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LEMONY SNICKET Eine Reihe betrüblicher Ereignisse

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LEMONY SNICKET

Eine Reihe betrüblicher Ereignisse

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DER AUTOR

Lemony Snicket wurde in einem kleinen Ort geboren, in einem Landstrich, der heute unter Wasser steht. Seine Kindheit verbrachte er in der Snicket-Villa, die damals recht schön war, zwischenzeitlich als Fabrik, Festung und Apotheke diente und jetzt irgendjemand anderem gehört. Heute lebt Lemony Snicket in der Stadt. In seiner Freizeit sucht er die Orte auf, an denen auch die Baudelaire-Kinder sich aufzuhalten gezwungen waren, um möglichst wahrheitsgetreu über ihr Schicksal zu berichten.

Von Lem ony Snicket ist bei cbj erschienen:

Eine Reihe betrüblicher Ereignisse

Band 1: Der schreckliche Anfang (22085)Band 2: Das Haus der Schlangen (22087)Band 3: Der Seufzersee (22088)Band 4: Die unheimliche Mühle (22086)

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LEMONY SNICKET

Eine Reihe betrüblicher Ereignisse

Band 3

Der Seufzersee

Aus dem Amerikanischen

von Klaus Weimann

Mit Illustrationen

von Brett Helquist

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cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House

Verlagsgruppe Random House FSCDEU0100

Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier München Super Extra liefert Arctic Paper Mochenwangen GmbH.

1. Aufl age Erstmals als cbj Taschenbuch Oktober 2009Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform© der Originalausgabe 2000 by Lemony SnicketPublished by arrangement with HarperCollins Children’s Books,a division of HarperCollins Publishers, Inc.Die amerikanische Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel »A Series of Unfortunate Events – Th e Wide Window« bei HarperCollins Publishers Inc., New York.© der deutschsprachigen Ausgabe 2004by Wilhelm Goldmann Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH© der deutschen Übersetzung 2001by Beltz Verlag, Weinheim und BaselDie deutsche Erstausgabe erschien 2001 unter dem Titel »Die schaurige Geschichte von Violet, Sunny und Klaus – Das zerbrochene Fenster« bei Beltz & Gelberg.Übersetzung: Klaus WeimannUmschlagbild und Innenillustrationen: Brett HelquistUmschlaggestaltung: Basic-Book-Design, Karl Müller-Bussdorf im · Herstellung: CZSatz: Uhl + Massopust, AalenDruck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckISBN 978-3-570-22088-6Printed in Germany

www.cbj-verlag.de

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Für Beatrice – Mir wäre lieber,

du wärest am Leben und gesund.

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K a p i t e l

Eins

Wer die Baudelaire-Waisen nicht kennt, könnte, wenn ersie so am Damokleskai auf ihren Koffern sitzen sieht, an-nehmen, ihnen stünde ein aufregendes Abenteuer bevor.Schließlich waren die drei Kinder soeben aus der Freud-losen Fähre ausgestiegen, die sie über den Seufzersee ge-bracht hatte, um bei ihrer Tante Josephine zu leben. Undnormalerweise wäre das der Anfang eines aufregendenund erfreulichen Lebens.

Aber natürlich wäre eine solche Annahme grundle-gend falsch. Denn obwohl Violet, Klaus und Sunny Bau-delaire aufregende und unvergessliche Erfahrungen be-vorstanden, sollten sie doch nicht in der Art aufregendund unvergesslich sein, wie wenn einem die Zukunftvorausgesagt wird oder man einen Zirkus besucht. IhreAbenteuer sollten vielmehr so aufregend und unvergess-lich sein, als ob man um Mitternacht von einem Werwolfüber ein Feld voller Dornengestrüpp gejagt wird und keinMensch in der Nähe ist, der einem helfen kann. Wenn du

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eine aufregende, aber erfreuliche Geschichte lesen möch-test, dann muss ich dir leider sagen, dass du mit Sicherheitdas falsche Buch in der Hand hast, denn die Baudelaireserleben im Verlauf ihres bedrückenden und jammervol-len Lebens nur sehr wenig Erfreuliches. Ihr Unglück ist ganz entsetzlich, so entsetzlich, dass ich mich kaumdazu durchringen kann, darüber zu schreiben. Wenn dualso lieber keine tragische und traurige Geschichte lesenmöchtest, dann hast du hiermit eine allerletzte Möglich-keit, dieses Buch beiseite zu legen; das Elend der Baude-laire-Waisen beginnt nämlich bereits mit der nächstenZeile.

