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Zeitung für Diskurs & Ethik am Lebensende lebenszeit Ausgabe #3 Winter 2011/2012 Mit Nachrichten aus dem Ricam Hospiz Familienporträts Interview mit dem Filmemacher Andreas Dresen Dresens neuer Film über den Tod eines Familienvaters Seite 6 Maureen Grimm und Anja Sommer Still geboren Tabu Kindstod Seite 3 mit dem Tod Illustration © Elke R. Steiner

lebenszeit - Zeitung für Diskurs & Ethik am Lebensende - Ausgabe #3 - Familienporträts mit dem Tod

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In der Winter-Ausgabe 2011 betrachten wir Familienbilder und wie der Tod Familien belastet... Die "lebenszeit" ist eine Zeitung, die in Berlin erscheint und den Blick auf Themen wirft, die im Alltag oft ausgeblendet werden: Sterben, Tod und Trauer... Herausgegeben wird sie vom Ricam Hospiz, dem ersten stationären Hospiz Berlins, gegründet 1998 von Bürgern für Bürger.

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Zeitung für Diskurs & Ethik am Lebensende lebenszeit

Ausgabe #3 Winter 2011/2012

MitNachrichtenaus dem

Ricam Hospiz

Familienporträts

Interview mit dem Filmemacher Andreas DresenDresens neuer Film über den Tod eines Familienvaters — Seite 6

Maureen Grimm und Anja SommerStill geboren Tabu Kindstod — Seite 3

mit dem Tod

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02 lebenszeit Ausgabe #3 Winter 2011/2012aktuell

s»Der Fluss des Lebens«, die Lichtinstallation im stationären Ricam Hospiz. Ein Kunstwerk von Egidius Knops

Foto: Ricam Hospiz © Konzept und Bild - Cathrin Bach

Eine Stiftung fürs Ricam HospizEin Erbe ermöglicht die Gründung der Ricam Hospiz Stiftung. Über eine Idee, das Engagement vieler und den Wunsch, der Nachwelt etwas Bleibendes zu hinterlassen

Die IdeeAls Dorothea Becker 1998 das erste stationäre Hospiz mit der Hilfe vieler engagierter Menschen in Berlin gründete, wurde in Berlin ein Ort geschaf-fen, an dem schwerstkranke Patienten ihre letzte Lebenszeit sicher und geborgen verbringen können. Während in Berlin die ersten Patienten im Ricam Hospiz aufgenommen wurden, befand ich mich in England, unweit von Cambridge in einem Herzzentrum. Eines Abends wurde ich als Kran-kenpflegeschüler gebeten, mich zu einem 90 Jahre alten Mann ans Bett zu setzen. Tage zuvor hatte er noch eine Herzkatheteruntersuchung erhalten. Nun lag er kurzatmig und nicht mehr in der Lage zu sprechen in einem Einzelzimmer. Ein Monitor visualisierte seine Herztöne. Mal schlief er kurz ein, wachte wieder auf, stöhnte, bäumte sich auf, griff nach meiner Hand und packte so fest zu, wie er eben konnte - über Stunden veränderte sich daran nichts. Dann kam der Anruf seiner Familie. Ein Pfleger trat an sein Bett und sprach mit ihm, als sei er hellwach. Er richtete ihm aus, was die Familie telefonisch übermittelt hatte. Sie ließen ausrichten, dass sie bei ihm wären, für seine kranke Frau gesorgt sei und sie ihm Lebewohl sagen möchten. Kurz darauf nahm seine Muskelspannung merklich ab, das Herz begann langsamer zu schlagen, wenige Minuten später war auf dem Mo-nitor nur noch eine grüne horizontale Linie zu sehen. Sein Herz hatte Ruhe gefunden. Es mag ein Zufall gewesen sein. Aber bis heute glaube ich eher, dass er auf dieses Lebewohl gewartet hatte.Aus dieser Situation leitete ich für mich persönlich drei Bedingungen gu-ter Sterbebegleitung ab. An ihnen orientierte ich mich später in der Be-gegnung mit den vielen weiteren Menschen, denen ich in den letzten Mo-menten ihres Lebens nahe war. Drei Dinge sollten Sterbenden verfügbar sein: die Anwesenheit eines anderen Menschen, der wacht und schützt, eine angemessene medizinisch-pflegerische Versorgung und die Möglich-keit, sich von Angehörigen und von der Welt zu verabschieden.So einfach diese Bedingungen klingen, so anspruchsvoll ist ihre Umset-zung. Noch immer sind für viele schwerstkranke Menschen, ihre Familien und Freunde, diese Bedingungen noch nicht einmal im Ansatz erfüllt.

Das Engagement vielerAls ich aus England zurück nach Berlin kam, bemühte ich mich als Kran-kenpflegeschüler gleich darum, im Ricam Hospiz weitere Erfahrungen zu sammeln. Und hier sah ich die drei für mich formulierten Bedingungen guter Sterbebegleitung erfüllt.Man verzichtete auf nicht mehr notwendige medizinische Diagnostik. Der alte englische Herr, dessen Tod nicht mehr aufzuhalten war, wäre im Ricam Hospiz nicht an einen EKG-Monitor angeschlossen worden. Auf Heilung ausgerichtete Maßnahmen wurden unter ärztlicher und pflegerischer Begleitung eingestellt, weil eine Heilung unter dem gegenwärtigen me-dizinischen Kenntnisstand nicht zu erwarten war. Verzichtet wurde auch auf starre Weck- und Essenszeiten, wie die meisten Patienten sie aus den Krankenhäusern gewohnt waren. Und niemand, dessen Tod absehbar war, brauchte im Hospiz den Weg vom Leben zum Tod in quälender Einsamkeit gehen. Die Zeit, die bleibt, zu leben - darum ging es hier.Seit der Gründung des Ricam Hospizes sind diese Bedingungen konstant geblieben. Es ist immer jemand da, der sich ans Bett von Sterbenden set-zen kann. Ein Team aus speziell ausgebildeten und hochqualifizierten Pflegekräften, ehrenamtlichen Mitarbeitern, einer Sozialarbeiterin, einem Koch, Hauswirtschaftskräften, Musik- und Physiotherapeutinnen sowie externen Palliativmedizinern tun das Bestmögliche für Leib und Seele der 15 Patienten des stationären Ricam Hospizes. Und das Abschiednehmen wird ganz bewusst und voller Anteilnahme kultiviert.Dass diese drei Voraussetzungen guter Sterbebegleitung nicht an ei-nen Ort gebunden sind, zeigt der Erfolg des palliativen Hilfsdienstes d.E.L.P.H.i.N. im ambulanten Ricam Hospiz. Hunderte von Patienten und Angehörige suchen und erhalten dort Beratung für die Bewältigung der letzten Lebenszeit zu Hause. Die Angebote des Ricam Hospizes sind nicht selbstverständlich. Vieles ist dafür erforderlich. Vor allen anderen Dingen steht die universelle Haltung achtsamer und wertschätzender Begegnung. Das Besondere an dieser Haltung ist ihre Ansteckungskraft. Viele haben sich anstecken lassen und bringen Zeit und Geld ein, um das Ricam Hospiz zu unterstützen. Jährlich benötigt das Ricam Hospiz knapp 140.000 Euro aus Spendengeldern, um die hohe Qualität der Pflege, Beratung und Begleitung zu gewährleisten. Nur durch Förderer, die die Arbeit des Ricam Hospizes mit Spenden und Zuwendungen unterstützen, konnten seit 1998 fast 3000 Menschen mit ihren Angehörigen stationär und ambulant ihre letzte Lebenszeit unter den optimalen Bedingungen des Ricam Hospizes verbringen. Dass diese Summe Jahr für Jahr zusammengetragen wird, ist ein Beleg dafür, dass das Ricam Hospiz eine Erfolgsgeschichte bürgerschaftlichen Engagements ist.

Der Wunsch, der Nachwelt etwas Bleibendes zu hinterlassenEin Meilenstein dieses Engagements ist eine Erbschaft, die dem Ricam Hospiz in diesem Sommer ganz überraschend zufloss. Die Förderin des Ri-cam Hospizes, Ingeborg Kerling, hatte ihren Lebensgefährten bis zuletzt im Ricam Hospiz begleitet. Gern hätte sie selbst, die auch schwer krank war, ihre letzte Lebenszeit im Ricam Hospiz verbracht. Es kam anders. Sie starb 2009 mit über 70 Jahren in einem Krankenhaus. Mit einem großen Teil ihres Erbes bedachte sie das Ricam Hospiz. Eine Förderung, die für das Ricam Hospiz in dieser Form bislang einmalig war. Der großen Verant-wortung, die eine solche Förderung mit sich bringt, waren sich im Ricam Hospiz alle Beteiligten bewusst. Nach langer Überlegung entschied die Leiterin des Ricam Hospizes, Dorothea Becker, mit Hilfe dieses Vermächt-nisses eine Stiftung zugunsten des Ricam Hospizes zu gründen. Mit die-sem Schritt kann nun das Ricam Hospiz als erfolgreicher Sozialbetrieb von den Interessen wechselnder Gesellschafter unabhängig gemacht werden. Denn die im September gegründete Ricam Hospiz Stiftung wird künftig als alleiniger Gesellschafter die Trägerschaft für das Ricam Hospiz über-nehmen.

