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Natur in Bewegung Lebenslinien

Lebenslinien - Natur in Bewegung · Idee der Initiative „Wissenschaft im Dialog“, die das Bundesmini-sterium für Bildung und Forschung (BMBF) gemeinsam mit dem Stif- terverband

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Natur in Bewegungwww.lebenswissen.de

Medienpartner:

Lebenslinien

Page 2: Lebenslinien - Natur in Bewegung · Idee der Initiative „Wissenschaft im Dialog“, die das Bundesmini-sterium für Bildung und Forschung (BMBF) gemeinsam mit dem Stif- terverband

2 3Vorwort Inhalt

4

6

12

16

20

24

Bewegtes Leben

Rhythmus und Zeit

Natur im Wandel

Vom Ei zum Embryo

Alter und Tod

Woher wir kommen

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung und Forschung

LebenslinienNatur in Bewegung

Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler verlassen die Labors undpräsentieren ihre Forschung imöffentlichen Raum – informativ,spannend und kontrovers. Das ist– auf den Punkt gebracht – dieIdee der Initiative „Wissenschaftim Dialog“, die das Bundesmini-sterium für Bildung und Forschung(BMBF) gemeinsam mit dem Stif-terverband und den großen For-schungsorganisationen gestartethat.

Im Rahmen dieser Initiative wer-den jährlich wechselnd besondereWissenschaftsgebiete herausge-hoben und zur Diskussion gestellt.2000 war das Jahr der Physik,2001 ist das Jahr der Lebenswis-senschaften, im Jahr 2002 folgtdas Jahr der Geowissenschaften.

Neben der Hoffnung auf Heilungvon Krankheiten wie Krebs oderAlzheimer steht die Angst vielerMenschen vor ethischen Tabubrü-chen. Was darf die Wissenschaft?Wo ziehen wir Grenzen? Wohinführt uns der wissenschaftlicheFortschritt? Die Erkenntnisfort-schritte in den Lebenswissen-schaften werden unser Weltbildverändern – und wir alle solltenuns informieren und mit darüberentscheiden, wohin die Reisegeht. Das Jahr der Lebenswissen-schaften versteht sich als öffent-liches Forum für diese notwendigegesellschaftliche Debatte.

Impressum

Herausgeber:Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)

Autorin:Dr. Wiebke Rögener

Redaktion:AG Jahr der Lebenswissenschaftenbeim DLR Projektträger Gesundheits-forschung des BMBF, BonniserundschmidtKreativagentur für PublicRelations GmbHBad Honnef – Berlin

Konzept und Gestaltung:iserundschmidtKreativagentur für PublicRelations GmbHBad Honnef – Berlin

Informationen zum Jahr der Lebenswissenschaften:Pressestelle des Bundesministeriumsfür Bildung und ForschungHannoversche Str. 28 - 3010115 BerlinTel.: 030 - 28 540 - 50 50Fax: 030 - 28 540 - 55 51E-Mail: [email protected]

iserundschmidtKreativagentur für PublicRelations GmbHHauptstr. 20a53604 Bad HonnefTel.: 0 22 24 - 9 51 95 - 41Fax: 0 22 24 - 9 51 95 - 19E-Mail: [email protected]

Informationen zu Wissenschaft im Dialog:Wissenschaft im Dialog gGmbHMarkgrafenstraße 3710117 BerlinTel.: 030 - 20 64 92 - 00Fax: 030 - 20 64 92 - 05E-Mail: [email protected]

Oktober 2001

„Das Jahr der Lebenswissenschaften bietet große Chancen

zur Diskussion auf gleicher Augenhöhe.

Jeder soll die Möglichkeit haben, mit Forscherinnen

und Forschern Meinungen und Argumente auszutauschen

und dadurch informierter zu entscheiden.“

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2 3Vorwort Inhalt

4

6

12

16

20

24

Bewegtes Leben

Rhythmus und Zeit

Natur im Wandel

Vom Ei zum Embryo

Alter und Tod

Woher wir kommen

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung und Forschung

LebenslinienNatur in Bewegung

Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler verlassen die Labors undpräsentieren ihre Forschung imöffentlichen Raum – informativ,spannend und kontrovers. Das ist– auf den Punkt gebracht – dieIdee der Initiative „Wissenschaftim Dialog“, die das Bundesmini-sterium für Bildung und Forschung(BMBF) gemeinsam mit dem Stif-terverband und den großen For-schungsorganisationen gestartethat.

Im Rahmen dieser Initiative wer-den jährlich wechselnd besondereWissenschaftsgebiete herausge-hoben und zur Diskussion gestellt.2000 war das Jahr der Physik,2001 ist das Jahr der Lebenswis-senschaften, im Jahr 2002 folgtdas Jahr der Geowissenschaften.

Neben der Hoffnung auf Heilungvon Krankheiten wie Krebs oderAlzheimer steht die Angst vielerMenschen vor ethischen Tabubrü-chen. Was darf die Wissenschaft?Wo ziehen wir Grenzen? Wohinführt uns der wissenschaftlicheFortschritt? Die Erkenntnisfort-schritte in den Lebenswissen-schaften werden unser Weltbildverändern – und wir alle solltenuns informieren und mit darüberentscheiden, wohin die Reisegeht. Das Jahr der Lebenswissen-schaften versteht sich als öffent-liches Forum für diese notwendigegesellschaftliche Debatte.

Impressum

Herausgeber:Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)

Autorin:Dr. Wiebke Rögener

Redaktion:AG Jahr der Lebenswissenschaftenbeim DLR Projektträger Gesundheits-forschung des BMBF, BonniserundschmidtKreativagentur für PublicRelations GmbHBad Honnef – Berlin

Konzept und Gestaltung:iserundschmidtKreativagentur für PublicRelations GmbHBad Honnef – Berlin

Informationen zum Jahr der Lebenswissenschaften:Pressestelle des Bundesministeriumsfür Bildung und ForschungHannoversche Str. 28 - 3010115 BerlinTel.: 030 - 28 540 - 50 50Fax: 030 - 28 540 - 55 51E-Mail: [email protected]

iserundschmidtKreativagentur für PublicRelations GmbHHauptstr. 20a53604 Bad HonnefTel.: 0 22 24 - 9 51 95 - 41Fax: 0 22 24 - 9 51 95 - 19E-Mail: [email protected]

Informationen zu Wissenschaft im Dialog:Wissenschaft im Dialog gGmbHMarkgrafenstraße 3710117 BerlinTel.: 030 - 20 64 92 - 00Fax: 030 - 20 64 92 - 05E-Mail: [email protected]

Oktober 2001

„Das Jahr der Lebenswissenschaften bietet große Chancen

zur Diskussion auf gleicher Augenhöhe.

Jeder soll die Möglichkeit haben, mit Forscherinnen

und Forschern Meinungen und Argumente auszutauschen

und dadurch informierter zu entscheiden.“

Page 4: Lebenslinien - Natur in Bewegung · Idee der Initiative „Wissenschaft im Dialog“, die das Bundesmini-sterium für Bildung und Forschung (BMBF) gemeinsam mit dem Stif- terverband

„Zu unserer Natur gehört die Bewegung;die vollkommene Ruhe ist der Tod.“

Lucius Annaeus Seneca, römischer Philosoph

5Natur in Bewegung

__„Alle Vögel fliegen hoooch, alleKaninchen fliegen...“ – nein, Ka-ninchen haben keine Flügel, undschon Kindergartenkinder mer-ken, dass jemand sie hier aufsGlatteis führen wollte. Kaninchenhoppeln, das Eichhörnchen klet-tert, Karpfen schwimmen. AuchPflanzen sind durchaus nicht reg-los: Ranken wenden sich haltsu-chend hin und her, Blütenblätteröffnen und schließen sich, und dieVenusfliegenfalle schnappt zu,wenn ein Insekt sich auf ihre Fang-blätter verirrt. Lebendiges bewegtsich, das ist wohl das erste Kenn-zeichen, nach dem wir belebte undunbelebte Objekte unterscheiden.

Doch obwohl die Bewegung in derNatur unmittelbar zu beobachtenist, kommen wir nur langsam hin-ter ihre Geheimnisse. So hält sicheine Stubenfliege nicht etwa durchein einfaches Auf und Ab des Flü-gelschlags in der Luft. Erst eineraffinierte Drehung des Flügels amEnde des Schlags verleiht den Tie-ren genügend Auftrieb. Und dieHummel sollte aerodynamischenBerechnungen zufolge überhauptnicht fliegen können. Delfine undRobben sind nicht nur gute Schwim-mer – ab einer bestimmten Tiefegehen sie zum „passiven Gleiten“über, das weniger Energie ver-braucht. Möglich wird dies, weildie Lungen vom Wasserdruck zu-sammengepresst werden und dieTiere daher weniger Auftrieb ha-

ben. Und auch das Zu-Fuß-Gehenentpuppt sich als höchst komple-xer Ablauf: Auf zwei, vier und mehrBeinen stoßen Lebewesen weitervor als jedes noch so geländegän-gige Gefährt. Nicht zuletzt des-halb versuchen Wissenschaftler,mit Laufrobotern die Natur nach-zuahmen. Mit Zeitlupenkameraserfassen sie dafür natürliche Be-wegungsabläufe und stehen damitin der Tradition früher Fotografen,die zu Beginn des 20. Jahrhundertserstmals die Bewegungen vonMenschen und Tieren analysierten.

Doch Fortbewegung ist nicht dieeinzige Dynamik in der Natur. DasLeben pulsiert in vielen Rhythmenund auf ganz unterschiedlichenZeitskalen – von den blitzschnellenelektrischen Impulsen einer Ner-venzelle über Herzschlag und At-mung bis zum Wechsel der Jahres-zeiten. Im vorliegenden Heft wollenwir genau diese so verschiedenen„Lebenslinien“ nachzeichnen. Sostellen wir einige Elemente der„Uhrwerke“ vor, die die Lebewe-sen im richtigen Takt halten. Auchganze Ökosysteme entwickeln

sich nach bestimmten zeitlichenGesetzmäßigkeiten – bei der Be-siedlung eines neuen Lebensraumszum Beispiel oder bei der Regene-ration nach Umweltkatastrophen.

Von der Befruchtung und Embryo-nalentwicklung bis zu Alterungund Tod befindet sich jedes Lebe-wesen in ständiger Veränderung.Nur die richtige zeitliche Abfolgevieler molekularer Schritte führtvon der Eizelle zum ausdifferen-zierten Organismus. In dessen Zel-len tickt wiederum eine molekulareUhr, die die Lebenszeit begrenzt.So spannt sich der Bogen vom Wer-den zum Vergehen. Und schließlichfolgen wir den Schritten undSprüngen, die von den ersten Le-bensformen zur heutigen Vielfaltder Organismen geführt haben.Wie Forscher sich die Entstehungdes Lebens vorstellen, welche Spu-ren der Evolution sich in unseremErbgut finden, wie eine „selbstge-machte Evolution“ im Labor ab-läuft – all das können Sie in die-sem Heft erfahren. Begleiten Sieuns auf eine Expedition in die„Natur in Bewegung“!

Bewegtes LebenDer Fotograf Eadweard Muybridge ließ Pferde über quer zur Laufrichtung gespannte Drähte galoppieren. Jeder einzelne löste eine Kamera aus, so dass eine Serie von Fotos entstand. Anlassfür dieses Experiment des Briten, so will es die Legende, war eine Wette: Muybridge konnte damit beweisen, dass es einen Zeitpunkt gibt, zu dem das Tier mit keinem Huf den Boden berührt. (Quelle: Kingston Museum, Kingston upon Thames, England)

Modell des menschlichen Ganges. Die für ihre Zeit genaueste Methode der Bewegungsfo-tografie entwickelten die beiden Physiologen W. Braune und O. Fischer. Sie fotografiertenMenschen beim Gehen, an denen sie „Geisslersche Röhren“ befestigt hatten, die durch ei-nen Stromfluß zum blitzartigen Aufleuchten gebracht werden konnten. 1894 übersetzten diebeiden Forscher die Ergebnisse ihrer Versuche in ein dreidimensionales Fadenmodell, dassogar eine Zeit lang in Serie gefertigt wurde. (Foto: Museum Anatomicum Jenense, Jena)

Page 5: Lebenslinien - Natur in Bewegung · Idee der Initiative „Wissenschaft im Dialog“, die das Bundesmini-sterium für Bildung und Forschung (BMBF) gemeinsam mit dem Stif- terverband

„Zu unserer Natur gehört die Bewegung;die vollkommene Ruhe ist der Tod.“

Lucius Annaeus Seneca, römischer Philosoph

5Natur in Bewegung

__„Alle Vögel fliegen hoooch, alleKaninchen fliegen...“ – nein, Ka-ninchen haben keine Flügel, undschon Kindergartenkinder mer-ken, dass jemand sie hier aufsGlatteis führen wollte. Kaninchenhoppeln, das Eichhörnchen klet-tert, Karpfen schwimmen. AuchPflanzen sind durchaus nicht reg-los: Ranken wenden sich haltsu-chend hin und her, Blütenblätteröffnen und schließen sich, und dieVenusfliegenfalle schnappt zu,wenn ein Insekt sich auf ihre Fang-blätter verirrt. Lebendiges bewegtsich, das ist wohl das erste Kenn-zeichen, nach dem wir belebte undunbelebte Objekte unterscheiden.

Doch obwohl die Bewegung in derNatur unmittelbar zu beobachtenist, kommen wir nur langsam hin-ter ihre Geheimnisse. So hält sicheine Stubenfliege nicht etwa durchein einfaches Auf und Ab des Flü-gelschlags in der Luft. Erst eineraffinierte Drehung des Flügels amEnde des Schlags verleiht den Tie-ren genügend Auftrieb. Und dieHummel sollte aerodynamischenBerechnungen zufolge überhauptnicht fliegen können. Delfine undRobben sind nicht nur gute Schwim-mer – ab einer bestimmten Tiefegehen sie zum „passiven Gleiten“über, das weniger Energie ver-braucht. Möglich wird dies, weildie Lungen vom Wasserdruck zu-sammengepresst werden und dieTiere daher weniger Auftrieb ha-

ben. Und auch das Zu-Fuß-Gehenentpuppt sich als höchst komple-xer Ablauf: Auf zwei, vier und mehrBeinen stoßen Lebewesen weitervor als jedes noch so geländegän-gige Gefährt. Nicht zuletzt des-halb versuchen Wissenschaftler,mit Laufrobotern die Natur nach-zuahmen. Mit Zeitlupenkameraserfassen sie dafür natürliche Be-wegungsabläufe und stehen damitin der Tradition früher Fotografen,die zu Beginn des 20. Jahrhundertserstmals die Bewegungen vonMenschen und Tieren analysierten.

Doch Fortbewegung ist nicht dieeinzige Dynamik in der Natur. DasLeben pulsiert in vielen Rhythmenund auf ganz unterschiedlichenZeitskalen – von den blitzschnellenelektrischen Impulsen einer Ner-venzelle über Herzschlag und At-mung bis zum Wechsel der Jahres-zeiten. Im vorliegenden Heft wollenwir genau diese so verschiedenen„Lebenslinien“ nachzeichnen. Sostellen wir einige Elemente der„Uhrwerke“ vor, die die Lebewe-sen im richtigen Takt halten. Auchganze Ökosysteme entwickeln

sich nach bestimmten zeitlichenGesetzmäßigkeiten – bei der Be-siedlung eines neuen Lebensraumszum Beispiel oder bei der Regene-ration nach Umweltkatastrophen.

Von der Befruchtung und Embryo-nalentwicklung bis zu Alterungund Tod befindet sich jedes Lebe-wesen in ständiger Veränderung.Nur die richtige zeitliche Abfolgevieler molekularer Schritte führtvon der Eizelle zum ausdifferen-zierten Organismus. In dessen Zel-len tickt wiederum eine molekulareUhr, die die Lebenszeit begrenzt.So spannt sich der Bogen vom Wer-den zum Vergehen. Und schließlichfolgen wir den Schritten undSprüngen, die von den ersten Le-bensformen zur heutigen Vielfaltder Organismen geführt haben.Wie Forscher sich die Entstehungdes Lebens vorstellen, welche Spu-ren der Evolution sich in unseremErbgut finden, wie eine „selbstge-machte Evolution“ im Labor ab-läuft – all das können Sie in die-sem Heft erfahren. Begleiten Sieuns auf eine Expedition in die„Natur in Bewegung“!

Bewegtes LebenDer Fotograf Eadweard Muybridge ließ Pferde über quer zur Laufrichtung gespannte Drähte galoppieren. Jeder einzelne löste eine Kamera aus, so dass eine Serie von Fotos entstand. Anlassfür dieses Experiment des Briten, so will es die Legende, war eine Wette: Muybridge konnte damit beweisen, dass es einen Zeitpunkt gibt, zu dem das Tier mit keinem Huf den Boden berührt. (Quelle: Kingston Museum, Kingston upon Thames, England)

Modell des menschlichen Ganges. Die für ihre Zeit genaueste Methode der Bewegungsfo-tografie entwickelten die beiden Physiologen W. Braune und O. Fischer. Sie fotografiertenMenschen beim Gehen, an denen sie „Geisslersche Röhren“ befestigt hatten, die durch ei-nen Stromfluß zum blitzartigen Aufleuchten gebracht werden konnten. 1894 übersetzten diebeiden Forscher die Ergebnisse ihrer Versuche in ein dreidimensionales Fadenmodell, dassogar eine Zeit lang in Serie gefertigt wurde. (Foto: Museum Anatomicum Jenense, Jena)

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7Rhythmus und Zeit

__Sie tickt nicht laut, und wir müs-sen doch auf sie hören – unsereinnere Uhr. Spätestens nach ei-nem Flug über mehrere Zeitzonenhinweg merken wir, dass unserLebensrhythmus von Zeitmessernbestimmt wird, die sich nicht soleicht umstellen lassen wie die Uhram Handgelenk. Dazu kommennoch andere Taktgeber, die denOrganismus steuern: Bis zu 1000mal pro Sekunde feuert eine ge-reizte Nervenzelle, 140 mal pro Mi-nute schlägt das Herz eines Neuge-borenen, nur halb so schnell daseines Greises.