»Schaut, was ich euch mitgebracht habe«, sagte Mr.Poe. Er grinste über beide Ohren und hielt ihnen einekleine Papiertüte hin. »Pfefferminzbonbons!« Mr. Poearbeitete bei einer Bank und musste sich nach dem Todeder Baudelaire-Eltern um die Angelegenheiten der Wai-sen kümmern. Mr. Poe war ein herzensguter Mann, aberes reicht in dieser Welt nicht aus, herzensgut zu sein, be-sonders dann nicht, wenn man Kinder vor Gefahren be-schützen soll. Mr. Poe kannte die Kinder seit ihrer Ge-burt; trotzdem hatte er nicht daran gedacht, dass sie gegenPfefferminzbonbons allergisch waren.

»Danke, Mr. Poe«, sagte Violet, nahm die Papiertüteund blickte hinein. Wie die meisten Vierzehnjährigen

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war Violet zu wohlerzogen, um zu erwähnen, dass sienach dem Genuss eines Pfefferminzbonbons einen Nes-selausschlag erleben würde, was »eine Pustelexplosion,die den Körper für ein paar Stunden mit roten jucken-den Placken bedeckt,« bedeutet. Außerdem war sie geradeviel zu sehr mit erfinderischen Überlegungen beschäftigt,um groß auf Mr. Poe zu achten. Jeder, der Violet kannte,wusste, dass, wenn ihr Haar – wie gerade jetzt – mit einemBand zusammengehalten war, um es aus den Augen zuhalten, ihr Kopf mit Hebeln, Scheiben, Zahnrädern undanderen Gegenständen angefüllt war, wie man sie fürErfindungen braucht. In diesem Augenblick dachte siedarüber nach, wie sie den Motor der Freudlosen Fähre soverbessern könnte, dass er keinen Rauch mehr in dengrauen Himmel spuckte.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Klaus, dasmittlere der Baudelaire-Kinder, lächelnd zu Mr. Poe. Da-bei dachte er daran, dass seine Zunge, wenn er nur kurzan einem Pfefferminz lutschte, sofort anschwellen würdeund er kaum in der Lage wäre zu sprechen. Klaus nahmseine Brille ab und wünschte, Mr. Poe hätte ihm statt derBonbons besser ein Buch oder eine Zeitung gekauft.Klaus war eine richtige Leseratte, und kaum hatte er imAlter von acht Jahren bei einer Geburtstagsfeier die ersteErfahrung mit seiner Allergie gemacht, da hatte er sofort

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alle Bücher seiner Eltern über Allergien gelesen. Nochvier Jahre danach konnte er die chemischen Formeln aus-wendig, die für das Anschwellen seiner Zunge verant-wortlich waren.

»Toi!«, quiekte Sunny. Die Jüngste der Baudelaires warnoch ein Kleinkind, und wie die meisten Kleinkindersprach sie überwiegend in Worten, die schwer zu verste-hen waren. Mit »Toi!« meinte sie wahrscheinlich: »Ichhabe noch nie ein Pfefferminzbonbon gegessen, weil ichbefürchte, dass ich wie meine Geschwister allergisch da-gegen bin«, aber ganz sicher konnte man sich da nichtsein. Es wäre auch möglich, dass sie sagen wollte: »Ichwünschte, ich könnte in ein Pfefferminzbonbon beißen,denn ich liebe es, mit meinen vier scharfen Zähnen inDinge zu beißen, aber ich möchte lieber keine allergischeReaktion riskieren.«

»Ihr könnt sie während der Taxifahrt zum Haus vonMrs. Anwhistle lutschen«, sagte Mr. Poe und hustete insein weißes Taschentuch. Er war anscheinend immer er-kältet, und die Baudelaire-Waisen waren schon daran ge-wöhnt, alle Mitteilungen von ihm zwischen Anfällen vontrockenem Husten und Krächzen zu erhalten. »Sie lässtsich entschuldigen, dass sie euch nicht vom Kai abholt,aber sie hat Angst davor.«

»Warum sollte sie Angst vor einem Kai haben?«, fragte

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Klaus und blickte sich nach den hölzernen Landestegenund den Segelbooten um.

