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Bernhard Greiner Bernd Janowski Hermann Lichtenberger (Hrsg.) Opfere deinen Sohn! Das ‚Isaak-Opfer’ in Judentum, Christentum und Islam

Leseprobe aus: "Opfere Deinen Sohn!" von Bernhard Greiner, Bernd Janowski, Hermann Lichtenberger (Hrsg.)

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Die berühmte Geschichte von Isaaks Opferung bzw. Bindung (Genesis 22), die in den drei monotheistischen Weltreligionen zu den Basistexten gehört, hat nicht nur die Theologen und Philosophen, sondern auch die Dichter und Künstler seit je herausgefordert. Was ist das für ein Gott, der, wenn auch nur zur Probe, von Abraham verlangt, seinen einzigen, geliebten Sohn ans Messer zu liefern? Oder will die Geschichte vom ‚Isaak-Opfer’ auf etwas anderes hinaus? Der Band versammelt Beiträge aus den Fächern Theologie, Philosophie, Psychologie, Kunst- und Literaturwissenschaft sowie Judaistik und Islamwissenschaft, die im Frühjahr 2003 auf einem Internationalen Symposion an der Universität Tübingen gehalten wurden.

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Bernhard GreinerBernd Janowski

Hermann Lichtenberger(Hrsg.)

Opfere deinen Sohn!Das ‚Isaak-Opfer’ in Judentum, Christentum und Islam

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Opfere deinen Sohn!

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Bernhard Greiner /Bernd Janowski /Hermann Lichtenberger (Hrsg.)

Opfere deinen Sohn!Das ‚Isaak-Opfer’ in Judentum,Christentum und Islam

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detailliertebibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Gedruckt mit Unterstützung des Graduiertenkollegs »Die Bibel – ihre Entstehung und Wirkung« derUniversität Tübingen.

© 2007 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb derengen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar.Dasgilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung undVerarbeitung in elektronischen Systemen.Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier.

Internet: http://www.francke.deE-Mail: [email protected]

Druck: Gulde, TübingenBindung: Nädele, NehrenPrinted in Germany

ISBN 978-3-7720-8126-2

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Inhalt

Bernd Janowski, Hermann Lichtenberger, Bernhard Greiner Vorwort

VII

Hermann Deuser „Und hier hast du übrigens einen Widder.“ Genesis 22 in aufgeklärter Distanz und religionsphilosophischer Metakritik

1

Thomas Naumann Die Preisgabe Isaaks. Genesis 22 im Kontext der biblischen Abraham-Sara-Erzählung

19

Stéphane Mosès Die Opferung Isaaks in der jüdischen Tradition

51

Bianca Kühnel Abrahams Opfer als Chiffre des Tempels. Ein kunstgeschichtlicher Beitrag zur jüdisch-christlichen Polemik

73

Ruth Kartun-Blum Political Mothers. Women’s Voice and the Binding of Isaac in Israeli Poetry

93

Elazar Benyoetz Keine Macht beherrscht die Ohnmacht. Eine ungebundene Lesung um Abraham und seinen Gott

109

Johann Anselm Steiger Ad Deum contra Deum. Zur Exegese von Genesis 22 bei Luther und im Luthertum der Barockzeit

135

Bernhard Greiner Die Stellvertretung im Opfer. Figurationen ihres Entwurfs und ihrer Rücknahme: Iphigenie (Euripides/Goethe) und Elektra (Hofmannsthal)

155

Norbert Oellers Abraham in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Else Lasker-Schüler, Franz Kafka, Nelly Sachs

171

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Inhalt VI

Gunther Klosinski Abrahams Infantizidversuch. Psychodynamische und interpretative Annäherungen aus der Sicht eines Kinder- und Jugendpsychiaters

185

John Lowden The Sacrifice of Isaac in the Bibles Moralisées

197

Lutz Richter-Bernburg Göttliche gegen menschliche Gerechtigkeit. Abrahams Opferwilligkeit in der islamischen Tradition

243

Das Graduiertenkolleg „Die Bibel – ihre Entstehung und ihre Wirkung“ Kunst im Kontext. „Isaaks Opferung“ in der jüdischen, christlichen und islamischen Kunst

257

Hermann Lichtenberger Predigt über Genesis 22,1-19

313

Register 327

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Vorwort

Wir freuen uns, die Vorträge, die im Sommersemester 2002 auf dem von dem Tübinger Graduiertenkolleg „Die Bibel – ihre Entstehung und ihre Wirkung“ veranstalteten Internationalen Symposion über „Genesis 22 in Judentum, Christentum und Islam“ gehalten wurden, endlich in gedruckter Form vor-legen zu können. Drei Tage lang haben vierzehn Kolleginnen und Kollegen aus Israel, England und Deutschland dieses sensible Thema erörtert und die Stipendiatinnen und Stipendiaten des Graduiertenkollegs dazu eine kleine, aber feine Ausstellung arrangiert, die überraschende Einblicke in die Wir-kungsgeschichte der „Opferung / Bindung Issaks“ gewährte (unten 257ff).

Ein sensibles Thema, in der Tat, und eine gefährliche Geschichte, ganz gewiß. Man lese nur M. Luthers Predigt über Gen 22 (unten 321ff), S. Kierke-gaards Reflexionen in seiner Schrift „Furcht und Zittern“ (unten 324ff) oder betrachte Rembrandts berühmte Gemälde und Zeichnungen (unten 297).