Des weiteren soll die Stiftung langfristig die Arbeit des Ricam Hospizes sicherstellen. Aus dem Vermächtnis konnte die Ricam gGmH 50.000 Euro in das Stiftungskapital geben. Weitere 10.000 Euro trug die Gesellschaft der Freunde des Ricam Hospizes und zusätzliche 20.000 Euro der Lions Club Berlin-Kurfürstendamm zusammen, um die Stiftung mit einem Grundstock von insgesamt 80.000 Euro auszustatten. Durch Spenden an die Stiftung soll zum einen der laufende Betrieb des Hospizes unterstützt werden. Zum anderen sind Zustiftungen willkommen, die das Stiftungs-kapital und entsprechend die Kapitalerträge erhöhen, die wiederum dem Ricam Hospiz zugute kommen. Die Ricam Hospiz Stiftung gilt als beson-ders förderungswürdig, da sie als gemeinnützig und mildtätig anerkannt ist. Somit genießen Zuwendungen und Erbschaften an die Ricam Hospiz Stiftung besondere steuerliche Vorteile.Als bekannt wurde, dass die Gründung der Ricam Hospiz Stiftung bevor-stand, haben Menschen ihre Bereitschaft zur ehrenamtlichen Mitarbeit erklärt, von denen die meisten das Ricam Hospiz schon längere Zeit un-terstützen. So werden dem Stiftungsrat, dem Aufsichtsrat der Stiftung, folgende Personen vorstehen:Herr Dr. Ellis Huber, der als ehemaliger Präsident der Berliner Ärztekammer das Ricam Hospiz bereits in der Gründungsphase unterstützte, wie auch Herr Werner Landwehr, tätig als Prokurist und Filialleiter der GLS Bank so-wie Herr Benno Bolze, Geschäftsführer des Deutschen Hospiz- und Pallia-tivVerbandes.Im Stiftungsbeirat werden der Neuköllner Bürgermeister Heinz Busch-kowsky, Frau Prof. Dr. Marion Schüßler, Herr Axel Schnauck, Frau Maria Feu-erstein-Peter, Herr Gert Behrens und Herr Dirk Josef Thiesen als Berater der Stiftung zur Verfügung stehen und als Botschafter das Wirken und die Ziele der Ricam Hospiz Stiftung bekannt machen.Ingeborg Kerling hat mit ihrem Vermächtnis über ihren Tod hinaus eine nachhaltige Wirkung erzielt. Die Ricam Hospiz Stiftung wird das Ricam Hospiz darin unterstützen, auch in Zukunft optimale Bedingungen für schwerstkranke Menschen und ihre Angehörigen zu schaffen.Denn in den einfach klingenden drei Bedingungen guter Sterbebeglei-tung stecken tausende kleiner und größerer Aufgaben, die manchmal nur über Tage, oft aber über Wochen und Monate zu bewältigen sind. Letztlich dienen sie aber alle der Erfüllung des Zieles, Sterbende nicht allein zu las-sen, ihr Leiden zu lindern und sich voneinander zu verabschieden.

Maik TurniRicam Hospiz StiftungVorstandssprecher

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Ausgabe #3 Winter 2011/2012 03lebenszeitquergelesen

Der Zustand ihres Kindes ist auch nach drei Wochen nicht sta-bil. Nun ist noch eine Infektion hinzugekommen, er hat Fie-ber und muss nun zusätzlich beatmet werden. Der tägliche Weg in die Klinik wird zum Martyrium. Der Blick ins Schwes-ternzimmer zur Herausforderung. Am Abend will Anna nicht heimfahren, der Gedanke an den nächsten Morgen und die Zeit dazwischen ist unvorstellbar. Sie und Thomas fühlen sich so hilflos, so allein. Was können sie schon tun? Der Stations-arzt wirkt ruhig und konzentriert, die Schwestern verständ-nisvoll, aber die Angst bleibt. Am nächsten Morgen bittet sie der Arzt gleich nach ihrer Ankunft in der Klinik zum Gespräch. Zunächst wehrt sie ab und sagt, sie würde gern auf Thomas warten. Aber der Blick des Arztes spricht, was sie nicht hö-ren will. Mit einem aufsteigenden Übelkeitsgefühl im Bauch folgt sie ihm in sein Zimmer.Nach dem Gespräch bleibt Anna bei ihrem Sohn, trägt ihn in den Armen. Es stören keine Schläuche mehr, keine Drähte. Nach den letzten Tagen der Hektik, der Angst und Verzweif-lung genießt sie die Stille. Es existieren nur noch ein Mann, eine Frau und ihr Kind – wie unter einer Glocke. Alles ging so schnell und erschien doch so quälend lang. Das Gespräch beim Arzt, das Telefonat mit Thomas, die Stunden am Inkuba-tor. Die Entscheidung, alle Geräte abzustellen.Das Zimmer, in dem sie jetzt sind, ist schlicht eingerichtet und angenehm warm. Thomas sitzt auf einem Stuhl und zeichnet, zeichnet sie mit dem Kind im Arm.Eigentlich kann er das nicht, sagt er, hat noch nie gezeichnet. Und nun fließt es aus dem Bleistift, als wäre es eine gewohn-te Tätigkeit. Er ist ganz still und konzentriert. Sie summt vor

sich hin, so wie vor dem Inkubator, wie auf dem Liegestuhl. Die Schwester der El-ternberatung kommt zum zweiten Mal zu ihr. Sie sitzen nur ne-beneinander, schwei-gen. Die Schwester fragt sie, ob sie ihren Sohn baden möchte, ob sie etwas hat, was er unbedingt tragen soll. Sie lehnt ab, nicht empört aber ungläu-big und klopft doch eine Stunde später an die Tür der Eltern-beratung. Ob es denn immer noch ginge,

baden und anziehen, das Kind ganz normal aussehen lassen, mit den Kleidern noch ein Stück mehr zu ihrem Kind ma-chen? Sie weiß nicht, ob sie das ihren Eltern erzählt oder ob ihre Freundin mit Abscheu den Kopf schütteln würde. Aber sie möchte sich wenigstens für diese kurze Zeit fühlen wie andere Mütter auch. Dinge tun, wie sie jede Mutter tut. [...]Die Elternberaterin ermutigt sie, selbst Fotos zu machen. Anna fotografiert gern, auch früher schon. Sie wählt zu Hause einen rot-weiß gestreiften Sommerschal, ein paar kleine rote Schuhe und ein T-Shirt aus. Jetzt läuft sie um den Tisch, auf dem ihr Sohn in eine weiche Decke gehüllt liegt, und sucht nach schönen Perspektiven. Die Finger, die Mundpartie, der

Wenn Paare ein Kind während der Schwangerschaft oder nach der Geburt verlieren, versinkt die Umgebung oft in Sprachlosigkeit. Beinahe wäre eine

Familie entstanden, nun bleibt die Wiege leer. Vor 30 Jahren galt es noch als heilsam, wenn die Frauen ihre toten Kinder gar nicht erst zu Gesicht bekom-

men und schnell vergessen. Seit einigen Jahren wird nun wieder an die Tradition der post-mortem-Fotografie angeknüpft. Das Foto des toten Kindes

wird zum Kleinod intimer Trauerkultur. Maureen Grimm und Anja Sommer sprachen mit betroffenen Frauen und beteiligten Berufsgruppen. Ihr Buch

»Still geboren« ist ein Plädoyer für eine Trauerkultur, die nicht verdrängt, sondern den Schmerz ins Leben integriert