»Sie hat vor allem Angst, was mit dem Seufzersee zutun hat«, sagte Mr. Poe, »aber sie hat nicht gesagt, warum.Vielleicht hat es mit dem Tod ihres Mannes zu tun. EureTante Josephine – in Wirklichkeit ist sie natürlich nichteure Tante, sondern die Schwägerin eurer Kusine zweitenGrades, aber sie hat darum gebeten, dass ihr sie Tante Jo-sephine nennt –, eure Tante Josephine hat kürzlich ihrenMann verloren, und es könnte sein, dass er ertrunken oderbei einem Bootsunglück umgekommen ist. Ich hielt es fürunhöflich, nachzufragen, wie sie zur Wittib geworden ist.Nun, dann will ich euch mal in ein Taxi verfrachten.«

»Was bedeutet dieses Wort?«, fragte Violet.Mr. Poe blickte Violet mit hochgezogenen Augen-

brauen an. »Ich bin erstaunt über dich, Violet«, sagte er.»Ein Mädchen in deinem Alter sollte eigentlich wissen,dass ein Taxi ein Auto ist, das dich gegen eine Gebührirgendwohin bringt. Also lasst uns euer Gepäck zu-sammensuchen und an die Bordsteinkante treten.«

»Wittib«, flüsterte Klaus Violet zu, »ist ein hochgesto-chenes Wort für Witwe.«

»Danke«, flüsterte sie zurück und nahm ihren Koffer in die eine Hand und Sunny an die andere. Mr. Poeschwenkte sein Taschentuch in der Luft, um ein Taxi her-

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beizurufen; im Nu verstaute der Taxifahrer das ganze Ge-päck der Baudelaires im Kofferraum, und Mr. Poe ver-staute die Baudelaire-Kinder auf dem Rücksitz.

»Ich verabschiede mich hier von euch«, sagte Mr. Poe.»In der Bank wird schon gearbeitet, und ich bekommenichts mehr geschafft, wenn ich euch begleite. Grüßt eure Tante bitte von mir, und richtet ihr aus, dass ich inVerbindung mit ihr bleiben werde.« Mr. Poe machte einePause und hustete in sein Taschentuch, bevor er fortfuhr:»Also, Josephine hat ein wenig Angst davor, drei Kinderin ihrem Haus zu haben, aber ich habe ihr versichert, dassihr euch sehr gut zu benehmen wisst. Passt also auf undachtet auf eure Manieren. Wie immer könnt ihr mich inder Bank anrufen oder mir ein Fax schicken, wenn es ir-gendein Problem gibt. Obwohl ich mir nicht vorstellenkann, dass diesmal irgendetwas schief geht.«

Als Mr. Poe »diesmal« sagte, blickte er die Kinder be-deutungsvoll an, als ob es ihre Schuld wäre, dass OnkelMonty tot war. Die Baudelaires waren jedoch vor demTreffen mit ihrem neuen Vormund zu nervös, um Mr. Poemehr zu sagen als »bis dann«.

»Bis dann«, sagte Violet und steckte die Tüte mit denPfefferminzbonbons in die Tasche.

»Bis dann«, sagte Klaus und warf einen letzten Blickauf den Damokleskai.

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»Frul!«, kreischte Sunny und kaute auf dem Verschlussihres Sicherheitsgurtes herum.

»Bis dann«, erwiderte Mr. Poe, »und viel Glück. Ichwerde so oft wie möglich an euch denken.«

Mr. Poe gab dem Taxifahrer etwas Geld und winkteden drei Kindern zum Abschied nach, als das Auto vomBordstein abfuhr und in eine graue Straße mit Kopfstein-pflaster einbog. Sie kamen an einem kleinen Lebens-mittelgeschäft vorbei, vor dem Fässer mit Limetten undRüben standen. Sie sahen ein Kleidergeschäft namensDas könnte Ihnen so passen!, das offenbar gerade renoviertwurde. Und da war ein fürchterlich aussehendes Restau-rant Zum Bangen Clown mit Neonleuchten und Luftbal-lons im Fenster. Die meisten Läden und Geschäfte jedochwaren mit Brettern oder Metallgittern vor Fenstern undTüren verrammelt.