Für viele andere biologische Rhyth-men liefert unser Planet Erde dieVorgaben: In 24 Stunden dreht ersich einmal um seine Achse – undnicht nur der Wechsel von Schlafenund Wachen folgt diesem Zeitmaß,sondern auch der Blutdruck, dieKörpertemperatur, die Schmerz-empfindlichkeit, die Aktivität vonLeber und Nieren und viele andereKörperfunktionen. Selbst wenn wir

„Wenn man mit einem netten Mädchenzwei Stunden zusammen ist, hat man dasGefühl, es seien zwei Minuten; wenn manzwei Minuten auf einem heißen Ofen sitzt,hat man das Gefühl, es seien zwei Stunden.Das ist Relativität.“

Albert Einstein

Zeit im Wandel der Zeiten

Dass der Lauf der Zeit nichtunverrückbar feststeht, lernenwir im Physikunterricht – vor-stellbar erscheint es den We-nigsten. Unseren Vorfahren wä-ren Einsteins Überlegungenzur Relativität der Zeit viel-leicht weniger fremd gewesen.Denn sie gingen keineswegsvon einem gleichförmigen Zeit-maß aus. Nicht nur im baby-

lonischen Reich teilte man Tag und Nacht – ungeachtet ihrer jenach Jahreszeit unterschiedlichen Länge – in je zwölf Stundenein. Auch im Europa des Mittelalters unterschied man kurze Win-terstunden und lange Sommerstunden. Erste tragbare Uhren gabes seit dem 16. Jahrhundert. Doch sie waren seltene Kostbarkei-ten. Der Tageslauf der meisten Menschen richtete sich nach demSonnenstand, jedes Städtchen lebte nach seiner eigenen Ortszeit.Die heute gültigen 24 Zeitzonen wurden erst 1911 festgelegt.

Zu Postkutschenzeiten bedeutete die Zeitverschiebung für denReisenden kein Problem. Die Änderungen waren geringfügig unddas Reisetempo gemächlich. Erst Interkontinentalflüge bescher-ten uns das als Jetlag bekannte Unbehagen: Schlafstörungen,Verdauungsbeschwerden und Abgeschlagenheit sind die Folgen,wenn wir von heute auf morgen die Nacht zum Tag machen müs-sen. Bei Flügen in Richtung Osten sind sie besonders heftig. Zwarpasst sich unser innerer Rhythmus der neuen Ortszeit an – dochbraucht er dafür zumindest einen Teil der Zeit, die wir mit hohenReisegeschwindigkeiten einsparen wollten. Etwa ein Tag Umge-wöhnungszeit pro Stunde Zeitverschiebung gilt als Faustregel.Richtiges Verhalten hilft, möglichst schnell wieder den passendenTakt zu finden. So kann man mit der Umstellung schon vor derReise beginnen – also vor dem Amerika-Trip jeden Tag etwas spä-ter, vor dem Flug nach Indien dagegen früher schlafen gehen. AmAnkunftsort sollten Reisende sich möglichst viel dem Tageslichtaussetzen, da vor allem das Licht am Stellrädchen der innerenUhr dreht.

Taschenuhr „Hora Universa“, vergoldet,Schweiz, um 1880. Auf der nicht sichtbarenSeite der Uhr befindet sich ein normales12-Stunden-Ziffernblatt, das die Ortszeitanzeigt. Der Stundenzeiger ist verbundenmit der hier sichtbaren „2-mal-12-Stunden-Scheibe“, die sich deshalb am Tag einmalvollständig dreht. Entsprechend der Lageder einzelnen Städte auf diesem Weltzeit-Ziffernblatt kann man so die jeweils dortherrschende Ortszeit ablesen. (Foto: Deut-sches Uhrenmuseum, Furtwangen)

Über diesen „Zeitteppich“ wandelten die Besucherder Sonderausstellung „Alt & Jung“, die 1998 imDeutschen Hygienemuseum Dresden gezeigt wurde.Durch Berührung konnten die Uhren zum Laufen gebracht und auch wieder angehalten werden. (Fotograf: Christoph Reichelt)

Rhythmusund Zeit

Rhythmusund Zeit

Page 7: Lebenslinien - Natur in Bewegung · Idee der Initiative „Wissenschaft im Dialog“, die das Bundesmini-sterium für Bildung und Forschung (BMBF) gemeinsam mit dem Stif- terverband

7Rhythmus und Zeit

__Sie tickt nicht laut, und wir müs-sen doch auf sie hören – unsereinnere Uhr. Spätestens nach ei-nem Flug über mehrere Zeitzonenhinweg merken wir, dass unserLebensrhythmus von Zeitmessernbestimmt wird, die sich nicht soleicht umstellen lassen wie die Uhram Handgelenk. Dazu kommennoch andere Taktgeber, die denOrganismus steuern: Bis zu 1000mal pro Sekunde feuert eine ge-reizte Nervenzelle, 140 mal pro Mi-nute schlägt das Herz eines Neuge-borenen, nur halb so schnell daseines Greises.

Für viele andere biologische Rhyth-men liefert unser Planet Erde dieVorgaben: In 24 Stunden dreht ersich einmal um seine Achse – undnicht nur der Wechsel von Schlafenund Wachen folgt diesem Zeitmaß,sondern auch der Blutdruck, dieKörpertemperatur, die Schmerz-empfindlichkeit, die Aktivität vonLeber und Nieren und viele andereKörperfunktionen. Selbst wenn wir

„Wenn man mit einem netten Mädchenzwei Stunden zusammen ist, hat man dasGefühl, es seien zwei Minuten; wenn manzwei Minuten auf einem heißen Ofen sitzt,hat man das Gefühl, es seien zwei Stunden.Das ist Relativität.“

Albert Einstein

Zeit im Wandel der Zeiten

Dass der Lauf der Zeit nichtunverrückbar feststeht, lernenwir im Physikunterricht – vor-stellbar erscheint es den We-nigsten. Unseren Vorfahren wä-ren Einsteins Überlegungenzur Relativität der Zeit viel-leicht weniger fremd gewesen.Denn sie gingen keineswegsvon einem gleichförmigen Zeit-maß aus. Nicht nur im baby-

lonischen Reich teilte man Tag und Nacht – ungeachtet ihrer jenach Jahreszeit unterschiedlichen Länge – in je zwölf Stundenein. Auch im Europa des Mittelalters unterschied man kurze Win-terstunden und lange Sommerstunden. Erste tragbare Uhren gabes seit dem 16. Jahrhundert. Doch sie waren seltene Kostbarkei-ten. Der Tageslauf der meisten Menschen richtete sich nach demSonnenstand, jedes Städtchen lebte nach seiner eigenen Ortszeit.Die heute gültigen 24 Zeitzonen wurden erst 1911 festgelegt.

Zu Postkutschenzeiten bedeutete die Zeitverschiebung für denReisenden kein Problem. Die Änderungen waren geringfügig unddas Reisetempo gemächlich. Erst Interkontinentalflüge bescher-ten uns das als Jetlag bekannte Unbehagen: Schlafstörungen,Verdauungsbeschwerden und Abgeschlagenheit sind die Folgen,wenn wir von heute auf morgen die Nacht zum Tag machen müs-sen. Bei Flügen in Richtung Osten sind sie besonders heftig. Zwarpasst sich unser innerer Rhythmus der neuen Ortszeit an – dochbraucht er dafür zumindest einen Teil der Zeit, die wir mit hohenReisegeschwindigkeiten einsparen wollten. Etwa ein Tag Umge-wöhnungszeit pro Stunde Zeitverschiebung gilt als Faustregel.Richtiges Verhalten hilft, möglichst schnell wieder den passendenTakt zu finden. So kann man mit der Umstellung schon vor derReise beginnen – also vor dem Amerika-Trip jeden Tag etwas spä-ter, vor dem Flug nach Indien dagegen früher schlafen gehen. AmAnkunftsort sollten Reisende sich möglichst viel dem Tageslichtaussetzen, da vor allem das Licht am Stellrädchen der innerenUhr dreht.

Taschenuhr „Hora Universa“, vergoldet,Schweiz, um 1880. Auf der nicht sichtbarenSeite der Uhr befindet sich ein normales12-Stunden-Ziffernblatt, das die Ortszeitanzeigt. Der Stundenzeiger ist verbundenmit der hier sichtbaren „2-mal-12-Stunden-Scheibe“, die sich deshalb am Tag einmalvollständig dreht. Entsprechend der Lageder einzelnen Städte auf diesem Weltzeit-Ziffernblatt kann man so die jeweils dortherrschende Ortszeit ablesen. (Foto: Deut-sches Uhrenmuseum, Furtwangen)

Über diesen „Zeitteppich“ wandelten die Besucherder Sonderausstellung „Alt & Jung“, die 1998 imDeutschen Hygienemuseum Dresden gezeigt wurde.Durch Berührung konnten die Uhren zum Laufen gebracht und auch wieder angehalten werden. (Fotograf: Christoph Reichelt)

Rhythmusund Zeit

Rhythmusund Zeit

Page 8: Lebenslinien - Natur in Bewegung · Idee der Initiative „Wissenschaft im Dialog“, die das Bundesmini-sterium für Bildung und Forschung (BMBF) gemeinsam mit dem Stif- terverband

„Heilen hat seine Zeit“, wusste derPrediger Salomo (Kap. 3, Vers 3).Routine-Verordnungen nehmen da-rauf wenig Rücksicht. „ZwanzigTropfen dreimal täglich“ – das istnicht immer die beste Lösung.Nicht nur wie oft, sondern auchwann ein Medikament eingenom-men wird, entscheidet über dieWirkung. Im Tageslauf variierenBlutdruck und Hormonspiegel undauch die Aktivität von Leber undNiere, die Medikamente wieder ausdem Körper entfernen. Die optima-le Dosis kann daher je nach Tages-zeit ganz unterschiedlich sein. Sowirken Schmerzmittel nachmittags

Heilen hat seine Zeit

9Rhythmus und Zeit

chend werden sie an- und abge-schaltet. Bei geändertem Licht-Dunkel-Zyklus passen sie sich demneuen Takt an. Kürzlich wurde ge-zeigt, dass die per-Gene bei Wir-beltieren die Produktion des rotenBlutfarbstoffs Hämoglobin steu-ern. Die wechselnde Verfügbarkeitdieses Sauerstofftransporters be-einflusst vermutlich eine ganzeReihe von Körperfunktionen.

sondern eher eine Schaltzentrale,die die vielen Uhren des Orga-nismus miteinander im gleichenRhythmus schwingen lässt und siemit Informationen von außen – vorallem den Lichtverhältnissen – ko-ordiniert. Immer mehr Uhren wur-den seitdem entdeckt. Zu diesenErbstücken gehören die period(per) genannten Gene, die sich inähnlicher Form bei Taufliegen, Fischen, Mäusen und Menschenfinden. Dem Tageslauf entspre-

8

Tag ohne Maß

Kein Sonnenlicht, keine vorge-gebenen Essens-, Arbeits- oderSchlafenszeiten – das waren dieBedingungen, unter denen in densechziger Jahren Versuchsperso-nen isoliert im sogenannten „An-dechser Bunker“ des Max-Planck-Instituts für Verhaltensphysiologielebten. Bestimmen äußere Signaleoder eine innere Uhr unseren Ta-gesrhythmus? Die Antwort laute-te, wie so oft in der Biologie: „so-wohl als auch“. Ohne zu wissen,was die Stunde geschlagen hat,behielten die meisten Menscheneinen Rhythmus von Schlafen undWachen bei, aßen regelmäßig undgenehmigten sich gelegentlich einMittagsschläfchen. Viele warenallerdings empört, als sie nach vierWochen ihre Einsamkeit verlassensollten: Der Versuch würde zu frühabgebrochen, glaubten sie. Ihnenwar ein Tag abhanden gekommen.Denn der Tag ohne Uhr dauert beiden meisten Menschen etwa 25Stunden. Erzeugt wird der Rhyth-mus von innen. Erst durch äußereZeitgeber, vor allem das Tages-licht, wird diese innere Tageslängemit dem äußeren Erdentag syn-chronisiert.

Wissenschaft im Bunker – allerdings ganzohne militärischen Hintergrund. Nur sowar gewährleistet, dass die Teilnehmerdieses Zeitexperiments nie die leiseste Ahnung hatten, welche Stunde es in derAußenwelt geschlagen hatte. (Fotos:Schlafmedizinisches Zentrum, Bezirks-klinikum Regensburg)

Das Leben ist Frühaufsteher – zumindest, was seinen An-fang undd sein Ende betrifft. Geburt und Tod finden amhäufigsten in den frühen Morgenstunden statt (Kurven aund b). Dass gerade zu dieser Zeit auch die Schmerzemp-findlichkeit am größten ist, scheint eine eher üble Launeder Natur zu sein (Kurve c). (Quelle: SchlafmedizinischesZentrum, Bezirksklinikum Regensburg)

den Wechsel von Tag und Nachtnicht wahrnehmen, bleiben dieseRegelmäßigkeiten annähernd er-halten. Wissenschaftler sprechenvon zirkadianen Rhythmen – weilsie eben „ungefähr einen Taglang“ sind. Die Bewegung unseresPlaneten ist auch noch für anderebiologische Rhythmen verantwort-lich: Während die Erde einmal dieSonne umkreist, wechseln in denTropen Regen- und Trockenzeiten,erneuert sich in unseren Breiteneinmal das Laub an den Bäumenund schwankt die Stimmung vielerMenschen mit der unterschied-lichen Tageslänge von Sommer undWinter. Zahlreiche Pflanzen undTiere vollenden innerhalb einerSonnenumrundung ihren ganzenLebenszyklus, vom Keimen bis zurSamenbildung, vom Schlüpfen biszur Eiablage. Unser Ort im Welt-raum liefert so auch das Zeitmaßfür uns Erdenbewohner.

ErbstückeNur Wenigen vermacht der Groß-vater eine goldene Taschenuhr.Doch jeder besitzt zahlreiche er-erbte Chronometer. Ein kleines Ge-biet im Hirn, der so genannte Sup-rachiasmatische Kern, gilt seit densiebziger Jahren als klassischerSchrittmacher. Damals stellten For-scher bei Ratten fest, dass die Tie-re aus dem Takt kommen, wenndiese Struktur zerstört ist. Der nor-male Tagesrhythmus von Schlafenund Wachen, Fressen und Trinkengeht ihnen verloren. Inzwischen istklar, dass hier nicht das eine undeinzige Uhrwerk des Körpers tickt,

Operation nach dem Mittagessen – das wäre für den Patienten nach dieserKurve am schonendsten. Sie zeigt, dassdie Wirkungsdauer des örtlichen Betäu-bungsmittels Lidocain bei gleicher Dosisstark mit dem Tageslauf variiert. (Quelle: Schlafmedizinisches Zentrum,Bezirksklinikum Regensburg)

Willkürlich festgelegte Einheiten

Abweichung vom Tagesmittel in %

Abweichung vom Tagesmittel in %

c) Schmerzempfindung

a) Geburten

b) Todesfälle

Wirkung bei gleicher Dosis örtlicher Betäubungsmittel

und abends stärker als am Mor-gen. Chemotherapien gegen bös-artige Tumore sind weniger belas-tend, wenn sie zur richtigen Tages-zeit verabreicht werden. AuchAntibiotika sind nicht immer gleichbekömmlich. Eine kanadische Stu-die zeigte: Das Antibiotikum Gen-tamicin hatte bei Patienten, dienachts ins Krankenhaus eingelie-fert wurden, besonders viele Ne-benwirkungen – seine Giftigkeit istwährend des Schlafs um 60 Prozenterhöht. Immer häufiger wird gefor-dert, schon bei der klinischen Er-probung neuer Medikamente auchauf die biologische Uhr zu sehen.

Betäubungsdauer in Minuten

Page 9: Lebenslinien - Natur in Bewegung · Idee der Initiative „Wissenschaft im Dialog“, die das Bundesmini-sterium für Bildung und Forschung (BMBF) gemeinsam mit dem Stif- terverband

„Heilen hat seine Zeit“, wusste derPrediger Salomo (Kap. 3, Vers 3).Routine-Verordnungen nehmen da-rauf wenig Rücksicht. „ZwanzigTropfen dreimal täglich“ – das istnicht immer die beste Lösung.Nicht nur wie oft, sondern auchwann ein Medikament eingenom-men wird, entscheidet über dieWirkung. Im Tageslauf variierenBlutdruck und Hormonspiegel undauch die Aktivität von Leber undNiere, die Medikamente wieder ausdem Körper entfernen. Die optima-le Dosis kann daher je nach Tages-zeit ganz unterschiedlich sein. Sowirken Schmerzmittel nachmittags

Heilen hat seine Zeit

9Rhythmus und Zeit

chend werden sie an- und abge-schaltet. Bei geändertem Licht-Dunkel-Zyklus passen sie sich demneuen Takt an. Kürzlich wurde ge-zeigt, dass die per-Gene bei Wir-beltieren die Produktion des rotenBlutfarbstoffs Hämoglobin steu-ern. Die wechselnde Verfügbarkeitdieses Sauerstofftransporters be-einflusst vermutlich eine ganzeReihe von Körperfunktionen.

sondern eher eine Schaltzentrale,die die vielen Uhren des Orga-nismus miteinander im gleichenRhythmus schwingen lässt und siemit Informationen von außen – vorallem den Lichtverhältnissen – ko-ordiniert. Immer mehr Uhren wur-den seitdem entdeckt. Zu diesenErbstücken gehören die period(per) genannten Gene, die sich inähnlicher Form bei Taufliegen, Fischen, Mäusen und Menschenfinden. Dem Tageslauf entspre-

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Tag ohne Maß

Kein Sonnenlicht, keine vorge-gebenen Essens-, Arbeits- oderSchlafenszeiten – das waren dieBedingungen, unter denen in densechziger Jahren Versuchsperso-nen isoliert im sogenannten „An-dechser Bunker“ des Max-Planck-Instituts für Verhaltensphysiologielebten. Bestimmen äußere Signaleoder eine innere Uhr unseren Ta-gesrhythmus? Die Antwort laute-te, wie so oft in der Biologie: „so-wohl als auch“. Ohne zu wissen,was die Stunde geschlagen hat,behielten die meisten Menscheneinen Rhythmus von Schlafen undWachen bei, aßen regelmäßig undgenehmigten sich gelegentlich einMittagsschläfchen. Viele warenallerdings empört, als sie nach vierWochen ihre Einsamkeit verlassensollten: Der Versuch würde zu frühabgebrochen, glaubten sie. Ihnenwar ein Tag abhanden gekommen.Denn der Tag ohne Uhr dauert beiden meisten Menschen etwa 25Stunden. Erzeugt wird der Rhyth-mus von innen. Erst durch äußereZeitgeber, vor allem das Tages-licht, wird diese innere Tageslängemit dem äußeren Erdentag syn-chronisiert.

Wissenschaft im Bunker – allerdings ganzohne militärischen Hintergrund. Nur sowar gewährleistet, dass die Teilnehmerdieses Zeitexperiments nie die leiseste Ahnung hatten, welche Stunde es in derAußenwelt geschlagen hatte. (Fotos:Schlafmedizinisches Zentrum, Bezirks-klinikum Regensburg)

Das Leben ist Frühaufsteher – zumindest, was seinen An-fang undd sein Ende betrifft. Geburt und Tod finden amhäufigsten in den frühen Morgenstunden statt (Kurven aund b). Dass gerade zu dieser Zeit auch die Schmerzemp-findlichkeit am größten ist, scheint eine eher üble Launeder Natur zu sein (Kurve c). (Quelle: SchlafmedizinischesZentrum, Bezirksklinikum Regensburg)

den Wechsel von Tag und Nachtnicht wahrnehmen, bleiben dieseRegelmäßigkeiten annähernd er-halten. Wissenschaftler sprechenvon zirkadianen Rhythmen – weilsie eben „ungefähr einen Taglang“ sind. Die Bewegung unseresPlaneten ist auch noch für anderebiologische Rhythmen verantwort-lich: Während die Erde einmal dieSonne umkreist, wechseln in denTropen Regen- und Trockenzeiten,erneuert sich in unseren Breiteneinmal das Laub an den Bäumenund schwankt die Stimmung vielerMenschen mit der unterschied-lichen Tageslänge von Sommer undWinter. Zahlreiche Pflanzen undTiere vollenden innerhalb einerSonnenumrundung ihren ganzenLebenszyklus, vom Keimen bis zurSamenbildung, vom Schlüpfen biszur Eiablage. Unser Ort im Welt-raum liefert so auch das Zeitmaßfür uns Erdenbewohner.