»EltErn, diE siE so gErnE sEin wolltEn«von Maureen Grimm und Anja Sommer

Maureen Grimm und Anja SommerStill geborenHardcover, 160 SeitenPanama Verlag19,90 €

zarte Flaum auf dem Kopf – sie saugt alles auf, was es zu entdecken gibt. Das mit dem Fußabdruck fällt ihr selbst ein. Sie sah so etwas einmal bei einer Freundin und fand es faszinierend, wie klein der Fuß so eines Neugeborenen sein kann. Fast fühlt sie sich kre-ativ, vergisst die Angst, dass bald alles vorbei ist. Auch wenn sie es sich jetzt noch nicht vorstellen kann, wird es unweigerlich passieren: Die Erinnerung an ihr Kind wird verblas-sen. Diese Vorstellung macht ihr Angst. Die Kamera gibt ihr eine Art Handlungsfahr-plan vor – und Anna folgt dem nötigen fotografisch-technischen Ablauf, stellt scharf und löst aus. Die Kamera schützt sie zunächst und macht sie dann freier. Die nächsten Fotos zeigen nicht nur den Kopf ihres Sohnes auf einem weiß-rot gestreiften Schal, sondern sie selbst, auch Thomas, den Sohn auf dem Arm. So sind sie wenigstens auf diesem Foto die Eltern, die sie so gerne sein wollten. Anfangs vorsichtig und behutsam, ja ängstlich drücken erst sie und dann auch Thomas auf den Auslöser. Am Ende waren sie eine Stunde damit beschäftigt, Bilder einzufangen, die bald, morgen oder übermor-gen schon, nur noch die Vergangenheit zeigen. Alles mitnehmen, was man sieht, nichts übersehen und vergessen. Nur dieses eine Mal besteht noch die Möglichkeit. In den Tagen danach, den Wochen, bieten ihr die Fotos keine Möglichkeit zum gegenseitigen Austausch. Nur sie ist es, die mit ihrem Kind auf dem Foto spricht, es streichelt und denkt, was alles hätte sein können. Es ist ein Beweis, den sie noch oft wütend, traurig und stur in die Gesichter von Fragenden oder jenen hält, die ihr raten, wis-sen und verstehen wollen. Ein Beweis ihrer Trauer, dessen, was sie bekam, um es wieder zu verlieren.

Katharina:»Ihr Name steht auf dem Grabstein, den ich selbst ge-baut habe. Es gibt glücklicher-weisekeine Beschränkung für die Gestaltung des Friedhofes. Ihr ein schönes Grab zu ge-stalten, auch wenn die Leute immer wieder alles klauen, ist ja so ziemlich das Einzige, was ich je für sie tun kann. In den Sarg konnte ich ja nichts mehr mit hinein legen. Der war zu. [...] Ich ärgere mich permanent über Leute, die sich an ihrem Grab vergreifen. Es ist ja schon furchtbar, dass überhaupt auf dem Friedhof geklaut wird, aber auch noch auf einem Kindergrab – das ist nicht zu verstehen. Eine schöne Laterne ist weg, eine Engel-figur. Man stellt immer wieder neue Leuchter hin. Es soll ja auch schön aussehen.«

Die Illustrationen von Anja Sommer sind auf der Neonatologie (Frühgebo-renen-Station) der Charité im Virchow-Klinikum entstanden.

Illustration: © Anja Sommer

Eine Kinderkrankenschwester der Elternberatung:»Sterbebegleitung und Trauerbe-gleitung sind geprägt von der Un-sicherheit der Eltern, die so traurig sind und Entscheidungen treffen müssen, die sie nicht treffen woll-ten. Aber es beinhaltet auch eine große Chance für die Eltern. Viele Eltern haben Wünsche, aber Angst, dass man sie für sensationsgeil, voyeuristisch, pervers halten könn-te. Zum Beispiel: Darf ich denn mein Kind noch einmal anfas-sen oder ein Foto machen? Aber macht man das denn? Darf man das? Da gibt es die Familie und das soziale Umfeld. Diese Vorstellun-gen kämpfen ganz doll mit dem, was die Eltern vielleicht selber wollen. Die Vorstellung, über Kind

und Tod auch nur zu reden, denn dann passiert es

mir selbst. Als wenn man mit den Wor-

ten eine Katastro-phe auslöst.«

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04 lebenszeit Ausgabe #3 Winter 2011/2012

Gestern habe ich sie zum ersten Mal besucht. Himmel, ist das eine Frau. Bisschen über 40 Kilo. Gehen bis zum Klo schafft sie noch. Ihr Rollstuhl soll in 14 Tagen kommen. Sie denkt, das ist gleich und freut sich so, dass sie fie-bert. Ich denke, dass zwei Wochen eine lange Zeit sind. Nach einer Stunde war ich Doreen für Betty.Sie ist 47 und »austherapiert«. Sie glaubt fest daran, dass sie wieder gesund wird. Das ist gut für sie. Und wird nicht sein. Betty ist prä-sent. Sie hat keine Zähne und lacht gern. Sie liegt in ihrem Seniorenbett, streckt die dürren Beine raus, kennt kein Schamgefühl. Schlüp-fer und Vorlage zeigt sie gern vor. Wenn sie die Verstopfung besiegt hat, ist das allemal Grund zur Mitteilung. Sie überlebt gerade. Mit Kleinigkeiten wie Takt hält sie sich nicht auf. Gut so. »Haha, Doreen, in meiner Familie sind 8 Leute an Krebs gestorben. aber es war nie der gleiche. So langweilig sind wir nicht.«

Wir sind für den kommenden Dienstag ver-abredet. Wir sprachen über Filme, sie liebt Bollywood und natürlich den Chef von den Schönen da. Ich hab heute ein Filmplakat mit Sharouk Khan gekauft und hab das ohne Verabredung zu ihr gebracht. Sie meinte, ich soll kommen, so oft und wann ich will, sie ist ja sowieso da. Sie sprang mich an vor Freu-de, als ich das Plakat entrollte. Klebestreifen hatte ich von zu Hause mitgebracht. »Über mein Bett, Doreen?« »Wenn du willst, ja, aber du musst dir den Hals verrenken oder auf-stehen, wenn du ihn anschmachten willst. Wie wärs gegenüber vom Bett?« »Jajajaja-jaja. Dann lächelt er mich gleich morgens an, wenn ich wach werde. Ich bin gespannt, was mein Freund sagt. Der wird bestimmt meckern, weil er denkt, ich hab sinnlos Geld rausgeschmissen. Ich soll doch alles für meine Medizin sparen.« »Siehste, Betty, da kannste ihn schön hochnehmen, und wenn er sich so richtig aufgeregt hat, kommste mit der Wahrheit um die Ecke.« Und so will sie es machen. Ein neues Vorhaben. Bettys Freund Dieter kommt ca. einmal pro Woche zu Besuch. Eigentlich ist er ihr Lebens-gefährte, aber er kommt mit ihrer Krankheit nicht zurecht, er kann nicht mit ansehen, wie Betty verfällt. Doch wöchentlich stellt er fest, dass Kutte das schon macht. Kutte ist Bettys Exfreund. Wenn ich bei ihr bin oder mit ihr telefoniere, ist Kutte auch da. Er kauft ein, er putzt die Wohnung, er wäscht ihre Sachen, er sitzt im Sessel und redet mit ihr und ist da. Bei meinem letzten Besuch musste Kutte zwischendurch weg. Sein Vater hatte seine Anrufe nicht beantwortet und er war be-sorgt, dass ihm etwas zugestoßen sei. »Fahr mal los und bring mir auf dem Rückweg ei-nen Milchshake mit! Ist mir scheissegal, dass ich dann wieder nicht scheissen kann«, sagt Betty. Ich biete ihr an, den Shake zu holen, ich wäre in 10 Minuten zurück. »Nee nee, Doreen, wenn du schon mal da bist, dann bleib auch. Geh bitte nicht.«Als wir alleine sind, ändert sich etwas in Bet-ty. Sie erzählt von ihren Ängsten. Die kann

sie niemandem mitteilen, sie muss stark sein. Alle machen sich doch sowieso schon Sorgen um sie und sie will, dass alles gut ist. Ich sitze im Sessel an ih-rem Fußende, an der Seite des Betts steht ihr Versor-gungs-Rolltischchen. Sie zählt auf: • Der Homecarearzt ver-schreibt ein wichtiges Medikament nicht - soll der Hausarzt machen. Da kommt sie aber nicht hin. sie kann nur bis zum Klo laufen.• Sie braucht Bettunterla-gen, der Homecarearzt hat dafür kein Budget.• Sie hat keine Pflegestufe, das Amt nimmt sich Zeit.• Dieter hat schon seit gerau-mer Zeit auf Sex verzichtet, weil sie danach blutete. Jetzt lässt er sich kaum noch blicken und ist wieder bei seiner Exfrau eingezogen.• Kutte hat einen pflegebedürftigen, anschei-nend dementen Vater, der jede Hilfe ablehnt, aber nicht mehr ohne Hilfe leben kann, eine krebskranke Tante und auch noch sie, Betty, am Hals.• Sie will ins stationäre Hospiz, darf das aber niemandem erzählen, weil dann alle denken, dass sie zum Sterben dahin geht.• Sie ist froh, dass sie mich als Freundin hat, zu mir kann sie offen sein. Es fliesst aus ihr heraus, die Tränen strömen. Ich höre zu, ich beruhige, ich bin ganz bei ihr. Ich schaffe es nicht, ihr Medikamentenwägelchen beiseite zu schieben, mich neben sie zu setzen und sie in den Arm zu nehmen. Ich schaffe es ein-fach nicht. Zu flehend der zahnlose Mund, zu dürre der halbnackte Unterkörper. Ich weiss nicht, was genau mich abhält, aber ich kann mich in dem Moment nicht überwinden. Vielleicht habe ich Angst davor, dass sie sich an mich klammert.Später koche ich Tee für Betty und sie beru-higt sich. Ich gehe mit einem guten Gefühl und denke trotzdem, etwas falsch gemacht zu haben. Etwas versäumt zu haben. Weiss nicht. Das hier sind nur Umrisse; zu erzählen gäbe es soviel mehr. Das gröbste muss aber erstmal raus aus dem Kopf. PS: Die organisatorischen Sachen wie Pfle-gestufe, Medikamentenversorgung habe ich selbstverständlich sofort an kompetente Stellen weitergegeben. Mit Erfolg.Zumindest das geht jetzt zügig voran.Auf dem Heimweg entging mir der Anruf von Betty. Zuerst ein kleiner Schreck, als ich ihre Nummer sah, dann: OK. Wenn sie selbst anruft, kann es ja nicht allzu dramatisch sein. ich hatte sowieso vor, sie anzurufen, da ich für morgen absagen muss. die letzten 5 Tage habe ich keuchend und schnaufend und fiebernd im Bett verbracht. Ich huste und schnoddere noch immer und das letzte, was ich ihr antun möchte, ist ein Virus.