Was ist das für ein Gott, der, wenn auch nur zur Probe, von seinem Er-wählten verlangt, seinen einzigen, geliebten Sohn zu opfern? Fordert denn Gott, so könnte man fragen, ein Menschenopfer? Wenn die Philosophie die Fähigkeit besitzt, zu allen Menschen zu sprechen und dabei nicht nur Ein-sichten, Werte und Anschauungen klärt, sondern diese auch befördert, um das Leben der Zeitgenossen humaner zu gestalten, so gilt dies auch für die Religion. Die Dinge liegen bei ihr aber komplizierter, weil die Religion immer wieder über Texte verfügt, die nicht nur den Intellekt, sondern auch das Gemüt herausfordern. Ein solcher Text ist Gen 22 und seine kontroverse Rezeption in Judentum, Christentum und Islam. Berühmt und zugleich be-rüchtigt sind etwa seine Ablehnungen im Namen der Moralität und der Psy-chologie. So hat Immanuel Kant in seiner Schrift „Streit der Fakultäten“ von 1798 entschiedenen Widerspruch gegen Abraham eingelegt. „Er hätte“, schreibt Kant,

„auf diese vermeintliche Stimme antworten müssen: Daß ich meinen guten Sohn nicht töten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, da-von bin ich nicht gewiß und kann es auch nicht werden, wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallete“1.

Und die Psychologin Alice Miller fragt in ihrer Studie „Wenn Isaak den Op-fertisch verläßt“ knapp 200 Jahre später, wie diese Geschichte eines „gedan-kenlosen Mörders seines Kindes“ ausgehen würde, wenn das zum Opfer bestimmte Kind sich nicht stumm in sein Schicksal ergäbe, sondern aus der Rolle des Opfers herausträte. Dann griffe Isaak zum Messer, so A. Miller. Das

1 I. Kant, Der Streit der Facultäten in drei Abschnitten (Kant's gesammelte Schriften VII), Berlin

1917, 63 (vgl. unten 323f).

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Vorwort VIII

aber wäre das alte Spiel, nur in neuer Besetzung. Als Alternative entwickelt die Autorin folgenden Dialog:

„Isaak fragt: Vater, warum willst du mich umbringen? Und bekommt zur Ant-wort. Es ist Gottes Wille. – Wer ist Gott? fragt der Sohn. – Unser aller größter und gütigster Vater, dem wir gehorchen müssen, antwortet Abraham. Tut es dir weh, möchte der Sohn wissen, diesen Befehl auszuführen? – Ich habe nicht nach meinen Gefühlen zu fragen, wenn Gott etwas befiehlt. – Wer bist du dann, fragt Isaak, wenn du die Befehle ohne Gefühle ausführst, und wer ist Gott, der das von dir verlangt? Es könnte sein, daß Abraham zu alt ist, daß es für ihn zu spät ist, die Botschaft des Lebens zu vernehmen, die ihm sein Sohn bringt. Es kann auch sein, daß er sagt: Halt den Mund, davon verstehst du nichts. Es kann aber auch sein, daß er sich den Fragen öffnet, weil es auch seine Fragen sind, die seit Jahrzehnten unterdrückt geblieben waren.“2

In den Vorträgen kommen auch andere Stimmen zu Wort. Etwa die, daß Gott gerade kein Menschenopfer fordert und die sog. „Opferung“ Isaaks auf et-was anderes als eine brutale Kindestötung hinauswill. Ja, ist hier überhaupt und von Anfang an von einer Opferdarbringung die Rede? Es gibt auch an-dere Antworten auf diese Frage und, wie mehrere Beiträge zeigen, bei ge-duldiger Lektüre sogar neue Perspektiven auf den alten Text.

Als Initiatoren des Symposions und Herausgeber dieses Bandes haben wir versucht, unterschiedliche Forschungsgebiete mit ihren spezifischen Perspektiven zu Wort kommen zu lassen und damit den interdisziplinären Dialog zu fördern. Beteiligt sind die Religionsphilosophie und die Psycholo-gie, die Kunst- und die Literaturwissenschaft, die Judaistik und die Islam-wissenschaft und natürlich auch die Theologie mit ihren Einzeldisziplinen. Alle Vorträge wurden von den Referentinnen und Referenten noch einmal überarbeitet, der Beitrag von Stéphane Mosès wurde von Frau Birgit Schlach-ter übersetzt und das Ganze in einem aufwendigen Verfahren von unseren Mitarbeitern David Cloutier und Florian Lippke für den Druck eingerichtet. Allen Beteiligten, besonders aber den zuletzt Genannten, sind wir zu großem Dank verpflichtet. In diesen Dank schließen wir auch Frau Dr. Kathrin Liess und Frau Monika Merkle ein, die die Korrekturen mitgelesen haben, sowie Frau Katharina Ruopp, die die Register angefertigt hat.

Mögen die hier versammelten Stimmen nicht nur Verlegenheit und Be-klemmung auslösen, sondern das Verstehen eines nach wie vor herausfor-dernden Textes fördern!

Tübingen, im Mai 2006 B. Janowski / H. Lichtenberger / B. Greiner

2 A. Miller, Wenn Isaak den Opfertisch verläßt, in: dies., Der gemiedene Schlüssel, Frankfurt a.M.

21988, 152-162.

