ...................... 252 77

Wildhirt u. Reichet (1968) .......... 1008 37

Franken u. Mohr (1969) ............ 276 28

Frank u. Leodolter (1971) .......... 271 27

Liehr u. Kasper (1975) ............. 917 10

Eigene Sammelstatistik ............ 8 937 26(mit Kühn u. Widlhirt (1976)

Kranke unter 65 Jahren, also um eine positive Auslese. Zu dem auchnoch guten Resultat von Herman (12) ist zu bemerken, daß dieses Kran-

kengut sich aus Patienten mit portocavaler Anastomose zusammensetzt,also aus Kranken mit a priori relativ guter Leberfunktion. Wildhirt (24)

weist darauf hin, daß unter 142 Shunt-Operierten seiner Klinik die

5-Jahre-Überlebensrate sogar 70 0/o betrug. Franken u. Mohr (9) ermit-

telten die Überlebensrate nach 8, Wildhirt u. Reichet (23) nach 6 Jahren.Das größte bisher erfaßte Krankengut an Leberzirrhotikern überhauptwurde von uns gemeinsam mit Kühn u. Wildhirt auf Initiative undmit Förderung durch den Verband Deutscher Lebensversicherungs-unternehmen anhand einer Fragebogenaktion ermittelt, an der sich36 Kliniken und 3 Sanatorien beteiligten. Tabelle 5 zeigt eine Auf

-schlüsselung dieses Krankengutes nach Todesursachen. Die Entwick-lung eines primären Leber-Carcinoms auf dem Boden einer Leber-zirrhose wird immer häufiger beobachtet. Es zeigt jedoch meist nureine geringe Wachstumstendenz, so daß es als Todesursache noch keineallzugroße Rolle spielt. Die 10-Jahre-Überlebensrate lag unter 5 0/0.

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Tabelle 5

Spätprognose der Leberzirrhose (N = 8 937)

Todesursachen Männer Frauen

Koma ............................. 39,0 %o 40,4

Blutung und Koma ................ 14,7 % 10,5

Blutung ........................... 13,8 bo 10,1

Primäres Lebercarcinom .......... 2,7 % 3,6'0/

Andere Ursachen .................. 29,8 % 35,4 %

5-Jahre-Überlebensratenach der Erstdiagnose ............ 25,8'% 26,40/0

10-Jahre-Überlebensrate ........... 4,5 % 4,7 %

Während die Sanatoriumspatienten sicher eine positive Auslese dar-stellen, kann man andererseits wohl behaupten, daß die Statistikenaus großen Kliniken in gewissem Sinne eine negative Auslese wieder-geben, da die nicht geringe Zahl von Patienten mit stationärer Zirrhose,die sich wohl fühlen und kein Krankenhaus aufsuchen, unerücksichtigtbleibt (9).

Interessant, jedoch wenig ermutigend ist, daß sich die Prognose derLeberzirrhose trotz wesentlich intensiverer und vielfältiger Therapiewährend der letzten Jahrzehnte offenbar nicht gebessert hat, wennman zum Vergleich die Statistik von Ratnof f u. Patek jr. (20) aus demJahre 1942 heranzieht.

Fast alle Autoren fanden, daß während des ersten Jahres nachDiagnosestellung nicht weniger als die Hälfte bis sogar Zweidrittel derPatienten gestorben waren. Die Überlebenden hatten dann meist einewesentlich bessere Prognose. Die Situation ist also etwa so wie bei derchronisch-aggressiven Hepatitis (14).

Weichen schon die von den verschiedenen Autoren mitgeteilten Über-lebensraten insgesamt zum Teil ganz erheblich voneinander ab, so

wird auch die prognostische Bedeutung von Komplikationen der Leber-zirrhose sehr unterschiedlich bewertet. Dies zeigt sich eindrucksvollan der Bewertung eines Ascites.

Unter 144 Patienten des eigenen Krankengutes, die aus Oesophagus-varizen geblutet hatten, überlebten 30,6 o/o die erste Blutung ein Jahr,20,8 0/0 2 Jahre und 6,2 0/o 3 Jahre.