Sie freut sich, es geht ihr rela-tiv gut. Sie hat seit Samstag einen Rollstuhl und war schon draussen. Allein kann sie sich nicht fortbewegen, aber Kutte ist ist ja da. Ich freue mich für sie, weil ja doch mal mit der Krankenkasse etwas klappt. »Nein nein , Doreen, die Kasse hat nie einen Antrag vom Amt erhalten, die waren ganz über-rascht.« Würde sie jetzt einen Antrag stellen, könnte sie in ca 9 Monaten mit dem Rollstuhl rechnen. Und da kam Kutte ins Spiel: Er kaufte die »Zweite Hand«, sie haben telefoniert und zusammengelegt, jeder 45 Euro. Sie ist glücklich. »Wie heisst nochmal die Amt-Tante, Betty? Rottenmeyer, oder?« frug ich sie. Und da ki-

cherte sie los. Hahahahaha, so ähn-lich, Doreen. Ein österreichisch klingender Name ist es, deswegen denke ich immer an Frl. Rottenmeyer. Eine doofe, ignorante Ma-trone, die in ihrem Amt ihren Job macht. Anlaufstelle, Hilfsstelle, Beratungsstelle für Aids- und Krebspatienten. Jaja. Wichser. Ei-nen Scheiss kümmern die sich. Wurscht. Vorerst. Betty hatte sich in Frl. Rot-tenmeyer verstiegen. »Dann bin ich ja jetzt Klara,« sagt sie zu mir. »Klar, du bist genauso zart und hast rotbraune Haare«.»Und einen Rollstuhl, in dem du mich auch mal schiebst. Und du bist Heidi, du hast so schöne kurze schwarze Haare.« »Genau, und die Rottenmeyer kann uns mal, die blöde Kuh.« Betty gluckst und kichert und lacht laut. Ich huste. Ich verabschiede mich später mit »Tschüss, Klara«. Sie ist hingeris-sen, ich spüre es durchs Telefon. »Tschüss, meine Süsse,« sagt sie.Vom Hermannplatz ist es nicht weit zu Bet-ty, Ich rufe sie an, vielleicht hat sie einen Wunsch. Ja, einen Vanillemilchshake. Aber gern, wird serviert!Schwach und zugedröhnt ist sie. Vor einigen Tagen wurde die Dosis erhöht, die Schmerzen waren nicht mehr zu ertragen. Ab und zu fal-len ihr die Augen zu, aber sie will nicht, dass ich gehe. Sie erzählt, dass sie fast den ganzen Tag verschläft, aber nachts mit Kutte gern Dame spielt. Kutte ist ein Schatz. Er kann ihren Freund, der sich nur sporadisch sehen lässt, nicht ausstehen. Kutte ist schlicht in seinem Wesen und sehr liebevoll. Er vergöt-tert Betty.Betty registriert genau, wie es um sie bestellt ist. Sie hat auch keine Scheu, es auszuspre-chen. »Doreen, ich bin am Tag jetzt oft zu müde, auf´s Klo zu gehen. Ich merke, dass ich pinkeln muss, und kann nicht mehr auf-stehen. Ich schlafe ein. Ein Glück, dass ich die Vorlagen habe, sonst würde ich ständig alles vollpissen.«Richtig wach ist sie zweimal, während ich bei ihr bin. Der Kater, der bei Kuttes Vater lebt, ist bei ihr, weil Vater im Krankenhaus ist. Er

verkriecht sich, ich klettere vorsichtig auf den Sessel, unter dem er liegt, und fotogra-fiere ihn. Betty freut sich über das Bild und lacht. Ich verspreche ihr, ein Din A4-Bild dar-aus zu machen für ihre Wand, an der bisher nur Sharouk Khan hängt. Dann fotografiere ich sie und anschließend Kutte. Auch für die Wand. Beide lächeln. Kutte sagte vorher noch Bescheid, dass er nicht lachen kann, er hat ja keine Zähne. Macht nichts, »Kutte, hältste mal kurz den Rand.« Sie finden die Fotos toll und auch die soll ich für die Wand vergrößern. Normalerweise bin ich einmal pro Woche ca. 2 Stunden beim Patienten. Bei Betty ist das etwas anders. Ich kann nur nach der Arbeit kommen und da ist es dunkel. Keine gute Zeit, um im Rollstuhl bei Sprühregen um den Hermannplatz zu kreisen. Darum schlage ich ihr vor, am Samstag nachmittag wieder da zu sein. Sie möchte in den Park nebenan, sie möchte zu Karstadt »Ganz nach oben in die Musikabteilung«. Sie möchte in eine Kneipe, in der sie früher oft Zwiebelkuchen aß, und sich den Wanst vollschlagen. Genau das ist unser Schlachtplan für Samstag. Bei Sonne: Park und Kneipe und evtl. Karstadt. Bei Regen: Karstadt und Kneipe. Kutte haben wir groß-zügig frei gegeben. Nur wenn wir hacke sind, lallte Betty mit verstellter stimme, dann, aber auch nur dann dürfe er uns auslösen. Und dann lachte sie aus vollem Herzen. Die Frau ist ein Sonnenschein.

Vor einigen Tagen wurde Betty die Pflegestu-fe eins bewilligt. Für Medikamente zahlt sie noch immer dazu. Ein Schwerbehinderten-ausweis wird ihr nicht ausgestellt, weil sie kein Foto beibringen kann.

»Soll ich dich mitnehmen?« frug mich mein Lieblingskollege. »Ja gern, aber ich muss erst in die Potsdamer Straße. Da gibt es einen indischen Laden, der Chef-Sharouk-Parfum verkauft. Betty hat sich das zu Weihnachten gewünscht.« Er macht den Umweg für mich. Am Tag davor habe ich Betty besucht. Sie würde so gern die Brunokatze und das Kind kennenlernen und am Weihnachtsbaum sit-zen und Kaffee trinken mit uns. Das Problem mit der Scheisserei musste ich ansprechen. Ich kann nicht mal einen mageren Bettyarsch abwischen. Also, wie machen wir das? »Ich brauche nur eine Stütze,« sagt sie. »Du musst mich halten. Ich nehme genügend Windeln mit. Eventuell musst du hinten hochhalten, damit ich vorn zusammenkleben kann und das Zeug nicht verrutscht. Und ein paar alte Handtücher auf deiner Couch wären gut, falls doch etwas daneben geht.« »OK, Betty, das kriegen wir hin.«Auf der Heimfahrt hielt ich das Parfum in der Hand, versprühte es zur Probe im Auto, handelte mir vom Kollegen einen Anschnau-zer ein: »Mann, du blöde Trulla, morgen fährt meine Frau hier wieder mit. Die macht mir eine Szene, weils nach Parfum riecht!«Ich hab mit Betty telefoniert. »Prinzessin, ich hab ein Auto organisiert und morgen ist ...Fortsetzung auf Seite 6

BEtty von Doreen Pless

erzählt

Doreen Pless besucht seit 2009 schwerstkranke Menschen zu Hause und begleitet sie während der letzten Lebenszeit. Ihr Bericht über »Betty« gibt

einen Einblick in die Arbeit ambulanter Hospizhelfer

Illustration © Elke R. Steiner

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Ausgabe #3 Winter 2011/2012 05lebenszeitBlick und Klang

Der Vater (Milan Peschel) mit seiner Tochter Lilli (Talisa Lilli Lemke).Lilli ist im wahren Leben Turmspringerin und nimmt an internationalen Wett-kämpfen teil. Ihre Mutter erkrankte an Krebs und starb im Kreis der Familie , als Lilli zehn Jahre alt war. Andreas Dresen hat bei den Recherchen für diesen Film mit Lillis Vater gespro-chen, und bald gewusst, dass er so eine Lilli in seinem Film haben will. Kunst-springerin sollte sie sein, und diesen einen Satz, den sie sagte, nachdem ihre Mutter gestorben war, wollte er auch: »Ich muss zum Training«. Nur Lilli selbst wollte er ursprünglich nicht. Zahlreiche weitere Gespräche haben ihn dann aber überzeugt, dass Lilli in der Lage ist, diesen Film durchzustehen.