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Hermann Deuser

„Und hier hast du übrigens einen Widder.“ Genesis 22 in aufgeklärter Distanz und religionsphilosophischer Metakritik

Während Mitte des 19. Jahrhunderts die historische Forschung in vollem Gange ist und die kritische Bibelexegese ihren Erfolgen entgegeneilt, dichtet S. Kierkegaards pseudonymer Autor Johannes de Silentio einen Mann, des-sen Begeisterung für Abraham, den Vater des Glaubens in Gen 22, gerade nicht darin besteht, den Textbestand historisch zu sichern um ihn verständ-lich zu machen, sondern darin, in ebenso humanem wie religiösem Respekt vor ihm zurückzuschrecken: „Jener Mann war kein gelehrter Exeget, er konn-te kein Hebräisch; hätte er Hebräisch gekonnt, vielleicht hätte er die Erzäh-lung und Abraham mit Leichtigkeit verstanden.“1 Die mangelnde Sprach-kenntnis steht hier pars pro toto für das bewußte Fehlen des Instrumenta-riums wissenschaftlicher Verfahrensweisen – und damit umgekehrt für den Gewinn an Gleichzeitigkeit mit dem Erzählten, wenn die wissenschaftliche Distanz verschwindet. Der in dieser Hinsicht alles Folgende überragende Eingangsteil der kleinen Schrift Furcht und Zittern ist deshalb konsequent mit „Stimmung“ überschrieben, und diese einzigartige Vergegenwärtigung Abrahams, Isaaks und Saras im inneren Verhältnis zum Ereignis auf dem Berg im Land Morija, diese vier märchenhaft-meditativen Szenenmodelle zeigen Dimensionen des religiösen (christlichen) Glaubens, mit denen dieses Büchlein Geschichte gemacht hat: Der Glaube Abrahams ist offenbar keine Form von Wissen und Verstehen, sondern ein paradoxes Ereignis im Vollzug von Verlust und Wiedergewinnen in Lebenssituationen, aus denen diese Wendung gerade nicht vorherzusehen ist. Vor allen folgenden Theoriefigu-ren, die auch Kierkegaard auf die Szenenmodelle folgen läßt, ist deshalb daran zu erinnern, daß „Stimmung“ den Ort der (sokratischen) „Unterre-dung“ meint, an dem Menschen im „Ernst“ zueinander sprechen, der Ort der Zueignung, der Aneignung und der Predigt – und damit der Ort des Sün-denbegriffs, der darüber hinaus keinen wissenschaftlichen Ort seiner Be-gründung hat, sondern für den verstehenden Zugriff immer schon vorausge-

1 S. Kierkegaard, Furcht und Zittern. Dialektische Lyrik von Johannes de Silentio (Kopenha-

gen 1843), wird zitiert und übersetzt nach Søren Kierkegaards Skrifter 4 [SKS 4], hg. v. Søren Kierkegaard Forskningscenteret, Kopenhagen 1997, jeweils mit Hinweis auf die Fundstelle in der dt. Ausg. der Gesammelten Werke, hg. v. E. Hirsch / H. Gerdes / H. M. Junghans, vgl. das Abkürzungsverzeichnis in: Kierkegaard Studies Yearbook [KSYB], Ber-lin / New York 1997ff.; hier: SKS 4, 106; FZ, 8.

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Hermann Deuser 2

setzt werden muß.2 Genau dies gilt für Abrahams Glauben, dessen Problem-konstellation durchaus theoretisch gemustert und dialektisch bestimmt wer-den kann – Kierkegaard tut dies gründlich in drei Durchgängen unter der Überschrift „Problemata“3 –, der aber aus seiner ursprünglichen „Stimmung“ salva veritate nicht ablösbar ist. Deshalb soll im Folgenden jeweils von einem Kerngedanken der Szenenmodelle ausgegangen werden, wobei die ur-sprünglichen vier aus Furcht und Zittern um ein weiteres aus Kierkegaards späteren Aufzeichnungen4 erweitert werden. Vorauszugehen hat, wie bei Kierkegaard selbst, der Bezugstext aus Gen 22,1f.: „Und Gott versuchte Abra-ham und sprach zu ihm, nimm Isaak, Deinen einzigen Sohn, den Du liebst, und gehe hin in das Land Morija und opfere ihn dort als ein Brandopfer auf einem Berg, den ich Dir zeigen werde.“5

1. Selbstopfer: Rollenspiel des Abstoßenden

Er stieg auf zum Berg Morija, aber Isaak verstand ihn nicht. Da wandte er sich ei-nen Augenblick von ihm ab, als aber Isaak wiederum Abrahams Antlitz sah, da war es verändert [...] Da erschauderte Isaak und rief in seiner Angst: ‚Gott im Himmel, erbarme Dich meiner, Gott Abrahams, erbarme Dich meiner, habe ich keinen Vater auf Erden, so sei Du mein Vater!’ Aber Abraham sprach leise bei sich selbst: ‚Herr im Himmel, ich danke Dir; es ist doch besser, daß er glaubt, ich sei ein Unmensch, als daß er den Glauben an Dich verlöre.’6

Die Szene hat etwas Anrührendes: Das verlangte Opfer wird zum Selbstopfer zugunsten des Sohnes, des Partners, des Abhängigen. Doch auch dieser gar nicht verwerfliche, sondern geradezu ethische Sinn setzt voraus, daß die