ErbstückeNur Wenigen vermacht der Groß-vater eine goldene Taschenuhr.Doch jeder besitzt zahlreiche er-erbte Chronometer. Ein kleines Ge-biet im Hirn, der so genannte Sup-rachiasmatische Kern, gilt seit densiebziger Jahren als klassischerSchrittmacher. Damals stellten For-scher bei Ratten fest, dass die Tie-re aus dem Takt kommen, wenndiese Struktur zerstört ist. Der nor-male Tagesrhythmus von Schlafenund Wachen, Fressen und Trinkengeht ihnen verloren. Inzwischen istklar, dass hier nicht das eine undeinzige Uhrwerk des Körpers tickt,

Operation nach dem Mittagessen – das wäre für den Patienten nach dieserKurve am schonendsten. Sie zeigt, dassdie Wirkungsdauer des örtlichen Betäu-bungsmittels Lidocain bei gleicher Dosisstark mit dem Tageslauf variiert. (Quelle: Schlafmedizinisches Zentrum,Bezirksklinikum Regensburg)

Willkürlich festgelegte Einheiten

Abweichung vom Tagesmittel in %

Abweichung vom Tagesmittel in %

c) Schmerzempfindung

a) Geburten

b) Todesfälle

Wirkung bei gleicher Dosis örtlicher Betäubungsmittel

und abends stärker als am Mor-gen. Chemotherapien gegen bös-artige Tumore sind weniger belas-tend, wenn sie zur richtigen Tages-zeit verabreicht werden. AuchAntibiotika sind nicht immer gleichbekömmlich. Eine kanadische Stu-die zeigte: Das Antibiotikum Gen-tamicin hatte bei Patienten, dienachts ins Krankenhaus eingelie-fert wurden, besonders viele Ne-benwirkungen – seine Giftigkeit istwährend des Schlafs um 60 Prozenterhöht. Immer häufiger wird gefor-dert, schon bei der klinischen Er-probung neuer Medikamente auchauf die biologische Uhr zu sehen.

Betäubungsdauer in Minuten

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turschalen regelmäßigen Hell- undDunkelperioden ausgesetzt unddas Licht nach einer solchen Trai-ningsphase ausgeschaltet, sind dieclock-Gene der Fischzellen weiter-hin im erlernten Rhythmus aktiv.Wie der Organismus es fertig bringt,diese und viele andere im Körperverteilte Uhrwerke zu koordinierenund – etwa nach einem Lang-streckenflug – die ganze Maschi-nerie neu zu eichen, wird derzeitintensiv erforscht. Doch die wirk-

11Rhythmus und Zeit10

same und gleichzeitig harmlosePille gegen den Jetlag wird wohlnoch auf sich warten lassen.

Uhrwerk grün – Von der Blumen-uhr zur Zellkultur Wer sich trotz des inneren Uhr-werks nicht allein auf sein Zeitge-fühl verlassen möchte und geradekeine Uhr zur Hand hat, kann aucheinen Blick in den Garten werfen,um zu erfahren, wie spät es ist.Vorausgesetzt, er hat seine Beeteentsprechend den Vorschlägen desBotanikers Carl von Linné be-pflanzt. Vor zweihundertfünfzigJahren beobachtete er, dass sichviele Blüten zu ganz bestimmtenStunden öffnen und entwarf da-nach eine Blumenuhr. Schon 1729hatte der französische AstronomJean Jaques d’Ortous de Mairandas taktfeste Verhalten der Mimo-se beschrieben, die ihre Blätternachts zusammenklappt und amMorgen wieder entfaltet. DieseGewohnheit behielt die Pflanzeauch bei, als Mairan sie auf Dauerins Dunkle stellte. Damit war zumersten Mal ein „endogener“, alsounabhängig von äußeren Anhalts-punkten bestehender Rhythmusentdeckt. Heute werden solche Zy-klen auf zellulärer und molekularer

Beim Zebrafisch „tickt“ das clock-Gen in fast allen Organen. Selbst in isolierten Kulturenbleiben seine Zellen noch taktfest. (Foto: MPI für Entwicklungsbiologie, Tübingen)

Aufwachen um zu schlafen

Wenn’s draußen kalt und ungemüt-lich wird, schalten viele Tiere ein-fach ab: Die Körpertemperatursinkt, der Herzschlag verlangsamtsich, der Stoffwechsel arbeitet aufSparflamme. Alle 10 bis 20 Tageallerdings unterbrechen die Win-terschläfer diesen Ruhezustand.Sie verbrennen einen Teil ihrerFettreserven, die Körpertempera-tur steigt. Bis zu neunzig Prozentdes Energieverbrauchs währendder Überwinterung werden für die-se Aufwärmperioden aufgewen-det. Untersuchungen der Hirnströ-me bei verschiedenen Hörnchen-arten, wie beispielsweise demGoldmantel-Ziesel, ergaben: DieTiere unterbrechen den Winter-schlaf – um mal richtig auszuschla-fen. Denn während der Stoffwech-sel auf Eis liegt, ist offenbar keinerholsamer Tiefschlaf möglich.

Ebene untersucht. Am Beispiel derBlattbewegungen von Schmetter-lingsblütlern wurde dabei deutlich:Schon einzelne Zellen besitzen eineUhr. Die Blätter heben und senkensich im Takt dadurch, dass be-stimmte Zellen in einem Gelenk ander Blattbasis regelmäßig an-schwellen und andere schrumpfen.Werden die „gelenkigen“ Pflan-zenzellen isoliert und in Kultur-schalen vermehrt, behalten sie die-sen Rhythmus bei. Auf molekularer Ebene suchen dieWissenschaftler nach den einzel-nen „Rädchen“ solcher Uhrwerke.Mindestens drei Bestandteile müs-se es geben, postulieren sie:

• einen Oszillator, also etwas miteinem eigenen Rhythmus

• einen Mechanismus, der dieseEigenschwingungen mit äußerenGegebenheiten – wie dem Tag-Nacht-Wechsel – synchronisiert,das System also lernfähig macht(input)

• Verbindungswege, über die dererzeugte Takt rhythmische Funk-tionen des Organismus bestimmt(output)

Aussichtsreiche Kandidaten gibt esfür alle drei Funktionen. Doch bisdas molekulare Uhrwerk so klarbeschrieben ist wie Linnés Blumen-uhr, wird wohl noch das eine oderandere Pflänzchen verblühen.

Auch Nager lagen schon im Schlaflabor –hier ist der Goldmantel-Ziesel allerdings infreier Wildbahn zu sehen. (Foto: Naturfoto)

Von Eulen und Lerchen

Blumenuhr nach Carl von Linné. Bestückt man seinen Garten mit den abgebildeten Pflan-zen, kann man jede Stunde am Öffnen bzw. Schließen einer anderen Blüte ablesen. (Foto:Schlafmedizinisches Zentrum, Bezirksklinikum Regensburg)

Weder ist frühes Aufstehen eine Tugend noch Langschläfrigkeit ver-werflich. Offenbar sind es unsere Gene, die bestimmen, ob wir lie-ber als „Lerche“ zeitig aus den Federn springen oder als „Eulen“gern bis in den Vormittag hinein schlafen und entsprechend späterins Bett gehen. An Extremfällen wird die Rolle der Erbanlagen be-sonders deutlich. So bei vielen Mitgliedern einer amerikanischenFamilie aus Utah, die wegen ihres ungewöhnlichen Schlafrhythmuskaum am normalen sozialen Leben teilnehmen können: Wer umacht Uhr abends bei ihnen klingelt, reißt sie bereits aus dem Tief-schlaf. Dagegen wären sie um drei Uhr früh durchaus bereit, Gästezu empfangen. Schuld ist offenbar die Veränderung eines einzigengenetischen Buchstabens im period-Gen. Dadurch geht die Uhr die-ser extremen „Lerchen“ etwa vier Stunden vor.

Auch das clock-Gen macht seineTätigkeit im Namen deutlich. Eswurde zunächst bei Mäusen ent-deckt – eine Mutation dieses Gensführte zu ungewöhnlich verlänger-ten Tagesrhythmen. Gemeinsammit einem weiteren Faktor steuertclock die Aktivität weiterer Gene.Inzwischen fand es sich unter an-derem auch in Zebrafischen. Hiertickt diese Uhr in fast allen Orga-nen und bleibt selbst in Zellkultu-ren noch taktfest: Werden die Kul-

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turschalen regelmäßigen Hell- undDunkelperioden ausgesetzt unddas Licht nach einer solchen Trai-ningsphase ausgeschaltet, sind dieclock-Gene der Fischzellen weiter-hin im erlernten Rhythmus aktiv.Wie der Organismus es fertig bringt,diese und viele andere im Körperverteilte Uhrwerke zu koordinierenund – etwa nach einem Lang-streckenflug – die ganze Maschi-nerie neu zu eichen, wird derzeitintensiv erforscht. Doch die wirk-

11Rhythmus und Zeit10

same und gleichzeitig harmlosePille gegen den Jetlag wird wohlnoch auf sich warten lassen.

Uhrwerk grün – Von der Blumen-uhr zur Zellkultur Wer sich trotz des inneren Uhr-werks nicht allein auf sein Zeitge-fühl verlassen möchte und geradekeine Uhr zur Hand hat, kann aucheinen Blick in den Garten werfen,um zu erfahren, wie spät es ist.Vorausgesetzt, er hat seine Beeteentsprechend den Vorschlägen desBotanikers Carl von Linné be-pflanzt. Vor zweihundertfünfzigJahren beobachtete er, dass sichviele Blüten zu ganz bestimmtenStunden öffnen und entwarf da-nach eine Blumenuhr. Schon 1729hatte der französische AstronomJean Jaques d’Ortous de Mairandas taktfeste Verhalten der Mimo-se beschrieben, die ihre Blätternachts zusammenklappt und amMorgen wieder entfaltet. DieseGewohnheit behielt die Pflanzeauch bei, als Mairan sie auf Dauerins Dunkle stellte. Damit war zumersten Mal ein „endogener“, alsounabhängig von äußeren Anhalts-punkten bestehender Rhythmusentdeckt. Heute werden solche Zy-klen auf zellulärer und molekularer

Beim Zebrafisch „tickt“ das clock-Gen in fast allen Organen. Selbst in isolierten Kulturenbleiben seine Zellen noch taktfest. (Foto: MPI für Entwicklungsbiologie, Tübingen)

Aufwachen um zu schlafen

Wenn’s draußen kalt und ungemüt-lich wird, schalten viele Tiere ein-fach ab: Die Körpertemperatursinkt, der Herzschlag verlangsamtsich, der Stoffwechsel arbeitet aufSparflamme. Alle 10 bis 20 Tageallerdings unterbrechen die Win-terschläfer diesen Ruhezustand.Sie verbrennen einen Teil ihrerFettreserven, die Körpertempera-tur steigt. Bis zu neunzig Prozentdes Energieverbrauchs währendder Überwinterung werden für die-se Aufwärmperioden aufgewen-det. Untersuchungen der Hirnströ-me bei verschiedenen Hörnchen-arten, wie beispielsweise demGoldmantel-Ziesel, ergaben: DieTiere unterbrechen den Winter-schlaf – um mal richtig auszuschla-fen. Denn während der Stoffwech-sel auf Eis liegt, ist offenbar keinerholsamer Tiefschlaf möglich.

Ebene untersucht. Am Beispiel derBlattbewegungen von Schmetter-lingsblütlern wurde dabei deutlich:Schon einzelne Zellen besitzen eineUhr. Die Blätter heben und senkensich im Takt dadurch, dass be-stimmte Zellen in einem Gelenk ander Blattbasis regelmäßig an-schwellen und andere schrumpfen.Werden die „gelenkigen“ Pflan-zenzellen isoliert und in Kultur-schalen vermehrt, behalten sie die-sen Rhythmus bei. Auf molekularer Ebene suchen dieWissenschaftler nach den einzel-nen „Rädchen“ solcher Uhrwerke.Mindestens drei Bestandteile müs-se es geben, postulieren sie:

• einen Oszillator, also etwas miteinem eigenen Rhythmus

• einen Mechanismus, der dieseEigenschwingungen mit äußerenGegebenheiten – wie dem Tag-Nacht-Wechsel – synchronisiert,das System also lernfähig macht(input)

• Verbindungswege, über die dererzeugte Takt rhythmische Funk-tionen des Organismus bestimmt(output)

Aussichtsreiche Kandidaten gibt esfür alle drei Funktionen. Doch bisdas molekulare Uhrwerk so klarbeschrieben ist wie Linnés Blumen-uhr, wird wohl noch das eine oderandere Pflänzchen verblühen.

Auch Nager lagen schon im Schlaflabor –hier ist der Goldmantel-Ziesel allerdings infreier Wildbahn zu sehen. (Foto: Naturfoto)

Von Eulen und Lerchen

Blumenuhr nach Carl von Linné. Bestückt man seinen Garten mit den abgebildeten Pflan-zen, kann man jede Stunde am Öffnen bzw. Schließen einer anderen Blüte ablesen. (Foto:Schlafmedizinisches Zentrum, Bezirksklinikum Regensburg)

Weder ist frühes Aufstehen eine Tugend noch Langschläfrigkeit ver-werflich. Offenbar sind es unsere Gene, die bestimmen, ob wir lie-ber als „Lerche“ zeitig aus den Federn springen oder als „Eulen“gern bis in den Vormittag hinein schlafen und entsprechend späterins Bett gehen. An Extremfällen wird die Rolle der Erbanlagen be-sonders deutlich. So bei vielen Mitgliedern einer amerikanischenFamilie aus Utah, die wegen ihres ungewöhnlichen Schlafrhythmuskaum am normalen sozialen Leben teilnehmen können: Wer umacht Uhr abends bei ihnen klingelt, reißt sie bereits aus dem Tief-schlaf. Dagegen wären sie um drei Uhr früh durchaus bereit, Gästezu empfangen. Schuld ist offenbar die Veränderung eines einzigengenetischen Buchstabens im period-Gen. Dadurch geht die Uhr die-ser extremen „Lerchen“ etwa vier Stunden vor.

Auch das clock-Gen macht seineTätigkeit im Namen deutlich. Eswurde zunächst bei Mäusen ent-deckt – eine Mutation dieses Gensführte zu ungewöhnlich verlänger-ten Tagesrhythmen. Gemeinsammit einem weiteren Faktor steuertclock die Aktivität weiterer Gene.Inzwischen fand es sich unter an-derem auch in Zebrafischen. Hiertickt diese Uhr in fast allen Orga-nen und bleibt selbst in Zellkultu-ren noch taktfest: Werden die Kul-

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man spricht daher vom ökologi-schen Gleichgewicht. So gilt imklassischen Räuber-Beute-Modell:Wo es viele Beutetiere gibt, bei-spielsweise weil Kleinkrebschenaufgrund einer Algenblüte reich-lich Nahrung finden, vermehrensich auch die Räuber. Wachsen jedoch allzu viele große Fischeheran, dezimieren sie ihre eigeneNahrungsgrundlage. Die Zahl derRaubfische sinkt wieder – das Sys-tem reguliert sich selbst. Tatsäch-lich aber sind die Verhältnisseweit unübersichtlicher. Nicht ein-fache Nahrungsketten sondernkomplexe Nahrungsnetze verbin-den die einzelnen Arten. So kannein Fisch sowohl Beute als auchRäuber vieler anderer Organismensein. Auch ändert sich sein Platzim Nahrungsnetz im Laufe desHeranwachsens: Der von vielenverfolgte Jungfisch wächst zumgefürchteten Räuber heran. Nochkönnen selbst ausgefeilte Compu-tersimulationen nur sehr unvoll-

Natur im Wandel

__Das Wort „Ökologie“ werdenviele für eine recht junge Sprach-schöpfung halten. Kam es nichtauf in den sechziger und siebzigerJahren, mit den Berichten des„Club of Rome“ über die begrenz-ten Ressourcen der Erde oder mitUmweltkatastrophen wie demDioxin-Unfall in Seveso? Tatsäch-lich prägte schon 1866 der Zoolo-ge und Naturphilosoph ErnstHaeckel diesen Begriff. Immerdeutlicher ist uns seitdem gewor-den, wie eng Lebewesen vonein-ander und von ihrer unbelebtenUmwelt abhängig sind, und wieleicht dieses Beziehungsgefüge zubeschädigen ist.

Eine Organismengemeinschaftund ihr Lebensraum bilden ge-meinsam ein Ökosystem. Ob Tro-penwald, Teich oder Tundra – esbesteht stets aus den gleichenElementen: Nichts geht ohnePflanzen, die als Produzenten dieEnergie des Sonnenlichts nutzenund so aus anorganischen Stoffenorganische Substanzen aufbauen(Photosynthese). Angewiesen aufdiese Leistung, die Gras und Grün-alge vollbringen, sind die Tiere alsKonsumenten – gleich ob friedlichweidende Vegetarier oder die vonihnen abhängigen Raubtiere. AmEnde schließlich fällt alles den Destruenten anheim, Pilzen undMikroorganismen, die das organi-sche Material wieder zu anorgani-schen Stoffen abbauen – die denPflanzen dann erneut als Nähr-stoffe dienen.

Vielfach miteinander gekoppelteKreisläufe sorgen dafür, dass sol-che Systeme relativ stabil sind –

„Es ist nichts beständig als die Unbeständigkeit.“

Immanuel Kant

Natur im Wandel

Ökosystem

Sowohl ein ganzer Wald alsauch ein modernder Baum-stumpf lassen sich als Ökosy-stem bezeichnen – anders alsbeim Organismus oder einerPflanzen- oder Tierart sind dieGrenzen einer solchen biologi-schen Einheit nicht naturgege-ben. Sie gilt daher vielen For-schern heute eher als nützlichewissenschaftliche Modellvor-stellung, denn als biologischeRealität. Die Gemeinschaft derOrganismen eines solchen Sy-stems wird als Biozönose be-zeichnet, ihr Lebensraum alsBiotop.