Der Film gewann bereits mehrere Aus-zeichnungen. Bei den Filmfestspielen in Cannes 2011 gewann er den Hauptpreis der Sektion »Un Certain Regard« ige-meinsam mit dem koreanischen Bei-trag Arirang von Kim Ki-duk.

Foto: © Rommel Film

Das Kino hat seit seiner Erfindung als Jahrmarktattraktion viele Extreme durchgespielt. Zwei davon sind am auffälligs-ten: das Brechen von Tabus auf der einen und der Blick auf das gewöhnliche Material des Alltags auf der anderen Seite. Nicht selten ist der Tabubruch erst die Folge eines voyeuris-tischen Kamerablicks in den Alltag. Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen. Dresens Film ist kein Tabubruch. “Halt auf freier Strecke” setzt zwar ein Thema auf die Agenda, das die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit verdient, aber es ver-meidet den Bruch mit dem letzten Tabu des Films, wie Amos Vogel es genannt hat: »Heute, wo uns der Sex im Hardcore-Porno zur Verfügung steht, bleibt der Tod das letzte große Tabu im Film«. Sterbende zu begleiten, ist eine Aufgabe der Gesellschaft. Sobald diese Begleitung aber mit der Kamera dokumentiert wird, müssen sich Filmemacher der moralischen Beurteilung der Öffentlichkeit stellen, denn die Zuschauer beobachten den Filmemacher beim Beobachten der Sterbenden und ur-teilen über sein Erkenntnisinteresse. Anders als bei Kriegsfo-tografen, die sich selbst in Gefahr bringen, um der Welt Zeug-nis von Greueltaten zu geben, müssen sich Filmemacher, die Krebspatienten filmen, viel stärker legitimieren. So gilt es als voyeuristisch und pietätlos, die Kamera auf einen verzweifel-ten, weinenden Menschen zu halten und nicht abzublenden. Dem eigenen empathischen Impuls, Trost zu spenden, kön-nen die Zuschauer des Films nicht folgen. Der Filmemacher hätte es aber in der Situation tun können. Das mag der Grund sein, warum Andreas Dresen anders als beispielsweise Mi-chael Roemer in seinem Dokumentarfilm »Dying« , »seinen« sterbenden Krebspatienten mit einem Schauspieler besetzt. Roemer hingegen hatte viele Patienten über ein halbes Jahr im Krankenhaus und zu Hause begleitet, bevor er eine Aus-wahl traf und drei von ihnen und eine Angehörige in seinem Film zu Wort kommen ließ. Auch die Autorin Mechthild Gaßner setzte in ihrer Doku-Soap »Die letzte Reise« über vier Sterbende auf den Dokumentar-

film. Sie begleitete dabei die Palliativmedizinerin Petra Anwar zu Patienten nach Hause und ins Hospiz. Die Filmaufnahmen fanden dabei in einem genau festgelegten Rahmen statt, in dem die Kamera für die Zuschauer stets wahrnehmbar bleibt. Die Kamera aber aus der Wahrnehmung nahezu verschwin-den lassen, das kann nur die Illusionsfabrik des Spielfilms. So beginnt Dresens Film zwar in der typischen Haltung des Dokumentarfilms: mit dem Gespräch des Arztes, der dem Pa-tienten eröffnet, nichts mehr für ihn tun zu können. Der Arzt, Dr..... , ist echt. Kein Schauspieler. Auch die Ärztin Petra Anwar spielt wieder mit. Doch das ethische Dilemma der Dokumen-tarfilmer stellt sich nicht. Dresen vermeidet den Tabubruch, verzichtet auf die Authentizität des »direct cinema« zuguns-ten der Freiheit, viel näher an den Sterbenden zu kommen als er es im Dokumentarfilm je gekonnt hätte. Allein die Szenen, in denen der Familienvater und Patient Frank Lange (Milan Peschel) mithilfe seines iPhones spontan ein »Videotage-buch« führt, wären im Dokumentarfilm kaum denkbar. So zeigt Dresens Film zum einen die Arbeit der Helfer, die alle keine Schauspieler sind, und erzählt dabei die Geschichte ei-nes Familienvaters, der plötzlich schwer erkrankt und dem nur noch wenig Zeit zu leben bleibt. Dresen richtet dabei we-niger den Blick auf die erhabenen und poetischen Momente der Einsicht in die letzten Dinge, er fokussiert die Konflikte des Alltags. Von der Nachricht des Arztes, nichts mehr tun zu können, über die Frage, wie man es den Kindern sagt, bis hin zur schrecklichen Erfahrung, dass man jemanden mit einem Gehirntumor ab einem gewissen Stadium der Krankheit nicht unbedingt allein lassen sollte, weil es schon mal vorkommt, dass das Zimmer der Tochter mit der Toilette verwechselt wird oder noch schlimmeres passiert. Dresen misstraut der Poesie des Todes zu sehr, als dass er die Darstellung des Sterbens in eine Abblende am Strand mit Sonnenuntergang münden ließe, wie Francois Ozon es in “Le temps qui reste” (Die Zeit, die bleibt, F 2005) getan hat. Dort ist es ein jun-ger Mann, der ohne Familie stirbt. In Dresens Film ist der Zug

schon abgefahren. Die Familie gegründet, das Haus finanziert und mitten auf der Strecke hält der Zug. Keine Endstation. Der Zug wird weiterfahren. Doch ohne den Familienvater. Dresens Misstrauen in die Poesie geht noch weiter. Die pubertierende Tochter des sterbenden Vaters, gespielt von Talisa Lilli Lemke, hat selbst ihre Mutter verloren. Sie fühlt, was sie spielt. Es soll eben nicht nur echt aussehen. Es soll echt sein. Der Film über-schreitet damit immer wieder die Grenzen der Fiktion und verweist in die reale Welt des Zuschauers. Dem zugespitzten filmischen Realismus stehen einige absurde Szenen gegen-über, der Auftritt des personifizierten Tumors in der Harald-Schmidt-Show gehört dazu. Doch Dresen kann im Film nicht umhin, das Sterben zu zeigen, es vom Schauspieler bis zum Finale darstellen zu lassen.Die Familie im Film, die vom Tod besucht wird, könnte für viele Zuschauer die eigene sein. Die Figuren - Vater, Mutter, zwei Kinder, Einfamilienhaus, Garage, Garten - bilden das Ensemb-le, das zum Bild einer kleinbürgerlichen Durchschnittsfamilie in Deutschland gehört und das für viele Menschen Lebens-wirklichkeit ist. Und als wäre das nicht Schmerz genug, ver-legt Dresen die Frist, die bis zum Tod noch bleibt, in die Weih-nachtszeit. In das Fest, das die meisten Familien mindestens einmal im Jahr zusammenführt. In die Zeit des ersten Schnees. Beim letzten Fest mit dem Papa wird der Weihnachtsbaum neben das Pflegebett gestellt und im Schlafzimmer gefeiert. Dresens Film bringt den Tod wieder dorthin zurück, wo er über Jahrhunderte lang ein unvermeidlicher Besucher war. Bevor der Tod vom heimischen Schlafzimmer ins Krankenhauszim-mer verlegt wurde, gehörte das Erleben des natürlichen Todes von Angehörigen zur selbstverständlichen Erfahrung. »Wenn man den natürlichen Tod schon nicht verhindern konnte, so konnte man ihn doch fast unsichtbar machen«, schreibt Vivi-an Sobchack in ihren 10 Thesen über Tod, Repräsentation und Dokumentarfilm. Die Leistung des Films, das Sterben sichtbar zu machen, kann sich »Halt auf freier Strecke« sicher zugute halten. Das letzte Tabu bricht er glücklicherweise nicht.

das lEtztE FEst – »das lEtztE taBu«

Nachdem der Filmemacher Andreas Dresen in seinem Film “Wolke 9” die Sexualität im Alter ins Bild gesetzt hat, versucht er sich nun am »letzten Tabu«

des Films, dem Tod. Sein Grenzgänger zwischen Spiel- und Dokumentarfilm beobachtet den unabwendbaren Angriff eines Tumors auf eine Familie

s

von Maik Turni

Page 6: lebenszeit - Zeitung für Diskurs & Ethik am Lebensende - Ausgabe #3 - Familienporträts mit dem Tod

06 lebenszeit Ausgabe #3 Winter 2011/2012Nachrichten aus dem Ricam Hospiz

Fortsetzung von Seite 4... Heiligabend. Das heisst, ich hab 4 Tage frei. Such dir einen aus, es gibt Kaffee und Baum und Geschenke und warm.« Sie hat gejuchzt. Ja, gejuchzt. Endlich klappt es. Der 26. 12. sollte es sein. »OK, Kleene, ich hol dich gegen 13 Uhr ab.« » Jajajaja-jaja!« Das waren tolle Tage, die ihr bevorstanden. Heiligabend mit Feier im Hospiz. Ihr Freund konnte nicht kommen, der musste zu seinen Enkeln. Ich sass neben ihr, als sie ins Tele-fon weinte und ihn zu überreden versuchte. weil es doch ihre letzte Weihnachtsfeier sein könnte. Kutte war dann da.

