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Leo Tolstoi

Wo die Liebe ist,da ist auch Gott

Erzählungen

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Inhalt

Wo die Liebe ist, da ist auch Gott5

Auf Feuer habe acht!30

Wie viel Erde braucht der Mensch?61

Die Kerze93

Wovon die Menschen leben112

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Wo die Liebe ist,da ist auch Gott

In einer Stadt lebte ein Schuhmacher namensMartin Awdejitsch. Er wohnte unten im Kel-

ler, in einem Stübchen mit nur einem Fenster.Dies Fenster führte auf die Straße. Und durch dasFenster konnte man die Leute sehen, die vo-rübergingen; und obgleich man von ihnen eigent-lich nur die Füße sah, erkannte sie Martin Awde-jitsch, und zwar an den Stiefeln. Denn MartinAwdejitsch wohnte schon lange an demselbenOrt und hatte eine weitläufige Bekanntschaft. Esgab kaum ein Paar Stiefel in der ganzen Umge-gend, das nicht schon ein- oder gar zweimaldurch seine Hände gegangen wäre. Auf die einenhatte er Sohlen aufgenagelt, auf andere Flickengesetzt, noch andere zusammengenäht oder auchneue Kappen gemacht. Und oft konnte er durchdas Fenster seine eigene Arbeit wiedererkennen.Awdejitsch hatte viel Arbeit, denn er arbeitetedauerhaft, lieferte gutes Material, er war nicht zuteuer und hielt Wort. Wenn er etwas zum Termin

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fertig machen konnte, übernahm er es; wenn eres aber nicht konnte, so sagte er es sofort und be-trog keinen. Man kannte Awdejitsch als gewis-senhaft, und daher hatte er immer genug Arbeit.

Awdejitsch war stets ein guter Mensch ge-wesen, aber mit zunehmendem Alter fing er an,mehr und mehr an sein Seelenheil zu denken undsich mit Gott zu beschäftigen. Er hatte seine Frauverloren, als er noch als Geselle bei einem Meis-ter arbeitete. Sie hatte ihm einen dreijährigenKnaben hinterlassen. Seine älteren Kinder warenalle schon früher gestorben. Erst wollte Martinsein Söhnchen zu seiner Schwester aufs Dorfschicken – dann tat es ihm leid, er dachte: ›Eswird meinem kleinen Kapiton schwer fallen, un-ter Fremden aufzuwachsen, ich will ihn bei mirbehalten.‹

Und Awdejitsch gab seine Stelle beim Meisterauf und machte eine eigene Werkstatt auf. AberGott ließ ihn wenig Glück an seinen Kindern er-leben; kaum war der Junge herangewachsen undfing an, seinem Vater zur Hand zu gehen, so dassdieser seine Freude an ihm hatte, als Kapiton voneiner Krankheit befallen wurde, sich niederlegte,eine Woche in Fieber glühte und dann starb.Martin bestattete sein Kind und gab sich ganz

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der Verzweiflung hin. Er war so verzweifelt, dasser anfing, gegen Gott zu murren. Und eine solcheSchwermut überkam den Awdejitsch, dass ermehr als einmal Gott um den Tod bat, dass erGott Vorwürfe dafür machte, weil er nicht ihn,den Greis, statt seines geliebten einzigen Sohneszu sich genommen hatte. Schließlich hörte Awde-jitsch ganz auf, zur Kirche zu gehen.

Da besuchte den Awdejitsch einmal ein greiserLandsmann, der von einer Wallfahrt vom Drei-faltigkeitskloster kam. Seit acht Jahren befand ersich nun schon auf der Pilgerfahrt. Mit demsprach sich Awdejitsch aus und klagte ihm seinLeid.