Meeresboden

Mineralsalze

Fluss Lichtenergie

bakteriellerAbbau

Vereinfachter ökologischer Kreislauf des Meeres

O2CO2

O2

CO2

Pflanzennährstoffe+ CO2

pflanzliches Plankton(z.B. Kieselalgen)

organisches Material

Tierisches Plankton(z.B. Ruderfußkrebse)

Fleischfresser 2(z.B. Dorsch)

Fleischfresser 1(z.B. Hering)

Exkrete, Kadaver

Viele Komponenten sind an den Kreisläufen im Meer beteiligt. Das Diagramm beschreibt –stark vereinfacht – die Nahrungskette, also die verschiedenen Ebenen des „fressen undgefressen werden“. (Grafik: iserundschmidt)

Rasch überwuchert der Storchenschnabel (Geranium robertianum) ein stillgelegtes Gleis.(Foto: J. Dettmar, Darmstadt)

Rasch überwuchert der Storchenschnabel (Geranium robertianum) ein stillgelegtes Gleis.(Foto: J. Dettmar, Darmstadt)

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man spricht daher vom ökologi-schen Gleichgewicht. So gilt imklassischen Räuber-Beute-Modell:Wo es viele Beutetiere gibt, bei-spielsweise weil Kleinkrebschenaufgrund einer Algenblüte reich-lich Nahrung finden, vermehrensich auch die Räuber. Wachsen jedoch allzu viele große Fischeheran, dezimieren sie ihre eigeneNahrungsgrundlage. Die Zahl derRaubfische sinkt wieder – das Sys-tem reguliert sich selbst. Tatsäch-lich aber sind die Verhältnisseweit unübersichtlicher. Nicht ein-fache Nahrungsketten sondernkomplexe Nahrungsnetze verbin-den die einzelnen Arten. So kannein Fisch sowohl Beute als auchRäuber vieler anderer Organismensein. Auch ändert sich sein Platzim Nahrungsnetz im Laufe desHeranwachsens: Der von vielenverfolgte Jungfisch wächst zumgefürchteten Räuber heran. Nochkönnen selbst ausgefeilte Compu-tersimulationen nur sehr unvoll-

Natur im Wandel

__Das Wort „Ökologie“ werdenviele für eine recht junge Sprach-schöpfung halten. Kam es nichtauf in den sechziger und siebzigerJahren, mit den Berichten des„Club of Rome“ über die begrenz-ten Ressourcen der Erde oder mitUmweltkatastrophen wie demDioxin-Unfall in Seveso? Tatsäch-lich prägte schon 1866 der Zoolo-ge und Naturphilosoph ErnstHaeckel diesen Begriff. Immerdeutlicher ist uns seitdem gewor-den, wie eng Lebewesen vonein-ander und von ihrer unbelebtenUmwelt abhängig sind, und wieleicht dieses Beziehungsgefüge zubeschädigen ist.

Eine Organismengemeinschaftund ihr Lebensraum bilden ge-meinsam ein Ökosystem. Ob Tro-penwald, Teich oder Tundra – esbesteht stets aus den gleichenElementen: Nichts geht ohnePflanzen, die als Produzenten dieEnergie des Sonnenlichts nutzenund so aus anorganischen Stoffenorganische Substanzen aufbauen(Photosynthese). Angewiesen aufdiese Leistung, die Gras und Grün-alge vollbringen, sind die Tiere alsKonsumenten – gleich ob friedlichweidende Vegetarier oder die vonihnen abhängigen Raubtiere. AmEnde schließlich fällt alles den Destruenten anheim, Pilzen undMikroorganismen, die das organi-sche Material wieder zu anorgani-schen Stoffen abbauen – die denPflanzen dann erneut als Nähr-stoffe dienen.

Vielfach miteinander gekoppelteKreisläufe sorgen dafür, dass sol-che Systeme relativ stabil sind –

„Es ist nichts beständig als die Unbeständigkeit.“

Immanuel Kant

Natur im Wandel

Ökosystem

Sowohl ein ganzer Wald alsauch ein modernder Baum-stumpf lassen sich als Ökosy-stem bezeichnen – anders alsbeim Organismus oder einerPflanzen- oder Tierart sind dieGrenzen einer solchen biologi-schen Einheit nicht naturgege-ben. Sie gilt daher vielen For-schern heute eher als nützlichewissenschaftliche Modellvor-stellung, denn als biologischeRealität. Die Gemeinschaft derOrganismen eines solchen Sy-stems wird als Biozönose be-zeichnet, ihr Lebensraum alsBiotop.

Meeresboden

Mineralsalze

Fluss Lichtenergie

bakteriellerAbbau

Vereinfachter ökologischer Kreislauf des Meeres

O2CO2

O2

CO2

Pflanzennährstoffe+ CO2

pflanzliches Plankton(z.B. Kieselalgen)

organisches Material

Tierisches Plankton(z.B. Ruderfußkrebse)

Fleischfresser 2(z.B. Dorsch)

Fleischfresser 1(z.B. Hering)

Exkrete, Kadaver

Viele Komponenten sind an den Kreisläufen im Meer beteiligt. Das Diagramm beschreibt –stark vereinfacht – die Nahrungskette, also die verschiedenen Ebenen des „fressen undgefressen werden“. (Grafik: iserundschmidt)

Rasch überwuchert der Storchenschnabel (Geranium robertianum) ein stillgelegtes Gleis.(Foto: J. Dettmar, Darmstadt)

Rasch überwuchert der Storchenschnabel (Geranium robertianum) ein stillgelegtes Gleis.(Foto: J. Dettmar, Darmstadt)

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Emscher Landschaftspark, der dasRuhrgebiet durchzieht, sollen sol-che Lebensräume ebenso erhaltenwerden wie die Baudenkmale derIndustrie, die diese Region geprägthat.

Kreuzkröten in der KokereiDer Weg von der toten Industrie-fläche zur artenreichen Wildnisverläuft – wie die Besiedlung ei-nes kahlen Vulkanfelsens – übercharakteristische Stadien. Sukzes-sion nennen die Fachleute dieseFolge einander ablösender Le-bensgemeinschaften. Pionierorga-nismen, ein- oder zweijährigePflanzen, deren Samen mit demWind verbreitet werden und raschkeimen, fassen als erste Fuß. Da-zu gehören auf ehemaligen Ze-chengeländen beispielsweise derKlebrige Alant (Inula graveolens)oder die Färbe-Reseda (Reseda lu-teola). Sie bereiten im wörtlichenSinne den Boden für anspruchs-vollere Nachfolger: OrganischesMaterial reichert sich an, die Bö-den binden dadurch mehr Wasser.Auch lockt das erste Grün Pflan-zenfresser – bei den „Kaninchen-klos” entstehen nährstoffreicheFlecken. Nach zwei bis drei JahrenPionierarbeit können dauerhaftereStauden sich ansiedeln, Gehölzewie Birke und Saalweide folgen.Wenn der Baumbestand dichterwird, müssen lichtliebende Artenweichen. Auf den ältesten Bra-chen des Ruhrgebiets finden sichheute (nach etwa 80 Jahren) be-reits typische Waldpflanzen wieder Frauenfarn (Athyrium filix-femina).

kommen vorhersagen, wie solcheSysteme reagieren, wenn sich bei-spielsweise die Klimaverhältnisseändern. Oder welche Folgen es fürein Ökosystem hat, wenn eine Artdaraus verschwindet. Obwohl ge-nau dies täglich geschieht: 99 Pro-zent aller Arten, die die Evolutionhervorbrachte, starben durch na-türliche Prozesse wieder aus. Sehrunterschiedliche Schätzungen gibtes dazu, welchen Umfang das zu-sätzlich durch den Menschen ver-ursachte Artensterben angenom-men hat.

Vulkaninseln vor unserer HaustürÖkologie ist, wenn die Natur mög-lichst unverändert bleibt – so einbeliebtes Missverständnis. Aberlängst nicht jede natürliche Le-bensgemeinschaft ist von Dauer.Die Galapagos-Inseln, berühmtwegen ihrer einzigartigen Tier-und Pflanzenwelt, begannen ihrDasein als kahle Vulkanfelsen, be-vor von Wind und Wellen ange-triebene Organismen sie nach undnach besiedelten. Doch so weitmuss nicht reisen, wer beobach-ten will, wie die Natur einen zu-nächst völlig unwirtlich erschei-nenden Raum in Besitz nimmt undverändert. Brachliegende Indus-triegelände etwa sind sozusagendie Vulkaninseln vor unserer Haus-tür. Schlackenhalden, versiegelteBöden und verfallene Fabrikge-bäude – ein größerer Gegensatzzur Natur scheint kaum denkbar.Und doch finden sich auf Indus-triebrachen heute Tiere und Pflan-zen, die anderswo selten gewor-den sind. In Projekten wie dem

Auch anderswo verschwundenenTierarten bieten die Brachen neuenLebensraum. Auf Schutthalden brü-tet der Flussregenpfeifer (ursprüng-lich auf Kiesbänken in Flussauen be-heimatet), der Bergmolch nutzt alteKühlwasserbecken als Laichgewäs-ser und die Kreuzkröte hat ihr größ-tes Vorkommen auf einem ehemali-gen Zechengelände. Allerdings darfdie bunte Vielfalt auf Ruinen nichtdarüber hinwegtäuschen, dass Be-drohungen für die Umwelt – etwaals giftige Altlasten im Boden – oftunter der Oberfläche verborgen lie-gen. Die Erfahrung, dass die Naturauch extrem unwirtlich erscheinen-de Orte wieder mit Leben erfüllenkann, entlässt uns nicht aus derPflicht, verantwortungsvoll mit ihrumzugehen.

Natur im Wandel

Innerhalb von Tagen liefen 1991 während des GolfkriegsMillionen Tonnen Rohöl in den Arabischen Golf. Eine solche Katastrophe bedeutet schwere Schäden für diebetroffenen Küsten. Doch verschiedene Ökosysteme rea-gieren höchst unterschiedlich auf die gleiche Störung.Untersuchungen an der Küste Saudi Arabiens zeigten:Selbst eng benachbarte Lebensgemeinschaften benöti-gen ganz unterschiedlich lange Zeiträume, um sich vondem Desaster zu erholen.

Vergleichsweise rasch besserte sich die Lage an Sand-stränden mit starker Brandung. Steter Wellenschlag sorgthier für Sauerstoffzufuhr und spült die Ölrückstände fort.Schon nach zwei Jahren war die anfangs entstandeneTeerdecke vielerorts bis auf einen schmalen Saum ver-schwunden. Heute erinnern an den meisten Stränden nurnoch vereinzelte Ölkiesel an die Katastrophe.

Schwer geschädigt wurden die Mangrovenwälder. Das Ölverklebte ihre Luftwurzeln. Fast ein Drittel dieser nörd-lichsten Mangrovenbestände der Welt, die mit ihren vie-len Prielen und Tümpeln Speisekammer für Millionen vonSeevögeln sind, starb ab. Nach zwei bis drei Jahren be-gann die Regeneration: Krabben wanderten von den Prie-len her ein, im gelockerten Boden keimten die erstenneuen Pflänzchen. Nach zehn Jahren haben sich die Man-grovenwälder weitgehend erholt.

Die Salzmarschen – ein bei Flut überschwemmter, vonsalztoleranten Pflanzen besiedelter flacher Küstenstrei-fen – sind dagegen in weiten Teilen noch immer tot. DasÖl bedeckte hier einen bis zu 400 Meter breiten Ufer-streifen und drang mehr als einen halben Meter tief inden Boden ein. Darüber bildeten sich zähe Matten ausCyanobakterien, die das Sediment luftdicht versiegelten.Krebse und Würmer, die sonst den Boden umschichten,fehlen. Im Untergrund findet sich noch immer flüssigesÖl. Ob und wann die Salzmarschen sich regenerierenwerden, ist heute nicht zu sagen.

Sandstrände erholten sich relativrasch von der Ölpest, nur einzelneÖlkiesel blieben zurück.

Nur langsam besserte sich die Lage in den Mangrovenwäldern.Nach zwei bis drei Jahren zeigtensich die ersten neuen Triebe.

Die Salzmarschen im ArabischenGolf sind auch heute noch tot, derBoden luftdicht versiegelt. (alle Fotos: Institut für Geographie,Universität Regensburg)

(a) Der sehr seltene einheimische Hirsch-sprung (Corrigiola litoralis) hat auf denBergmaterialböden alter Zechenstandorteein neues Refugium gefunden.

(b) Auch der Klebrige Alant (Inula graveo-lens) fühlt sich auf Zechenbrachen zu Hause – er stammt ursprünglich aus demMittelmeerraum.

(c) Der bizarr anmutende Natternkopf(Echium vulgare) gehört ebenfalls zu dentypischen Stauden auf Industriebrachen.

(d) Besonders farbenprächtig ist eine Ge-sellschaft von Königskerzen (Verbascumspec.) und Nachtkerzen (Oenothera spec.),deren gelbe Blütenstände hier im lebhaf-ten Kontrast stehen zu den rosa Blütendes Weidenröschens (Epilobium spec.) (alle Fotos: J. Dettmar, Darmstadt).

Der lange Abschiedvon der Ölpest

a)

b)

c)

d)

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Emscher Landschaftspark, der dasRuhrgebiet durchzieht, sollen sol-che Lebensräume ebenso erhaltenwerden wie die Baudenkmale derIndustrie, die diese Region geprägthat.

Kreuzkröten in der KokereiDer Weg von der toten Industrie-fläche zur artenreichen Wildnisverläuft – wie die Besiedlung ei-nes kahlen Vulkanfelsens – übercharakteristische Stadien. Sukzes-sion nennen die Fachleute dieseFolge einander ablösender Le-bensgemeinschaften. Pionierorga-nismen, ein- oder zweijährigePflanzen, deren Samen mit demWind verbreitet werden und raschkeimen, fassen als erste Fuß. Da-zu gehören auf ehemaligen Ze-chengeländen beispielsweise derKlebrige Alant (Inula graveolens)oder die Färbe-Reseda (Reseda lu-teola). Sie bereiten im wörtlichenSinne den Boden für anspruchs-vollere Nachfolger: OrganischesMaterial reichert sich an, die Bö-den binden dadurch mehr Wasser.Auch lockt das erste Grün Pflan-zenfresser – bei den „Kaninchen-klos” entstehen nährstoffreicheFlecken. Nach zwei bis drei JahrenPionierarbeit können dauerhaftereStauden sich ansiedeln, Gehölzewie Birke und Saalweide folgen.Wenn der Baumbestand dichterwird, müssen lichtliebende Artenweichen. Auf den ältesten Bra-chen des Ruhrgebiets finden sichheute (nach etwa 80 Jahren) be-reits typische Waldpflanzen wieder Frauenfarn (Athyrium filix-femina).

kommen vorhersagen, wie solcheSysteme reagieren, wenn sich bei-spielsweise die Klimaverhältnisseändern. Oder welche Folgen es fürein Ökosystem hat, wenn eine Artdaraus verschwindet. Obwohl ge-nau dies täglich geschieht: 99 Pro-zent aller Arten, die die Evolutionhervorbrachte, starben durch na-türliche Prozesse wieder aus. Sehrunterschiedliche Schätzungen gibtes dazu, welchen Umfang das zu-sätzlich durch den Menschen ver-ursachte Artensterben angenom-men hat.

Vulkaninseln vor unserer HaustürÖkologie ist, wenn die Natur mög-lichst unverändert bleibt – so einbeliebtes Missverständnis. Aberlängst nicht jede natürliche Le-bensgemeinschaft ist von Dauer.Die Galapagos-Inseln, berühmtwegen ihrer einzigartigen Tier-und Pflanzenwelt, begannen ihrDasein als kahle Vulkanfelsen, be-vor von Wind und Wellen ange-triebene Organismen sie nach undnach besiedelten. Doch so weitmuss nicht reisen, wer beobach-ten will, wie die Natur einen zu-nächst völlig unwirtlich erschei-nenden Raum in Besitz nimmt undverändert. Brachliegende Indus-triegelände etwa sind sozusagendie Vulkaninseln vor unserer Haus-tür. Schlackenhalden, versiegelteBöden und verfallene Fabrikge-bäude – ein größerer Gegensatzzur Natur scheint kaum denkbar.Und doch finden sich auf Indus-triebrachen heute Tiere und Pflan-zen, die anderswo selten gewor-den sind. In Projekten wie dem

Auch anderswo verschwundenenTierarten bieten die Brachen neuenLebensraum. Auf Schutthalden brü-tet der Flussregenpfeifer (ursprüng-lich auf Kiesbänken in Flussauen be-heimatet), der Bergmolch nutzt alteKühlwasserbecken als Laichgewäs-ser und die Kreuzkröte hat ihr größ-tes Vorkommen auf einem ehemali-gen Zechengelände. Allerdings darfdie bunte Vielfalt auf Ruinen nichtdarüber hinwegtäuschen, dass Be-drohungen für die Umwelt – etwaals giftige Altlasten im Boden – oftunter der Oberfläche verborgen lie-gen. Die Erfahrung, dass die Naturauch extrem unwirtlich erscheinen-de Orte wieder mit Leben erfüllenkann, entlässt uns nicht aus derPflicht, verantwortungsvoll mit ihrumzugehen.

Natur im Wandel

Innerhalb von Tagen liefen 1991 während des GolfkriegsMillionen Tonnen Rohöl in den Arabischen Golf. Eine solche Katastrophe bedeutet schwere Schäden für diebetroffenen Küsten. Doch verschiedene Ökosysteme rea-gieren höchst unterschiedlich auf die gleiche Störung.Untersuchungen an der Küste Saudi Arabiens zeigten:Selbst eng benachbarte Lebensgemeinschaften benöti-gen ganz unterschiedlich lange Zeiträume, um sich vondem Desaster zu erholen.

Vergleichsweise rasch besserte sich die Lage an Sand-stränden mit starker Brandung. Steter Wellenschlag sorgthier für Sauerstoffzufuhr und spült die Ölrückstände fort.Schon nach zwei Jahren war die anfangs entstandeneTeerdecke vielerorts bis auf einen schmalen Saum ver-schwunden. Heute erinnern an den meisten Stränden nurnoch vereinzelte Ölkiesel an die Katastrophe.

Schwer geschädigt wurden die Mangrovenwälder. Das Ölverklebte ihre Luftwurzeln. Fast ein Drittel dieser nörd-lichsten Mangrovenbestände der Welt, die mit ihren vie-len Prielen und Tümpeln Speisekammer für Millionen vonSeevögeln sind, starb ab. Nach zwei bis drei Jahren be-gann die Regeneration: Krabben wanderten von den Prie-len her ein, im gelockerten Boden keimten die erstenneuen Pflänzchen. Nach zehn Jahren haben sich die Man-grovenwälder weitgehend erholt.

Die Salzmarschen – ein bei Flut überschwemmter, vonsalztoleranten Pflanzen besiedelter flacher Küstenstrei-fen – sind dagegen in weiten Teilen noch immer tot. DasÖl bedeckte hier einen bis zu 400 Meter breiten Ufer-streifen und drang mehr als einen halben Meter tief inden Boden ein. Darüber bildeten sich zähe Matten ausCyanobakterien, die das Sediment luftdicht versiegelten.Krebse und Würmer, die sonst den Boden umschichten,fehlen. Im Untergrund findet sich noch immer flüssigesÖl. Ob und wann die Salzmarschen sich regenerierenwerden, ist heute nicht zu sagen.