2 Zu dieser existenzdialektisch zentralen Begrifflichkeit vgl. die „Einleitung“ zu der Schrift

Der Begriff Angst (1844), SKS 4, 322f.; BA, 11ff., bes. SKS 4, 322,26ff. (Anm.); BA, 11 (Anm.): „Daß auch die Wissenschaft im selben Maße wie Poesie und Kunst beim Produ-zierenden wie beim Rezipierenden Stimmung voraussetzt, daß ein Fehler in der Modula-tion ebenso störend ist wie ein Fehler in der Entwicklung des Gedankens, hat man in un-serer Zeit gänzlich vergessen [...].“

3 Problema I: „Gibt es eine teleologische Suspension des Ethischen?“; Problema II: „Gibt es eine absolute Pflicht gegen Gott?“; Problema III: „War es ethisch verantwortlich von Ab-raham, daß er sein Vorhaben vor Sara, vor Elieser, vor Isaak verschwieg?“

4 Søren Kierkegaards Papirer [Pap.], Kopenhagen 1968-1979, hier: Pap. X 5, A 132 (aus dem Jahr 1853); T 5, 168f. („Neues ‚Furcht und Zittern’“).

5 SKS 4, 107,2ff.; FZ, 8. – Zur exegetisch-historischen und literarischen Interpretation in-nerhalb des Alten Testaments vgl. O. Kaiser, Die Bindung Isaaks. Untersuchungen zu Ei-genart und Bedeutung von Genesis 22, in: ders., Zwischen Athen und Jerusalem. Studien zur griechischen und alttestamentlichen Theologie und ihren Beziehungen, Berlin / New York 2003 (BZAW 320); hier heißt es (aaO. 200, 208f.): „Schlichter kann man kaum erzäh-len, aber auch kaum eindrücklicher“; es handelt sich um ein „Meisterstück hebräischer Kunstprosa“, aber auch um eine „theologisch konstruierte[n] Erzählung in der Form eines Be-richts.“

6 SKS 4, 107f.; FZ, 9. – Daß im Kontext hier auch Sara genannt wird, ist eine Zutat in Kier-kegaards romantisch gehaltener Fiktion, vgl. den Nachweis zum Buch Judit (Pap. III A, 197) in SKS K4 [Kommentarbd.], 107.

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„Und hier hast du übrigens einen Widder“ 3

Gesamtanlage der Erzählung – auf Gottes Befehl hin den Sohn der Verhei-ßung töten zu müssen – überhaupt konstruktiv verstanden werden kann; und es ist diese Autoritätsprämisse, die in aufgeklärten Zeiten rundweg bestritten werden mußte. Thomas von Aquin, für den die letztinstanzliche Gottesautorität, über Leben und Tod zu entscheiden, auch Abrahams Situati-on in Gen 22 entschuldigt sein läßt7, merkt immerhin an, daß „für sich be-trachtet“ das Ereignis in Gen 22 „gegen das richtige Handeln gemäß mensch-licher Einsicht“ verstößt8; und es ist I. Kants Moralphilosophie, die in theoretisch gründlicher Distanz zur göttlichen Autoritätsprämisse diesen Einwand menschlicher Vernunft zum modernen Standard erhoben hat. Das vernünftig einsehbare „moralische Gesetz“ ist selbstverständlich letztes Kri-terium auch für „majestätische“ Gotteserscheinungen wie in Gen 22. Noch vor allen zynischen, witzigen, humorigen Anwendungen dieser Kritik bis heute – zuerst muß die berühmte Fußnote aus Kants Der Streit der Fakultäten (1798) in dieser Sache angehört werden:

Zum Beispiel kann die Mythe von dem Opfer dienen, das Abraham, auf göttlichen Befehl, durch Abschlachtung und Verbrennung seines einzigen Sohnes – (das ar-me Kind trug unwissend noch das Holz hinzu) – bringen wollte. Abraham hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: ‚daß ich meinen guten Sohn nicht töten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiß, und kann es auch nicht werden, wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallete.’9

Was trägt es da noch bei, wenn der polnische Philosoph Leszek Kolakowski aus dieser Szene eine Befehl-Gehorsam-Satire komponiert, die darin endet,

7 Vgl. STh 2-2, q. 64, a. 6, ad 1; q. 104, a. 4, ad 2. 8 STh 2-2, q. 154, a. 2, ad 2: „quamvis hoc, secundum se consideratum, sit communiter

contra rectitudinem rationis humanae“. – Zum Problem der theologischen bzw. meta-physischen Rationalität der Moralbegründung auf Befehl Gottes (am Beispiel von Gen 22) vgl. N. Kretzmann, Abraham, Isaac, and Eutyphro: God and the Basis of Morality, in: Phi-losophy of Religion: The Big Questions, ed. by. E. Stump / M. J. Murray, Oxford 1999, 417-427; H. Schulz, Der grausame Gott. Kierkegaards Furcht und Zittern und das Dilemma der Divine-Command-Ethics, in: Essener Unikate. Berichte aus Forschung und Lehre 21, Universität Duisburg-Essen 2003, 72-81.