»Ich habe keine Lust weiterzuleben, frommerMann. Ich wünsche mir nur noch den Tod. Nurdies allein erflehe ich von Gott. Ich bin einMensch ohne jeden Wunsch und jede Hoffnung.«

Da sprach der Greis zu ihm: »Martin, du re-dest töricht, wir haben kein Recht, uns über Got-tes Taten ein Urteil zu erlauben. Der Menschdenkt, und Gott lenkt. Deinem Sohn hat Gott be-stimmt zu sterben – dir aber zu leben. Also musses so richtig sein. Wenn du aber darum verzwei-felt bist, so kommt das daher, weil du nur zu dei-ner eigenen Freude leben möchtest.«

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»Ja, aber wozu sollte ich denn leben?«, fragteMartin.

Und der Alte erwiderte: »Für Gott müssen wirleben, Martin. Er ist es, der dir das Leben gege-ben hat, ihm sollen wir es leben. Wenn du ihmlebst, wirst du dich um nichts mehr bekümmern,und alles wird dir leicht erscheinen.«

Da schwieg Martin erst und sprach dann:»Wie lebt man ›für Gott‹?«

Und der Alte antwortete: »Wie wir für Gottleben sollen, das hat uns Christus gelehrt. Kannstdu lesen? Dann kaufe dir ein Evangelium und liesdarin, so wirst du erfahren, wie man für Gott le-ben kann. Da ist alles gesagt.«

Diese Worte fielen in Awdejitschs Herz, und erging noch am selben Tage hin und kaufte sich einNeues Testament in großer Schrift und fing an,darin zu lesen.

Zuerst hatte Awdejitsch nur an Sonn- und Fei-ertagen drin lesen wollen, aber kaum hatte er an-gefangen zu lesen, als ihm so leicht und froh umsHerz wurde, dass er jeden Tag darin las.

Oft kam er so ins Lesen, dass er nicht aufhörenkonnte, bis alles Öl in der Lampe ausgebranntwar. Und so kam es, dass sich Awdejitsch jedenAbend ans Lesen setzte. Und je länger er las, des-

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to verständlicher wurde ihm, was Gott von ihmwollte und wie man für Gott leben müsse; undimmer freier und leichter wurde ihm ums Herz.Früher hatte er, wenn er sich zur Ruhe niederleg-te, gestöhnt und geseufzt und um seinen kleinenKapiton geklagt, jetzt aber sprach er stets: »Ge-lobt seist du, gelobt seist du, Herr Gott! DeinWille geschehe!«

Seit dieser Zeit hatte sich das ganze LebenAwdejitschs verändert. Früher war er an Fest-tagen manchmal ins Wirtshaus gegangen, Tee zutrinken, hatte sich auch ein Schnäpschen ein-schenken lassen. Wenn er mit einem Bekanntenbei der Flasche gesessen hatte, war er zwar nichtbetrunken, ging aber doch etwas angeheitert ausdem Wirtshaus und redete dummes Zeug, schriedie Leute an und sprach schlecht von ihnen. Jetztwar dies alles ganz von ihm abgefallen. Sein Le-ben war still und freudevoll. Frühmorgens setzteer sich an die Arbeit, arbeitete seine bestimmteZeit, nahm dann das Lämpchen von der Wand,stellte es auf den Tisch, holte das Buch vom Re-gal, schlug es auf und fing an zu lesen.

Und je mehr er las, desto mehr verstand er,und desto heller und froher wurde es in seinemHerzen.

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Einmal geschah es, dass Martin bis spät in dieNacht gelesen hatte. Er las im Evangelium desheiligen Lukas, las das sechste Kapitel und kaman die Verse: »Und wer dich schlägt auf einenBacken, dem biete den anderen auch dar; undwer dir den Mantel nimmt, dem wehre nichtauch den Rock. Wer dich bittet, dem gib; undwer dir das Deine nimmt, da fordere es nichtwieder. Und wie ihr wollt, dass euch die Leutetun sollen, also tut ihnen gleich auch ihr.« Undweiter las er die Verse, in denen der Herr spricht:»Was heißt ihr mich aber Herr, Herr, und tutnicht, was ich euch sage? Wer zu mir kommt undhört meine Rede und tut sie, dem will ich auchzeigen, wem er gleich ist. Er ist gleich einemMenschen, der ein Haus baute und grub tief undlegte den Grund auf den Fels. Da aber Gewässerkam, da riss der Strom zum Hause zu und konn-te es nicht bewegen, denn es war auf den Fels ge-gründet. Wer aber hört und nicht tut, der istgleich einem Menschen, der ein Haus baute aufdie Erde ohne Grund; und der Strom riss zu ihmzu, und es fiel alsbald, und das Haus gewanneinen großen Riss.«