Wie schon gesagt, existieren bisher nur sehr wenig Überlebenssta-tistiken von Zirrhosen, welche die unterschiedliche Ätiologie berück-

28•

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sichtigen. Eine Zusammenstellung von Powell und Klatskin (19) zeigt,daß Alkoholzirrhosen nicht nur im Falle einer Alkoholkarenz einerelativ gute Lebenserwartung haben, sondern daß die 5-Jahre-Über-lebenserwartung auch im Falle eines fortdauernden Alkoholkonsumsimmer noch deutlich besser ist als aus den gezeigten Sammelstatistikenhervorgeht.

Tabelle 6

Prognose der hydropisch dekompensierten Leberzirrhose

Es lebten nach 1 Jahr 2 3 -5 Jahren

Brunner et al. (N = 190) 20 % 5 % 4

Liehr u. Kasper (N = ? ) 20'% 5

Selmair et al. (N = 212) 57 % 32 % 270/0

Tabelle 7

Prognose der Alkoholzirrhose (N = 183)

tlberlebensrate nach 5 Jahren:Mit Alkoholabstinenz °.................. 63,0 0

Ohne Alkoholabstinenz ................ 40,5 °/o

(Powell u. Klatskin 1968)

Besonders hingewiesen sei auf eine neuere Arbeit von Ortmans u.Wildhirt (17), die sich im Modus der Auswertung von allen uns bekanntgewordenen Statistiken unterscheidet. 114 Patienten mit chronischerHepatitis wurden regelmäßig klinisch und bioptisch untersucht. Beiihnen konnte der Übergang in eine Leberzirrhose genau determiniertwerden. Vom gesicherten Zeitpunkt der Erstmanifestation wurden diesePatienten über 15 Jahre beobachtet. Die Ergebnisse sind erstaunlichund ermutigend. Nur 26,3 °/o waren gestorben und nicht weniger als32,5 °/o waren geheilt, was doch — im Gegensatz zur allgemeinen Auf-fassung — für den positiven Effekt einer konsequenten Therapie ge-rade auch bei der prognostisch recht ungünstig beurteilten posthepa-titischen Zirrhose spricht. Weitere Untersuchungen in dieser Hinsichtsind wünschenswert.

Die sekundär-biliäre Zirrhose spielt heute aufgrund der diagnosti-sehen und therapeutischen Fortschritte keine Rolle mehr. Die Lebens-dauer bei der primär-biliären Zirrhose wird auf ca. 15 Jahre ge-schätzt (13).

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Tabelle 8

Prognose der posthepatitischen Leberzirrhose (N = 114)(Beobachtungszeit 15 Jahre)

Heilung Fortdauer der Aktivität Tod

37 (32,5'ob ) 47 (41,2 %) 30 (26,3 %)

(Ortmans u. Wildhirt, 1975)

In jedem Fall, wo eine Invalidisierung zur Diskussion steht, mußselbstverständlich eine exakte Diagnose gefordert werden, das bedeuteteine bioptische Sicherung der Diagnose. Dabei ist der Laparoskopiemit gezielter Leberpunktion der Vorzug zu geben vor der perkutaner.Leberbiopsie. Lediglich bei fortgeschrittenen Leberzirrhosen mit kli-nisch eindeutigen Befunden kann auf eine Leberbiopsie verzichtetwerden, besonders wenn Komplikationen wie Oesophagusvarizen,Ascites oder eine portocavale Encephalopathie vorliegen. Es ist jedochkeine Seltenheit, daß Menschen allein aufgrund falsch interpretierterklinischer oder biochemischer Befunde eine Rente beziehen, obwohlgar keine Zirrhose vorliegt.