9 I. Kant, Der Streit der Fakultäten, A 102f. u. Anm.; vgl. analog (im Zusammenhang der Wunderkritik) ders., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), Zweites Stück, Allgemeine Anmerkung, A 111f. – Zur Aufnahme dieser Kritik in der ge-genwärtigen Kierkegaard-Forschung (auch im Blick auf Fichte, Schelling und Hegel) vgl. H. Rosenau, Die Erzählung von Abrahams Opfer (Gen 22) und ihre Deutung bei Kant, Kierkegaard und Schelling, in: NZSTh 27 (1985), 251-261; W. Dietz, Sören Kierkegaard. Existenz und Freiheit, Frankfurt am Main 1993, 240ff.; T. Beyrich, Ist Glauben wiederhol-bar? Derrida liest Kierkegaard, Berlin / New York 2001 (KSMS 6), 147ff.; M. Nientied, Kierkegaard und Wittgenstein, Berlin / New York 2002 (KSMS 7), 318ff.; H. Schulz, Du sollst, denn du kannst. Zur Selbstunterscheidung der christlichen Ethik bei Sören Kierke-gaard, in: Ethik der Liebe. Studien zu Kierkegaards „Taten der Liebe“, hg. v. I. U. Dal-ferth, Tübingen 2002, 47-70; R. M. Green, Fear and Trembling: A Jewish Appreciation, in: KSYB 2002, 137-149; U. Knappe, Kant’s and Kierkegaard’s Conception of Ethics, in: KSYB 2002, 188-202; D. Glöckner, Literaturbericht, in: KSYB 2002, 330-352.

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daß Gott „gutmütig“ lächelnd Abraham „auf die Schulter“ klopft, und wir alle „lachen [...] bis zum Umfallen über den herrlichen Spaß Gottes“?10 Oder wenn Woody Allen die gefährliche Gottesautorität dadurch ironisch zurück-nimmt, daß er Abraham auf die kritischen Vorhaltungen Isaaks antworten läßt: „Ich stehe da um zwei Uhr nachts in meinen Unterhosen vor dem Schöpfer des Universums. Sollte ich streiten?“ Und schließlich ist es „der Herr“ selbst, der Abraham vorwirft, keinen „Spaß“ zu verstehen, und damit die aufgeklärte Religionskritik demokratisch fortsetzt: „Und der Herr sprach: ‚Das beweist, daß einige Menschen jedem Befehl folgen, ganz egal, wie kreuzdämlich er ist, solange er von einer wohlklingenden, melodischen Stimme kommt.’“11

Kierkegaard gibt keine theoretische Ableitung der Gottesautorität, auch nicht des Gewißheitsproblems, sondern er wendet solche Gegenfragen zu-rück in das ganz und gar menschliche Ereignis: den Vater-Sohn-Konflikt im Extrem, worin eine dritte Instanz unwiderruflich ausschlaggebend ist. Diese Sympathie für die Opfersituation tragen noch die genannten Satiren und Ironisierungen von Gen 22 weiter, denn nachzuempfinden ist der situations-intensive, emotionale Konflikt in jeder denkbaren Variation der Erzählung. Auch wenn es Johannes de Silentio darauf ankommt, Abrahams Glauben so weit wie irgend möglich vom menschlichen Normalverständnis abzuheben, umgekehrt verläuft immer zugleich die Intention, die innere Spannungslage der Geschichte und ihrer deshalb variierenden Szenen so nahe wie möglich zu bringen. Wenn also der Gottesbefehl zur Opferung des Sohnes nicht ver-allgemeinerungsfähig sein kann, Kants Moralphilosophie also Recht behält, so ändert das doch nichts an der sympathetischen Situation, daß Vater Abra-ham aus Liebe zu seinem Sohn Isaak diesen noch im Todesaugenblick schüt-zen, seinen Gottesglauben bewahren will, indem er das innere Entsetzen am väterlichen Herzen noch einmal vergrößert. Abraham ist nicht nur zum be-fohlenen Opfer entschlossen, er ist darüber hinaus zum Selbstopfer bereit, weil er in den Augen des Sohnes diesen haßt, damit aber von sich selbst ab-lenkt und die Väterlichkeit Gottes bewahren hilft. Es ist die Selbsterfahrung des Sich-Opferns, die hier in engster menschlicher Relation vor Augen kommt, im Extrem noch so verschärft, daß dem Anderen geholfen wird, ohne darüber mit ihm ins Verständnis kommen zu dürfen. Die Abstoßung wird zum unvermeidlichen Rollenspiel, das im Selbstopfer gegen sich selbst durchgehalten werden muß. Kommentierend sagt Johannes de Silentio: Ab-raham ist „groß durch die Liebe, die Haß ist auf sich selbst.“12

10 L. Kolakowski, aus: Der Himmelsschlüssel. Erbauliche Geschichten (1965), zitiert nach: G.

v. Rad, Das Opfer des Abraham, München 1971, 81-85; hier: 84f. 11 W. Allen, Ohne Leit kein Freud (Without Feathers), Reinbek bei Hamburg 1987, 27ff. 12 SKS 4, 113,31f.; FZ, 14. – Damit wird die (religionstheoretisch feststellbare) Sonderstel-

lung der Opferforderung in Gen 22: Gott verlangt ein „unschuldige[s] Opfer“ (N. Luh-mann, Die Religion der Gesellschaft, hg. v. A. Kieserling, Frankfurt am Main 2000, 121) von Kierkegaard auf Abrahams Verhältnis zu sich selbst angewandt.