Als Awdejitsch diese Worte gelesen hatte, wur-de er froh in seinem Herzen. Er nahm die Brille

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ab, legte sie aufs Buch, stützte die Ellbogen aufden Tisch und versank in Nachdenken. Und erfing in Gedanken an, sein Leben mit diesen Wor-ten der Schrift zu vergleichen. Und er dachte beisich also: ›Wie ist mein Haus gebaut – auf Felsenoder auf Sand? Gut, wenn es auf Felsen gebautist. Es scheint so leicht: man sitzt allein undglaubt, man hätte alles getan, was Gott befiehlt –aber wie leicht lässt man sich zerstreuen und ver-sündigt sich wieder. Ich will mich noch immerweiter bemühen. Es ist ja so schön! Hilf mir da-zu, Herr Gott!‹

So dachte er und wollte zu Bett gehen, aber erkonnte sich nicht von dem Buch losreißen. Under fing noch das siebente Kapitel an zu lesen. Erlas die Geschichte vom Hauptmann von Kaper-naum, vom Sohn der Witwe zu Nain, von derAntwort, die den Jüngern des Johannes erteiltwurde, und kam an die Stelle, wo der reiche Pha-risäer den Herrn zu sich zu Gast geladen hatte.Er las, wie die Sünderin dem Herrn die Füßesalbte, sie mit ihren Tränen netzte und wie er ihrdie Sünden vergab. So gelangte er bis zum vier-undvierzigsten Vers und las:

»Und er wandte sich zu dem Weibe undsprach zu Simon: Siehest du dies Weib? Ich bin

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gekommen in dein Haus; du hast mir nichtWasser gegeben zu meinen Füßen; diese aber hatmeine Füße mit Tränen genetzt und sie mit denHaaren ihres Hauptes getrocknet. Du hast mirkeinen Kuss gegeben, diese aber, nachdem sie he-reingekommen ist, hat nicht abgelassen, meineFüße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mitÖl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salbe ge-salbt.«

Als er diese Verse gelesen hatte, dachte er beisich: ›Wasser zu den Füßen hast du mir nicht ge-geben, einen Kuss hast du mir nicht gegeben, dasHaupt nicht mit Öl gesalbt …‹

Und wieder nahm Awdejitsch die Brille ab,legte sie aufs Buch und versank wieder in Nach-denken. ›Der Pharisäer war gewiss so wie ich …hat auch wie ich nur an sich selber gedacht. Wieer gemütlich seinen Tee trinken und warm undwohl sitzen könnte, ohne dabei viel an seinenGast zu denken. Nur an sich selber hat er ge-dacht, nicht die geringste Mühe hat er sich mitseinem Gast gegeben. Wer aber war sein Gast?Der Herr Gott selber. Wenn er nun zu mir käme,würde ich es wohl auch so machen?‹ Und Awde-jitsch stützte sich auf beide Ellbogen und saß daund merkte nicht, wie er einschlummerte.

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»Martin«, flüsterte es plötzlich dicht an sei-nem Ohr. Er fuhr aus seinem Halbschlaf auf:»Wer ist da?« Er blickte um sich, sah nach derTür – niemand. Da duselte er wieder ein. Plötz-lich hörte er ganz deutlich: »Martin, he, Martin!Sieh morgen auf die Straße hinaus, ich will zu dirkommen.«

Awdejitsch wachte auf, erhob sich vom Stuhl,rieb sich die Augen. Und er wusste nicht, ob erdiese Worte im Traum oder in Wirklichkeit ge-hört hatte. Da drehte er die Lampe aus und gingschlafen.