Sandstrände erholten sich relativrasch von der Ölpest, nur einzelneÖlkiesel blieben zurück.

Nur langsam besserte sich die Lage in den Mangrovenwäldern.Nach zwei bis drei Jahren zeigtensich die ersten neuen Triebe.

Die Salzmarschen im ArabischenGolf sind auch heute noch tot, derBoden luftdicht versiegelt. (alle Fotos: Institut für Geographie,Universität Regensburg)

(a) Der sehr seltene einheimische Hirsch-sprung (Corrigiola litoralis) hat auf denBergmaterialböden alter Zechenstandorteein neues Refugium gefunden.

(b) Auch der Klebrige Alant (Inula graveo-lens) fühlt sich auf Zechenbrachen zu Hause – er stammt ursprünglich aus demMittelmeerraum.

(c) Der bizarr anmutende Natternkopf(Echium vulgare) gehört ebenfalls zu dentypischen Stauden auf Industriebrachen.

(d) Besonders farbenprächtig ist eine Ge-sellschaft von Königskerzen (Verbascumspec.) und Nachtkerzen (Oenothera spec.),deren gelbe Blütenstände hier im lebhaf-ten Kontrast stehen zu den rosa Blütendes Weidenröschens (Epilobium spec.) (alle Fotos: J. Dettmar, Darmstadt).

Der lange Abschiedvon der Ölpest

a)

b)

c)

d)

Page 16: Lebenslinien - Natur in Bewegung · Idee der Initiative „Wissenschaft im Dialog“, die das Bundesmini-sterium für Bildung und Forschung (BMBF) gemeinsam mit dem Stif- terverband

17Vom Ei zum Embryo

„Alle Gestalten sind ähnlich, und keinegleichet der andern; und so deutet dasChor auf ein geheimes Gesetz...“

Johann Wolfgang von Goethe „Metamorphose der Pflanzen“

Vom Ei zumEmbryo

Die durchsichtigen Larven des Zebrafischs machen die Embryonalentwicklung durchschau-bar. Hier im Bild die Entwicklung vom frühenEmbryo zur Larve. Aufnahmen von links obennach rechts unten nach 1 h, 4 h, 6 h, 8 h, 10 h,19 h, 28 h und 48 h. Die letzte Aufnahme wur-de nach fünf Tagen gemacht. (Foto: MPI fürEntwicklungsbiologie, Tübingen)

__Eine Serie immer kleinerer Eben-bilder enthält die russische „Pup-pe in der Puppe“. Nach dem glei-chen Prinzip seien die künftigenGenerationen aller Lebewesen be-reits vorgeformt, so eine im 17.und 18. Jahrhundert beliebte Theo-rie. Ob die bis zum Ende aller Tagereichende Kette der Generationenin der Ei- oder in der Samenzelleineinandergeschachtelt sei, darü-ber stritten die Gelehrten.

Heute wissen wir, dass sichmenschliches Leben nicht aus ei-nem winzigen Fertigorganismusentwickelt. Und: Ob wir Mamasgrüne Augen erben oder Opas Nei-gung zu frühzeitiger Glatzenbil-dung – erst mit der Verschmelzungvon Ei und Samenzelle steht fest,welche Erbanlagen wir von unse-ren Vorfahren mit auf den Weg be-kommen. Jede entstehende Kör-perzelle enthält die Informationfür alle erblichen Merkmale – dieGene für die Augenfarbe steckenalso auch im großen Zeh. Damit alle Zellen ihre speziellen Aufga-ben erfüllen, kommt es darauf an,dass während der Embryonalent-wicklung und während des ganzenweiteren Lebens die richtigenGene zur richtigen Zeit am rich-tigen Ort aktiv sind.

verlässt die mRNA den Zellkernund wandert zu den „Eiweißfa-briken“ der Zelle, den Riboso-men.

3.Dort wird die von der mRNAüberbrachte Information in dasentsprechende Eiweiß übersetzt(Translation). Quasi als Überset-zer dienen kleinere Moleküle,die „transfer-RNA“ (tRNA), diehuckepack die Bausteine der Eiweiße – die Aminosäuren –tragen. Sie können den Bauplander mRNA lesen und die Amino-säuren in der richtigen Reihen-folge aneinander reihen. Je nachGen entstehen so Eiweiße – Ami-nosäureketten – für vielfältigeAufgaben im Körper.

Wann ist ein Gen „aktiv“?

Ein Gen ist dann aktiv, wenn einbestimmter Abschnitt der DNA –eben das Gen – in sein Eiweißmo-lekül übersetzt wird.1. Ein DNA-Molekül im Zellkern,

dessen Struktur einer verdreh-ten Strickleiter gleicht, wird ineinem bestimmen Abschnitt auf-gedreht. Die beiden Stränge wer-den von einander getrennt undeiner der beiden von einem Pro-tein, der RNA-Polymerase, „abge-schrieben“ (Transkription). Dabeientsteht ein Botenmolekül, die„messenger-RNA“ (mRNA), eineNukleinsäure wie die DNA.

2.Dieses Botenmolekül enthält nundie Bauanleitung für ein Eiweiß.Nach einigen Veränderungen

tRNA

Zellkern

DNA mRNA

RNA-Polymerase

Eiweiß

Ribosom

Zellplasma

mRNA

Amino-säuren

(Grafik: iserundschmid)

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17Vom Ei zum Embryo

„Alle Gestalten sind ähnlich, und keinegleichet der andern; und so deutet dasChor auf ein geheimes Gesetz...“

Johann Wolfgang von Goethe „Metamorphose der Pflanzen“

Vom Ei zumEmbryo

Die durchsichtigen Larven des Zebrafischs machen die Embryonalentwicklung durchschau-bar. Hier im Bild die Entwicklung vom frühenEmbryo zur Larve. Aufnahmen von links obennach rechts unten nach 1 h, 4 h, 6 h, 8 h, 10 h,19 h, 28 h und 48 h. Die letzte Aufnahme wur-de nach fünf Tagen gemacht. (Foto: MPI fürEntwicklungsbiologie, Tübingen)

__Eine Serie immer kleinerer Eben-bilder enthält die russische „Pup-pe in der Puppe“. Nach dem glei-chen Prinzip seien die künftigenGenerationen aller Lebewesen be-reits vorgeformt, so eine im 17.und 18. Jahrhundert beliebte Theo-rie. Ob die bis zum Ende aller Tagereichende Kette der Generationenin der Ei- oder in der Samenzelleineinandergeschachtelt sei, darü-ber stritten die Gelehrten.

Heute wissen wir, dass sichmenschliches Leben nicht aus ei-nem winzigen Fertigorganismusentwickelt. Und: Ob wir Mamasgrüne Augen erben oder Opas Nei-gung zu frühzeitiger Glatzenbil-dung – erst mit der Verschmelzungvon Ei und Samenzelle steht fest,welche Erbanlagen wir von unse-ren Vorfahren mit auf den Weg be-kommen. Jede entstehende Kör-perzelle enthält die Informationfür alle erblichen Merkmale – dieGene für die Augenfarbe steckenalso auch im großen Zeh. Damit alle Zellen ihre speziellen Aufga-ben erfüllen, kommt es darauf an,dass während der Embryonalent-wicklung und während des ganzenweiteren Lebens die richtigenGene zur richtigen Zeit am rich-tigen Ort aktiv sind.

verlässt die mRNA den Zellkernund wandert zu den „Eiweißfa-briken“ der Zelle, den Riboso-men.

3.Dort wird die von der mRNAüberbrachte Information in dasentsprechende Eiweiß übersetzt(Translation). Quasi als Überset-zer dienen kleinere Moleküle,die „transfer-RNA“ (tRNA), diehuckepack die Bausteine der Eiweiße – die Aminosäuren –tragen. Sie können den Bauplander mRNA lesen und die Amino-säuren in der richtigen Reihen-folge aneinander reihen. Je nachGen entstehen so Eiweiße – Ami-nosäureketten – für vielfältigeAufgaben im Körper.

Wann ist ein Gen „aktiv“?

Ein Gen ist dann aktiv, wenn einbestimmter Abschnitt der DNA –eben das Gen – in sein Eiweißmo-lekül übersetzt wird.1. Ein DNA-Molekül im Zellkern,

dessen Struktur einer verdreh-ten Strickleiter gleicht, wird ineinem bestimmen Abschnitt auf-gedreht. Die beiden Stränge wer-den von einander getrennt undeiner der beiden von einem Pro-tein, der RNA-Polymerase, „abge-schrieben“ (Transkription). Dabeientsteht ein Botenmolekül, die„messenger-RNA“ (mRNA), eineNukleinsäure wie die DNA.

2.Dieses Botenmolekül enthält nundie Bauanleitung für ein Eiweiß.Nach einigen Veränderungen

tRNA

Zellkern

DNA mRNA

RNA-Polymerase

Eiweiß

Ribosom

Zellplasma

mRNA

Amino-säuren

(Grafik: iserundschmid)

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19Vom Ei zum Embryo18

Gewerke auf der „Baustelle“ ein.In dem Maße, wie das Projekt vor-anschreitet, werden immer weitereSpezialisten einbezogen. Wie dieseProjektplanung bei der Embryonal-entwicklung von Säugern funktio-niert, ist dagegen noch weitge-hend ungeklärt.

Die richtige Mischung macht’sZunächst jedoch geht es darum,das Gelände abzustecken, vornund hinten festzulegen und „lechtsund rinks nicht zu velwechsern“.Wie das gelingt, ist am besten bei der Taufliege Drosophila unter-sucht. Eines ihrer richtungsweisen-den Gene trägt den Namen bicoid.Es wird schon bei der Bildung derEizelle aktiviert, d.h. es wird in Bo-tenmoleküle übersetzt, die wiede-rum das Rezept enthalten, nachdem das Bicoid-Eiweiß hergestelltwird. Die Boten konzentrieren sichan einem Pol des Eies: Hier ent-steht später der Kopf. Nach hintennimmt die Bicoid-Konzentrationallmählich ab. Geringere Mengenführen zur Ausbildung des Brust-bereichs, am Schwanzende fehltBicoid ganz. Das Produkt eines an-deren Gens, Caudal genannt undzuständig für die Ausbildung desHinterleibs, ist dagegen gleichmä-ßig im Embryo verteilt. Doch wirdes durch Bicoid blockiert. Nur da,wo dieser Gegenspieler fehlt, kannCaudal wirken. Je nach Mischungs-verhältnis der beiden Faktorenwerden andere, nachgeordneteGene an- und abgeschaltet und sodie unterschiedlichen Körperseg-mente ausgebildet. Jeder dieserEntwicklungsschritte beeinflusstwiederum das Schicksal der Zellenin der Nachbarschaft.

Erkenntnis durch k.o.Welche Funktion ein einzelnes Gendabei hat, wird deutlich, wenn esausfällt – so wie der Hausbesitzerspätestens beim ersten Kurz-schluss merkt, welche Sicherungfür die Treppenhausbeleuchtungzuständig ist. Versuche mit Tau-fliegen waren auch hier vonbahnbrechender Bedeutung. Vonihnen lassen sich durch Chemika-lien oder Röntgenstrahlung Mu-tanten erzeugen, bei denen ein-zelne Erbanlagen defekt sind. Anden rasch heranwachsenden Tie-ren sind die Folgen der Gen-Aus-fälle bald zu beobachten. So bil-den sich etwa bei bestimmtenMutanten die Körpersegmentenicht richtig aus.

Vieles, was zunächst an Insektenentdeckt wurde, funktioniert beiWirbeltieren ganz ähnlich. Das giltbeispielsweise für die so genann-ten hox-Gene. Sie sind eine ArtManager, die etwa die Ausbildungvon Kopf oder Gliedmaßen inGang setzen. Offenbar tauscht dieEvolution ihr Führungspersonalnur ungern aus: Die hox-Gene sindin unterschiedlichen Tierstämmenfast unverändert. So starten ganzähnliche Erbgut-Elemente die Ent-wicklung von Vogel- oder Insek-tenflügeln. Und als ein menschli-ches hox-Gen für die Ausbildungdes Kopfes auf Drosophila-Embry-onen übertragen wurde, erfüllte esauch dort seine Funktion und ließeinen Fliegenkopf wachsen. SolcheÄhnlichkeiten im Tierreich machenes möglich, Prinzipien der Embryo-nalentwicklung an einfachen Mo-dellorganismen zu erforschen. Sohofft man, schon bald den „Plan inder Puppe“ genauer zu verstehen.

wurm Caenorhabditis elegans. Erbesteht aus genau 959 Zellen. DerWerdegang jeder einzelnen ist ge-nau bekannt, ebenso auch alle sei-ne Erbanlagen. Da Wachstum undZellteilung bei ihm ähnlich regu-liert werden wie bei weit komple-xeren Tieren, wird mit dem Würm-chen auch in der Krebsforschungexperimentiert.

Der Ausfall eines einzigen Gens kann bewirken,dass sich ein Organismus nicht normal entwickelt.Im oberen Bild ist links eine Mutante einer Zebrafischlarve zu sehen, rechts ein unbeschä-digter „Wildtyp“. Unten rechts sieht man denWildtyp einer Drosophila Larve, links ein mutier-tes Exemplar. (Foto: MPI für Entwicklungsbio-logie, Tübingen)

Von Fliegen undWürmern lernen

Der Zoologische Garten der Mole-kularbiologie mag etwas seltsambevölkert erscheinen. Doch jedesLieblingstier der Genetiker weistspezielle Vorzüge auf. Bei der Tau-fliege Drosophila sind es die Ver-mehrungsfreudigkeit und rascheGenerationenfolge, aber auch diegeringe Zahl von nur 4 Chromoso-men, die sie zum klassischen Mo-dellorganismus der Entwicklungs-biologie machen. Durch Über-sichtlichkeit besticht der wenigerals einen Millimeter lange Faden-

Grüne Logistik

Pflanzen können bekanntlich nicht laufen. Und auch dieeinzelne Pflanzenzelle hat weniger Bewegungsfreiheitals die zoologische Verwandtschaft: Anders als tierischeZellen können die von einer starren Wand umgebenenPflanzenzellen ihre Position zu ihren unmittelbarenNachbarn nicht verändern – nur ein zeitlich und räumlichgeregeltes Programm von Zellteilungen lässt die typi-sche Gestalt von Baum oder Blume entstehen. Währendtierische Zellen sich bei der Teilung von außen her ein-schnüren, ziehen Pflanzenzellen von der Mitte aus eineneue Wand ein. Bereits mit der ersten Zellteilung nachder Befruchtung entstehen dabei zwei ungleiche Hälf-ten: Aus der einen wächst der eigentliche Embryo heran,die andere wird zum so genannten Suspensor, einemkurzlebigen stielartigen Gebilde. Er dient der Versor-gung des Embryos und degeneriert anschließend; in rei-fen Samen ist er nicht mehr nachzuweisen. Nach weni-gen weiteren Teilungsschritten steht fest, aus welchenZellen des Embryos Keimblätter und Spross entstehenund welche sich als Wurzelgeflecht ins Erdreich senkenwerden. Damit sich diese Achse zwischen Oben und Un-ten ausbilden kann, ist das Wachstumshormon Auxinvon entscheidender Bedeutung. Nur wenn es zur richtigenZeit am richtigen Ort ist, wächst nach oben, was nachoben gehört. Verschiedene Eiweiße transportieren dasHormon nach einem ausgeklügelten Fahrplan jeweils andie richtige Baustelle. Versagt diese Logistik, fehlt demEmbryo die Orientierung. So wurde in der Ackerschmal-wand, dem Lieblingskraut der Pflanzengenetiker, dasGen gnom entdeckt. Es ist offenbar dafür zuständig, dieTransportfahrzeuge für Auxin an den Einsatzort zu diri-gieren. Fehlt dieser Disponent, entsteht ein orientie-rungsloser Zellklumpen.

Viele verschiedene Mutanten lassen sichvon der Taufliege Drosophila erzeugen. Sie brachten die Entwicklungsgenetik ent-scheidend voran. Hier ein unbeschädigtes„Wildtyp“-Exemplar im Blick des Raster-elektronenmikroskops. (Foto: MPI für Ent-wicklungsbiologie, Tübingen)

Die ersten Hinweise für den Wegins Leben bekommen viele Embry-onen von der Mutter mit: Schon inder unbefruchteten Eizelle vonFrosch oder Fliege sind einige Ei-weiße ungleichmäßig verteilt. Die-

se Moleküle sorgen dafür, dass inverschiedenen Regionen des Em-bryos jeweils nur bestimmte Ab-schnitte des genetischen Bauplansabgelesen werden. Sie teilen so-zusagen die unterschiedlichen

Bild einer Wurzelspitze,bei der die Forscher einbestimmtes Eiweiß (PIN1)mit Hilfe eines Fluores-zenzverfahrens zumLeuchten gebracht ha-ben. Es transportiert das WachstumshormonAuxin. Nur die innerenZellen in der Wurzelspit-ze haben dieses Eiweiß,jeweils am unteren Endejeder Zelle. So entstehtdas grün leuchtende, leiterartige Muster. (Foto: ZMBP, Tübingen)

Konzentration im Kopf: Ein Bicoid genanntes Eiweiß häuft sich schon im Taufliegen-Ei an ei-nem Ende an (rechts). Hier entsteht der Kopf.Das Eiweiß steuert die Entwicklung von Kopfund Brustabschnitt des Fliegenembryos. (Foto:MPI für Entwicklungsbiologie, Tübingen)

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19Vom Ei zum Embryo18

Gewerke auf der „Baustelle“ ein.In dem Maße, wie das Projekt vor-anschreitet, werden immer weitereSpezialisten einbezogen. Wie dieseProjektplanung bei der Embryonal-entwicklung von Säugern funktio-niert, ist dagegen noch weitge-hend ungeklärt.

Die richtige Mischung macht’sZunächst jedoch geht es darum,das Gelände abzustecken, vornund hinten festzulegen und „lechtsund rinks nicht zu velwechsern“.Wie das gelingt, ist am besten bei der Taufliege Drosophila unter-sucht. Eines ihrer richtungsweisen-den Gene trägt den Namen bicoid.Es wird schon bei der Bildung derEizelle aktiviert, d.h. es wird in Bo-tenmoleküle übersetzt, die wiede-rum das Rezept enthalten, nachdem das Bicoid-Eiweiß hergestelltwird. Die Boten konzentrieren sichan einem Pol des Eies: Hier ent-steht später der Kopf. Nach hintennimmt die Bicoid-Konzentrationallmählich ab. Geringere Mengenführen zur Ausbildung des Brust-bereichs, am Schwanzende fehltBicoid ganz. Das Produkt eines an-deren Gens, Caudal genannt undzuständig für die Ausbildung desHinterleibs, ist dagegen gleichmä-ßig im Embryo verteilt. Doch wirdes durch Bicoid blockiert. Nur da,wo dieser Gegenspieler fehlt, kannCaudal wirken. Je nach Mischungs-verhältnis der beiden Faktorenwerden andere, nachgeordneteGene an- und abgeschaltet und sodie unterschiedlichen Körperseg-mente ausgebildet. Jeder dieserEntwicklungsschritte beeinflusstwiederum das Schicksal der Zellenin der Nachbarschaft.

