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Leonhard Euler Einleitung in die

Analysis des Unendlichen Erster Teil

Mit einer Einführung zur Reprintausgabe von Wolfgang Walter

Springer-V erlag Berlin Heidelberg GmbH

1983

Einführung zur Reprintausgabe:

Professor Dr. rer. nat Wolfgang Walter Mathematisches Institut I der Universität Karlsruhe

ISBN 978-3-662-02339-6 ISBN 978-3-662-02338-9 (eBook) DOI 10.1007/978-3-662-02338-9

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek:

Euler Leonard: Einleitung in die Analysis des Unendlichen/Leonard Euler. Mit e. Einf. zur Reprintausg. von Wolfgang Walter. - Reprint -

Einheitssacht: Introductio in analysin infinitarum < dt> Teill. - Reprint d Ausg. Berlin 1885. - 1983

©Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1983 Ursprünglich erschienen bei Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York 1983 Softcoverreprint ofthe hardcover1st edition 1983 für die Einführung zur Reprintausgabe von Wolfgang Walter.

Reprographischer Nachdruck: Proff GmbH & Co. KG, Bad Honnef

2141/3014 -54 3 2 1

Einführung zur Reprintausgabe von Euters Introductio

Eulers Introductio in Analysin lnfinitorum, in aller Welt kurz Introductio genannt, erschien 1748 bei M.-M. Bousquet in Lausanne. Der erste Band, dessen deutsche Übersetzung hier in einer Reprintausgabe vorliegt, behandelt die reine Analysis (wie es Euler im Vorwort formuliert), der zweite Band die analytische Geometrie. Im 18. und 19. Jahrhundert sind insgesamt acht weitere Auflagen und Obersetzungen ins Deutsche und Franzö­sische erschienen. Insbesondere der erste Band hat auf die Ent­wicklung der Analysis einen beherrschenden, auch heute noch erkennbaren Einfluß ausgeübt. Um dieses zu verstehen, ist es notwendig, auf die Person des Autors und seine Stellung innerhalb der Mathematik des 18. Jahrhunderts näher einzugehen.

Leonhard Euler wurde am 15. April 1707 zu Basel geboren. Um diese Zeit begann die "neue" Mathematik in ihre zweite Phase der Expansion und Konsolidierung einzutreten. Newton und Leibniz, die beiden Olympier der Epoche der umwälzenden Entdeckungen, standen in ihrem siebten Lebensjahrzehnt. Newton genoß in England höchstes Ansehen, hatte sich aber weitgehend vom mathematischen Tagesgeschehen zurückgezogen (es sei daran erinnert, daß damals bereits mehrere wissenschaftliche Journale existierten, die fortlaufend neue Entdeckungen publizierten). Der um vier Jahre jüngere Leibniz war noch aktiv wie eh und je und pflegte einen regen Gedankenaustausch mit den führenden Köpfen der jüngeren Generation. Newtons Denkmodell ist die Mechanik. Die Veränderung einer Größe ist für ihn Bewegung. Ableitungen sind Änderungsgeschwindigkeiten, die er Fluxionen nennt. Der Elementarbegriff der Leibnizschen Infinitesimalrech­nung ist das Differential, die unendlich kleine Differenz zweier unmittelbar benachbarter Funktionswerte (er nennt es übrigens

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differentia, also Differenz). Von dem in Paris lebenden Marquis de !'Hospital erschien 1696 die Analyse des infiniment petits pour l'intelligence des lignes courbes (Analysis des Unendlich­Kleinen zum Verständnis der gekrümmten Linien), das erste und für lange Zeit das einzige Lehrbuch der Differentialrechnung. Es entstand unter dem Einfluß Johann Bernoullis und sicherte dem Leibnizschen Kalkül weite Verbreitung. In England wurden um die Jahrhundertwende die ersten Vorwürfe publik, Ne.wton allein und nicht Leibniz sei der wahre Erfinder der Differential­bzw. Fluxionsrechnung. Dieser unglückliche Prioritätenstreit gewann, von nationalistischem Eifer geschürt, zunehmend an Heftigkeit. Seinen Höhepunkt erreichte er 1712 mit dem Bericht der Royal Society (englische Akademie der Wissenschaften, 1662 gegründet). Darin wird der gegen Leibniz gerichtete Plagiats­vorwurf durch einseitig ausgewählte und ausgelegte Dokumente erhärtet. Die Kontroverse hatte für die Wissenschaft in England schlimme Folgen. Die englischen Mathematiker verteidigten die Fluxionsrechnung und -bezeichnung. Sie koppelten sich damit von der Entwicklung auf dem Kontinent ab, die in der Leibniz­schen Schule und später vor allem durch Eulers Wirken stürmisch voranschreiten sollte. Denn ebenso unbestritten wie die zeitliche Priorität Newtons ist die Überlegenheit der' Leibnizschen Ter­minologie. Leibniz, dem die Übereinstimmung von Inhalt und Form ein philosophisches Grundanliegen war, hatte eine das Wesen der Sache erfassende und heute noch benutzte Nomenklatur ge­funden. Der Leibnizsche Kalkül macht Aufgaben, deren Lösung vormals als schwierig galt und nur dem Hochbegabten erreichbar war, auch dem Mittelmäßigen zugänglich (so ähnlich hat es Leibniz einmal ausgedrückt).

In Basel hatte sich im 17. Jahrhundert die Familie der Bernoul­lis niedergelassen. Sie war aus Antwerpen ihres protestantischen Glaubens wegen vertrieben worden. Jakob Bernoulli, seit 1687 Professor der Mathematik in Basel, war der erste überragende Mathematiker der Leibnizschen Schule. Nachdem er bereits 1705 verstorben war, wurde sein jüngerer Bruder Johann als Nachfolger auf den Baseler Lehrstuhl berufen. Eulers Vater war Pastor in Riehen, einem Vorort Basels. Er brachte der Mathematik großes Interesse entgegen und pflegte freundschaftlichen Umgang mit den Bernoullis. So ereignete sich der kaum vorstellbare Glücks­fall, daß der junge Euler, aus dem später der bedeutendste Mathematiker des Jahrhunderts werden sollte, und Johann

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Bernoulli, der nach Leibnizens Tod (1716) der unbestrittene princeps mathematicorum in Europa war, zusammentrafen. In seiner Autobiographie von 1767 erinnert sich Euler1 :

A. 1720 wurde ich bey Universitat zu den Lectionibus publicis promo­virt: wo ich bald Gelegenheit fand dem berühmten Professori J o h an­n i B e r n o u 1 1 i bekannt zu werden, welcher sich ein besonderes Vergnügen daraus machte, mir in den Mathematischen Wissenschaften weiter fortzuhelfen. Privat Lectionen schlug er mir zwar wegen seiner Geschäfte gänzlich ab: er gab mir aber einen weit heilsameren Rath, welcher darin bestand, dasz ich selbster einige schwerere mathematische Bücher vor mich nehmen, und mit allem Fleisz durchgehen sollte, und wo ich einigen Anstosz oder Schwierigkeiten finden möchte, gab er mir alle Sonnabend Nachmittag einen freyen Zutritt bey sich, und hatte die Güte mir die gesammlete Schwierigkeiten zu erläutern, welches mit so erwünschten V ortheile geschahe, dasz wann er mir einen Anstosz geho­ben hatte, dadurch zehn andere auf einmahl verschwanden, welches gewiss die beste Methode ist, um in den mathematischen Wissenschaften glückliche Progressen zu machen.

Eu1er erlangte nach vierjährigem Studium die philosophische Magisterwürde der Universität Basel. Zwei Jahre danach bewarb sich der 19-jährige um eine freigewordene Physikprofessur in Basel, kam aber nicht in die engere Wahl.