Die Voraussetzungen für eine Invalidisierung sind nie gegeben beieiner Fettleber und nur selten bei einer chronischen Hepatitis. Fallseine akute Hepatitis nicht innerhalb einiger Wochen ausheilt, sondernprotrahiert verläuft, sollte man frühestens nach einem halben Jahrvon einer chronischen Hepatitis sprechen und auch dann ist es oft nochnicht möglich zu entscheiden, ob sich eine chronisch-persistierendeHepatitis entwickelt oder ob eine chronisch-aggressive Hepatitis mitmäßiger Aktivität (Typ II a) vorliegt. Für die hier angeschnittene Frage-stellung ist diese Entscheidung jedoch irrelevant, da in keinem Falldie Voraussetzungen für eine Invalidisierung gegeben sind. Dies könntenur für die chronisch-aggressive Hepatitis mit starker Aktivität(Typ II b) in Frage kommen, wenn die Erkrankung trotz konsequenterimmunsuppressiver Therapie unaufhaltsam fortschreitet in RichtungLeberzirrhose. Solche Fälle sind aber nicht allzu häufig, zumal wennman berücksichtigt, daß dieser letztgenannte Hepatitistyp in unserenBreiten sowieso nicht oft vorkommt, im eigenen Krankengut an chro-nischer Hepatitis nur in etwa 15 °/o.

Die Leberzirrhose wird hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit oft falschbeurteilt und manche Ärzte meinen, allein aufgrund der Stellung derDiagnose „Leberzirrhose" seien die Voraussetzungen für eine Invalidi-sierung gegeben, was zweifellos falsch ist. Viele Zirrhosen sind kom-pensiert und inaktiv. Diese Patienten bleiben u. U. über viele Jahrevoll leistungsfähig. In knapp 20 °/o kann man klinisch und biochemisch

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sogar von einer Heilung sprechen. Nur bei bestimmten Gegebenheitenkann die Frage einer Invalidisierung überhaupt diskutiert werden.

Dies ist zunächst einmal der Fall bei einer hydropischen Dekompen-sation, d. h. einer Ascitesbildung, wenn sich der Ascites nicht völligausschwemmen läßt oder seine Neubildung durch medikamentöseDauertherapie nicht verhindert werden kann.

Als dauernd arbeitsunfähig wird man auch einen Leberkranken mitausgeprägter Oesophagusvarizenbildung bezeichnen, besonders dann,wenn er bereits aus den erweiterten und gestauten Gefäßen geblutethat. Auch neuere Therapiemethoden, wie z. B. die Wandsklerosierung,haben diesbezüglich keine neuen Gesichtspunkte gebracht.

Die Unfähigkeit der Leber, die Abbauprodukte des Eiweißstoffwech-sels zu entgiften, kann zu schweren Störungen der Psyche und desIntellektes führen, zur sogenannten portocavalen Encephalopathie, teilsspontan aufgetreten, teils nach einer Anastomosenoperation entstanden.Gelingt es nicht, durch Reduktion der Eiweißzufuhr und durch medika-mentöse Maßnahmen diese zerebralen Störungen auszugleichen, mußder Patient invalidisiert werden.

Schließlich wird man natürlich auch die Kranken invalidisieren, beidenen dauernder stärkerer Ikterus, hohe Tränsaminasen, wesentlicheBlutgerinnungsstörungen und eventuell auch ausgedehnte Leberzell-nekrosen im Leberpunktat auf das Vorliegen eines hochaktiven, raschfortschreitenden Leberprozesses besonders ungünstiger Prognose undgroßer Komagefahr hinweisen.

Daß bei der jeweiligen Entscheidung der Beruf des Betroffenenmitberücksichtigt werden muß, versteht sich von selbst. So wird bei-spielsweise bei Menschen mit körperlicher Arbeit das Vorhandenseinvon Oesophagusvarizen, bei solchen mit vorwiegend geistiger Beschäf-tigung eine portocavale Encephalopathie mehr ins Gewicht fallen.

Als Folge einer nekrotisierenden Hepatitis kann sich auch eine grob-knotige Narbenleber entwickeln. Die Leberfunktion ist hier normal,die Patienten sind in ihrer Leistungsfähigkeit nicht eingeschränkt.Die Prognose ist sehr viel besser als bei der Leberzirrhose. Gefahrkann lediglich von der Entwicklung eines Pfortaderhochdruckes mitAusbildung von Oesophagusvarizen im Laufe der Jahre drohen. Solange dies nicht der Fall ist, besteht keine Veranlassung zur Invalidi-sierung. Mischformen von Narbenleber und Leberzirrhose sind wieZirrhosen zu beurteilen.

Entsteht auf dem Boden einer Leberzirrhose oder einer Narbenleberjedoch ein primäres Lebercarcinom, wird man einer Invalidisierungselbstverständlich zustimmen.

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Schrifttum

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