Erkenntnis durch k.o.Welche Funktion ein einzelnes Gendabei hat, wird deutlich, wenn esausfällt – so wie der Hausbesitzerspätestens beim ersten Kurz-schluss merkt, welche Sicherungfür die Treppenhausbeleuchtungzuständig ist. Versuche mit Tau-fliegen waren auch hier vonbahnbrechender Bedeutung. Vonihnen lassen sich durch Chemika-lien oder Röntgenstrahlung Mu-tanten erzeugen, bei denen ein-zelne Erbanlagen defekt sind. Anden rasch heranwachsenden Tie-ren sind die Folgen der Gen-Aus-fälle bald zu beobachten. So bil-den sich etwa bei bestimmtenMutanten die Körpersegmentenicht richtig aus.

Vieles, was zunächst an Insektenentdeckt wurde, funktioniert beiWirbeltieren ganz ähnlich. Das giltbeispielsweise für die so genann-ten hox-Gene. Sie sind eine ArtManager, die etwa die Ausbildungvon Kopf oder Gliedmaßen inGang setzen. Offenbar tauscht dieEvolution ihr Führungspersonalnur ungern aus: Die hox-Gene sindin unterschiedlichen Tierstämmenfast unverändert. So starten ganzähnliche Erbgut-Elemente die Ent-wicklung von Vogel- oder Insek-tenflügeln. Und als ein menschli-ches hox-Gen für die Ausbildungdes Kopfes auf Drosophila-Embry-onen übertragen wurde, erfüllte esauch dort seine Funktion und ließeinen Fliegenkopf wachsen. SolcheÄhnlichkeiten im Tierreich machenes möglich, Prinzipien der Embryo-nalentwicklung an einfachen Mo-dellorganismen zu erforschen. Sohofft man, schon bald den „Plan inder Puppe“ genauer zu verstehen.

wurm Caenorhabditis elegans. Erbesteht aus genau 959 Zellen. DerWerdegang jeder einzelnen ist ge-nau bekannt, ebenso auch alle sei-ne Erbanlagen. Da Wachstum undZellteilung bei ihm ähnlich regu-liert werden wie bei weit komple-xeren Tieren, wird mit dem Würm-chen auch in der Krebsforschungexperimentiert.

Der Ausfall eines einzigen Gens kann bewirken,dass sich ein Organismus nicht normal entwickelt.Im oberen Bild ist links eine Mutante einer Zebrafischlarve zu sehen, rechts ein unbeschä-digter „Wildtyp“. Unten rechts sieht man denWildtyp einer Drosophila Larve, links ein mutier-tes Exemplar. (Foto: MPI für Entwicklungsbio-logie, Tübingen)

Von Fliegen undWürmern lernen

Der Zoologische Garten der Mole-kularbiologie mag etwas seltsambevölkert erscheinen. Doch jedesLieblingstier der Genetiker weistspezielle Vorzüge auf. Bei der Tau-fliege Drosophila sind es die Ver-mehrungsfreudigkeit und rascheGenerationenfolge, aber auch diegeringe Zahl von nur 4 Chromoso-men, die sie zum klassischen Mo-dellorganismus der Entwicklungs-biologie machen. Durch Über-sichtlichkeit besticht der wenigerals einen Millimeter lange Faden-

Grüne Logistik

Pflanzen können bekanntlich nicht laufen. Und auch dieeinzelne Pflanzenzelle hat weniger Bewegungsfreiheitals die zoologische Verwandtschaft: Anders als tierischeZellen können die von einer starren Wand umgebenenPflanzenzellen ihre Position zu ihren unmittelbarenNachbarn nicht verändern – nur ein zeitlich und räumlichgeregeltes Programm von Zellteilungen lässt die typi-sche Gestalt von Baum oder Blume entstehen. Währendtierische Zellen sich bei der Teilung von außen her ein-schnüren, ziehen Pflanzenzellen von der Mitte aus eineneue Wand ein. Bereits mit der ersten Zellteilung nachder Befruchtung entstehen dabei zwei ungleiche Hälf-ten: Aus der einen wächst der eigentliche Embryo heran,die andere wird zum so genannten Suspensor, einemkurzlebigen stielartigen Gebilde. Er dient der Versor-gung des Embryos und degeneriert anschließend; in rei-fen Samen ist er nicht mehr nachzuweisen. Nach weni-gen weiteren Teilungsschritten steht fest, aus welchenZellen des Embryos Keimblätter und Spross entstehenund welche sich als Wurzelgeflecht ins Erdreich senkenwerden. Damit sich diese Achse zwischen Oben und Un-ten ausbilden kann, ist das Wachstumshormon Auxinvon entscheidender Bedeutung. Nur wenn es zur richtigenZeit am richtigen Ort ist, wächst nach oben, was nachoben gehört. Verschiedene Eiweiße transportieren dasHormon nach einem ausgeklügelten Fahrplan jeweils andie richtige Baustelle. Versagt diese Logistik, fehlt demEmbryo die Orientierung. So wurde in der Ackerschmal-wand, dem Lieblingskraut der Pflanzengenetiker, dasGen gnom entdeckt. Es ist offenbar dafür zuständig, dieTransportfahrzeuge für Auxin an den Einsatzort zu diri-gieren. Fehlt dieser Disponent, entsteht ein orientie-rungsloser Zellklumpen.

Viele verschiedene Mutanten lassen sichvon der Taufliege Drosophila erzeugen. Sie brachten die Entwicklungsgenetik ent-scheidend voran. Hier ein unbeschädigtes„Wildtyp“-Exemplar im Blick des Raster-elektronenmikroskops. (Foto: MPI für Ent-wicklungsbiologie, Tübingen)

Die ersten Hinweise für den Wegins Leben bekommen viele Embry-onen von der Mutter mit: Schon inder unbefruchteten Eizelle vonFrosch oder Fliege sind einige Ei-weiße ungleichmäßig verteilt. Die-

se Moleküle sorgen dafür, dass inverschiedenen Regionen des Em-bryos jeweils nur bestimmte Ab-schnitte des genetischen Bauplansabgelesen werden. Sie teilen so-zusagen die unterschiedlichen

Bild einer Wurzelspitze,bei der die Forscher einbestimmtes Eiweiß (PIN1)mit Hilfe eines Fluores-zenzverfahrens zumLeuchten gebracht ha-ben. Es transportiert das WachstumshormonAuxin. Nur die innerenZellen in der Wurzelspit-ze haben dieses Eiweiß,jeweils am unteren Endejeder Zelle. So entstehtdas grün leuchtende, leiterartige Muster. (Foto: ZMBP, Tübingen)

Konzentration im Kopf: Ein Bicoid genanntes Eiweiß häuft sich schon im Taufliegen-Ei an ei-nem Ende an (rechts). Hier entsteht der Kopf.Das Eiweiß steuert die Entwicklung von Kopfund Brustabschnitt des Fliegenembryos. (Foto:MPI für Entwicklungsbiologie, Tübingen)

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21Alter und Tod

Alterund Tod

__ Die oben zitierte biblische Le-bensspanne dünkt uns heuteknapp bemessen. Nimmt doch dieZahl der Uralten ständig zu. In densiebziger Jahren lebten etwa 500Hundertjährige oder Ältere inDeutschland, inzwischen sind esüber 5000. Schätzungen gehendavon aus, dass jedes zweite heute in Deutschland geboreneMädchen ein Alter von 100 Jahrenerreichen wird. Arbeits- und Le-bensbedingungen, Hygiene undmedizinischer Fortschritt tragendazu bei, dass die Lebenserwar-tung steigt. Doch macht die bio-medizinische Forschung auch deut-lich: Der Tod gehört zum Leben, ja manchmal ist er überlebens-wichtig.

Mit dem Sex kam der TodDoch Alterung und Tod sind jün-ger als das Leben. Viele einzelligeOrganismen, aber auch beispiels-weise der Süßwasserpolyp Hydra,vermehren sich durch Teilung undsind damit potenziell unsterblich.Erst mit der Trennung von Keim-zellen und übrigem Körper wurdeder Tod unausweichlich: Nur ausEi- und Samenzelle wächst einneuer Organismus heran, der übri-ge Körper stirbt.

„Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’sachtzig Jahre.“

Psalm 90, Vers 10

Die Apoptose – der programmierte Zelltod – gehört zum Rhythmusdes Lebens wie der herbstliche Blätterfall, nach dem sie benannt ist.(Apoptosis bedeutet im Altgriechischen wörtlich „abfallen“ und wur-de für den Laubfall im Herbst verwendet.) Ob es der Schwanz derKaulquappe ist oder Hirnzellen, die keine Verbindung zu ihren Nach-barn finden – nicht alles, was der Organismus hervorbringt, bleibt.Auslöser für den „Selbstmord“ der Zellen können beispielsweiseStresshormone sein, die an der Zelloberfläche andocken, oder auchder Mangel an bestimmten Wachstumsmolekülen. Daraufhin produ-zieren die Zellen Substanzen, die bestimmte Enzyme, die Caspasen,aktivieren. Diese machen schließlich der Zelle den Garaus: Sie spaltenzahlreiche Eiweiße und lösen die Zellstruktur auf. Die todgeweihteZelle zerfällt in einzelne Bruchstücke, die von so genannten Fresszel-len aufgenommen werden.

Nicht immer kommt das Kommando von außen: Ist das Erbgut geschä-digt, etwa durch Strahlung oder Gifte, tritt im Zellkern das Eiweiß p53in Aktion, das einen komplizierten Mechanismus steuert. Entwederschickt es Enzyme als „Reparaturtrupp“ zum Unfallort. Ist der Schadendagegen irreparabel, sendet p53 eine Todesbotschaft zu den Mito-chondrien, den „Kraftwerken“ der Zelle. Die setzen Substanzen frei, diedie Caspasen auf den Plan rufen. Wenn dieses Programm gestört ist,wuchern fehlerhafte Zellen ungehemmt weiter. So ist in etwa der Hälf-te aller Tumoren der Wächter des Erbguts, das Eiweiß p53, defekt oderfehlt ganz. Umgekehrt ist es bei einer HIV-Infektion: Hier senden infi-zierte Zellen Signale aus, die in gesunden Abwehrzellen die Apoptoseauslösen und so zum Zusammenbruch des Immunsystems führen. Nurder genau kontrollierte Tod sichert also das Überleben.

Der lebenswichtige Tod

Pilzangriff auf ein Kartoffelblatt. DiePflanze schützt sich gegen das weitereEindringen des Pilzes dadurch, dass siekontrolliert einzelne Zellen absterbenlässt. Hier sind drei Zellen weißlich –sie wurden durch den programmiertenZelltod bereits dahingerafft. Die um-gebenden noch lebenden Zellen er-scheinen rot, da der Blattfarbstoff rotfluoresziert. Man erkennt auch nochein Stück des Pilzschlauchs (blau), derin die Zellen eingedrungen ist und die Reaktion ausgelöst hat. (Foto: MPI für Züchtungsforschung)

Nur bei Individuen, die sich ausschließlichsexuell fortpflanzen, ist der Tod unaus-weichlich. Der Süßwasserpolyp Hydra hatdie Wahl: Vermehrung durch Sex oder durchKnospung. Hier entsteht durch Knospungein neuer kleiner Polyp an der rechten Sei-te. Diese Fortpflanzungsweise macht Hydrapotenziell unsterblich. (Foto: ZoologischesInstitut, Universität Kiel)

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21Alter und Tod

Alterund Tod

__ Die oben zitierte biblische Le-bensspanne dünkt uns heuteknapp bemessen. Nimmt doch dieZahl der Uralten ständig zu. In densiebziger Jahren lebten etwa 500Hundertjährige oder Ältere inDeutschland, inzwischen sind esüber 5000. Schätzungen gehendavon aus, dass jedes zweite heute in Deutschland geboreneMädchen ein Alter von 100 Jahrenerreichen wird. Arbeits- und Le-bensbedingungen, Hygiene undmedizinischer Fortschritt tragendazu bei, dass die Lebenserwar-tung steigt. Doch macht die bio-medizinische Forschung auch deut-lich: Der Tod gehört zum Leben, ja manchmal ist er überlebens-wichtig.

Mit dem Sex kam der TodDoch Alterung und Tod sind jün-ger als das Leben. Viele einzelligeOrganismen, aber auch beispiels-weise der Süßwasserpolyp Hydra,vermehren sich durch Teilung undsind damit potenziell unsterblich.Erst mit der Trennung von Keim-zellen und übrigem Körper wurdeder Tod unausweichlich: Nur ausEi- und Samenzelle wächst einneuer Organismus heran, der übri-ge Körper stirbt.

„Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’sachtzig Jahre.“

Psalm 90, Vers 10

Die Apoptose – der programmierte Zelltod – gehört zum Rhythmusdes Lebens wie der herbstliche Blätterfall, nach dem sie benannt ist.(Apoptosis bedeutet im Altgriechischen wörtlich „abfallen“ und wur-de für den Laubfall im Herbst verwendet.) Ob es der Schwanz derKaulquappe ist oder Hirnzellen, die keine Verbindung zu ihren Nach-barn finden – nicht alles, was der Organismus hervorbringt, bleibt.Auslöser für den „Selbstmord“ der Zellen können beispielsweiseStresshormone sein, die an der Zelloberfläche andocken, oder auchder Mangel an bestimmten Wachstumsmolekülen. Daraufhin produ-zieren die Zellen Substanzen, die bestimmte Enzyme, die Caspasen,aktivieren. Diese machen schließlich der Zelle den Garaus: Sie spaltenzahlreiche Eiweiße und lösen die Zellstruktur auf. Die todgeweihteZelle zerfällt in einzelne Bruchstücke, die von so genannten Fresszel-len aufgenommen werden.

Nicht immer kommt das Kommando von außen: Ist das Erbgut geschä-digt, etwa durch Strahlung oder Gifte, tritt im Zellkern das Eiweiß p53in Aktion, das einen komplizierten Mechanismus steuert. Entwederschickt es Enzyme als „Reparaturtrupp“ zum Unfallort. Ist der Schadendagegen irreparabel, sendet p53 eine Todesbotschaft zu den Mito-chondrien, den „Kraftwerken“ der Zelle. Die setzen Substanzen frei, diedie Caspasen auf den Plan rufen. Wenn dieses Programm gestört ist,wuchern fehlerhafte Zellen ungehemmt weiter. So ist in etwa der Hälf-te aller Tumoren der Wächter des Erbguts, das Eiweiß p53, defekt oderfehlt ganz. Umgekehrt ist es bei einer HIV-Infektion: Hier senden infi-zierte Zellen Signale aus, die in gesunden Abwehrzellen die Apoptoseauslösen und so zum Zusammenbruch des Immunsystems führen. Nurder genau kontrollierte Tod sichert also das Überleben.

Der lebenswichtige Tod

Pilzangriff auf ein Kartoffelblatt. DiePflanze schützt sich gegen das weitereEindringen des Pilzes dadurch, dass siekontrolliert einzelne Zellen absterbenlässt. Hier sind drei Zellen weißlich –sie wurden durch den programmiertenZelltod bereits dahingerafft. Die um-gebenden noch lebenden Zellen er-scheinen rot, da der Blattfarbstoff rotfluoresziert. Man erkennt auch nochein Stück des Pilzschlauchs (blau), derin die Zellen eingedrungen ist und die Reaktion ausgelöst hat. (Foto: MPI für Züchtungsforschung)

Nur bei Individuen, die sich ausschließlichsexuell fortpflanzen, ist der Tod unaus-weichlich. Der Süßwasserpolyp Hydra hatdie Wahl: Vermehrung durch Sex oder durchKnospung. Hier entsteht durch Knospungein neuer kleiner Polyp an der rechten Sei-te. Diese Fortpflanzungsweise macht Hydrapotenziell unsterblich. (Foto: ZoologischesInstitut, Universität Kiel)

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23Alter und Tod22

Telomerase – Jungbrunnen mit UntiefenWenn es allein die Widrigkeitender Umwelt wären, die den Or-ganismus welken lassen, müsstenZellkulturen unter optimalen Be-dingungen unsterblich sein. Dochnach einer bestimmten Anzahlvon Teilungen läuft bei tierischenZellen die Lebensuhr ab. Das Zähl-werk sitzt an den Enden der Chro-mosomen: Bei jeder Verdoppelungverkürzen sich diese Endstücke,Telomere genannt, ein wenig –wie die Stuhlreihe bei der „Reisenach Jerusalem“. Wird eine be-stimmte Länge unterschritten, sonimmt man an, ist das Spiel aus:Die Zelle stirbt. Einige Zellen aller-dings sind Spielverderber: Sie er-setzen mit Hilfe des Enzyms Telo-merase die verloren gegangenenStühle. So wird die jugendlicheLänge der Telomere stabilisiertund die Zellen erlangen unbe-grenzte Teilungsfähigkeit. Zu die-sen Überlebenskünstlern gehörenKeimbahn- und Krebszellen. Diemeisten normalen Körperzellenzeigen dagegen keine Telomerase-Aktivität. In Experimenten gelanges jedoch, bei ihnen die Telome-rase anzuschalten und Kulturendieser Zellen so unsterblich zumachen. Wer in diesen Jungbrun-nen tauchen möchte, würde aller-dings mit einem hohen Krebsrisikobezahlen, warnen Wissenschaft-ler. Doch einige Tiere haben offen-bar Wege gefunden, das Problemzu umgehen. So der Amerikani-sche Hummer, der vermutlich hun-dert Jahre und älter werden kann,und die ebenfalls sehr langlebigeRegenbogenforelle. Bei ihnen istdas Enzym Telomerase besondersaktiv.