In dieser Zeit, dem frühen 18. Jahrhundert, begann die Mathematik, gestützt auf die Newtonsehe Mechanik und erste Ansätze zur Hydromechanik, in die bis dahin weitgehend em­pirisch arbeitende Ingenieurkunst einzudringen. Die neuen infinitesimalen Methoden führten zu einer Fülle konkreter praktischer Anwendungen auf den verschiedenen Gebieten (für die Bearbeitung einer Preisaufgabe der Pariser Akademie über die zweckmäßige Bemastung von Schiffen erhielt der junge Euler 1727 ein ehrenvolles Accessit). Weitsichtige europäische Herrscher erkannten die Nützlichkeit von Mathematik und Naturwissen­schaft und trugen durch die Gründung und Unterhaltung wissen­schaftlicher Akademien zu ihrer Förderung bei. Die Akademien

1 Pekarski, P.: Ekaterina /I i Euler (Anlage 1). Zapiski lmperatorskoi Akademü Nauk St. Petersburg, 6 (1865) p. 75-76.

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und nicht die Universitäten waren die eigentlichen Stätten der wissenschaftlichen Forschung 1 •

Katharina I. von Rußland hatte im Jahre 1725 die Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg, dem heutigen Leningrad, gegründet. Sie bemühte sich, Gelehrte von Weltruf an die neue Akademie zu ziehen und wandte sich auch an Johann Bernoulli. Dieser wollte jedoch Basel nicht verlassen und sandte seine beiden Söhne Daniel und Nikolaus. Beide erhielten 1725 wohldotierte Professuren in St. Petersburg. Sie setzten sich für Euler ein und erreichten, daß ihm die Stelle eines Adjunkten der Physiologie an der Akademie angeboten wurde. So brach Euler am 5. April 1727, kurz vor seinem 20. Geburtstag, zur großen Reise nach Rußland auf. Das Glück war ihm zunächst wenig hold. Am Tage seiner Ankunft, dem 17. Mai 1727, war Kaiserin Katharina, die mächtige Förderin der Akademie, gestorben. Die Situation in St. Petersburg wurde dadurch grundlegend verändert, und die Existenz der Akademie war bedroht. Euler war froh, als Marine­leutnant bei der russischen Flotte dienen zu können. Doch als Kaiserin Anna 1730 den Thron bestieg, begann eine Blütezeit der Wissenschaft in Rußland. Euler erhielt zunächst die freige­wordene Physikprofessur an der Akademie und dann 1733 die Mathematikprofessur als Nachfolger von Daniel Bernoulli, der nach Basel zurückgekehrt war. Im selben Jahr verheiratete er sich mit Katharina Gsell aus St. Gallen, der Tochter des Direktors der Petersburger Malakademie. An der Akademie entfaltete Euter eine Forschertätigkeit, die an Intensität, Umfang und Wirkung kaum eine Parallele in der Geschichte hat. Seine Ab­handlungen und seine umfangreiche Korrespondenz verbreiteten seinen Ruhm in Europa. Seine Lehrbücher, bei denen ein Meister der Sache und der Didaktik die Feder führt, sicherten ihm einen weit über seine Lebenszeit hinausreichenden Einfluß. Das zwei­bändige Mechaniklehrbuch erschien schon 1734 und 1736. Mit

1 Nicht alle Zeitgenossen betrachteten die Akademien, die schließlich viel Geld kosteten, mit Wohlwollen. In der Reise nach Laputa, der dritten von Gullivers Reisen, beschreibt Jonathan Swift das Leben an der dortigen Akademie und die Arbeitsweise der Wissenschaftler mit beißendem Spott. Das eigentliche Objekt dieser im Jahre 1726 erschienenen Satire ist die Royal Society in London. In einem faszinierenden Artikel von M. Nicolson und N.M. Mohler "The scientific back­ground of Swift's Voyage to Laputa" [Annals of Science 2 (1937) 299-334) werden die Beziehungen zwischen Gullivers Erlebnissen und Personen und Ereig­nissen im intellektuellen Leben Englands im einzelnen aufgezeigt.

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der systematischen Verwendung infinitesimaler Methoden eröffnete es eine neue Epoche in der Mechanik. Ähnliches gilt von seinen Arbeiten zur Variationsrechnung, welche in einem großen, 320 Seiten umfassenden Lehrwerk (erschienen 1744) zusammengefaßt wurden.

In Berlin hatte Friedrich der Große 1740 den preußischen Königsthron bestiegen. Er wandte sich sofort zwei großen Auf­gaben zu, dem Ausbau der Armee und der Neubelebung der von Leibniz begründeten Berliner Akademie. Von Friedrich gerufen, zog Euler nach Berlin und wirkte dort 25 Jahre lang, von 1741 bis 1766, an der Akademie als Direktor der mathematischen Klasse (Präsident der Akademie war Maupertuis). Die Berliner Jahre sehen Euler auf dem Höhepunkt seiner schöpferischen Kraft. Seine Stellung als führender Forscher seiner Zeit ist unbestritten. Als erstes seiner großen systematischen Lehrwerke der Analysis entsteht die zweibändige Introduction in analysin infinitarum Es folgen 1755 die Differentialrechnung und 1768-1770 seine dreibändige Integralrechnung, die eine Theorie der gewöhnlichen und partiellen Differentialrechnung mit einschließt.

Zunehmende Schwierigkeiten mit dem König veranlaßten Euler, seine Blicke wieder nach St. Petersburg zu richten. Fried­rich versagte ihm jene Hochachtung, welche er d'Alembert, Voltaire und anderen Vertretern des französischen Kulturkreises entgegenbrachte. Die französische Aufklärung, der sich Friedrich verpflichtet fühlte, und der lutherische Glaube, dem Euler zeit seines Lebens treu blieb, waren zwei verschiedene Welten. Friedrich Wolff, der herausragende Vertreter der noch jungen deutschen Aufklärung, stand nicht nur beim König in höchstem Ansehen. Eulers Kampf gegen die Wolffsche Philosophie brachte ihm spöttische Ablehnung ein und war nicht dazu angetan, seine Stellung in Berlin zu stärken. Aus dieser Auseinandersetzung mit der Philosophie entstand Eulers wohl erfolgreichstes Werk, die Le ttres a une princesse d'allemagne sur quelques Sujets de Physique et de Philosophie (hier finden sich auch die "Eulerschen Kreise" zur Beschreibung logischer Zusammenhänge, Vorläufer der Venn­Diagramme). Diese Briefe entstanden aus dem Unterricht für die Töchter des Markgrafen von Brandenburg-Schwedt. Sie erschienen in drei Teilen 1768-1772 in Petersburg, wurden in alle wichtigen Kultursprachen übersetzt und erlebten zahlreiche Auflagen.

1766 ging Euler zurück nach St. Petersburg und arbeitete an der Akademie bis an sein Lebensende. Nachdem er schon als

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28-jähriger sein rechtes Auge eingebüßt hatte, bedrohte ein sich entwickelnder Altersstar seine Sehfähigkeit auf dem anderen Auge. Nach einer unglücklich verlaufenen Staroperation wurde er 1771 völlig blind. Er hatte sich schon vorher darin geübt, blind auf eine Tafel zu schreiben. Assistiert von seinen Söhnen und Schülern und unterstützt von einem phänomenalen Gedächt­nis, das es ihm ermöglichte, selbst langwierige Rechnungen im Kopf auszuführen, schrieb und diktierte er nun seine Arbeiten. Seine Produktivität hielt unvermindert bis an sein Lebensende an. Euler erlitt am 18. September 17 83 mitten in der Arbeit einen Schlaganfall, dem er wenige Stunden später erlag. Noch fünfzig Jahre lang füllten die nachgelassenen Abhandlungen Eulers die Berichte der Akademie.

Als Mathematiker, Physiker und Mechaniker ist Euler die beherrschende Gestalt des 18. Jahrhunderts. Erst unsere Zeit beginnt, seine volle Größe zu erkennen und ihn ohne Zögern auf eine Stufe mit Archimedes, Newton und Gauß zu stellen (daß das vergangene Jahrhundert, dessen größte Leistung die logische Bewältigung des Unendlichen und die Rückführung der Mathematik zur griechischen Strenge war, hier reservierter ur­teilte, ist historisch verständlich und verzeihlich). Auch als Mensch verdient Euleralle Sympathie. Nach dem Urteil von Zeit­genossen war er ein Mann von heiterem, humorvollem Gemüt, frei von jeder Überheblichkeit, dabei aber durchaus selbst bewußt. Seiner großen Familie, mit der er regelmäßig Hausandachten hielt, war er ein treusorgendes Oberhaupt. Großzügig erkannte er die Verdienste anderer an, war in keine Prioritätsstreitigkeiten verwickelt und hielt gelegentlich eigene Arbeiten zurück, um anderen (so dem jungen Lagrange) eine Chance zu geben. Neid war ihm absolut fremd.

