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DI Martin Schönherr Geyrstraße 55 Seite 1 6020 Innsbruck 07.09.2010

Räumlicher Urbanismus….

Martin Schönherr

Ende Mai 2010 verstarb in Haifa Leopold Gerstel , der emeritierte Professor des ehemaligen Gebäudelehreinstituts an der Architekturfakultät der Universität Innsbruck. Viele Architekten und Planer, die zwischen 1983 und 1995 in Innsbruck studierten, wurden mit seinen Ideen und Grundsätzen konfrontiert und von diesen beeinflusst. Da Gerstels Überlegungen zum Siedlungsbau in vieler Weise zeitlos sind, bleiben sie in der Planung stets anwendbar. Da die Quellen dazu aber noch vergleichsweise dürftig sind, erscheint eine Art persönliche Erinnerung in diesem Falle angemessen.

Ich erinnere mich an die Einführungsvorlesung zum Grundseminar im Herbst 1986. Ein in sich gekehrter Herr mit tief liegenden Augen betritt das Podium im Hörsaal und schreitet bedächtig auf und ab. Nach einer Weile der Sammlung steht seine erste Aussage im Raum:

Architekt…..ist kein schöner Beruf.

Mir hat sich dieser Satz eingebrannt – vielleicht in trotziger Entgegnung, dass das nicht so sei – aber mit der Erkenntnis folgender Jahre, dass die konsequente Umsetzung gefasster Entwurfsgedanken im Korsett realer Zwänge scheitern kann. Zuerst war mir als jungem Studenten der Mann wegen dieser einleitenden Worte und der Art seines Vortrags unheimlich. Das änderte sich aber sehr bald bei den kurzen Gesprächen mit Professor Gerstel die sich während der Übungen im Grundseminar ergaben. Insbesondere wenn er mit seinem Kohlestift zeichnend die von den Studenten gemachten Zeichnungen kommentierte, erkannte man die Bedeutung des Sprichworts „Die Zeichnung ist die Sprache des Architekten“ und sah, dass er sich als väterlicher Begleiter der Studenten betrachtetet und das auch lebte.

In den folgenden Jahren prägten lange Entwerfenkorrekturen, bei denen der Professor darauf achtete, dass sich die Studenten nicht zu früh in einen Entwurf „verliebten“ und man stets noch andere Lösungsvarianten in Erwägung zog. Der Dialog zwischen Professor und Student blieb so bis unmittelbar vor die Abgabe des Entwurfes aufrecht erhalten.

Es prägten aber auch die Gebäudelehrevorlesungen, bei denen ein wiederkehrender Bezug zum „Spatial Urbanism“1 hergestellt wurde. Und gerade dieser Begriff steht wohl in hohem Maß für das Vermächtnis2 von Professor Gerstel.

1 Als Räumlicher Urbanismus wird eine Architekturströmung der sechziger Jahre bezeichnet, bei der Planer mit der Überlagerung städtischer Ebenen experimentierten. Ursprünglich als Kritik an den konventionellen rein auf technisches Erschließung fokussierten Planungen (mit den daraus entstehenden Unorten wie z.B. Unterführungen) gedacht, entwickelte sich daraus ein fundierter theoretischer Ansatz, wie fortschreitenden Nutzungsverdichtung als Gewinn an Raum- und Lebensqualität umgesetzt werden kann.

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DI Martin Schönherr Geyrstraße 55 Seite 2 6020 Innsbruck 07.09.2010

Räumlicher Urbanismus

Vereinfacht gesagt und auf unserer Tätigkeit in der Raumplanung bezogen, geht es beim räumlichen Urbanismus darum, aus der zweidimensionalen Bebauungsplanebene auszubrechen und auch den Luftraum zwischen und über den Häusern als Planungs- und Gestaltungsraum zu betrachten.

Da ausgerechnet in unseren häufig topographisch anspruchsvollen Situationen die Bebauungsplanung oft nur im Grundriss gedacht wird, ist diese Methode bereits bei einfachen Entwürfen anwendbar, da die Berücksichtigung der dritten Dimension schon durch die natürlichen Gegebenheiten unverzichtbar ist.

In Gerstels Projekten entstehen damit neue Landschaften aus übereinander getürmten Enzelgebäuden; die Zwischenräume sind Erschließungen, Gärten, Treffpunkte des öffentlichen Lebens und Verschränkungen privater Räume mit halböffentlichen Bereichen.

Stets spielte Gerstel dabei mit der Bedeutung von Innen und Außen. So war es ihm ein Anliegen auf Plätzen unter freiem Himmel innenräumliche (geborgene) Qualitäten zu schaffen oder in Hallen das Gefühl zu vermitteln, dass man unter freiem Himmel sei. Dieses Spiel mit der räumlichen Illusion im Dienste des Wohlfühlens der Bewohner tauchte immer wieder auf3.

Dass es ihm dabei aber nicht allein um poröse Strukturen ging, sondern ebenso um die „Lesbarkeit“ für die Bewohner, zeigt seine Auseinandersetzung mit der Wegführung4 und der logischen Entwicklung von Erschließungssystemen unter Ausnutzung möglicher Synergieeffekte.