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„Und hier hast du übrigens einen Widder“ 5

Ist solch eine widersprüchliche, geradezu widersinnige Situation denn ohne Anhalt an menschlicher Erfahrung? Sie ist zwar in einem präskriptiven Sinne nicht verallgemeinerungsfähig: Auf leidenschaftlichen Konfliktsitua-tionen als solchen läßt sich keine Ethik für alle begründen; gleichwohl sind derartige Erfahrungen für alle jederzeit möglich, ihr ethischer Rang – und sei es der der Ausnahmesituation – ist ihnen gerade nicht abzusprechen. Mehr muß hier zunächst gar nicht festgehalten werden als dies: Es gibt eine Allge-meinheit der Ethik (etwa im Sinne der 2. Tafel der 10 Gebote), die Kierke-gaard keineswegs bestreitet, diese Allgemeinheit ist aber nicht ohne Aus-nahme, und diese Ausnahme könnte religiös gesehen gerade das Entschei-dende sein. Ethik und Religion, vernünftige Verallgemeinerungsfähigkeit und religiöser Glaube treten nach und gegen Kant in ein erneuertes und an-ders geartetes Abhängigkeitsverhältnis ein.

2. Geopfert werden: Resignation

Dann ritten sie schweigend ihres Weges, und Abrahams Blick war auf die Erde geheftet [...] Schweigend schichtete er das Brennholz auf, band Isaak, schweigend zog er das Messer; da sah er den Widder, den Gott ausersehen hatte. Den opferte er und zog heim. – – – Von dem Tag an war Abraham alt geworden, er konnte nicht vergessen, daß Gott dies von ihm gefordert hatte.13

Das Verstehen/Nicht-Verstehen Abrahams tritt mit dieser zweiten Szene dem Gottesverhältnis sehr viel näher. Auch hier ist es Abraham selbst, an dem das Opferwerden rückwirkend noch einmal exekutiert wird. Nach dem, was auf dem Opferberg geschah, ist Abrahams Gottes- und Weltverhältnis zerbrochen, es ist, mit einem der Kernbegriffe von Furcht und Zittern gesagt, die „unendliche Resignation“, die den Abraham der zweiten Szene gefangen nimmt. Sein Scheitern bedeutet eine entschiedene Rückwendung allein auf sich selbst, „nach innen gebogen“14 nennt Johannes de Silentio diese erste „Bewegung“. Sie gehört zu jener „Doppel-Bewegung“, mit der der Abraham von Gen 22 erst vollständig beschrieben ist.15 „Leidenschaft“16 im Verhältnis zur eigenen Existenz vorausgesetzt bedeutet Resignation die notwendige Vorstufe des (leidenschaftlichen) Glaubens, der dann zustande kommt, wenn es in einer zweiten „Bewegung“ gelingt, „das Dasein zu ergreifen“.17 Genau das wird am Ende zwischen Abraham und Isaak geschehen, doch beide Be-wegungen sind nicht aus theoretisch gewußten Bedingungen zu deduzieren, sondern unableitbar, von außen wie von innen gesehen unverständlich. Kierkegaard setzt polemisch gegen die Ethik der theoretischen Verallgemei-nerungsfähigkeit die Begriffe des „Paradox“ und des „Absurden“ um anzu-

13 SKS 4, 109; FZ, 10. 14 SKS 4, 138,27; FZ, 44. 15 SKS 4, 131ff.; FZ, 34ff. 16 SKS 4, 137,22ff. (Anm.); FZ, 42 Anm. 17 SKS 4, 40,32-36; FZ, 47.

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zeigen, was sich der Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft entzieht. Das leidenschaftliche Wunder des Glaubens aber ist als solches wiederum allgemein menschlich, „denn das, worin alle Menschen geeint sind, ist in Leidenschaft, und der Glaube ist eine Leidenschaft.“18

Resignation also ist ein Moment jener Doppel-Bewegung, die den religiö-sen Glauben auszeichnet. Er beginnt offenbar dann bewußt zu werden, wenn dieses Element auftritt, wenn die innere Erfahrung sozusagen zurückschreckt vor der äußeren und jene sich dadurch überhaupt erst gewinnt – und damit ist mehr zum Ausdruck gebracht als nur die Beschreibung einer unglückli-chen Individualität. Die religionsgeschichtliche Unterscheidung zwischen magischer Ritualität und mythischer Religion, zwischen blindem Vollzug des Opfers und Distanznahme in der Erinnerung an die begründete Beendigung des Opfers – dieser Schnitt läßt sich religionsphilosophisch bestätigen, wenn in genau dieser Unterscheidung der (europäische) Begriff der Religion fun-diert wird.19 J. Derrida hat mit diesen Überlegungen seine Interpretation von Gen 22 bzw. Furcht und Zittern eingeleitet, daß das alte, unbegriffene „dämo-nische Geheimnis“ von der „Innerlichkeit“ eines „mysterium tremendum“ abgelöst wird. Dessen religiöses Bewußtsein tritt neu als personale „Verant-wortung“ in die Geschichte ein, allerdings so, daß die Opferherkunft, der Gewinn des Lebens über den Tod, immer nachschwingen wird.