Die Gesamtausgabe von Eulers Werken ist mit über 80 vorlie­genden Bänden nahezu abgeschlossen. Ein profunder Kenner1 hat errechnet, daß etwa ein Drittel dessen, was während Eulers Zeit auf den Gebieten der Mathematik, der Naturwissenschaften und der technischen Wissenschaften geschrieben worden ist, aus seiner Feder stammt. In einigen Stichworten soll der Umfang und die Breite seines Schaffens wenigstens angedeutet werden. Aus der Übersetzung eines rein empirischen Werkes New principles

1 C. Truesdell, Leonhard Euler, supreme geometer. In: H.E. Pagiardo (ed.), lr­rationalism in the 1sth century, Case Western 1972.

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of Gunnery des Engländers Benjamin Robbins entstand das erste Lehrbuch über Ballistik (1745), mit welchem Euter wohl auch dem König seine Nützlichkeit demonstrieren wollte. Es wurde an den französischen Militärschulen offiziell eingeführt, und noch Napoleon mußte es als Leutnant studieren. In mehreren Abhandlungen und einem umfangreichen Werk, der Scientia navalis, entwickelte Euter die Grundlagen der Hydrostatik und Hydrodynamik und wandte sie mit analytischer Meisterschaft auf die schwierigen Probleme des Baues und der Steuerung von Schiffen an. Eine 1773 erschienene, für die Praxis des Schiffbaus ausgerichtete Kurzfassung der Schiffstheorie wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Von Ludwig XVI. erhielt Euter für dieses Werk ein Geschenk von 1000 Rubel, und Katharina II. legte den doppelten Betrag hinzu. Euters Arbeiten über den Turbinenbau weisen weit in die Zukunft und bilden die Grundlage der moder­nen Theorie der Turbinen. Im Jahre 1749 erregte Euter mit der Behauptung, daß man aus verschiedenen Glassorten farbfehler­freie Linsen herstellen kann, den scharfen Widerspruch der Newtonsehen Schule. Der Engländer John Dolland experimen­tierte daraufhin mit Linsen aus Kron- und Flintglas zunächst in der Absicht, Euter ad absurdum zu führen - und überraschte die Welt 1757 mit dem ersten achromatischen Fernrohr! Die Theorie der achromatischen Linsen ist Euters Werk. In seinem großen dreiteiligen Spätwerk Dioptrik (1769-1771 in St. Petersburg erschienen) werden die noch heute gültigen Grundlagen für die Konstruktion optischer Systeme geschaffen. Die Eutersehe Knick­formel und die Eutersehen Kreiselgleichungen gehören zu seinen mechanischen Entdeckungen, während er die Himmelsmechanik durch Untersuchungen über die Bewegung von Planeten und Kometen, die Erklärung von Ebbe und Flut und ein monumenta­les Werk Theoria motuum lunae (Theorie der Mondbewegungen, 1772) bereichert hat. Mit dem Hinweis auf Arbeiten zur Karto­graphie und Geodäsie, zur Theorie der Blasinstrumente und auf die 1731 entstandene Musiktheorie sei diese kurze Aufzählung beschlossen.

In erster Linie ist Euter jedoch Mathematiker. Er hat alle Gebiete der Mathematik befruchtet, und einige, so die analytische Zahlentheorie und die kombinatorische Topologie, nehmen von ihm ihren Ausgang. Euters fundamentale Beiträge zur Analysis können hier nicht im einzelnen besprochen werden. Wir begnügen uns mit der simplen Feststellung, daß die Analysis als ein eigen-

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ständiger, von Geometrie und Algebra unabhängiger neuer Zweig der Mathematik das Werk Euters ist. Diese Verselbständigung und Loslösung der neuen infinitesimalen Mathematik manifestiert sich in seinen bereits genannten drei großen Lehrbüchern zur Analysis. Euler schreibt mit überlegener Klarheit in einer un­komplizierten Sprache. Er entwickelt seinen Gegenstand sorg­fältig, er zeigt, wie man auf etwas kommt und geht gelegentlich auch auf Irrwege ein. über Schwierigkeiten kann er, wenn Be­weisnot herrscht, großzügig hinweggehen. Beispiele begleiten und erläutern die Theorie. Euler ist der erste Autor, dessen Bücher von einem heutigen Studenten mühelos und ohne erklärende Kommentare gelesen werden können. Schließlich geht unsere mathematische Nomenklatur weitgehend auf ihn zurück! Bei der Abfassung der Vollständigen Anleitung zur Algebra, einem 1770 in zwei Bänden erschienenen überragenden Werk, das in alle Kultursprachen übersetzt wurde, bediente sich Euler des folgenden didaktischen Verfahrens. Er diktierte den Text seinem Diener, einem Schneidergesellen ohne mathematische Bildung. Dieser mußte auch die Rechnungen selbständig durchführen. Auf diese Weise kontrollierte Euler das Verständnis seines Dieners und da­mit gleichzeitig die Verständlichkeit seines eigenen Textes.

Mit der Introductio beginnt Eulers analytische Trilogie. Während Newton in Bewegungsabläufen denkt und Leibniz seine Differentiale anhand von Kurven und ihren Tangenten erklärt, löst sich Euler vollständig von mechanischen oder geo­metrischen Vorstellungen. Der ganze erste Band der Introductio enthält nicht ein einziges Bild! An die Spitze stellt Euter einen Begriff, der von ihm zwar nicht erfunden, jedoch zuerst in seiner zentralen Bedeutung erkannt wird, den der Funktion. Aufbau und Inhalt der Introductio legen den Schluß nahe, daß Euler bereits bei seiner Abfassung einen großen Gesamtplan hatte, das ganze Gebiet, welches wir heute die (klassische) Analysis nennen, in einer Reihe von Lehrwerken darzustellen. In diesem Gesamt­plan ist die Introductio nicht eine Einleitung in die Infinitesimal­rechnung in dem Sinne, wie heutige Lehrbücher das Wort Ein­leitung benutzen. Das Buch dient der Klärung der Grundbe­griffe. Es ist ein Prolog zu den beiden großen Themen Differen­tial- und Integralrechnung, welche erst in späten Werken behandelt werden. Das Thema des Buches ist das Rechnen mit unendlichen Reihen und Produkten und insbesondere die entsprechende Darstellung transzendenter Funktionen; dafür hat das 19. Jahr-

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hundert den Begriff Algebraische Analysis geprägt. So werden nicht nur die seit Newton und Gregory bekannten Reihenent­wicklungen, sondern auch solche spektakulären Ergebnisse wie das Sinusprodukt elementar, ohne die Hilfsmittel der Differential­rechnung abgeleitet. Was einfach zu machen geht, soll auch einfach gemacht werden, und man soll nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen! Wir wollen im Vorbeigehen bemerken, daß sich unsere Ausführungen auf den vorliegenden ersten Band der Introductio beziehen. Der zweite Band ist der analytischen Geometrie und den Anfängen der Differentialgeometrie gewidmet. Diese Anordnung macht den fundamentalen Unterschied in der Auffassung deutlich. Die Geometrie tauscht den Platz. Sie verliert ihre Rolle bei der Begründung der Infinitesimalrechnung und wird - neben der Mechanik -zum klassischen Anwendungsge­biet der Analysis.