Am anderen Morgen vor Tagesanbruch erhobsich Awdejitsch, sprach sein Morgengebet, mach-te Feuer im Ofen, setzte die Krautsuppe und dieGrütze auf, brachte den Samowar in Gang, bandseine Schürze um und setzte sich ans Fenster anseine Arbeit.

Awdejitsch saß da und arbeitete und dachtedabei unablässig an das gestrige Erlebnis. Und erdachte zweierlei: einmal, dass er geträumt habe,und dann wieder, dass er die Stimme wirklich ge-hört habe. ›Warum nicht?‹, dachte er. ›So etwasist ja schon vorgekommen.‹

So saß Awdejitsch am Fenster und schaute im-mer wieder hinaus. Und wenn jemand vorbei-

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ging, der Schuhe anhatte, die er noch nicht kann-te, dann reckte er sich und guckte aus dem Fens-ter, um nicht nur die Füße, sondern auch dasGesicht zu sehen. Der Hausknecht in neuen Filz-stiefeln ging vorüber, dann der Wasserträger,dann ein alter Soldat aus Kaiser Nikolaus’ Armeein alten, geflickten Filzstiefeln mit einer Schaufelin der Hand. Awdejitsch erkannte ihn an den Filz-stiefeln. Der Alte hieß Stepanytsch und wohntenebenan beim Kaufmann, der ihn aus Gnade undBarmherzigkeit aufgenommen hatte. Er half demHausknecht bei seiner Arbeit. Nun fing Stepa-nytsch an, vor Awdejitschs Fenster den Schneewegzuschaufeln. Awdejitsch sah ihm eine Zeitlang zu und machte sich dann wieder an seine Ar-beit. »Ich bin wohl närrisch geworden auf meinealten Tage«, spottete er über sich selbst, »Stepa-nytsch schippt Schnee, und ich bilde mir ein, derHerr Christus käme zu mir. Bist ganz dumm ge-worden, alter Tropf!«

Aber kaum hatte Awdejitsch ein Dutzend Sti-che gemacht, da zog es ihn wieder zum Fenster.Wieder schaute er hinaus und sah, dass Stepa-nytsch die Schaufel an die Mauer gestellt hatteund sich wärmte oder einfach ausruhte.

Er war ein alter, gebrechlicher Mann, und

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man sah es ihm an, dass das Schneeschippenüber seine Kräfte ging. Da dachte Awdejitsch:›Soll ich ihm vielleicht Tee geben? Mein Samo-war kocht ja schon über!‹ Er steckte die Ahle ein,stand auf, stellte den Samowar auf den Tisch,brühte den Tee auf und klopfte mit den Fingernans Fenster. Stepanytsch drehte sich um und tratzum Fenster. Awdejitsch winkte ihm und ginghinauf, ihm die Tür zu öffnen.

»Komm herein und wärme dich ein bisschen«,sagte er, »du frierst doch sicher.«

»Gott lohn’s dir, mir tun wahrhaftig alle Kno-chen weh«, sagte Stepanytsch und trat ein. Erschüttelte den Schnee ab, wischte sich die Füße,um den Fußboden nicht zu beschmutzen, undtaumelte dabei.

»Bemüh dich nicht, ich will schon aufwischen.Bei uns ist das mal nicht anders. Komm nur he-rein, setz dich«, sagte Awdejitsch. »Da, trink Tee.«

Awdejitsch schenkte zwei Gläser ein, schobeins dem Gast hin, goss den Inhalt des seinen aufdie Untertasse und pustete.

Stepanytsch trank sein Glas leer, drehte es um,legte den Zuckerrest drauf und bedankte sich.Man sah es ihm aber an, dass er gerne noch ge-trunken hätte.