Diese Auslegung wirkt gemessen am Bemühen um eine rationale Ethik der Moderne riskant, Derridas Interpretationsansatz ist aber soweit zuzu-stimmen, als es ihm gelingt, die Begriffe der Verantwortung und des Einzel-nen religionsbegrifflich so zu orientieren, daß ihre vorrationale Bindung nicht nur historisch, sondern systematisch relevant erscheint. Was Kierke-gaard als Resignation ausgezeichnet hat, ist der erste notwendige Schritt zur geistigen Distanz und Reflexion, die bei sich selbst in grenzenloser Möglich-keit das wiederentdeckt, was an Realisierungen geopfert werden mußte. Die „unendliche Resignation“ wirft auf sich selbst zurück, und allein schon diese Seite des Geopfertwerdens macht einen Menschen zum Einzelnen, der sich nach außen hin nicht mehr erklären kann. Kierkegaards Problema I („Gibt es eine teleologische Suspension des Ethischen“) gilt folglich der Frage, wie Abraham nach Resignation und Wiedergewinn Isaaks überhaupt zu verste-hen sei, wenn er sich selbst schon dazu nicht verständlich machen kann. Gesucht wird „eine neue Kategorie“, die nicht das Allgemeine zum Darstel-

18 SKS 4, 159,18f.; FZ, 73; zu den Begriffen des „Paradox“ und des „Absurden“ vgl. bereits

durchgängig in der Vorläufigen Expektoration, SKS 4, 123-147; FZ, 23-56. 19 Vgl. die knappe Skizzierung dieser Zusammenhänge in H. Deuser, Zeichenkonzeptionen

der Religion vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, in: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 2 (HSK 13.2), hg. v. R. Pos-ner, Berlin / New York 1998, 1743-1760. – Vgl. zum Folgenden J. Derrida, Den Tod geben, in: Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, hg. v. A. Haverkamp, Frankfurt am Main 1994, 331-445; die religionsgeschichtliche These wird mit J. Pato�ka entwickelt, vgl. ebd., 331-337. Zur genauen Kommentierung des Verhältnisses Derrida – Kierkegaard vgl. Beyrich (Anm. 9), Teil II.

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lungsmittel braucht – denn schon die Sprache verallgemeinert20 –, sondern den Einzelnen. Weil dieses Vorhaben aber widersprüchlich in sich selbst ist (keine Darstellung ohne Verallgemeinerung!) gelangt Kierkegaard konse-quent zu einem Paradox, das in der beschriebenen Unmöglichkeit besteht: sich ohne Vermittlungsbedingungen des (ethisch) Allgemeinen als Einzelner „in ein absolutes Verhältnis zum Absoluten“ zu setzen.21 Dies ist zugleich die gesuchte teleologische Suspension des Ethisch-Allgemeinen: Nicht das Ethische als Verallgemeinerungsforderung selbst wird suspendiert, sondern es wird allein im Blick auf die Sonderstellung in der unbedingten Entscheidungssi-tuation unbenutzbar. Diese Unvertretbarkeit des einzelnen Menschen ist eben die Situation des Opfers bzw. des Sterbens, Derridas Interpretation hängt an dieser Identifikation: „Ebenso wie niemand an meiner Stelle sterben kann, kann niemand eine Entscheidung, das, was man eine Entscheidung nennt, an meiner Stelle treffen.“22 Abrahams Stellung zeigt diese Relation zum religiösen Geheimnis, die selbst auf dem Paradox ihrer Unerklärlichkeit beharren muß. Darin besteht der (erschreckende) Vorrang der Religiosität, die jenseits des Ethisch-Allgemeinen dieses nicht etwa generell aufhebt, aber in seinem Geltungsbereich und Erklärungsanspruch beschränkt.

Für Kants Ethik unterliegen personale, existentielle Bedingungen immer der Universalität der Pflicht (gegenüber dem Allgemeinen) und der Einsicht in diesen Zusammenhang. Ein „irrendes Gewissen“, sagt Kant, ist deshalb ein „Unding“, weil das Gewissen im moralischen Urteil bezüglich des ver-nünftig Allgemeinen besteht und dies im Vollzug selbst auch von sich weiß.23 Abrahams Reaktion auf das Allgemeine aber ist Resignation, und diese macht ihn im Augenblick der Entscheidung zum unvertretbar Einzel-nen – worin sich umgekehrt die Besonderheit des Gottesverhältnisses zeigt.

3. Opferfolge: Reue

[Abraham] ritt des öfteren seinen einsamen Weg, doch er fand keine Ruhe. Er konnte nicht begreifen, daß es eine Sünde war, daß er Gott das Beste hatte opfern wollen, was er besaß, das, wofür er gerne selbst sein Leben viele Male gelassen hätte; und wenn es eine Sünde war, wenn er Isaak nicht derart geliebt hatte, dann

20 SKS 4, 153,24-31; FZ, 64. 21 SKS 4, 155,14f.; FZ, 67. 22 Derrida (Anm. 19), 386. Zum unmittelbaren Kontext gehört der Satz: „In dem Maße, wie

Abraham, indem er das Wesentliche, nämlich das Geheimnis zwischen Gott und ihm, nicht sagt, nicht spricht, nimmt er Verantwortung auf sich, die darin besteht, im Moment der Entscheidung stets in seiner eigenen Einzigartigkeit allein und abgeschnitten zu sein.“

23 I. Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), Einleitung zur Tugendlehre, A 38. (Von diesem „subjektiven“ Urteilen des Gewissens unterscheidet Kant hier das „objektive“, „ob etwas Pflicht sei oder nicht“, darin „kann man wohl bisweilen irren“.)