Einige Bemerkungen zum Inhalt der Introductio im einzel­nen. Die gesamte Analysis handelt von den veränderlichen Zahl­größen und deren Funktionen, sagt die Einleitung. In § 4 wird dann die entscheidende Definition gegeben: Funktion ist ein analytischer Ausdruck, wie es zuerst Johann Bernoulli formuliert hat. Euler blieb jedoch nicht lange bei dieser engen Auslegung. Die Fortschritte in der Analysis führten immer deutlicher vor Augen, daß die Anhindung des Funktionsbegriffes an den Rechen­ausdruck unangemessen und hinderlich war. Vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Problem der schwingenden Saite (es führt auf die Fouriersehen Reihen) bildete sich die Vorstel­lung von ganz willkürlichen, etwa von freier Hand gezeichneten Funktionen heraus. Schon in der Differentialrechnung von 1755, Eulers zweitem Werk zur Analysis, findet sich der allgemeine "moderne" Begriff einer Funktion als einer beliebigen Zuord­nung in aller Klarheit. Jedoch sollte noch ein ganzes Jahrhundert vergehen, bis sich diese Auffassung in der Mathematik allgemein durchgesetzt hatte (daran war nicht zuletzt der große Einfluß der Introductio "schuld"). Noch heute wird der Funktionsbe­griff der lntroductio gelegentlich nach Euler, der allgemeine Funktionsbegriff nach Dirichlet benannt. Halten wir demgegen­über fest: der "Eulersche" Funktionsbegriff stammt von Johann Bernoulli, der "Dirichletsche" von Euler1 !

1 Eine eingehende historische Darstellung gibt der Artikel The Concept of Function up to the Middle of the 19th Century von A.P. Youschkevitch im Arch. Hist. Exact Sei. 16 (1976/77), 37-85.

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Im zweiten Kapitel "Von der Umformung der Funktionen" wird im wesentlichen die Faktorzerlegung der ganzen Funktionen und die Partialbruchzerlegung der gebrochenen Funktionen behandelt (ganze Funktion =Polynom mit reellen Koeffizienten, gebrochene Funktion = rationale Funktion mit reellen Koeffi­zienten). Hier wird der (erst von Gauß bewiesene) Fundamental­satz der Algebra implizit benutzt, etwa in § 28: "Eine ganze Funktion von z, in welcher der Exponent der höchsten Potenz von z gleich n ist, wird also n einfache Faktoren enthalten". Bei dem Satz, daß sich die einfachen (d. h. linearen) imaginären (d. h. komplexen) Faktoren immer so zu Paaren zusammenfassen lassen, daß reelle zweifache (d. h. quadratische) F:aktoren ent­stehen, gibt es Schwierigkeiten, die offen zugegeben werden (§ 32).

Im vierten Kapitel über unendliche Reihen beginnt die eigentliche Analysis. Im einleitenden § 59 wird zunächst be­hauptet, daß jede Funktion in eine nach Potenzen von z fort­schreitende Reihe A + Bz + Cz2 + Dz3 + ... entwickelt werden könne, und etwa aufkommender Zweifel wird "durch die wirk­liche Entwicklung einer jeden Funktion beseitigt werden". Doch ist es Euler ungeachtet der starken Worte nicht ganz wohl. So fährt er fort, daß auch Potenz~n mit beliebigen Exponenten, also Reihen der Form Aza + Bzl1 + Cz'Y + Dzll + ... zugelassen werden, "damit sich die gegenwärtige Untersuchung auf ein möglichst weites Gebiet erstrecke". Die sich anschließende Entwicklung der rationalen Funktionen durch "fortgesetzte Division" führt auf Reihen, die man gewöhnlich nach Moivre, der sich zuerst eingehend mit ihnen beschäftigte, rekurrente Reihen nennt (eine der wenigen historischen Bemerkungen am Schluß von § 62). In § 71 wird die Binomialreihe, eine der großen Entdeckungen Newtons, mitgeteilt, ohne daß über den Beweis auch nur ein einziges Wort verloren wird. Das ist umso merkwürdiger, als die Binomialreihe das Fundament bildet, auf dem die anderen Entwicklungen aufbauen. Nun hatte sich schon mehr als ein Mathematiker am Beweis der Binomialreihe die Zähne ausgebissen. Newton behalf sich damit, daß er zahlreiche Versuche von der folgenden Art machte: Man multipliziert die Reihen für v'T+Z und 1 /.JT+z und stellt fest, daß, abgesehen vom konstanten Glied 1, die Koeffizienten der ersten zwanzig (oder mehr) Potenzen von z verschwinden. Man findet Beweis­versuche bei Maclaurin in seinem hervorragenden Werk Treatise

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of fluxionsvon 1742, später bei Eulerinder Differentialrechnung und anderswo. Der erste stichhaltige Beweis wurde 1774 von Eu1er (Petrop. Comment. 19 ad a. 1 77 4, p. I 03) angegeben. Er geht aus von der Funktionalgleichung ( 1 + x)a ( 1 + x)ß = ( 1 + x)a + ß, welche durch Reihenmultiplikation mit Hilfe der Formel

bewiesen wird. Die vollständige Klärung des Konvergenzverhaltens der Binomialreihe wurde erst durch N .H. Abel in einer für die Reihenlehre grundlegenden Arbeit aus dem Jahre 1826 (J. reine angew. Math., Bd. 1) erreicht. Wie dieses vierte Kapitel zeigt, ist Funktion in der Introductio etwa das, was wir heute analytische Funktion nennen. Potenzreihen erscheinen als das natürlichste von der Welt, über Konvergenz und Divergenz von unendlichen Reihen wird nicht geredet. Eine Potenzreihe ist, ganz im Sinne Newtons, ein ad infinitum fortgesetztes Polynom, und man darf mit ihr genauso wie mit Polynomen rechnen. Die Analysis der transzendenten Funktionen ist nichts anderes als eine natürliche Erweiterung der Algebra. Die Introductio stellt, auf die kürzeste Formel gebracht, die konsequente Durchführung dieses Prinzips dar.

Das sechste Kapitel handelt von den Exponentialgrößen und Logarithmen. Eulers Einführung hat sich allgemein durchgesetzt. ß ist +2 und nicht -2, denn "so läßt man doch an diesem Orte gewöhnlich nur die Hauptwerte, d. h. die reellen und positiven Werte gelten" (§ 97). Der Logarithmus wird in § 102 als Um­kehrfunktion zur Exponentialfunktion erklärt. An einem Beispiel wird gezeigt, wie man den Logarithmus durch fortwährendes Wurzelziehen berechnet. Es ist ein auf der Formel

1 log y'Aß = ilog A +log B)

gegründetes Halbierungsverfahren. Durch 22-maliges Wurzel­ziehen ergibt sich log 5 auf 6 Stellen genau (S. 78). Der § 107 sei als ein Beispiel für Eulers zwingenden und eleganten Stil zur Lektüre empfohlen. Es geht um den Satz, daß sich die Logarith­men zu zwei verschiedenen Basen nur um einen gemeinsamen Faktor unterscheiden. Schön und durchaus aktuell sind seine

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Beispiele in § 110 und § 111. Das erste Beispiel 27 112 = 1,498307 hat einen musiktheoretischen Hintergrund (7 von 12 temperier­ten Halbtönen ergeben ein Intervall, das geringfügig kleiner als die reine Quint= 1,5 ist), doch erwähnt er nichts davon. Die nächsten drei Beispiele zum Wachstum der Bevölkerung (Bevölkerungs­explosion sagt man heute) sollten wohl die Zeitgenossen zum Nachdenken anregen.

Im siebten Kapitel werden die Potenzreihen für die Expo­nential- und Lograithmusfunktion abgeleitet. Hier begegnet uns zum ersten Mal die für Euler typische Art, mit Grenzprozessen zu rechnen. Zunächst erstaunt, wie er in § 114 nonchalant unendlich kleine und unendlich große Zahlen einführt, ohne viel Aufhebens davon zu machen. Später in der Differentialrechnung geht er ausführlich auf dieses Thema ein. Unendlich kleine Zahlen werden meist mit w, unendlich große mit i (vom lat. infinitus = unbegrenzt, unendlich) bezeichnet (unsere Schreibweise i = ..J=T geht auch auf Euler zurück, doch hat er sie erst viel später einge­führt). Wenn Euler etwa schreibt

aw = 1 +kw und ez = (1 +1)i,

wo bei w eine unendlich kleine und i eine unendlich große Zahl ist, so entspricht das den Formeln

k = lim aw - 1 und ez = lim (1 +!1. )i w~o w 1 ~oo

in heutiger Auffassung. Man vergleiche die Eutersehe Ableitung der Potenzreihe für az in § § 115, 116 mit einem modernen Beweis der Formel

lim (1 +-nx)n = ~ xk n ~ oo k = o k! '

wie er etwa bei K. Knopp, Theorie und Anwendung der unend­lichen Reihen, S. 196-197 geführt wird (man setze dort x = kz). Bei der Ableitung der Logarithmusreihe aus der Binomialreihe folgt Euler weitgehend dem Weg, welchen E. Halley, der große englische Astronom, in einer Arbeit über Logarithmenberechnung aus dem Jahre 1965 eingeschlagen hatte. Anhand der Reihen

für log ( 1 + x) und log 11 + x, welche "sehr stark konvergieren,

-X

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wenn man für x einen sehr kleinen Bruch setzt" (eine der selte­nen Bemerkungen über Konvergenz, S. 92), berechnet er log 2, log 3, ... , log I 0 auf 25 Stellen und zeigt so eindrucksvoll die Überlegenheit dieser Berechnungsmethode. Die Formel ez =

(I + fr. welche zum ersten Mal in einer Arbeit Eulers aus dem

Jahre 1743 (Miscellanea Berolinensia, Bd. VII) erscheint, spielt in den beiden folgenden Kapiteln eine entscheidende Rolle.