Am 25. klingelte bei mir das Telefon. Die weihnachtsente gibts bei uns nicht mittags, da schlafen wir oder kommen zu uns. Also am Nachmittag. Halb sechs hab ich das Tier mit Backpflaumen gestopft. Salzige und pfeffrige Hände. Telefon klingelt. »Kind, geh mal eben ran bitte. Das ist eine Berliner Nummer, die kenn ich nicht,« sagt er. In dem Moment hab ich es gewusst. Geh ran!»Da ist das Hospiz dran,« sagt er. Ja, ich weiss.»Hallo, Doreen, Betty ist soeben verstorben. Wir haben ver-sucht, dich anzurufen.«»Ja. Danke.«Ich habe die Ente ofenfertig vorbereitet und das Kind erklärte sich bereit, den Backofen zu überwachen.Was mach ich jetzt? Ich glaubs nicht. Tot. Tot. Tot. Aber mor-gen wollten wir doch zusammen sein. Und ihr Sharouk-Par-fum hab ich in Silberfolie verpackt und mit roten Holzherz-chen beklebt. Was soll denn das jetzt?Ich bat meinen Freund, mich zu begleiten. So wie ich war. Im Schlurzpullover und ungeschminkt. Vor ihrer Zimmertür brannte eine Kerze, daneben stand ein Blumenstrauss. Im Zimmer roch es wie immer. Ich hab mich vorsichtig genähert. Ich hatte Furcht. Sie war tatsächlich tot. So tot, dass ich ihr nicht nahe kommen konnte. Der Freund hielt mich an der Hand und ich hab geweint. Um Betty geweint, weil ich nicht weiss, wo das, was aus ihrer toten Körperhülle raus ist, hin ist.Ich hab meinen Freund vorher gebeten, ein Foto zu machen, ich selbst konnte es nicht. Er hat ihr die Hand gestrichen und sich verabschiedet. Ich stand nur rum und hab geheult. Ich bin doch die, die für die Sterbenden da sein soll, und stark. war ich null.Ich hab mir das Foto angesehen. Es ist gut. Alles ist gut. Nur manchmal schwer zu verstehen.

Betty, machs gut, Prinzessin. 1962-2009

lebenszeit: Herr Dresen, zunächst darf ich Ihnen herzliche Grüße aus dem Ricam Hospiz ausrichten. Dort begannen ja die Recherchen für Ihren aktuellen Film „Halt auf freier Stre-cke“.Vielen Dank. Vor dem Besuch bei Ihnen war ich nie in einem Hospiz, weil mich meine Lebenssituation noch nie dorthin geführt hat. Und als wir zum ersten Mal ins Ricam Hospiz kamen, hatte ich schon Herzklopfen und auch eine Angst davor, denn es ist natürlich ein Ort, wo gestorben wird. Ich finde es ja schon gruselig, wenn ich auf der Straße bin, und da wird irgendwo ein Sarg aus einem Haus getragen. Und in einem Hospiz ist das quasi das Tagesgeschäft. Ich war dann total überrascht, als ich einen durchweg freundlichen Ort betrat, der so hell ist, und an dem auch durchaus heitere Menschen sind. Das Belastete, Schwere kam vielleicht noch aus ganz antiquierten Vorstellungen von Sterbehäusern, und ich hab da ganz schnell meine Vorstellung darüber revidie-ren müssen, wie heutzutage überhaupt jenseits des Zuhause gestorben wird, und was da für Menschen unterwegs sind. Also das fand ich ehrlich gesagt zum einen beruhigend und zum anderen ganz beglückend, den Menschen dort zu be-gegnen. Das nimmt einem schönerweise auch ein bisschen eigene Ängste. Ich will nicht sagen, dass ich durch die Erfahrung dieses Films jetzt weniger Angst vor dem Sterben hätte, oder dass der mir in irgendeiner Form selber dabei helfen könnte, aber er macht doch sehr viel Mut zum Leben, und das ist was Schönes, finde ich. Ich fand übrigens auch sehr schön, – das kam in den Gesprächen dort ja vor – dass die Menschen uns da auch erzählt haben, wie hypochondrisch sie auf bestimmte Sterbesituatio-nen reagieren, dass man z.B. selber anfängt Bauchschmerzen zu krie-gen und plötzlich anfängt, seinen eigenen Körper so zu beobachten, angesichts von schweren Krank-heiten ringsum. Das sind auch so menschliche Dinge, die ich total nachvollziehen kann.

lebenszeit: Mit ihrem Episodenfilm „Nachtgestalten“ sind Sie bekannt geworden. In ihrem aktu-ellen Film zeigen Sie großes Drama. Sie lassen Ihre Hauptfi-gur Frank Lange aus dem Zug des Lebens steigen, seine Fa-milie fährt ohne ihn weiter. Sehen Sie das Leben als Folge von zufälligen Episoden oder eher als Erzählung, die einem Drehbuch folgt? Das ist eine schwere Frage. Also letztendlich ist es ja dann doch so: Frank (Milan Peschel) musste zwar aussteigen aus dem Zug, aber geplant war’s nicht, und er hatte sich seine weitere Lebensreise schon noch ein bisschen anders vorge-stellt. Also, sie haben sich ja gerade ein Häuschen gekauft, er hat zwei Kinder, beide haben Arbeit. Eigentlich hat man jetzt den kleinen Lebenstraum mit dem Häuschen am Stadtrand realisiert, und es könnte weiter-, wenn nicht sogar los gehen. Also insofern sieht er zu Anfang des Films seine Familie ganz bestimmt nicht als Episode, sondern als das Zentrum seiner Existenz, – um dann zu merken, dass das Leben doch sehr viel kürzer ist, als er dachte, weil man ja nie weiß, an welchem Punkt der Lebensstrecke man sich denn nun gerade befindet. Was mich selbst betrifft: Es gibt schon Dinge, wo eins das an-dere bedingt, aber ich will damit nicht sagen, dass ich mein Leben unter Kontrolle habe. Das Leben ist eben auch von vie-len Zufällen bestimmt, von Dingen, die geschehen und die man nicht beeinflussen kann. Aber wir wollen immer auf alle Fragen im Leben eine Antwort haben, und eine Begründung. Die gibt es aber häufig nicht. Man kann ein ganzes Leben lang Bio essen, Fahrrad fahren und gesund leben und nicht rauchen und stirbt trotzdem mit Mitte 40 an einem Hirntu-mor. Solche Fälle haben wir recherchiert. Das Leben ist eben mitunter auch eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.

lebenszeit: Hat diese ethische Dimension bei der Entschei-

dung eine Rolle gespielt, die Betroffenen mit Schauspielern zu besetzen, statt einen Dokumentarfilm zu machen, wie es beispielsweise Michael Roemer mit seinem Film „Dying“ ge-tan hat?Der Hauptgrund war tatsächlich der, dass ich glaube, dass es bestimmte Situationen, die uns aber wichtig waren für un-seren Film, im Dokumentarfilm überhaupt nicht darstellen lassen, egal mit welchen ethischen Hintergrund man dort an-tritt und mit welcher moralischen Legitimation. Also ich halte es zum Beispiel für unmöglich, so einen heftigen Streit, wie er im Zentrum unseres Filmes steht, wo der Rollstuhl plötzlich da ist, im Dokumentarfilm darzustellen. Frank Lange lehnt sich auf und beschimpft seine eigene Frau und fühlt sich nicht beachtet als Kranker. Und sie brüllt irgendwann zurück, und sagt: »Ja, ich weiß, dass du irgendwann sterben musst, aber wir müssen hier weiter leben«

lebenszeit: Sicher ermöglicht die Perspektive des Spielfilms viel mehr Innenansichten der Figuren. Nähert man sich dem Thema Tod aber nicht lieber im Spielfilm, weil man sich als Fil-memacher moralisch nicht so stark legitimieren muss wie im Dokumentarfilm? Auch, sicherlich! Also ich hätte ganz sicher