»Die Stadt scheint nicht gerade sehr bevölkert«, be-merkte Klaus. »Ich hatte gehofft, wir könnten hier einpaar neue Freunde finden.«

»Die Saison ist vorbei«, sagte der Taxifahrer, ein dürrerMann, dem eine dünne Zigarette aus dem Mundwinkelhing, und während er mit den Kindern sprach, betrach-tete er sie im Rückspiegel. »Die Stadt Seufzersee ist einKurort, und wenn schönes Wetter herrscht, ist sie gestopftvoll. Aber um diese Zeit ist alles so tot wie die Katze, die

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ich heute Morgen überfahren habe. Um neue Freunde zu finden, müsst ihr warten, bis das Wetter etwas besserwird. Übrigens: Der Hurrikan Hermann wird in etwaeiner Woche in der Stadt erwartet. Ihr solltet dafür sor-gen, dass ihr genug Verpflegung da oben im Haus habt.«

»Ein Hurrikan auf einem See?«, fragte Klaus. »Ichdachte immer, Hurrikane kommen nur in der Nähe desMeeres vor.«

»Auf einem Gewässer so groß wie der Seufzersee«,sagte der Fahrer, »kann alles passieren. Ehrlich gesagthätte ich etwas Angst, oben auf dieser Anhöhe zu woh-nen. Wenn der Sturm erst einmal losbricht, wird esschwierig, den ganzen Weg hinab in die Stadt zu fahren.«

Violet, Klaus und Sunny sahen zum Fenster hinaus undverstanden, was der Fahrer mit »den ganzen Weg hinab«gemeint hatte. Das Taxi hatte eine letzte Kurve umrun-det und war auf der zerklüfteten Kuppe eines ganz, ganzhohen Hügels angekommen. Ganz, ganz tief unten konn-ten die Kinder die Stadt sehen, die Straße mit dem Kopf-steinpflaster, die sich wie eine winzige graue Schlange umdie kastenförmigen Gebäude wand, und das kleine Vier-eck des Damokleskais mit stecknadelkopfgroßen hin undher eilenden Menschen darauf. Und jenseits des Kais sahman wie einen Tintenklecks den Seufzersee, riesig undfinster, als ob ein Ungeheuer über den drei Waisenkindern

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stünde und einen riesigen Schatten nach unten würfe. Fürein paar Augenblicke starrten die Kinder auf den See, wiehypnotisiert von diesem gigantischen Fleck auf der Land-schaft.

»Der See ist wirklich gigantisch«, sagte Klaus, »und wietief er aussieht. Ich kann fast verstehen, warum TanteJosephine sich vor ihm fürchtet.«

»Die Dame, die hier oben lebt«, fragte der Taxifahrer,»fürchtet sich vor dem See?«

»Das hat man uns gesagt«, antwortete Violet.Der Fahrer schüttelte den Kopf und hielt an. »Ich ka-

pier nicht, wie sie’s dann hier aushalten kann.«»Wie meinen Sie das?«, fragte Violet.»Wollt ihr sagen, ihr wart noch nie in diesem Haus?«,

fragte er.»Nein, niemals«, antwortete Klaus. »Wir kennen auch

unsere Tante Josephine nicht.«»Also, wenn eure Tante Josephine Angst vor dem Was-

ser hat«, sagte der Taxifahrer, »dann glaube ich nicht, dasssie in diesem Haus wohnt.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte jetzt Klaus.»Schaut euch doch mal um«, sagte der Fahrer und stieg

aus.Die Baudelaires schauten sich um. Zunächst sahen die

drei Kinder nur einen kleinen viereckigen Kasten mit

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einer Tür, von der die weiße Farbe abblätterte, und es sahaus, als wäre das Haus kaum größer als das Taxi, das siehierher gebracht hatte. Aber als sie aus dem Wagen klet-terten und näher an das Haus herangingen, sahen sie, dassdieser kleine Kasten der einzige Teil des Hauses war, dersich auf der Kuppe des Hügels befand. Der Rest – eineganze Reihe viereckiger Schachteln, die wie Eiswürfel zu-sammenklebten – hing über die Kante des Hügels undwar nur mit langen Metallstelzen an ihm befestigt, die wie Spinnenbeine aussahen. Als die drei Waisenkinderauf ihr neues Zuhause herabblickten, hatten sie den Ein-druck, dass das ganze Haus sich krampfhaft an den Hü-gel klammerte.

Der Taxifahrer holte ihr Gepäck aus dem Kofferraum,stellte es vor die Tür, von der die weiße Farbe abblätterte,verabschiedete sich mit einem Tuut seiner Hupe und fuhrden Hügel hinab. Mit einem leisen Quietschen öffnetesich die Haustür und dahinter erschien eine bleiche Frau.Ihr weißes Haar trug sie hoch oben auf dem Kopf zueinem Knoten gebunden.