Das achte Kapitel handelt von den Kreisfunktionen. Vor Euler verstand man unter dem Sinus und Cosinus die Länge von entsprechenden Strecken in einem Kreis vom Radius R. Euler standardisiert diese Funktionen, indem er sie auf den Einheits­kreis bezieht und für die Winkel das Bogenmaß einführt. Für den halben Umfang des Kreises wählt er die Bezeichnung 1r, und er gibt die 1717 von de Lagny berechneten 127 Dezimalstellen dieser Zahl an (in einem 1739 in den Commentarii Acad. Petropolitanae, Bd. XI erschienenen Artikel führt Euler zum ersten Mal die Bezeichnungen 1r und e ein, und beide haben sich durchgesetzt). Aus den Additionstheoremen wird zunächst die Moivresche Formel

(cosz +~ sin z)n = cos nz +~ sin nz

und dann aus dieser in § 133 durch Grenzübergang A la Euler die Potenzreihenentwicklung für Sinus und Cosinus abgeleitet (Newton hat es ganz anders, nämlich durch Umkehrung der Arcussinusreihe, gemacht). Der § 138 bringt dann die .berühmte Eutersehe Formel

ev~ = cos v + ..;-=T sin v.

Als erste Anwendung werden die Logarithmen komplexer Zahlen auf Kreisfunktionen zurückgeführt. Die Eutersehe Antwort auf dieses alte Problem - Leibniz und Johann Bernouilli waren 1712/13 über die Logarithmen von negativen Zahlen in Streit ge­raten -ist jedoch nicht vollständig. Im Jahre 1749, ein Jahr nach dem Erscheinen der Introductio, erreicht Euter in einem Artikel mit dem Titel De Ia controverse entre Mrs. Leibnitz et Bernouilli sur /es Logarithmes des nombres negatifs et imaginaires die voll­ständige Klärung der Frage, die man in der Kurzform y =log x

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<;:::::::> x = eY (x, y komplex) zusammenfassen kann, und erkennt die Unendlichkeit-Vieldeutigkeit der Logarithmusfunktion.

Der Höhepunkt des neunten Kapitels ist das Sinusprodukt. Hier geht Euler einen entscheidenden Schritt über Newton hinaus, der als erster mit Potenzreihen so rechnet, als wären es Polynome. Euler überträgt auch die Faktorzerlegung von Poly­nomen auf transzendente Funktionen. Sein Vorgehen von außer­ordentlicher Kühnheit sei kurz geschildert. Die reellen quadra­tischen Faktoren von an - zn (a und z sind reell) sind durch

a2 - 2 a z cos 2 k 7r + z2 gegeben (§ 151). Zunächst wendet er n

dieses Ergebnis auf

ex -1 ={1 +-[)i-1

an und findet die am Ende von § 15 5 angegebenen unendlich vielen Faktoren. Obwohl hier die einzelnen Faktoren den unend-

lich kleinen Teil ~ enthalten, so darf derselbe doch nicht wegge-1

lassen werden, fährt er in § 156 fort, weil sich aus ihm nach aus­geführter Multiplikation aller Faktoren, deren Anzahl gleich

! i ist, das Glied~ ergeben würde. Auf diesem Wege kommt man

nicht zum Ziel, und Euler nimmt einen neuen Anlauf. Er be­stimmt die Faktoren von

ex _ e-x = ( 1 + ~y -( 1 - TY und erhält nach Umrechnung und Vernachlässigung unendlich kleiner Terme

x2 x2 x2 x2 ex- e-x = 2x(l +~) (1 + 47Tz) (1 + g1Tz) 0167Tz) · · ·

( § 156). Setzt man nun für x eine imaginäre Größe z~ ein, so ergibt sich das Sinusprodukt (§ 158)

. z2 z2 z2 sm z = z(l - 2) (1 - 4iC2) 0 - -9 2) · · · 1T 1T 1T

Das zehnte Kapitel enthält eine Fülle von Summen unend­licher Reihen. Besonders hervorgehoben seien die Werte der (heute so genannten) Riemannschen Zetafunktion

Einfiihrung zur Reprintausgabe 19

1 I 1 t (n) = 1 +- +- + - ... für n = 2,4,6, ... , 2n 3n 4n

mit deren Bestimmung im Jahre 1736 Euler großes Aufsehen erregt hatte. Um diese Reihensummen hatten sich die beiden älteren Bernoulli-Brüder und zahlreiche andere Mathematiker vergeblich bemüht. Dieses Kapitel ist eine Fundgrube für schöne übungsaufgaben. Ähnliches gilt füt die Kapitel 11 und 15, in welchen neben Reihen auch unendliche Produkte auftreten.

Das dreizehnte Kapitel setzt die Untersuchungen über rekur­rente Reihen fort. Darunter versteht man Potenzreihen ~ an zn, bei welchen die Koeffizienten einer linearen Relation, etwa a + 3 = o:an + ßan + 1 + ran + 2 genügen. An zahlreichen Bei­spielen wird gezeigt, wie die durch die Reihe dargestellte ratio­nale Funktion gefunden wird, und umgekehrt. Hierbei wird der Identitätssatz für Potenzreihen benutzt und in § 214 bewiesen.

Ein Höhepunkt des Buches ist des 16. Kapitel, in dem Euler die von ihm selbst in den Jahren 1 7 40-17 44 entdeckten Resultate über Partitionen und erzeugende Funktionen darstellt. Es handelt sich hierbei um die erste systematische Bearbeitung von Problemen der additiven Zahlentheorie und zugleich um die erste Anwen­dung analytischer Hilfsmittel auf zahlentheoretische Probleme. Aus diesen ersten Ansätzen entstand in der Folgezeit eine um­fangreiche, noch heute aktuelle Theorie. Ganz im Sinne seiner didaktischen Bemühungen gibt Euler zum Schluß dieses Kapitels eine Anwendung auf das bekannte Problem der Wägung mit ganz­zahligen Gewichten.

Das achtzehnte und letzte Kapitel handelt von den Ketten­brüchen. Euler hat in zwei Arbeiten aus den Jahren 173 7 und 1739 die Anfänge einer systematischen Theorie der Kettenbrüche gegeben. Diese Theorie stellt er hier dar. Er zeigt, wie man eine unendliche Reihe in einen Kettenbruch verwandelt und illustriert dies an zahlreichen Beispielen. U. a. findet er die Kettenbruchent­wicklung von e und e2 und zeigt damit, ohne es zu erwähnen, daß diese Zahlen irrational sind. Das Buch schließt mit einem schönen Beispiel, der Begründung der Schaltjahrregel des Grego­rianischen Kalenders mittels der Kettenbruchentwicklung des Überschusses der mittleren Jahreslänge zu 365 Tagen.