Schwierigkeiten, in eine Fami-lie, wo der Familienvater stirbst, mit einer Kamera rein zu gehen. Da hätte ich auch eine gewisse Scheu, muss ich sagen, obwohl es dazu durchaus großartige Beispiele gibt: Der Film „Die letz-te Reise“ von Mechthild Gaßner beispielsweise, in dem die Ärztin Petra Anwar ja auch vorkommt, das ist schon sehr, sehr gut. Ein wirklich beeindruckender Film, und ich ziehe auch meinen Hut davor, wie eine Filmemacherin das schafft, in so schwierigen Situationen so nah an die Men-schen ran zu kommen und sich so vorzuwagen; das ist bestimmt nicht ganz einfach.

lebenszeit: Nachdem Sie sich nun viel mit dem Tod ausein-andergesetzt haben: Wie wün-

schen Sie sich denn den Abschied aus Ihrem eigenen Leben ?Also erst mal ist mir durch die Beschäftigung mit dem The-ma ein kleines bisschen die Angst genommen worden, dass man in diesem Land allein und von aller Welt verlassen ster-ben muss mit Schmerzen. Das fand ich schon mal tröstlich, weil das weiß Gott nicht überall auf der Welt so ist. Es gibt ein großes und auch sehr engagiertes System von Menschen, die sich darum kümmern, um diesen letzten Moment im Le-ben. Und dass die Gesellschaft dafür Sorge trägt, dass es so viel engagierte Menschen gibt, dass finde ich, ist was ganz Großartiges. Insofern hilft das schon mal ein kleines bisschen, die Angst zu verlieren. Aber letztendlich muss ich sagen, den eigenen Abschied wünsche ich mir eigentlich so, dass es ganz schnell geht. So wie Anfang diesen Jahres Bernd Eichinger gestorben ist, das ist natürlich ein großes Geschenk, mit der eigenen Familie beim Essen zu sitzen, und dann fällt man einfach um, und es ist vorbei. Also man hat nicht diesen Mo-ment des permanenten Abschiednehmens, sondern man wird einfach ganz schnell geholt. Man muss darüber nicht re-flektieren, man muss nicht diesen seelischen und physischen Schmerz ertragen; man ist dann einfach mit einem Schlag weg. Und trotzdem sind alle lieben Menschen dabei. Also, das ist natürlich nicht schlecht, und wenn’s über eine Krankheit passieren sollte, dann am liebsten so, wie es bei Frank Lange ist, so dass die Familie dabei ist. Also die Menschen, die man liebt, mit denen man auf der Lebensreise am meisten zusam-men war, die einen begleitet haben, dass die dann möglichst in der Nähe sind. Dass jemand da ist, der die Hand hält, auch wenn man dann wahrscheinlich schläft.

Dieses Interview und alle weiteren Beiträge der lebenszeitfinden Sie auch unter www.ricam-hospiz.de

»Das Leben ist eben mitunter auch eine himmelschreiende Ungerechtigkeit« Ein Gespräch mit dem Filmemacher Andreas Dresen

Andreas Dresen F oto: © K. D. . Fahlbusch

Das Ricam Hospiz begleitet sterbenskranke Menschen und deren Angehörige zu Hause, im Pflegeheim, im Krankenhaus und im eigenen stationären Hospiz. 1998 von zwei Krankenschwestern mit der Hilfe vieler Berlinerinnen und Berliner gegründet, war es das erste vollstationäre Hospiz in Berlin.

Über den Dächern des Berliner Bezirks Neukölln können bis zu 15 Menschen in Einzelzimmern ihre letzten Le-benstage, Lebenswochen, manchmal auch noch Monate verbringen. Im Zentrum der Arbeit steht die Linderung körperlich und seelischer Belastungen. Dafür sind ausge-bildete und erfahrene Pflegekräfte, eine Sozialarbeiterin, Hauswirtschaftler und zahlreiche ehrenamtliche Helfer im Einsatz.

Das Ricam Hospiz arbeitet eng mit Haus- und Fachärz-ten, Psychologen und Physiotherapeuten zusammen. Ein besonderes Angebot ist die Musiktherapie, die hilft, auch nonverbal körperliche Beschwerden und emotionale Not zu lindern. Die laufenden Kosten des stationären Hospizes tragen zu 90 Prozent die Krankenkassen. Ein Zehntel muss aus Spenden finanziert werden.Die Gründerin und Geschäftsführerin, Dorothea Becker, erhielt im Jahr 2008 das Bundesverdienstkreuz für ihr Engagement in der Hospizbewegung. Das Ricam Hospiz ist engagiertes Mitglied im Deutschen Hospiz- und PalliativVerband (DHPV) und im Hospiz- und Palliativverband Berlin (HPV) .

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Ausgabe #3 Winter 2011/2012 07lebenszeit

In Kürze

Nachrichten aus dem Ricam Hospiz

12 langjährige ehrenamtliche Mitarbeiter des Ricam Hospizes erhielten als ein Zeichen der Anerkennung die Berliner Ehren-amtskarte. Ihre Inhaber erhalten zahlreiche Vergünstigungen wie ermäßigte Eintrittspreise.

Sparen mit der Ehrenamtskarte12 Mitarbeiter des Ricam Hospizes geehrt

Ende Oktober 2011 verabschiedete sich Joachim Wirtz, einer der Mitarbeiter der ersten Stunde, in den Ruhestand. Seine ökonomische und kommunikative Kompetenz hat maßgeb-lich dazu beigetragen, das Ricam Hospiz zu einem erfolgrei-chen Sozialbetrieb zu machen. Seine Nachfolge in der Ver-waltungsleitung tritt Toska Holtz an.

Mitarbeiter der ersten Stunde Der Betriebswirt des Ricam Hospizes, Joachim Wirtz, verabschiedet sich in den Vorruhestand

»Ball unter Sternen« bringt Wohlfühlstühle ins Hospiz Fast 400 Gäste nahmen am Galaball zugunsten des Ricam Hospizes teil. Gesammelt wurde für besonders bequeme Stühle für Patienten im Ricam Hospiz. 10.000 Euro kamen zusammen!

»Dieser Galaball ist mittlerweile zu einem gesellschaftlichen Höhepunkt in Neukölln geworden«, sagte die Bundestagsab-geordnete Stefanie Vogelsang der lebenszeit. Sie gehörte zu den fast 400 Gästen, unter denen sich langjährige Förderer und Unterstützer, Freunde und Netzwerkpartner des Ricam Hospizes befanden. Der Schirmherr Heinz Buschkowsky warb für Spenden und sprach von der »Ricam Bewegung« und von einem Leuchtturmprojekt in Neukölln. Nach dem Drei-Gänge-Menü und dem Showprogramm sammelte der rbb-Moderator Ulli Zelle Spenden für das neue Projekt im Ricam Hospiz. Jedes der 15 Patientenzimmer im Ricam Hospiz soll mit besonders bequemen Stühlen ausgestattet werden. Ge-plant sind ein besonders komfortabler Patientenstuhl nebst Hocker und Stuhl für Angehörige. Über 1200 Euro kostet das qualitativ hochwertige Set. Herr Buschkowsky rief alle Gäs-te auf, für die Aktion zu spenden. Wie im letzten Jahr ging er auch dieses Mal mit gutem Beispiel voran und spendete selbst 1200 Euro ans Ricam Hospiz! Durch die Gala sind nun bereits 11 Stühle finanziert. Um möglichst schnell alle Patientenzimmer mit Stühlen aus-zustatten, auf denen man sogar eine Nacht schlafen könn-te, fehlen noch über 4000 Euro. Das wäre doch ein schönes Weihnachtsgeschenk für die Patienten des Ricam Hospizes, oder?Jede Spende ist willkommen.