Photo: Martin Schönherr, Atrani, Gasse und Hauseingang; Juni 2010: Versinnbildlichen mag die „Verschränkung von Innen und Außen“ diese Wegführung bei der man durch einen öffentlichen Raum geht, der Frei(luft)raum ist, dabei aber gleichzeitig von einem Wohnhaus überdeckt wird. Der Zugang zum Wohnhaus macht die Gasse wiederum zum privaten Vorraum, indem sich auch eine Bank befindet, die sowohl von den dortigen Bewohnern alsauch Besuchern und Passanten genutzt werden kann. Professor Gerstel zeigte Studenten anhand solch ähnlicher Beispiele, was Architektur räumlich schaffen muss, verwahrte sich dabei aber stets gegen die Verwendung der damit scheinbar einhergehenden regionalen Formensprache.

2 Es gibt noch keine vollständige Werkdokumentation Leopold Gerstels. Aber Architekt Keenan hat unter http://yuliecohen.files.wordpress.com/2010/05/leopold-gerstel.pdf eine Zusammenstellung zu Verfügung gestellt; darüber hinaus befasst sich das Studiomagazin in Ausgabe 164 u.a. mit seinen Werken.

3 So zum Beispiel bei seinem prämierten Wettbewerbsbeitrag für das Rathaus in Innsbruck, bei dem das Rathaus über die Markthalle gestellt worden und gleichzeitig mit einer basilikalen Lichtführung der Eindruck eines offenen Hofes vermittelt worden wäre.

4 Gerstel hat sein Ansprüche an Wegführung in seinen Vorlesungen als „Raumerfahrung im Schreiten“ bezeichnet. Vgl. Prolegomena 30, November 1979, Institut für Wohnbau, Wien „Das Durchschreitender Stadt – ein surreales Erlebnis“

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DI Martin Schönherr Geyrstraße 55 Seite 3 6020 Innsbruck 07.09.2010

Gerstel verabscheute Treppenhäuser und Gänge solange diese nur dem im Wort enthaltenen Zweck dienen und nicht helfen den Siedlungsraum und die darin befindliche Gebäude auch für den Bewohner räumlich erfahrbar zu machen.

Gerstel hatte dazu sein „Credo“ zusammengestellt. Als Student hält man von solch festgeschriebenen Verortungen leider wenig. Gerstel selbst äußerte sich zudem immer sehr skeptisch über Verwaltung im Allgemeinen (bei der man naturgemäß auch dazu neigt, alles festzuschreiben) und betonte daher die Notwendigkeit von Personen in der Verwaltung, die über den Tellerrand einer rein pragmatischen Auffassung zu blicken vermögen.

Heute erinnere ich mich persönlich an einige Aussagen, die bei Leopold Gerstel immer wieder auftauchten, wenn Entwürfe analysiert wurden. Ich behalte diese in Erinnerung –als ein Art leichtes Handgepäck für die Auseinandersetzung mit Planung:

� Entferne den Entwurf aus dem Umgebungsmodell. Fehlt etwas, so bist du auf dem richtigen Weg. Fehlt nichts, kann man den Entwurf vergessen.

� Betrachte Innen- und Außenräume als gleichwertig (im Sinn der Entwurfsqualität)

� Entwirf das Bauwerk / die Siedlung so, dass sie dazu verlocken durch sie zu schreiten.

� Gestalte Erschließungen so, dass sich die Bewohner auf ihren Wegen begegnen und nicht aneinander vorbeigeführt werden.

� Führe eine Treppe / einen Weg so durch das Gebäude / die Siedlung, dass sie mehr als eine Treppe oder ein Weg sind. Man muss sich dort auch aufhalten können.

� Dein Entwurf stimmt nicht, wenn auf dem Gebäude z.B. die Eingangstür mit „Eingang“ beschriftet werden muss, damit die Besucher wissen, wo es rein geht.

� Ein Gebäude, das du nur aus seiner Funktion heraus entwickelst und somit dem umgebenden Raum nichts gibt, ist unvollständig.

� Lege dich nicht frühzeitig fest, sondern spiele verschiedene Lösungsmöglichkeiten durch.

Legt man diese Kriterien in der Bebauungsplanung an, so ist man schnell ernüchtert, wie häufig schon nach dem ersten genannten Punkt ausgeschieden werden könnte.

Das bedeutet aber nicht, dass ein Fortschritt im Kleinen unmöglich wäre. Schon eine Reihenhausanlage, die die obigen Qualitätskriterien zumindest teilweise erfüllt, ist ein Gewinn für die Zukunft, indem deren Bewohnern real vermittelt wird, dass verdichteter Wohnbau Lebensqualität schafft.

In diesem Sinn darf man erwarten, dass Leopold Gerstels Beitrag zum verdichteten Wohnbau im Tirol der kommenden Jahre noch reichliche Frucht bringen wird.