Die Introductio und mit ihr die ganze Analysis des 18. Jahr­hunderts wird überschattet von einem sich fortwährend ver­schlimmernden Dilemma. Großartige neue Ergebnisse werden

20 Einfiihrung zur Reprintausgabe

mit unklaren, in höchstem Maße dubiosen Methoden gewonnen. Gegen Ende des Jahrhunderts wird der Ruf nach einer .Klärung der Grundlagen unüberhörbar. Der Versuch von Lagrange, die Infinitesimalrechnung auf rein algebraischer Basis exakt zu be­gründen, ist zum Scheitern verurteilt; jedoch bringt er wesent­liche Einblicke in die Sonderrolle, welChe den Potenzreihen unter den Funktionen zukommt. Im Jahre 1784 stellt die Berliner Akademie, angeregt durch ihren Vorsitzenden Lagrange, die Preisaufgabe, "eine lichtvolle und strenge Theorie dessen, was man Une n d 1 ich in der Mathematik nennt", zu geben. Die Analysis tritt in eine neue "kritische" Phase ein. Das erste heraus­ragende Werk dieser Epoche ist der 1821 erscheinende Cours d'Analyse vonAugustin L. Cauchy. Cauchy hat das Ziel, die ganze Analysis auf der Grundlage eines strengen Grenzwert- und Stetig­keitsbegriffes neu darzustellen, und er übernimmt dabei die Euter­sehe Einteilung. Im Cours d'Analyse, dessen Untertitel J'e Partie. Analyse Algebrique den Inhalt zutreffend wiedergibt (weitere Teile sind übrigens nicht bzw. unter anderem Titel erschienen), werden zunächst die Grundbegriffe Steitgkeit, Grenzwert und Konvergenz von unendlichen Reihen geklärt. Cauchy bedient sich dabei noch der später als unglücklich empfundenen Sprech­weise der unendlich kleinen und unendlich großen Zahlen, verbindet damit jedoch Vorstellungen, welche unserem heutigen Grenzwertbegriff nahekommen. Im Anschluß daran entwickelt Cauchy die Theorie der Potenzreihen und leitet insbesondere die Potenzreihenentwicklungen der elementar-transzendenten Funktionen ab. Ebenso wie bei Euler geschieht dies alles ohne die Hilfsmittel von Differential- und Integralrechnung. Eine sachlich und didaktisch mustergültige Darstellung einer Funk­tionenlehre auf dieser methodischen Grundlage findet sich in dem bekannten Buch von K. Knopp über unendliche Reihen (das über 60 Jahre alte Werk ist immer noch modern).

In England befand sich die Mathematik im 18. Jahrhundert in einem Zustand kontinuierlichen Niedergangs. Erst im 19. Jahr­hundert gaben die englischen Mathematiker ihre selbstgewählte Isolation auf, machten ihren Frieden mit Leibniz (zumindest was die Notation angeht) und fanden wieder Anschluß an die kontinentale Entwicklung. Erst langsam setzte sich auf beiden Seiten eine vorurteilslose historische Beurteilung des Prioritäten­streits und seiner Folgen durch. Eine Merkwürdigkeit des Analysis­Unterrichts hat sich bis in unsere Tage erhalten: Die algebraische

Einführung zur Reprintausgabe 21

Analysis, der durch Euler und Cauchy aufgezeigte Zugang zu den elementaren Funktionen, hat in angelsächsischen Lehr­büchern des Calculus keinen Niederschlag gefunden.

Eine ausführliche historische Würdigung der Introductio mit Quellenangaben findet sich im dritten Band von M. Cantors Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, S. 699-721 (Leipzig 1901 ). Ferner sei auf den Artikel über Euler imDictionary of Scientific Biography, Band IV (New York 1971) und auf die kurze Biographie Leonhard Eu/er von R. Fueter (Elemente der Mathematik, Beiheft Nr. 3, Birkhäuser Verlag Basel 1979) hingewiesen.

Das letzte Wort soll Laplace haben: Lest Euler, lest Euler, er ist unser aller Meister!

Wolfgang Walter Karlsruhe, im Frühjahr 1983

Einleitung

in die

Analysis des Une n d I i chen. Von

Leonhard Euler.

Erster Teil.

Ins Deutsche übertragen

\'Oll

H. Maser.

Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH 1885.

Vorwort des U ebersetzers.

Meisterwerke üben ihren Einfluss auf die Fortbildung der Wissen­schaft nicht allein durch die in ihnen niedergelegten Resultate des forschenden Geil'ites, es lebt in ihnen eine schöpferische Kraft, die, nie er­sterbend, immer neue Keime weckt und fort und fort bis in die späte Ferne hinaus edle Früchte zeitigt. Derartige Geistesproducte, wenn sie selten werden, in ihrer ganzen Fülle ohne Unterlass von Neuern weiteren Kreisen zugänglich zu machen, halte ich fiir kein nutzloses Beginnen. Eben dem Zwecke soll auch die Herausgabe der vorliegenden, gänzlich nenen Uebersetzung des ersten Teils von Eu I er' s ", lntt·oductio in Analysin infinitoJ·um" dienen. Diese~:~ durch den Reichtum seine~:~ Inhalts, durch die Feinheit der Methoden und durch die ausserordentliche Klarheit und Präcision der Darstellung ausgezeichnete, in arithmetischer Weise aufgebaute ·werk, welches weite Perspectiven eröffnet, ist h!ltlt­zutage, trotzdem oder vielleicht gerade weil fast alle neueren Lehr­biicher aus ihm als aus einer nie versiegenden Quelle schöpfen, schon halb in Vergcst;enheit geraten, und dies ist um so mehr zu bedauern, als sich dem Anscheine nach die Erkenntnis geltend macht, dass eine schärfere Bestimmung der Begriffe auch eine weitere Entwicklung der Analysi~:~ mit E uler' sehen Reminiscenzen auf rein arithmetischer Grundlage ermöglichen dürfte.

Bei dieser Uebersetzung habe ich mich nicht allzu ängstlich an den Buchstaben gebunden, gleichwohl bin ich bestrebt gewesen, in den Gei~:~t des Originals einzudringen und bei getreuer Wiedergabe des Sinnes auch die Einfachheit und Klarheit seiner Sprache zum Ausdruck zn bringen. Ja es ist vielleicht die Uebersichtlichkeit über das Ganze und das V erständniss des Einzelnen noch dadurch erleichtert worden, dass ich in jedem Paragraphrn die den Inhalt charakterisirenden Worte durch den Druck hervorgehoben habe. An dem Euler'schen Werke irgendwelche Kritik zu üben, lag inde~:~sen nicht in der Absicht, wes-

IV Vorwort des Uebersetzers.

halb erläuternde oder ergänzende Anmerkungen selbst an den Stellen nicht hinzugefügt wurden, an welchen dasselbe vom heutigen Stand­punkte der Wissenschaft aus Lücken aufweist. Die zahlreichen Druck­fehler, welche sich im Originale vorfinden, habe ich, sobald sie sich nur als solche ausgewiesen, verbessert, und dürften die Rechnungen und Formeln der Uebersetzung, zumal auch auf die Durchsicht des Druckes die grösste Sorgfalt verwendet worden ist, als correct zu be­zeichnen sein.

Berlin, October 1884.

H. Maser.

Vorwort des Verfassers.

Der grös!>te Teil der Schwierigkeiten, mit denen gewöhnlich die Jünger der mathematischen Wissenschaft bei der Erlernung der Analysis des Unendlichen zu kämpfen haben, hat nach meiner Erfahrung darin seinen Grund, dass man sich bereits an jene höhere Kunst heranwagt, bevor man noch recht die niedere Algebra sich angeeignet bat. Dies hat zur Folge, nicht nur, dass man gewissermassen an der Schwelle stehen bleibt, sondern auch, dass sich von dem Begriffe des Unendlichen ganz verkehrte Ansichten herausbilden. Nun setzt zwar die Analysis des Un­endlichen nicht gerade eine vollkommene Kenntnis der niederen Algebra und aller ihrer bisher gefundenen Kunstgriffe voraus; indessen giebt es in letzterer doch so manche Fragen, deren gründliche Beantwortung den Anfänger auf jene höhere Wissenschaft vorzubereiten geeignet ist, und die trotzdem in den gewöhnlicheren Lehrbüchern der Algebra ent­weder ganz und gar übergangen oder doch nur obenhin behandelt werden. Was ich in dem vorliegenden Werke zusammengestellt habe, dürfte dem erwähnten Mangel, wie ich glaube, vollständig abzuhelfen im Stande sein. Denn ich habe nicht nur das, was die Analysis des Unendlichen durchaus voraussetzen muss, zwar weitläufiger aber strenger, als dies gewöhnlich geschieht, zu begründen gesucht, sondern auch viele Fragen erledigt, durch welche der Leser mit dem Begriff des Unendlichen allmählich und, ohne es selbst zu merken, vertraut wird. Ueberdies habe ich, um die grosse Uebereinstimmung der beiden Wege leichter kenntlich zu machen, mehrere Gegenstände, die man sonst in der Analysis des Unendlichen zu behandeln pflegt, nach den Regeln untersucht, welche die niedere Algebra an die Hand giebt.