»Hallo«, sagte sie mit einem dünnen Lächeln. »Ich bineure Tante Josephine.«

»Hallo«, sagte Violet unsicher und trat vor, um ihrenneuen Vormund zu begrüßen. Hinter ihr trat Klaus vor,und hinter ihm kroch Sunny. Alle drei Baudelaires be-

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wegten sich ganz vorsichtig, als könnte ihr Gewicht dasHaus aus seiner heiklen Lage kippen. Die Waisenkinderfragten sich, wie eine Frau, die solche Angst vor demSeufzersee hatte, in einem Haus leben konnte, das jedenAugenblick in dessen Tiefen zu stürzen drohte.

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K a p i t e l

Zwei

»Das ist die Heizung«, sagteTante Josephine und deutete

mit einem bleichen, mageren Fingerauf einen Heizkörper. »Fasst sie bitte nie-

mals an. Vielleicht findet ihr es hier bei miretwas kühl. Aber ich stelle die Heizung nie an,

weil ich Angst habe, sie könnte explodieren; da-her wird es abends oft sehr kalt.«

Violet und Klaus blickten sich kurz an, undSunny blickte beide an. Tante Josephine führ-te sie durch ihr neues Zuhause, und bislangschien sie vor allem Angst zu haben, vomFußabtreter am Eingang, über den man, wieTante Josephine erklärte, stolpern und sichdas Genick brechen könnte, bis zum Sofaim Wohnzimmer, das, wie sie meinte, jeder-zeit umkippen und sie erschlagen könnte.

»Hier ist das Telefon«, sagte Tante Jose-

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phine und zeigte auf das Telefon. »Man sollte es nur imNotfall benutzen, denn es besteht die Gefahr, dass mansich einen tödlichen Stromschlag holt.«

»Ich habe«, sagte Klaus, »viel über Elektrizität gelesen.Ich bin ziemlich sicher, dass das Telefon völlig ungefähr-lich ist.«

Tante Josephines Hände flatterten zu ihrem weißenHaar, als ob ihr etwas auf den Kopf gesprungen wäre.»Man darf nicht alles glauben, was man liest«, erklärte sie.

»Ich habe mal ein Telefon aus allen Einzelteilen zu-sammengebaut«, sagte Violet. »Wenn du magst, könnteich das Telefon auseinander nehmen und dir zeigen, wiees funktioniert. Vielleicht fühlst du dich dann sicherer.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Tante Josephine mit ge-runzelter Stirn.

»Delmo!«, war Sunnys Beitrag, was vermutlich etwasbedeutete wie: »Wenn du willst, beiße ich in das Telefon,um dir zu zeigen, dass es ungefährlich ist.«

»Delmo?«, fragte Tante Josephine, während sie sichbückte und einen Fussel vom Teppich mit dem verbliche-nen Blumenmuster aufhob. »Was meinst du mit ›delmo‹?Ich betrachte mich als Sprachexpertin, aber ich habekeine Idee, was das Wort ›delmo‹ bedeutet. Welche Spra-che spricht Sunny?«

»Sunny spricht noch nicht flüssig, fürchte ich«, sagte

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Klaus und hob seine kleine Schwester hoch. »Meistensnur Kleinkindergebrabbel.«

»Gran!«, kreischte Sunny, was in etwa bedeutete: »Ichprotestiere dagegen, dass du das Kleinkindergebrabbelnennst!«

»Nun gut, dann muss ich ihr die richtige Sprache bei-bringen«, sagte Tante Josephine steif. »Ich bin sicher, ihrbraucht eigentlich alle drei etwas Nachhilfe in Gramma-tik. Grammatik ist das größte Vergnügen im Leben, fin-det ihr nicht?«

Die drei Geschwister schauten sich an. Violet hättewahrscheinlich eher gesagt, dass Erfindungen zu machendas größte Vergnügen im Leben sei, und Klaus dachte dasvom Lesen, und für Sunny gab es natürlich kein größeresVergnügen, als in Dinge zu beißen. Die Baudelaires dach-ten über Grammatik, all diese Regeln für das Schreibenund Sprechen einer Sprache, wie sie auch über Bananen-kuchen dachten: ganz nett, aber nichts, worüber man sichgroß aufregen sollte. Doch sicher wäre es unhöflich,TanteJosephine zu widersprechen.