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»Trink nur noch«, sagte Awdejitsch und gosssich und dem Gast ein zweites Glas ein. Awde-jitsch trank seinen Tee und guckte dabei immerwieder zum Fenster hinaus.

»Du erwartest wohl jemand?«, fragte der Gast.»Ob ich jemand erwarte? Fast schäme ich

mich zu sagen, wen ich erwarte. Ich warte nichteigentlich, aber ein Wort hat mir ans Herz gegrif-fen. Siehst du wohl, mein Lieber, gestern habe ichim Evangelium unseres Herrn und Heilands ge-lesen, wie er litt und wie er auf Erden wandelte.Hast wohl auch davon gehört?«

»Freilich«, antwortete Stepanytsch, »aber wirsind ja ungebildete Leute, wir haben lesen nichtgelernt.«

»Na, und da las ich also, wie er auf Erdenwandelte. Weißt du, ich las, wie er zu dem Pha-risäer kam und wie der ihm keinen Empfang be-reitete. Und siehst du, mein Lieber, wie ich dasgestern so las, da dachte ich: ›Wie konnte er bloßdem Herrn und Heiland nicht alle Ehren erwei-sen? Wenn das mir oder sonst jemand widerfah-ren wäre‹, dachte ich, ›ich wüsste ja gar nicht,was ich alles tun sollte, um ihn würdig zu emp-fangen! Und der hat sich um gar nichts geküm-mert!‹ So dachte ich und nickte darüber ein. Und

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so im Halbschlaf, mein Lieber, hörte ich mit ei-nem Mal meinen Namen rufen. Ich fuhr auf, undda war mir’s, als flüsterte eine Stimme mir zu:›Erwarte mich morgen, ich komme zu dir.‹ Zwei-mal hörte ich’s. Und nun, du magst mir glaubenoder nicht, geht mir das immer im Kopf herum.Ich schelte mich selbst dafür, aber ich warte im-mer wieder auf den Heiland.«

Stepanytsch schüttelte den Kopf und sagtenichts. Er trank sein Glas leer, legte es seitlichhin, Awdejitsch hob es aber wieder auf und gossihm wieder ein.

»Lass dir’s schmecken! Ich denke, als unserHeiland auf Erden wandelte, da hat er auch kei-nen verschmäht, hat sich auch mehr an die ein-fachen Leute gehalten. Immer hielt er sich zuihnen, auch seine Jünger hat er sich aus unseremStand geholt, Arbeitsleute waren sie wie wir Sün-der. Wer sich selbst erhöht, sagt er, der wird er-niedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt,wird erhöht werden. Ihr nennt mich eurenHerrn, sagt er, und ich werde euch die Füßewaschen. Wer der Erste sein will, sagt er, der sollallen ein Diener sein. Denn, sagt er, selig sind dieArmen, die Demütigen, die Sanftmütigen, dieBarmherzigen.«

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Die Erzählungen dieses Buches sind entnommen aus:Leo N. Tolstoj, Sämtliche Erzählungen, Band 5, hrsg. v.

Gisela Drohla, Insel Verlag, 1. Auflage der Ausgabe in achtBänden 1980, © Insel Verlag Frankfurt am Main 1961

© der deutschen Übersetzung: Insel Verlag Frankfurt amMain und Leipzig 1961

Übersetzung ins Deutsche:Arthur Luther: Wo die Liebe ist, da ist auch Gott /

Auf Feuer hab acht! / Die KerzeAlexander Eliasberg: Wovon die Menschen leben /

Wie viel Erde braucht der Mensch?

5. Auflage 2015

© dieser Ausgabe: Brunnen Verlag Gießen 2007www.brunnen-verlag.de

Umschlagfoto: shutterstockUmschlaggestaltung: Daniela Sprenger

Satz: DTP BrunnenDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

ISBN 978-3-7655-1956-7