Ich habe dieses Werk in zwei Teile geteilt und in dem ersten alles das zusammengefasst, was zur reinen Analysis gehört, in dem zweiten dagegen alles Wissenswerte aus der Geometrie mit­geteilt, da man die Analysis des Unendlichen gewöhnlich so vorträgt, dass man zugleich die Anwendung derselben auf die Geometrie zeigt.

VI Vorwort des Verfassers.

In beiden Teilen habe ich jedoch die ersten Anfangsgründe unberück­sichtigt gelassen und nur das entwickeln zu miissen geglaubt, was man anderwärts entweder gar nicht oder in nicht so bequemer Weise oder endlich auf anderm Wege abgeleitet findet.

Während also die gesamte Analysis des Unendlichen von den veränderlichen Zahlgrössen und deren Functionen handelt, nehme ich im ersten Teile hauptsächlich die Fun ct i o n e n zum Gegen­stande einer ausführlicheren Untersuchung. und zeige, wie man dieselben umformen, zerlegen und in unendliche Reihen entwickeln kann. Ich zähle mehrere Arten von Functionen auf, die in der höheren Analysis eine besonders wichtige Rolle spielen , und unterscheide da zuerst die algebraischen und transcendenten Functionen, von denen jene nur mitte1st der in der n i e deren Algebra gebräuch­lichen Rechnungsarten aus den veränderlichen Zahlgrössen gebildet werden, diese aber entweder mitte1st der andern Rechnungs­arten entstehen, oder nur durch unendlichoftmalige Wiederholung der algebraischen Operationen sich darstellen lassen. Die alge­braischen Functionen zerfallen ihrerseits wieder in rat i o n a I e und irrationale. Erstere lassen sich, was für die Integralrechnung von ganz besonderer Bedeutung ist, in Factoren und in Partialbriiche zerlegen; letztere können mitunter durch zweckmässige Substitutionen auf eine rationale Form gebracht werden. Die Entwicklung in un­endliche Reihen aber ist für beide Arten von Functionen in gleicher Weise möglich und kann auch häufig auf trans­cendente Functionen mit grossem Vorteil angewandt werden. Ja es hat bekanntlich gerade durch die Lehre von den un­endlichen ReiheQ die höhere Analysis sehr bedeutende Er­weiterungen erfahren. In einigen weiteren Capiteln habe ich die Eigenschaften mehrerer unendlichen Reihen und deren Summen ermittelt, was bei vielen derselben ohne Hülfe der Analysis des Unendlichen geradezu unmöglich sein dürfte. Hierzu gehören z. B. die Reihen, deren Summen sich durch Logarithmen oder durch Kreis­bogen ausdrücken lassen. Diese Grössen werden gewöhnlich, da sie transcendent sind, nämlich aus der Quadratur der Hyperbel und des Kreises erhalten werden, erst in der Analysis des Unendlichen behandelt. Indessen erhalte ich, indem ich von den Potenzen zu den Exponential­grössen, welches ja nur Potenzen mit veränderlichen Exponenten sind, fortschreite, den fruchtbaren Begriff der I,ogarithmen in der natürlichsten Weise durch Umkehrung der Exponentialgrössen. Auf diesem Wege ergiebt sich nicht allein der ausserordentliche Nutzen

Vorwort des Verfassers. VII

der Logarithmen ganz von selbst, sondern man erhält so zu gleicher Zeit sämtliche unendliche Reihen, durch die man diese Grössen ge­wöhnlich darstellt. Ebenso leicht folgt daraus ein Verfahren, loga­rithmische Tafeln anzufertigen. In analoger Weise betrachte ich auch die Kreisbogen; denn obwohl diese Art von Zahlgrössen von den Logarithmen sehr wesentlich verschieden sind, so stehen sie andererseits mit denselben wieder in so engem Zu­sammenhange, dass die einen, wenn sie imaginär werden, in die andern übergehen. Nach einigen Wiederholungen aus der Trigonometrie, die Darstellung der Sinus und Cosinus vielfacher Bogen betreffend, drücke ich mitte1st des Sinus und Cosinus eines beliebigen Bogens den Sinus und Cosinus eines sehr kleinen und gleichsam ver­schwindenden Bogens aus und komme gmade dadurch zu unendlichen Reihen. Da nämlich der Sinus eines verschwindEmden Bogens gleich diesem Bogen, der Cosinus dagegen gleich dem Halbmesser des Kreises ist, so kann man hiernach jeden beliebigen Bogen ebenso wie seinen Sinus und Cosinus mitte1st unendlicher Reihen darstellen. Auf diese Weise erhalte ich so mannigfaltige Ausdrücke in endlicher und un­endlicher Form für diese Art von Grössen, dass man zur Erforschung ihrer eigentlichen Natur die Infinitesimalrechnung ferner nicht mehr nötig hat. Ebenso nun wie die Logarithmen ein eigentümliches Rechnungsverfahren erheischen, welches in der gesamten Analysis in ausgedehntester Weise zur Anwendung kommt, so habe ich auch für die Kreisfunctionen ein bestimmtes Rechnungsverfahren angegeben, mitte1st dessen dieselben bei Rechnungen ebenso bequem wie die Logarithmen und selbst wie die algebraischen Grössen angewendet werden können. W eieher Vorteil daraus für die Erledigung der schwierigsten Untersuchungen erwächst, lassen nicht allein mehrere Capitel dieses Buches deutlich erkennen, sondern wir könnten aus der Analysis des Unendlichen noch sehr viele Beispiele dafür anführen, wenn dieselben nicht schon hinreichend bekannt wären und von Tag zu Tag immer zahlreicher würden. Ein vorzügliches Hülfsmittel ge­währt diese Erfindung aber bei der Zerlegung der gebrochenen Function en in reelle Factoren. Da dies in der Integralrechnung ein nicht zu umgehendes Geschäft ist, so habe ich mich darüber etwas ausführlicher ausgelassen. Sodann untersuche ich die aus der Ent­wicklung solcher Functionen entspringenden unendlichen Reihen, welche unter dem Namen der rekurrenten Reihen bekannt sind, genauer und finde dabei nicht nur ihre Summen, sondern auch die a li­gemeinen Glieder und andere bemerkenswerte Eigenschaften

VIII Vorwort des Verfassers.

derselben. So wie nun hierzu die Zerlegung in Factoren die Ver­anlassung gab, zeige ich nun auch umgekehrt, wie man die Producte aus mehreren, ja aus unendlich vielen Factoren in unendliche Reihen entwickeln könne. Diese Untersuchung bahnt nicht nur den Weg zur Entdeckung unzählig vieler unendlicher Reihen, sondern man findet auch, da man auf diese Weise eine Reihe in E'in unendliches Product verwandeln konnte, Rehr bequeme A usdriicke, um die Logarithmen der Sinus, Cosinus und Tangenten auf die leichteste Weise numerisch zu berechnen. Ausserdem aber leite ich aus derselben Quelle die I~ösung vieler, die Zerlegung der Zahlen in Teile be­treffenden Aufgaben her, die ohne dieses Hülfsmittel wohl die Kräfte der Analysis übersteigen dürften.

Dieser überreiche Stoff hätte ausgereicht, um mehrere Bände damit anzufüllen; ich habe indessen Alles so knrz und bündig vorgetragen, dass zwar die eigentliche Grundlage desselben überall ganz klar her­vortritt, dass aber auch dem Fleisse der Leser manches zur weiteren Ausführung überlassen bleibt, wodurch sie ihre Kräfte üben und das Gebiet der Analysis erweitern können. Im Uebrigen glaube ich sagen zu dürfen, dass dieses Buch nicht allein manches vollständig Neue enthält, sondern dass es auch die Quellen aufdeckt, aus denen man noch. sehr viele merkwürdige Entdeckungen wird ableiten können.