»Ja«, sagte Violet schließlich. »Grammatik haben wirimmer gemocht.«

Tante Josephine nickte und schenkte den Baudelairesein flüchtiges Lächeln. »Ich bringe euch jetzt auf euerZimmer, und den Rest der Besichtigung machen wir nach

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dem Abendessen. Wenn ihr diese Tür öffnet, drückt nurhier gegen das Holz. Benutzt niemals den gläsernen Tür-griff. Ich habe immer Angst, dass er in tausend Stückezerspringt und eins davon mir ins Auge fliegt.«

Die Baudelaires glaubten allmählich, dass sie keineneinzigen Gegenstand im ganzen Haus berühren durften,aber sie lächelten Tante Josephine zu, drückten gegen dasHolz und öffneten so die Tür. Dahinter zeigte sich eingeräumiges, helles Zimmer mit kahlen weißen Wänden und einem schlichten blauen Teppich. Da standen zweigroße Betten und ein großes Kinderbettchen, offenbar fürSunny. Alle drei waren mit einer schlichten blauen Tages-decke bedeckt, und an jedem Fußende stand eine mäch-tige Truhe, in der man Sachen aufbewahren konnte. Aneinem Ende des Zimmers befand sich ein großer Klei-derschrank für sie gemeinsam, ein kleines Fenster zumHinausschauen und ein mittelgroßer Haufen von Blech-dosen zu keinem erkennbaren Zweck.

»Es tut mir Leid, dass ihr drei euch ein Zimmer teilenmüsst«, sagte Tante Josephine, »aber dieses Haus ist nichtallzu groß. Ich habe mir Mühe gegeben, alles bereitzu-stellen, was ihr braucht, und ich hoffe, dass ihr es bequemhabt.«

»Ganz bestimmt«, sagte Violet und trug ihren Koffer indas Zimmer. »Vielen Dank, Tante Josephine.« »In den

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Truhen«, sagte Tante Josephine, »liegt für jeden von euchein Geschenk.«

Geschenke? Die Baudelaires hatten furchtbar langekeine Geschenke mehr bekommen. Lächelnd ging TanteJosephine zur ersten Truhe und öffnete sie. »Für Violet«,sagte sie, »habe ich hier eine wunderschöne neue Puppemit einer Menge Kleider zum Anziehen.« Tante Jose-phine langte in die Truhe und holte eine Plastikpuppe miteinem winzigen Mündchen und riesigen Glotzaugen he-raus. »Ist sie nicht himmlisch? Sie heißt Süße Susi.«

»Oh, danke«, sagte Violet, die mit ihren vierzehn Jah-ren schon zu alt für Puppen und sowieso nie scharf aufPuppen gewesen war. Mit einem krampfhaften Lächelnnahm sie Tante Josephine die Süße Susi ab und tätschelteihr kleines Plastikköpfchen.

»Und für Klaus«, sagte Tante Josephine, »haben wireinen Satz einer Modelleisenbahn.« Sie öffnete die zweiteTruhe und holte einen winzigen Eisenbahnwagen heraus.»Du kannst die Schienen da drüben in der leeren Zim-merecke aufbauen.«

»Wie schön«, sagte Klaus und gab sich Mühe, begeis-tert auszusehen. Er hatte Modelleisenbahnen noch niegemocht, weil es viel Arbeit machte, sie aufzubauen, undwenn man damit fertig war, hatte man nur etwas, was un-unterbrochen im Kreis herumfuhr. »Und für die kleine

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Lemony Snicket

Der SeufzerseeEine Reihe betrüblicher Ereignisse

Taschenbuch, Broschur, 192 Seiten, 12,5 x 18,3 cmISBN: 978-3-570-22088-7

cbj

Erscheinungstermin: September 2009

Jetzt im Taschenbuch: Lemony Snicket Lemony Snicket berichtet wahrheitsgetreu von den betrüblichen Ereignissen im Leben derbemitleidenswerten Geschwister Violet (14), Klaus (12) und Sunny (Baby) Baudelaire, die ihreEltern auf tragische Weise verlieren. Die Baudelaire-Kinder sind gewiss klug, charmant undeinfallsreich, und sie sehen reizend aus, aber das nützt ihnen gar nichts. Eine Reihe betrüblicherEreignisse nimmt ihren Lauf … Das dritte Buch, welches auf traurigste Weise beschreibt, wie die armen Geschwister aneinem Hurrikan, hungrigen Blutegeln, kalter Gurkensuppe und einem schmierigen Scheusalverzweifeln. Schrecklich schön illustriert von Brett Helquist.