Leben und Sterben einer Pflanze. Die verschiedenenLebensstadien der Ackerschmalwand (Arabidopsisthaliana) wurden hier in einem Foto zusammen-geführt. (Foto: ZMBP, Universität Tübingen)

Dass der schlurfende Gang vieler älterer Menschennicht nur an den in dieser Altersgruppe bevorzugtgetragenen Filzpantoffeln liegt, legen Tierversuchenahe. Hier haben Forscher die Pfötchen unter-schiedlich alter Ratten in Tinte getaucht und sieüber ein Löschblatt laufen lassen. Das Ergebnis:je älter die Ratte, desto verwischter die Spuren,desto „schlurfender“ also der Gang. (Foto: J. Traber, Wuppertal)

Als ältester Baum gilt die Grannen-Kiefer Pinus aristata, die aus dem Westen der USA stammt undmindestens 4.700 Jahre alt werden kann (Bild). Damit ist sie aber keineswegs die älteste Pflanze:43.000 Jahre alt soll der sich durch Wurzelausläu-fer ausbreitende Strauch Lomatia tasmanica an der Westküste Australiens sein. Genetische Unter-suchungen zeigten: Alle Ableger und Ausläufer, die sich dort über mehr als einen Quadratkilometerausbreiten, gehören zu einer einzigen Pflanze. Sieist das letzte lebende Exemplar dieser Art. Beschei-den nehmen sich dagegen die Altersrekorde ausdem Tierreich aus: Schildkröten, die als Symbol derLanglebigkeit gelten, werden gerade mal schlappe150 Jahre alt. (Foto: Spezielle Botanik, Ruhr-Uni-versität Bochum)

3 Monate 24 Monate 29 Monate 29 Monate

zifischer Gene für Alter und Tod fürunwahrscheinlich. Trotzdem gibt esIndizien dafür, dass genetischeFaktoren auch beim Altern einenicht unerhebliche Rolle spielen.So haben Mäuse und Fledermäuseeinen vergleichbaren Stoffwechsel– doch letztere leben etwa 10-malso lange wie die kleinen Nager. InBlättern der Ackerschmalwand ließsich zeigen: Wenn Blätter altern,sind verschiedene Gene in einerbestimmten Reihenfolge aktiv – siesterben offenbar nach einem fest-gelegten Programm. Lebensverlän-gernde Genmanipulationen sorg-ten in den letzten Jahren für Aufse-hen. Wird beispielsweise beimFadenwurm Caenorhabditis ele-gans ein Gen mit Namen daf-2blockiert, lebt das Tier vier Wochenstatt der üblichen zwei. Ob solcheManipulationen auch das Lebenkomplexerer Organismen verlän-gern könnten und welche weiterenFolgen solche Eingriffe möglicher-weise haben, ist jedoch völlig un-geklärt.

Anders als bei der Entwicklungdes Embryos, die einem genauenPlan folgt, geht es am anderen En-de des Lebens eher ungeordnetzu. Alterung ist zunächst einmaleine Ansammlung von Fehlern.Sauerstoff, unser Lebenselixierschlechthin, ist auch am Ende un-seres Daseins beteiligt. Aus ihmentstehen im Stoffwechsel als Ne-ben- und Zwischenprodukte sogenannte reaktive Sauerstoff-Ver-bindungen, die Erbgut- und ande-re Moleküle schädigen. Dieses Ge-fahrenpotenzial – oft als oxidati-ver Stress bezeichnet – wird durchspezielle Enzymsysteme in Schachgehalten. Im Alter aber lassen dieKontrollen nach. Schäden sam-meln sich an – besonders rasch beiLebewesen, die eine hohe Stoff-wechselrate haben.

Offen ist, ob es neben diesen „Be-triebsschäden“ auch genetischeAnlagen für eine maximale Lebens-spanne gibt. Viele Wissenschaftlerhalten zumindest die Existenz spe-

Leuchtende Lebensuhr: Bei diesen menschlichen Chromosomen (siehe auch S. 26) wurdendie Enden – Telomere genannt – mit einem gelb fluoreszierenden Farbstoff markiert. Dasich die Telomere mit jeder Zellteilung verkürzen, nimmt auch das Leuchten mit zunehmen-dem Lebensalter ab. Im linken Bild sieht man Chromosomen einer relativ jungen Zelle, deren Telomere noch intensiv leuchten. Die Chromosomen auf der rechten Seite stammenvon einer älteren Zelle und haben kürzere Endstücke, die deshalb auch düsterer erschei-nen. Wenn eine bestimmte Länge unterschritten wird, ist die Lebensuhr abgelaufen, dieZelle stirbt. (Foto: Abt. Genetik der Hautcarcinogenese, DKFZ, Heidelberg)

oder das Erlernen einer Fremd-sprache können dazu beitragen,geistig fit zu bleiben. Vor allemaber steigern sie die Lebenszufrie-denheit – und vielleicht auch aufdiesem Wege die Lebensdauer.Denn die Psyche hat erheblichenEinfluss. So zeigte eine Untersu-chung an Ordensfrauen: Diejeni-gen, die mit Anfang zwanzig inAufsätzen häufig positive Gefühlezum Ausdruck brachten, hatteneine weit größere Chance, ein ho-hes Alter zu erreichen, als ihreschon in jungen Jahren missmu-tigeren Ordensschwestern. Die„Heidelberger Hundertjährigen-Studie“ zeigte: Ein wichtiger Plus-punkt der Uralten ist ihre Einstel-lung zu ihren kleineren und grö-ßeren Leiden: Sie beurteilen ihreeigene Gesundheit vergleichsweisepositiv. Wer mit unvermeidlichenBeschwerden gelassen umgeht,hat offenbar bessere Chancen, mitihnen uralt zu werden.

Wer wird hundert?Die besten Chancen haben Frau-en, die in einem wohlhabendenLand geboren werden. Die meis-ten anderen Einflussfaktoren aufdas individuelle Lebensalter sindweniger eindeutig bekannt: Unter-suchungen an Zwillingen und an-deren Verwandten deuten daraufhin, dass der Beitrag der Gene etwa25 Prozent ausmacht. Ungefährebenso viel tragen Einflüsse wäh-rend der ersten 30 Lebensjahrebei, wie Lebensbedingungen inder Kindheit oder der beruflicheStatus in jungen Jahren. Doch vie-les haben wir auch danach noch inder Hand. Wer Tabakrauch, über-mäßigen Alkoholkonsum undÜbergewicht meidet, schlägt dendrei wichtigsten Risikofaktorenein Schnippchen. Geistige wiekörperliche Beweglichkeit erhö-hen die Chancen, den hundertstenGeburtstag zu erleben. Tätigkei-ten wie Lesen, im Internet surfen

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23Alter und Tod22

Telomerase – Jungbrunnen mit UntiefenWenn es allein die Widrigkeitender Umwelt wären, die den Or-ganismus welken lassen, müsstenZellkulturen unter optimalen Be-dingungen unsterblich sein. Dochnach einer bestimmten Anzahlvon Teilungen läuft bei tierischenZellen die Lebensuhr ab. Das Zähl-werk sitzt an den Enden der Chro-mosomen: Bei jeder Verdoppelungverkürzen sich diese Endstücke,Telomere genannt, ein wenig –wie die Stuhlreihe bei der „Reisenach Jerusalem“. Wird eine be-stimmte Länge unterschritten, sonimmt man an, ist das Spiel aus:Die Zelle stirbt. Einige Zellen aller-dings sind Spielverderber: Sie er-setzen mit Hilfe des Enzyms Telo-merase die verloren gegangenenStühle. So wird die jugendlicheLänge der Telomere stabilisiertund die Zellen erlangen unbe-grenzte Teilungsfähigkeit. Zu die-sen Überlebenskünstlern gehörenKeimbahn- und Krebszellen. Diemeisten normalen Körperzellenzeigen dagegen keine Telomerase-Aktivität. In Experimenten gelanges jedoch, bei ihnen die Telome-rase anzuschalten und Kulturendieser Zellen so unsterblich zumachen. Wer in diesen Jungbrun-nen tauchen möchte, würde aller-dings mit einem hohen Krebsrisikobezahlen, warnen Wissenschaft-ler. Doch einige Tiere haben offen-bar Wege gefunden, das Problemzu umgehen. So der Amerikani-sche Hummer, der vermutlich hun-dert Jahre und älter werden kann,und die ebenfalls sehr langlebigeRegenbogenforelle. Bei ihnen istdas Enzym Telomerase besondersaktiv.

Leben und Sterben einer Pflanze. Die verschiedenenLebensstadien der Ackerschmalwand (Arabidopsisthaliana) wurden hier in einem Foto zusammen-geführt. (Foto: ZMBP, Universität Tübingen)

Dass der schlurfende Gang vieler älterer Menschennicht nur an den in dieser Altersgruppe bevorzugtgetragenen Filzpantoffeln liegt, legen Tierversuchenahe. Hier haben Forscher die Pfötchen unter-schiedlich alter Ratten in Tinte getaucht und sieüber ein Löschblatt laufen lassen. Das Ergebnis:je älter die Ratte, desto verwischter die Spuren,desto „schlurfender“ also der Gang. (Foto: J. Traber, Wuppertal)

Als ältester Baum gilt die Grannen-Kiefer Pinus aristata, die aus dem Westen der USA stammt undmindestens 4.700 Jahre alt werden kann (Bild). Damit ist sie aber keineswegs die älteste Pflanze:43.000 Jahre alt soll der sich durch Wurzelausläu-fer ausbreitende Strauch Lomatia tasmanica an der Westküste Australiens sein. Genetische Unter-suchungen zeigten: Alle Ableger und Ausläufer, die sich dort über mehr als einen Quadratkilometerausbreiten, gehören zu einer einzigen Pflanze. Sieist das letzte lebende Exemplar dieser Art. Beschei-den nehmen sich dagegen die Altersrekorde ausdem Tierreich aus: Schildkröten, die als Symbol derLanglebigkeit gelten, werden gerade mal schlappe150 Jahre alt. (Foto: Spezielle Botanik, Ruhr-Uni-versität Bochum)

3 Monate 24 Monate 29 Monate 29 Monate

zifischer Gene für Alter und Tod fürunwahrscheinlich. Trotzdem gibt esIndizien dafür, dass genetischeFaktoren auch beim Altern einenicht unerhebliche Rolle spielen.So haben Mäuse und Fledermäuseeinen vergleichbaren Stoffwechsel– doch letztere leben etwa 10-malso lange wie die kleinen Nager. InBlättern der Ackerschmalwand ließsich zeigen: Wenn Blätter altern,sind verschiedene Gene in einerbestimmten Reihenfolge aktiv – siesterben offenbar nach einem fest-gelegten Programm. Lebensverlän-gernde Genmanipulationen sorg-ten in den letzten Jahren für Aufse-hen. Wird beispielsweise beimFadenwurm Caenorhabditis ele-gans ein Gen mit Namen daf-2blockiert, lebt das Tier vier Wochenstatt der üblichen zwei. Ob solcheManipulationen auch das Lebenkomplexerer Organismen verlän-gern könnten und welche weiterenFolgen solche Eingriffe möglicher-weise haben, ist jedoch völlig un-geklärt.

Anders als bei der Entwicklungdes Embryos, die einem genauenPlan folgt, geht es am anderen En-de des Lebens eher ungeordnetzu. Alterung ist zunächst einmaleine Ansammlung von Fehlern.Sauerstoff, unser Lebenselixierschlechthin, ist auch am Ende un-seres Daseins beteiligt. Aus ihmentstehen im Stoffwechsel als Ne-ben- und Zwischenprodukte sogenannte reaktive Sauerstoff-Ver-bindungen, die Erbgut- und ande-re Moleküle schädigen. Dieses Ge-fahrenpotenzial – oft als oxidati-ver Stress bezeichnet – wird durchspezielle Enzymsysteme in Schachgehalten. Im Alter aber lassen dieKontrollen nach. Schäden sam-meln sich an – besonders rasch beiLebewesen, die eine hohe Stoff-wechselrate haben.

Offen ist, ob es neben diesen „Be-triebsschäden“ auch genetischeAnlagen für eine maximale Lebens-spanne gibt. Viele Wissenschaftlerhalten zumindest die Existenz spe-

Leuchtende Lebensuhr: Bei diesen menschlichen Chromosomen (siehe auch S. 26) wurdendie Enden – Telomere genannt – mit einem gelb fluoreszierenden Farbstoff markiert. Dasich die Telomere mit jeder Zellteilung verkürzen, nimmt auch das Leuchten mit zunehmen-dem Lebensalter ab. Im linken Bild sieht man Chromosomen einer relativ jungen Zelle, deren Telomere noch intensiv leuchten. Die Chromosomen auf der rechten Seite stammenvon einer älteren Zelle und haben kürzere Endstücke, die deshalb auch düsterer erschei-nen. Wenn eine bestimmte Länge unterschritten wird, ist die Lebensuhr abgelaufen, dieZelle stirbt. (Foto: Abt. Genetik der Hautcarcinogenese, DKFZ, Heidelberg)

oder das Erlernen einer Fremd-sprache können dazu beitragen,geistig fit zu bleiben. Vor allemaber steigern sie die Lebenszufrie-denheit – und vielleicht auch aufdiesem Wege die Lebensdauer.Denn die Psyche hat erheblichenEinfluss. So zeigte eine Untersu-chung an Ordensfrauen: Diejeni-gen, die mit Anfang zwanzig inAufsätzen häufig positive Gefühlezum Ausdruck brachten, hatteneine weit größere Chance, ein ho-hes Alter zu erreichen, als ihreschon in jungen Jahren missmu-tigeren Ordensschwestern. Die„Heidelberger Hundertjährigen-Studie“ zeigte: Ein wichtiger Plus-punkt der Uralten ist ihre Einstel-lung zu ihren kleineren und grö-ßeren Leiden: Sie beurteilen ihreeigene Gesundheit vergleichsweisepositiv. Wer mit unvermeidlichenBeschwerden gelassen umgeht,hat offenbar bessere Chancen, mitihnen uralt zu werden.

Wer wird hundert?Die besten Chancen haben Frau-en, die in einem wohlhabendenLand geboren werden. Die meis-ten anderen Einflussfaktoren aufdas individuelle Lebensalter sindweniger eindeutig bekannt: Unter-suchungen an Zwillingen und an-deren Verwandten deuten daraufhin, dass der Beitrag der Gene etwa25 Prozent ausmacht. Ungefährebenso viel tragen Einflüsse wäh-rend der ersten 30 Lebensjahrebei, wie Lebensbedingungen inder Kindheit oder der beruflicheStatus in jungen Jahren. Doch vie-les haben wir auch danach noch inder Hand. Wer Tabakrauch, über-mäßigen Alkoholkonsum undÜbergewicht meidet, schlägt dendrei wichtigsten Risikofaktorenein Schnippchen. Geistige wiekörperliche Beweglichkeit erhö-hen die Chancen, den hundertstenGeburtstag zu erleben. Tätigkei-ten wie Lesen, im Internet surfen

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25

__Das Staunen ist uns abhandengekommen: Dass Pantoffeltier-chen und Petersilie, Darmbakte-rium und Dinosaurier, Maikäferund Mensch sich aus gemeinsa-men Ursprüngen entwickelten,weiß heute jedes Schulkind. Fürdie Zeitgenossen Charles Darwinswar das eine Provokation. Zwarhatten Fossilienfunde und Erfah-rungen bei der Züchtung schonvor Darwin den Verdacht genährt,dass es kein ein für alle Mal fest-gelegtes Sortiment von Tier- undPflanzenarten auf der Erde gibt.Die Idee schien dennoch nicht ge-heuer. Erst 1859, zwanzig Jahrenachdem er seine Theorie formu-liert hatte, wagte Darwin die Ver-öffentlichung – die erste Auflagewar bereits am Erscheinungstagausverkauft. Von Evolution sprachder Naturforscher übrigens kaum.„Descendence with modifica-tions“ lautete seine Formel, also

Woher wir kommen

Woherwir kommen

etwa „Abstammung mit Abwei-chungen“. Drei Prinzipien standenim Zentrum seiner Schrift überden „Ursprung der Arten“: 1. DieIndividuen einer Art unterschei-den sich in vielen Merkmalen.Heute wissen wir, dass zufälligeVeränderungen im Erbgut – Muta-tionen – die Ursache dieser Varia-bilität sind. 2. Unter gegebenenUmweltbedingungen vermehrensich einige Individuen erfolgrei-cher als andere – Darwin sprachvon natürlicher Selektion. 3. DieBeschaffenheit dieser besser an-gepassten Individuen wird durchVererbung an folgende Generatio-nen weitergegeben – die Popula-tion verändert sich. Neue Merk-male entwickeln sich dabei, jenach Lebensdauer und Vermeh-rungsfreudigkeit der Organismen,in ganz unterschiedlichem Tempo.Räumliche Isolation begünstigtes, dass Gruppen, die ursprüng-lich einer Art angehörten, ge-trennte Wege gehen und neue Arten entstehen.

Bereits um 1850 wurde dieses Skelett eines Mastodon gefunden – ein amerikanischer Urelefant, der vor ca. 10.000 Jahren im Holozän gelebt hat. (Foto: Museum Senckenberg,Frankfurt am Main)

Viren auf derÜberholspur

Ob Mensch oder Mikrobe – diePrinzipien von Mutation und Selektion wirken stets in der glei-chen Weise. Jedoch ist das Tempoder Evolution höchst unterschied-lich. Arten, die vergleichsweiselange leben und wenige Nach-kommen hervorbringen, wandelnsich langsam. So ist das Modell„Homo sapiens“ seit etwa 150.000Jahren in Produktion. Ein Virus da-gegen vermehrt sich sehr rasch:innerhalb von Stunden könnenMillionen Kopien entstehen, ent-sprechend häufig gibt es Kopier-fehler. So treten nach kurzer ZeitViren mit neuen Eigenschaftenauf. Jedes Jahr müssen aus die-sem Grund neue Grippeimpfstoffehergestellt werden, da sich immerwieder abgewandelte Erreger bil-den.

„Wir dürfen nicht bleiben, wie wir sind,und nicht nur das tun, was wir immerschon getan haben. Sonst werden wir ausden Schwierigkeiten nie herauskommen.“

George Bernhard Shaw

Der Archaeopterix war ein Meilenstein in der Evolu-tionsforschung. Er zeigte zum ersten mal, dass es inder Evolution Zwischenformen mit Eigenschaften so-wohl von Reptilien als auch von Vögeln gegeben hat-te. Das erste Exemplar wurde drei Jahre nach der Pu-blikation von Darwins Evolutionstheorie gefunden.(Foto: Museum Senckenberg, Frankfurt am Main)

Charles Darwin, 1809 bis 1882 (Foto: ullstein bild)

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__Das Staunen ist uns abhandengekommen: Dass Pantoffeltier-chen und Petersilie, Darmbakte-rium und Dinosaurier, Maikäferund Mensch sich aus gemeinsa-men Ursprüngen entwickelten,weiß heute jedes Schulkind. Fürdie Zeitgenossen Charles Darwinswar das eine Provokation. Zwarhatten Fossilienfunde und Erfah-rungen bei der Züchtung schonvor Darwin den Verdacht genährt,dass es kein ein für alle Mal fest-gelegtes Sortiment von Tier- undPflanzenarten auf der Erde gibt.Die Idee schien dennoch nicht ge-heuer. Erst 1859, zwanzig Jahrenachdem er seine Theorie formu-liert hatte, wagte Darwin die Ver-öffentlichung – die erste Auflagewar bereits am Erscheinungstagausverkauft. Von Evolution sprachder Naturforscher übrigens kaum.„Descendence with modifica-tions“ lautete seine Formel, also

Woher wir kommen

Woherwir kommen

etwa „Abstammung mit Abwei-chungen“. Drei Prinzipien standenim Zentrum seiner Schrift überden „Ursprung der Arten“: 1. DieIndividuen einer Art unterschei-den sich in vielen Merkmalen.Heute wissen wir, dass zufälligeVeränderungen im Erbgut – Muta-tionen – die Ursache dieser Varia-bilität sind. 2. Unter gegebenenUmweltbedingungen vermehrensich einige Individuen erfolgrei-cher als andere – Darwin sprachvon natürlicher Selektion. 3. DieBeschaffenheit dieser besser an-gepassten Individuen wird durchVererbung an folgende Generatio-nen weitergegeben – die Popula-tion verändert sich. Neue Merk-male entwickeln sich dabei, jenach Lebensdauer und Vermeh-rungsfreudigkeit der Organismen,in ganz unterschiedlichem Tempo.Räumliche Isolation begünstigtes, dass Gruppen, die ursprüng-lich einer Art angehörten, ge-trennte Wege gehen und neue Arten entstehen.