Denselben Weg habe ich in dem zweiten Teile verfolgt, in welchem ich Alles, was man gewöhnlich zur höheren Geometrie rechnet, behandelt habe. Bevor ich jedoch von den Kegelschnitten, die sonst an dieser Stelle fast allein in Betracht gezogen werden, handle, gebe ich die Theorie der krummen Linien überhaupt, so dass man die­selben dann mit Vorteil bei der Erforschung der Natur irgend einer besonderen krummen Linie verwenden kann. Dazu brauche ich kein anderes Hülfsmittel, als die Gleichung, durch welche sich eine jede krumme Linie darstellen lässt, indem ich zeige, wie man aus dieser sowohl die Gestalt als die vorzüglichsten Eigenschaften den;elben ab­leiten kann. Dies glaubte ich hauptsächlich an den Kegelschnitten erläutern zu müssen, da man dieselben früher entweder auf rein geometrischem Wege, oder, wenn analytisch, doch in sehr unvoll­kommener und wenig naturgemässer Weise behandelt hat. Aus der allgemeinen Gleichung für die Linien zweiter Ordnung entwickle ich zunächst deren allgemeine Eigenschaften und teile sie darauf mit Rück­sicht darauf, ob sie ins Unendliche fortlaufende Zweige haben oder ganz im Endlichen liegen, in Klassen oder Arten ein. Im ersten Falle muss man wieder beachten, wie viele Zweige ins Un··

Vorwort des Verfassers. IX

endliche gehen und v.on welcher Beschaffenheit die einzelnen Zweige sind, ob diese gerade Linien als Asymptoten haben oder nicht. Auf diese Weise erhalte ich die drei gewöhnlichen Arten der Kegel­schnitte, nämlich die Ellipse, die ganz im Endlichen verläuft, die Hyperbel, welche vier ins Unendliche sich erstreckende und, zwei geraden Linien asymptotisch sich nähernde, Zweige besitzt, und die Parabel, die nur zwei ins Unendliche fortgehende Zweige, aber keine Asymptoten hat. In ähnlicher Weise untersuche ich auch die Kurven dritter Ordnung und teile dieselben nach Entwicklung ihrer all­gemeinen Eigenschaften in sechzehn Arten ein, indem ich hierauf die von Newton aufgestellten 72 Arten sämtlich .zurückführe. Den Weg, der hierzu führt, habe ich so deutlich beschrieben, dass man die Ein­teilung der Linien aller höheren Ordnungen in Arten sehr leicht wird vornehmen können. Ueberdies habe ich dies noch für die Linien der vierten Ordnung wirklich ausgeführt. Nach diesen auf die Ordnungen der Kurven bezüglichen Untersuchungen kehre ich zur Ermittlung noch anderer allgemeiner Beziehungen der Kurven zurück. Ich gebe also ein Verfahren an, um die Tangenten der Kurven, ihre Normalen, ja selbst die Krümmung, die man gewöhnlich nach dem Krümmungs­halbmesser beurteilt, zu bestimmen. Obgleich dies heutzutage fa~t

ausschliesslich mitte1st Differentialrechnung geschieht, erläutere ich dirs hier doch nur mit Hülfe der niederen Algebra, um dadurch den Ueber­gang von der Analysis des Endlichen zu der Analysis des Unendlichen zu erleichtern. Auch die Wendepunkte, die Spitzen, die Doppel­und vielfachen Punkte habe ich untersucht und den Weg angegeben, wie man dieses Alles aus den Gleichungen ohne alle Schwierigkeit finden kann. Indessen will ich nicht läugnen, dass sich diese Unter­suchungen weit leichter mit Hülfe der Differentialrechnung führen lassen. Ferner berühre ich auch die Streitfrage der Spitzen 1-weiter Art und hoffe dieselbe so klargelegt zu haben, dass darüber kein Zweifel mehr bestehen kann. In einigen weiteren Capiteln zeige ich dann, wie man die krummen Linien aus gewissen gegebenen Eigen­schaften bestimmen kann, und gebe zum Schluss di-e Lösung einiger Aufgaben, die sich auf die Teilung des Kreises beziehen. Dies ist Alles, was aus der Geometrie bei der Erlernung der Analysis des Un­endlichen gute Dienste leisten kann. Als Anhang habe ich aber noch aus der Stereometrie die Theorie der Körper und derenüberflächen analytisch entwickelt und gezeigt, wie sich die Beschaffenheit einer jeden Fläche durch eine Gleichung zwischen drei Veränder-1 ich e n ausdrücken lässt. Nachdem ich hierauf die F 1 ä c h e n ähnlich

X Vorwort des Verfassers.

wie die Linien nach dem Grade ihrer Gleichungen in Ordnungen gebracht habe, beweise ich, dass die erste Ordnung nur allein die ebene Fläche enthält. Die Flächen der zweiten Ordnung. aber teile ich mit Rücksieht darauf, ob sie ins Unendliche sieh erstreckende Teile haben, in sechs Arten ein, und ebenso kann man auch die Einteilung der Flächen höherer Ordnungen vornehmen. Ferner betrachte ich auch die Durchschnitte zweier Flächen und zeige, wie dieselben, da sie im Allgemeinen Kurven sind, die nicht in einer einzigen Ebene liegen, sieh durch Gleichungen darstellen lassen. Endlieb bestimme ich noch die Lage der Berührungs­ebenen und der Normalen der Fläche.

Da Manches, was ich hier vorgetragen habe, schon von Andern. behandelt worden ist, so muss ich um Entschuldigung bitten, wenn ich nicht überall diejenigen mit Anerkennung namhaft gemacht habe, die sich schon vorher mit demselben Gegenstande beschäftigt haben. Da es jedoch meine Absicht war, Alles möglichst kurz auseinanderzu­setzen, so habe ich jenes unterlassen, um nicht durch eine geschicht­liche Hebersicht über jedes Problem das vorliegende Werk ganz erheblich zu vergrössern. Ueberdies habe ich auch für die meisten Aufgaben, welche sieb schon anderwärts finden, eine auf anderem Wege gefundene Lösung gegeben, so dass ich einen nicht geringen Teil davon für mich allein in Anspruch nehmen kaim. Ich hoffe, dass nicht allein dies, sondern vor allem das Neue, das hier gegeben wird, manchem, der Gefallen an solchen Untersuchungen findet, nicht unerwünscht sein wird.

Inhalts-Verzeichnis.

Seite

1. Capitel. Von den Functionen überhaupt . . . . . . . . . 3

2. "

Von der Umformung der Functionen . . . . . . . 15

3. Von der Umformung der Functionen durch Substitution 36

4. " Von der Darstellung der Functionen durch unendliche Reihen 49

5. " Von den Functionen zweier oder mehrerer Veränderlichen . . 63

6. "

Von den Exponentialgrössen und den Logarithmen . . . . 73

7. " Von der Darstellung der Exponentialgrössen und der Logarithmen

durch Reihen 86 8. Von den transeendeuten Zahlgrössen, welche aus dem Kreise

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

"

"

" " "

" "

"

entspringen . 95

Von der Aufsuchung der trinomischen Factoren 110

Von dem Gebrauche der gefundenen Producte bei der Bestimmung

der Summen unendlicher Reihen 131

Von andern unendlichen Ausdrücken für die Bogen und die Sinus . 14 7

Von der Entwicklung der gebrochenen Functionen in reeller

Form

Von den rekurrenten Reihen

Von der Vervie1fachung und Teilung der Winkel

Von den Reihen, welche aus der Entwicklung von Producten

entspringen .

Von der Zerlegung der Zahlen in Teile

Von dem Gebrauche der rekurrenten Reihen bei der Berechnung

der Wurzeln der Gleichungen

162

177

202

223

250

273

Von den Kettenbrüchen . 293

Erster Tell.

Von den Functionen veränderlicher Zahlgrössen, ihrer Zerlegung in Factoren und Entwicklung in unendliche Reihen; ferner die Lehre von den Logarithmen, Kreisbogen und deren Sinus und Tangenten,

und viele andere Gegenstände, welche für die Analysis des Unendlichen von Wichtigkeit sind.

Euler. 1