Spendenkonto: GLS Gemeinschaftsbank eG. BLZ 430 609 67 Kto 44004901, Kennwort: Stühle

lebenszeit - Zeitung für Diskurs & Ethik am LebensendeHerausgeberRicam gemeinnützige Gesellschaft für Lebenshilfe und Sterbebegleitung mbHGeschäftsführung: Dorothea BeckerDelbrückstraße 22 12051 BerlinTel: 030-6288800 www.ricam-hospiz.deGrafik und Redaktion Maik Turni (verantw.)Lektorat Dieter ZahnDruck Axel Springer AG, Druckhaus Spandau www.axelspringer.de/druckhaus-spandauAuflage 2.500Spendenkonto GLS Gemeinschaftsbank eGBLZ 430 609 67 Kto 44004901Bildnachweis soweit nicht anders angegeben © Ricam HospizTitelseiteDie Titel-Illustration stammt von Elke R. Steiner.o.l. © Anja Sommer, o.Mitte: © Rommelfilm

Elke R. Steiner lebt als Comiczeichnerin und Illustratorin in Berlin. Aufgewachsen in Bremen, studierte sie an der Kunstakademie sowie an der Fachhochschule Münster/ Westfalen und nahm an internationalen Comicsemina-ren in Erlangen und Luzern teil. Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht und ihre Comics im In- und Ausland aus-gestellt. Gelegentlich gibt sie ihre Erfahrungen in Comic-Workshops weiter. Seit 2004 fühlt sie sich dem Ricam Hospiz verbunden. www.steinercomix.de

imprEssum

Mobil - auch 2012 !Der »Wohnungsbauverein Neukölln«, die »Stadt und Land« Wohnungsbauten und der Lions Club Berlin-Kurfürstendamm beteiligen sich an den Kosten für zwei der Leasing-PkW des Ricam Hospizes

Eine erfreuliche Nachricht erreichte das Ricam HJospiz im Oktober. Drei Förderer werden sich ein Jahr lang an den Kosten für zwei Leasing-Fahrzeuge des Ricam Hospizes be-teiligen. Insgesamt spendet der wbv Neukölln 1800 Euro ans Ricam Hospiz für den VW Golf, der Lions Club Berlin-Kurfürstendamm und die »Stadt und Land« Wohnungsbau-ten Gesellschaft teilen sich gleich gemeinsam die komplette Leasing-Rate für einen Skoda-Fabia. Insgesamt läuft die Un-terstützung ein Jahr. Somit ist das Ricam Hospiz auch 2012 mobil. Die PkW werden vor allem vom palliativen Hilfsdienst d.E.L.P.H.i.N. benötigt, der zum ambulanten Ricam Hospiz ge-hört. Das d.E.L.P.H.i.N.-Team besucht und berät Patienten und deren Angehörige kostenlos zu Hause.

Ein großes Dankeschön an die Förderer!

Vom 27. Januar bis 17. November 2012 findet im Ricam Hospiz eine Ausbildung zum/zur Hospizhelfer/in statt. Ziel der Aus-bildung ist es, Kompetenzen zu erwerben und eigene Kennt-nisse zu vertiefen, um sie in der ehrenamtlichen Begleitung Sterbender anwenden zu können. Info und Anmeldung: www.ricam-hospiz.de, 030/600501730

Ausbildung für SterbebegleitungNoch freie Plätze für den Kurs 2012

Der rbb-Moderator trat als Gastsänger auf und wurde vom Damenorchester Salomé begleitet. Foto: © R. Denner

Unter www.ball-unter-sternen.de finden Sie weitere Fotos. Seien auch Sie 2012 dabei: Am 27. Oktober 2012 findet der

nächste »Ball unter Sternen« im Estrel Berlin statt

Der Moderator der Gala, Clemens Ilgner,verblüffte den Bezirksbürgermeister mit einem Zaubertrick.

Foto: © R. Denner

Die Geschäftsführer Herr Falko Rügler, Herr Günter Jagdmann und Dorothea Becker, die Leiterin des Ricam Hospizes

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08 lebenszeit Ausgabe #3 Winter 2011/2012Termine

ICH MÖCHTE DAS RICAM HOSPIZ UNTERSTÜTZENBuchen Sie den Betrag in Höhe von ....................Euro von meinem Konto ab.

Kto-Nr.: .............................................................................................................

BLZ: ...................................................................................................................

Bankinstitut ...................................................................................................

Kontoinhaber: ...............................................................................................

Adresse ............................................................................................................

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E-Mail / Telefon ...............................................................................................

Datum / Unterschrift.......................................................................................................(des Kontoinhabers / Kontoangaben rechts)

!

Mit diesem Weihnachtsgruß möchte ich mich - bei Dir, bei Ihnen, bei Euch -für die Lebenszeit und die Zuwendungen bedanken, die wir in diesem Jahr gemeinsam genutzt haben, um schwerstkranken Menschen zu helfen. Zugunsten un-serer Patienten sparen wir dieses Jahr die Anschaffung und den Versand teurer Weihnachtskarten, dafür aber nicht an Format und Herzlichkeit!

Ich hoffe, - dass Du, dass Sie, dass Ihr - im Kreise der Familie und Freunde eine besinnliche Zeit verlebt, und wünsche allen Gesundheit, Lebensfreude und Lebensmut.

Dorothea Becker,

Gründerin und Geschäftsführerindes Ricam Hospizes

Weihnachten im Ricam Hospiz eine Geschichte von Pfarrer Jörg Machel

Allen ehrenamtlichen Mitarbeitern, Förderern, Freunden und Partnern des Ricam Hospizes

ein Frohes Weihnachtsfest und

ein glückliches Neues Jahr !

»Heiligabend ist kein Datum, es ist ein Fest«, erzählt mir Dorothea, die Leiterin des Ricam-Hospizes im Berliner Stadt-teil Neukölln. »Und manche Patienten feiern es früher als andere.« Ich hatte mich erkundigt, wie man in einem Hos-piz, das ja für schwerkranke und sterbende Menschen da ist, denn Advent und Weihnachten feiert. Denn eigentlich hatte Dorothea mir auf meine Frage mit diesem einen Satz schon alles Entscheidende gesagt: Im Hospiz feiert man Weihnach-ten nach den Vorgaben und Bedürfnissen der Patienten. In einem Fall wurde die Weihnachtsgans schon in den ersten Novembertagen serviert, da es sich abzeichnete, dass Herr Schneider nur noch kurz zu leben hatte. Es war einfach nicht mehr darauf zu hoffen, dass man gemeinsam in die Advents-zeit gehen kann. Er selbst hatte den Vorschlag gemacht, das Weihnachtsfest vorzuziehen. In seinem Zimmer stellte man einen kleinen Weihnachtsbaum auf und richtete einen wun-derschönen Adventsteller für ihn und seine Gäste her. Er lud ein paar Freunde ein und ließ in der Hospizküche einen herr-lichen Festschmaus zubereiten, dessen Duft das ganze Haus erfüllte. Herr Schneider war gerade einmal fünfzig Jahre alt und wollte sein Leben auskosten bis zur letzten Stunde. Und genau darauf sind die Helferinnen und Helfer im Hospiz ein-gestellt, sie setzen alles daran, solche Wünsche zu erfüllen. So war die Bitte um ein vorgezogenes Weihnachtsfest gar nichts Besonderes für sie. Man ist eingestellt auf ungewöhn-liche Wünsche und hat Erfahrung darin, solchen Wünschen zu entsprechen. Und es bestätigte sich auch bei diesem Pati-enten eine häufige Beobachtung im Hospizalltag: Er wusste sehr genau um seinen Zustand. Es war tatsächlich an der Zeit, einen letzten Wunsch zu äußern. Zwei Wochen nach dieser ungewöhnlichen Weihnachtsfeier starb Herr Schneider. Die durchschnittliche Verweildauer in diesem Hospiz ist eben gerade einmal ein Monat. Das heißt, jemand, der am Beginn der Adventszeit ins Hospiz kommt, wird das Weihnachtsfest mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht mehr erleben. Doch das mit der Statistik ist ja so eine Sache. Für den Einzelnen lässt sich aus solchen Rechnungen wenig ableiten. Die Lebensuhr eines jeden Menschen folgt einem ganz eigenen Rhythmus.

Und, so erzählte mir Dorothea, haben große Ereignisse ihre ganz eigene Strahlkraft. Auch wenn der Körper dem Ende sehr nahe ist, gibt es keinen Automatismus, der zum Ende führt. Gerade wenn man sich auf etwas sehr freut, kommen Kraftreserven zum Vorschein, auf die niemand mehr zu hof-fen wagte. So wird es hier im Hospiz wohl auch in diesem Jahr sein: Es gibt also durchaus gute Gründe, sich darauf zu freuen, dass die meisten Patienten das Christfest noch er-leben werden und dass man im Kreis von vertrauten Men-schen feiern wird, auch wenn alle darum wissen, dass es ein letztes Fest in dieser Runde sein wird.

Jörg Machel (Jahrgang 1952) begleitet als Gemeindepfarrer in Berlin-Kreuzberg Menschen in schönen und schwierigen Lebenssituationen. Theologie studierte Jörg Machel in Ber-lin und Leipzig. Ökumenische und spirituelle Anregungen bekam er während eines Vikariats in Indien. An der Europa-Universität Viadrina hat sich Jörg Machel zum Mediator aus-bilden lassen, um in Konflikten professionell vermitteln zu können. Er ist verheiratet und Vater einer Tochter.

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