Bereits um 1850 wurde dieses Skelett eines Mastodon gefunden – ein amerikanischer Urelefant, der vor ca. 10.000 Jahren im Holozän gelebt hat. (Foto: Museum Senckenberg,Frankfurt am Main)

Viren auf derÜberholspur

Ob Mensch oder Mikrobe – diePrinzipien von Mutation und Selektion wirken stets in der glei-chen Weise. Jedoch ist das Tempoder Evolution höchst unterschied-lich. Arten, die vergleichsweiselange leben und wenige Nach-kommen hervorbringen, wandelnsich langsam. So ist das Modell„Homo sapiens“ seit etwa 150.000Jahren in Produktion. Ein Virus da-gegen vermehrt sich sehr rasch:innerhalb von Stunden könnenMillionen Kopien entstehen, ent-sprechend häufig gibt es Kopier-fehler. So treten nach kurzer ZeitViren mit neuen Eigenschaftenauf. Jedes Jahr müssen aus die-sem Grund neue Grippeimpfstoffehergestellt werden, da sich immerwieder abgewandelte Erreger bil-den.

„Wir dürfen nicht bleiben, wie wir sind,und nicht nur das tun, was wir immerschon getan haben. Sonst werden wir ausden Schwierigkeiten nie herauskommen.“

George Bernhard Shaw

Der Archaeopterix war ein Meilenstein in der Evolu-tionsforschung. Er zeigte zum ersten mal, dass es inder Evolution Zwischenformen mit Eigenschaften so-wohl von Reptilien als auch von Vögeln gegeben hat-te. Das erste Exemplar wurde drei Jahre nach der Pu-blikation von Darwins Evolutionstheorie gefunden.(Foto: Museum Senckenberg, Frankfurt am Main)

Charles Darwin, 1809 bis 1882 (Foto: ullstein bild)

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27Woher wir kommen26

Schritte und Sprünge Nicht immer sind es allmählicheVeränderungen in kleinen Schrit-ten, die das Neue in die Welt brin-gen. Viele Evolutionsbiologen be-tonen heute die Rolle sprunghafterUmgestaltung: So kann zufällig einganzes Gen verdoppelt oder an ei-nen anderen Platz im Erbgut ver-schoben werden. Dadurch wird ge-legentlich der ganze Bauplan um-gekrempelt. Ein revolutionärer„Evolutionssprung“ war auch dieIntegration von Bakterien in ande-re Zellen. Was zunächst durch rei-nen Zufall geschah, stellte sich oftfür beide Parteien als sehr vorteil-haft heraus. Allmählich verlorendann die aufgenommenen Zellenihre Selbständigkeit – der Unter-mieter wandelte sich zum Mobi-liar. So entstanden zum Beispiel die Mitochondrien, die heutigen„Kraftwerke“ der Zellen, vermut-lich aus eigenständigen Bakte-rien, die von anderen Zellen ge-schluckt, aber nicht verdaut wur-den. Zum beiderseitigen Vorteil:die Bakterien lieferten Energie,die Wirtszelle die für die Energie-

produktion notwendigen Substra-te. Noch heute sind die Mito-chondrien durch eine doppelteMembran vom übrigen Zellplas-ma abgegrenzt, fast wie einekleine „Zelle in der Zelle“. Undganz aufgegeben haben die Mito-chondrien ihre Eigenständigkeitauch nicht – sie enthalten Resteeigenen Erbguts, das nur dortund nicht im Zellkern vorkommt.Diese Mitochondrien-DNA kannzudem mit einer weiteren Extra-vaganz aufwarten: sie wird nurvon den Müttern weitervererbt,nicht von den Vätern.

Aufschlussreiche SchreibfehlerDas machen sich Molekularbiolo-gen zunutze, die versuchen, denStammbaum des Menschen zu re-konstruieren. Jeder heute leben-de Mensch trägt eine Chronik derStammesgeschichte der Mensch-heit in sich, denn ab und zukommt es in der Evolution zu klei-nen, harmlosen Kopierfehlern imErbgut. Da die Abweichungen aufdie Nachkommen vererbt wer-den, lassen sie Abstammungs-

linien erkennen. Bei der Erfor-schung mittelalterlicher Hand-schriften folgern Historiker ausden mitkopierten Fehlern, wel-cher Mönch von welchem Vorgän-ger abschrieb – ganz ähnlich re-konstruieren Molekularbiologenunseren Stammbaum aus den zu-fälligen Kopierfehlern im Erbgut.

Auf der Suche nach Adam und Evainteressieren sie sich vor allem fürzwei Bereiche: einmal eben fürdie Mitochondrien-DNA, die nurvon den Müttern weitergegebenwird und es so möglich macht, dieweibliche Abstammungslinie zuverfolgen. Gleiche Schreibfehlerim Erbgut verweisen dabei auf ei-ne gemeinsame Ahnfrau. Das Er-be unserer Vorväter lässt sich ausdem Y-Chromosom erschließen.Da nur Männer dieses Erbgutpa-ket besitzen, erbt jeder Sohn esvon seinem Vater. Tragen zweiMänner die gleichen Besonder-heiten auf diesem Chromosom,müssen sie einen gemeinsamenStammvater besitzen.

Die doppelte Membran der Mitochondriendeutet noch darauf hin, dass die Vorfahrendieser „Kraftwerke der Zelle“ eigenständi-ge Organismen waren. (Illustration: iserundschmidt/GBF, Braunscheig)

D-Initiale aus dem Wolfcoz-Evangelistar.Vor Erfindung des Drucks mussten alle Bü-cher von Hand vervielfältigt werden. Dabeiunterliefen den Schreibern auch Fehler, die beim nächsten Mal mitkopiert wurden.Auf diese Weise können Historiker heutenachvollziehen, wer von wem abschrieb.(Foto: Stiftsbibliothek St. Gallen, Schweiz)

In 46 Päckchen – Chromosomen genannt –wird das Erbgut des Menschen, die DNA,vor der Zellteilung verschnürt. 22 Chromo-somen sind jeweils paarweise vorhanden,dazu kommen zwei Geschlechtschromoso-men, zwei mal X im weiblichen, X und Y(wie hier) im männlichen Organismus. (Foto: Inst. f. Humangenetik, LMU München)

Am Anfang wardie RNA-Welt

Zwei Dinge braucht das Leben:einerseits Eiweiße – sie sindpraktisch an allen Vorgängenbeteiligt. Andererseits Nuklein-säuren – sie bilden den Bauplanaller Eiweißmoleküle. Da die Ei-weiße aber auch als Katalysato-ren notwendig sind, um ebendiesen Bauplan zu lesen (sieheS. 17), hat die Molekularbiologieein Henne-und-Ei-Problem: Wel-che der beiden so eng auf einan-der angewiesenen Stoffklassenstand am Beginn des Lebens? Ei-ne Lösung vermuten viele Wis-senschaftler in universell begab-ten Ribonukleinsäure-Molekülen(RNA). Diese Nukleinsäure kanneinerseits Erbinformation spei-chern, also als Bauplan dienen.Andererseits kann sie als Bio-Katalysator wirken – also dieBauanweisung lesen. Mit diesenFähigkeiten könnte die RNA dieHauptrolle am Anfang des Le-bens gespielt haben.

verbinden. Nur die Besten bleibenim Spiel. Wieder treibt der Fehler-teufel beim Kopieren sein schöp-ferisches Unwesen, wieder wer-den die besten Anwärter ausgele-sen. Am Ende steht ein Molekülmit den erwünschten Eigenschaf-ten auf dem Siegerpodest. Nichtder perfekte Plan also, sondernUnvollkommenheit als Konstruk-tionsprinzip führt hier zum Ziel.

Die molekulare Ahnenforschungdeutet darauf hin, dass unsere di-rekten Vorfahren von Afrika ausdie Welt besiedelten. Etwa 80.000Jahre ist es demnach her, dass einunternehmungslustiges Grüppchenden afrikanischen Kontinent ver-ließ. Bis heute ist dort die geneti-sche Vielfalt viel größer als beimRest der Menschheit – offenbarblieb die Mehrheit zu Hause undnur wenige Abenteurer zogen indie weite Welt. Hier stießen sieauf andere frühe Menschen, derenVorfahren vermutlich in mehrerenWellen seit ca. 2 Millionen Jahrenaus Afrika ausgewandert waren.Doch Neuankömmlinge und Alt-eingesessene pflegten keine allzuinnigen Beziehungen – jedenfallshinterließen etwaige Romanzenzwischen Neandertalern und afri-kanischen Siedlern keine merk-lichen Spuren in unseren Mito-chondrien-Genen.

Die selbstgemachte Evolution Wo die einen unseren Vorfahrenauf der Spur sind, nutzen andereForscher die Prinzipien von Zufall

Fossile Schädel von Homo erectus (ganz links) und von drei verschiedenen Autralopitecinen.Während Homo erectus Afrika vor ca. 2 Millionen Jahren in Richtung Asien verließ, bliebendie aufrechtgehenden Australopitecinen in Afrika. Diese Hominiden lebten dort vor 1,6 bis 4 Millionen Jahren. (Foto: sciencefoto)

und Auslese, um Neues zu schaffen.Sie suchen beispielsweise nachneuen Katalysatoren, die in derchemischen Industrie benötigtwerden. Ribonukleinsäure (RNA)ist dabei die Substanz der Wahlfür die „Evolution im Reagenzglas“.Denn diese Moleküle können nichtnur Informationen speichern, son-dern auch als Katalysatoren che-mische Reaktionen beschleunigen.Viele Wissenschaftler glauben da-her übrigens, dass das Leben zu-erst in einer RNA-Welt entstand.Die Chemiker beginnen bei derEvolution im Reagenzglas mit Mo-lekülketten, die aus beliebig auf-gereihten RNA-Bausteinen zusam-mengesetzt sind. Diese Kettenwerden mit Hilfe eines speziellenEnzyms wieder und wieder ver-vielfältigt – doch so, dass dabeigelegentlich Kopierfehler auftre-ten. Einige Moleküle haben daherneue Eigenschaften. Nach jedemVermehrungszyklus wird getestet,ob Kandidaten dabei sind, die dergewünschten Fähigkeit näher kom-men, zwei ganz bestimmte orga-nische Substanzen miteinander zu

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27Woher wir kommen26

Schritte und Sprünge Nicht immer sind es allmählicheVeränderungen in kleinen Schrit-ten, die das Neue in die Welt brin-gen. Viele Evolutionsbiologen be-tonen heute die Rolle sprunghafterUmgestaltung: So kann zufällig einganzes Gen verdoppelt oder an ei-nen anderen Platz im Erbgut ver-schoben werden. Dadurch wird ge-legentlich der ganze Bauplan um-gekrempelt. Ein revolutionärer„Evolutionssprung“ war auch dieIntegration von Bakterien in ande-re Zellen. Was zunächst durch rei-nen Zufall geschah, stellte sich oftfür beide Parteien als sehr vorteil-haft heraus. Allmählich verlorendann die aufgenommenen Zellenihre Selbständigkeit – der Unter-mieter wandelte sich zum Mobi-liar. So entstanden zum Beispiel die Mitochondrien, die heutigen„Kraftwerke“ der Zellen, vermut-lich aus eigenständigen Bakte-rien, die von anderen Zellen ge-schluckt, aber nicht verdaut wur-den. Zum beiderseitigen Vorteil:die Bakterien lieferten Energie,die Wirtszelle die für die Energie-

produktion notwendigen Substra-te. Noch heute sind die Mito-chondrien durch eine doppelteMembran vom übrigen Zellplas-ma abgegrenzt, fast wie einekleine „Zelle in der Zelle“. Undganz aufgegeben haben die Mito-chondrien ihre Eigenständigkeitauch nicht – sie enthalten Resteeigenen Erbguts, das nur dortund nicht im Zellkern vorkommt.Diese Mitochondrien-DNA kannzudem mit einer weiteren Extra-vaganz aufwarten: sie wird nurvon den Müttern weitervererbt,nicht von den Vätern.

Aufschlussreiche SchreibfehlerDas machen sich Molekularbiolo-gen zunutze, die versuchen, denStammbaum des Menschen zu re-konstruieren. Jeder heute leben-de Mensch trägt eine Chronik derStammesgeschichte der Mensch-heit in sich, denn ab und zukommt es in der Evolution zu klei-nen, harmlosen Kopierfehlern imErbgut. Da die Abweichungen aufdie Nachkommen vererbt wer-den, lassen sie Abstammungs-

linien erkennen. Bei der Erfor-schung mittelalterlicher Hand-schriften folgern Historiker ausden mitkopierten Fehlern, wel-cher Mönch von welchem Vorgän-ger abschrieb – ganz ähnlich re-konstruieren Molekularbiologenunseren Stammbaum aus den zu-fälligen Kopierfehlern im Erbgut.

Auf der Suche nach Adam und Evainteressieren sie sich vor allem fürzwei Bereiche: einmal eben fürdie Mitochondrien-DNA, die nurvon den Müttern weitergegebenwird und es so möglich macht, dieweibliche Abstammungslinie zuverfolgen. Gleiche Schreibfehlerim Erbgut verweisen dabei auf ei-ne gemeinsame Ahnfrau. Das Er-be unserer Vorväter lässt sich ausdem Y-Chromosom erschließen.Da nur Männer dieses Erbgutpa-ket besitzen, erbt jeder Sohn esvon seinem Vater. Tragen zweiMänner die gleichen Besonder-heiten auf diesem Chromosom,müssen sie einen gemeinsamenStammvater besitzen.

Die doppelte Membran der Mitochondriendeutet noch darauf hin, dass die Vorfahrendieser „Kraftwerke der Zelle“ eigenständi-ge Organismen waren. (Illustration: iserundschmidt/GBF, Braunscheig)

D-Initiale aus dem Wolfcoz-Evangelistar.Vor Erfindung des Drucks mussten alle Bü-cher von Hand vervielfältigt werden. Dabeiunterliefen den Schreibern auch Fehler, die beim nächsten Mal mitkopiert wurden.Auf diese Weise können Historiker heutenachvollziehen, wer von wem abschrieb.(Foto: Stiftsbibliothek St. Gallen, Schweiz)

In 46 Päckchen – Chromosomen genannt –wird das Erbgut des Menschen, die DNA,vor der Zellteilung verschnürt. 22 Chromo-somen sind jeweils paarweise vorhanden,dazu kommen zwei Geschlechtschromoso-men, zwei mal X im weiblichen, X und Y(wie hier) im männlichen Organismus. (Foto: Inst. f. Humangenetik, LMU München)

Am Anfang wardie RNA-Welt

Zwei Dinge braucht das Leben:einerseits Eiweiße – sie sindpraktisch an allen Vorgängenbeteiligt. Andererseits Nuklein-säuren – sie bilden den Bauplanaller Eiweißmoleküle. Da die Ei-weiße aber auch als Katalysato-ren notwendig sind, um ebendiesen Bauplan zu lesen (sieheS. 17), hat die Molekularbiologieein Henne-und-Ei-Problem: Wel-che der beiden so eng auf einan-der angewiesenen Stoffklassenstand am Beginn des Lebens? Ei-ne Lösung vermuten viele Wis-senschaftler in universell begab-ten Ribonukleinsäure-Molekülen(RNA). Diese Nukleinsäure kanneinerseits Erbinformation spei-chern, also als Bauplan dienen.Andererseits kann sie als Bio-Katalysator wirken – also dieBauanweisung lesen. Mit diesenFähigkeiten könnte die RNA dieHauptrolle am Anfang des Le-bens gespielt haben.

verbinden. Nur die Besten bleibenim Spiel. Wieder treibt der Fehler-teufel beim Kopieren sein schöp-ferisches Unwesen, wieder wer-den die besten Anwärter ausgele-sen. Am Ende steht ein Molekülmit den erwünschten Eigenschaf-ten auf dem Siegerpodest. Nichtder perfekte Plan also, sondernUnvollkommenheit als Konstruk-tionsprinzip führt hier zum Ziel.

Die molekulare Ahnenforschungdeutet darauf hin, dass unsere di-rekten Vorfahren von Afrika ausdie Welt besiedelten. Etwa 80.000Jahre ist es demnach her, dass einunternehmungslustiges Grüppchenden afrikanischen Kontinent ver-ließ. Bis heute ist dort die geneti-sche Vielfalt viel größer als beimRest der Menschheit – offenbarblieb die Mehrheit zu Hause undnur wenige Abenteurer zogen indie weite Welt. Hier stießen sieauf andere frühe Menschen, derenVorfahren vermutlich in mehrerenWellen seit ca. 2 Millionen Jahrenaus Afrika ausgewandert waren.Doch Neuankömmlinge und Alt-eingesessene pflegten keine allzuinnigen Beziehungen – jedenfallshinterließen etwaige Romanzenzwischen Neandertalern und afri-kanischen Siedlern keine merk-lichen Spuren in unseren Mito-chondrien-Genen.

Die selbstgemachte Evolution Wo die einen unseren Vorfahrenauf der Spur sind, nutzen andereForscher die Prinzipien von Zufall

Fossile Schädel von Homo erectus (ganz links) und von drei verschiedenen Autralopitecinen.Während Homo erectus Afrika vor ca. 2 Millionen Jahren in Richtung Asien verließ, bliebendie aufrechtgehenden Australopitecinen in Afrika. Diese Hominiden lebten dort vor 1,6 bis 4 Millionen Jahren. (Foto: sciencefoto)

und Auslese, um Neues zu schaffen.Sie suchen beispielsweise nachneuen Katalysatoren, die in derchemischen Industrie benötigtwerden. Ribonukleinsäure (RNA)ist dabei die Substanz der Wahlfür die „Evolution im Reagenzglas“.Denn diese Moleküle können nichtnur Informationen speichern, son-dern auch als Katalysatoren che-mische Reaktionen beschleunigen.Viele Wissenschaftler glauben da-her übrigens, dass das Leben zu-erst in einer RNA-Welt entstand.Die Chemiker beginnen bei derEvolution im Reagenzglas mit Mo-lekülketten, die aus beliebig auf-gereihten RNA-Bausteinen zusam-mengesetzt sind. Diese Kettenwerden mit Hilfe eines speziellenEnzyms wieder und wieder ver-vielfältigt – doch so, dass dabeigelegentlich Kopierfehler auftre-ten. Einige Moleküle haben daherneue Eigenschaften. Nach jedemVermehrungszyklus wird getestet,ob Kandidaten dabei sind, die dergewünschten Fähigkeit näher kom-men, zwei ganz bestimmte orga-nische Substanzen miteinander zu

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