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konnte er nicht verstehen, daß sie vergeben werden konnte; denn welche Sünde wäre entsetzlicher?24

Die dritte Szene hat ihren Erfahrungskern nach dem Ereignis: Alles ist ge-schehen, wie berichtet wird, aber gerade in der Folge dessen wird das Ge-schehene unbegreiflich und damit belastend. In dieser Annäherung zum Verstehen/Nicht-Verstehen von Abrahams Glaube ist es das Element der Reue, worin sich Abstoßung und Sympathie konzentrieren. Weder Gottes Forderung erscheint begründbar (also hat Abraham falsch gehandelt), noch ist nach der bösen Tat das Wiedergewinnen Isaaks nachvollziehbar. In dieser Weise dem vergangenen Ereignis in seiner Folge ausgeliefert zu sein, darin besteht die Reue. Sie kommt nachträglich, ist aber immer gegenwärtig. Im Problema II: „Gibt es eine absolute Pflicht gegen Gott?“ wird die Reue deshalb auch als Ausdruck des nachträglichen Ausgeliefertseins an das Allgemeine herangezogen. Mit der Reue „kehrt“ der Einzelne „zurück“ zum Ethisch-Allgemeinen, an dem er doch nur scheitern kann.25

Umgekehrt wird dadurch die Sonderstellung des Glaubens wiederum grell beleuchtet: Negativ gesprochen entgeht der Glaube dem Ethischen und der Reue dadurch, daß er ganz und gar in der Gewißheit und Leidenschaft des paradoxen Augenblicks26 – ganz und gar vereinzelt und abgeschnitten ist; positiv liegt der Akzent auf der „inkommensurablen“ Individualität per-sönlicher Verantwortung, sie ist inkommensurabel für den philosophischen Begriff27, d.h. was ein Mensch im Grunde ist, bestimmt sich immer erst se-kundär über rationale Verallgemeinerungen, primär über sein Gottesverhält-nis. Dieses aber ist absolut, hängt unmittelbar mit Tod und Leben zusammen, hat – begrifflich gesehen – Geheimnischarakter und stützt damit die Unver-tretbarkeit des Einzelnen. Daß Abraham Isaak über alles liebt, gerade indem er Gottes Befehl nachkommt, zeigt, wie hier Pflicht und Absolutheit kollidie-ren. Abraham ist kein Mörder wie Kain28, und doch erscheint Abraham in seinem absoluten Gottesverhältnis zugleich pflichtvergessen – darin besteht seine spezifische (paradoxe, glaubende) „Innerlichkeit“29, die „Frechheit des Paradoxons“ (Derrida).30

Wenn Kierkegaard auf dieser Konfliktstrukur besteht, daß Liebe nach au-ßen hin als Haß erscheinen muß, während die Liebe sich notwendig nicht erklären kann, dann ist es auch konsequent, daß Kierkegaard sich von der (ästhetisch [miß-]verstandenen) Unmittelbarkeit des religiösen Glaubens di-

24 SKS 4, 110; FZ, 10f. 25 SKS 4, 169,3f.; FZ, 86 (der Einzelne ist hier in Kierkegaards Modelldiskussion der „Glau-

bensritter“, dem der anders zu bestimmende „tragische Held“ gegenüber gestellt wird). 26 Vgl. SKS 4, 169; FZ, 86f. 27 Vgl. SKS 4, 161; FZ, 75; H. Deuser, Die Kontingenz des Inkommensurablen. Modalität und

Kategorialität, Freiheit und Besorgnis, in: Vernunft, Kontingenz und Gott, hg. v. I. U. Dal-ferth / Ph. Stoellger, Tübingen 2000, 233-254; S. 237.

28 Vgl. SKS 4, 165,29; FZ, 81. 29 SKS 4, 161,19; FZ, 75. 30 Derrida (Anm. 19), 388.

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stanziert. Unmittelbarkeit, Gefühl hat jeder Mensch schon vorweg, das lehrt die Philosophie, indem sie Vermittlungen empfiehlt; gebrochene Unmittel-barkeit aber, die sich im Allgemeinen nicht vermitteln kann, hat so wenig jeder Mensch wie nicht alle Menschen Christen sind.31 Die absolute Pflicht ist also allein Gott gegenüber legitim32, und das Ethisch-Allgemeine behält sein relatives Recht, sonst gäbe es z.B. keine Unterscheidung mehr zwischen der (glaubenden, paradoxen) „absoluten Isolation“ und dem Sektierertum.33 Letzteres sucht indirekt den Erfolg, ist eine uneingestandene (religiöse) Rückkehr zum Allgemeinen (dem Beifall der Gleichgesinnten) und steht dazu – ganz anders als die Reue – nicht einmal in einem innerlich gebroche-nen Verhältnis.

Ist diese Konstellation der personalen Unvertretbarkeit aufgrund eines inneren, absoluten Gottesverhältnisses aber als solche zu denken – und damit wiederum verallgemeinerungsfähig? Kierkegaard selbst versucht dieser Frage dadurch einen Riegel vorzuschieben, daß es Johannes de Silentio ist, der Gen 22 erklärt, indem er immer wieder beteuert, Abrahams Glauben gerade nicht verstehen zu können. Derrida dagegen zeigt in seiner Überein-stimmung mit Kierkegaards Thesen die Tendenz, diese philosophisch hand-habbar zu wiederholen. Die Opfersituation Abrahams erscheint dann als „die alltäglichste und geläufigste Erfahrung der Verantwortung [...] die allge-meinste Sache“.34 Dann allerdings wird die Krise in der Ausnahmesituation Abrahams zum Normalfall, und Derridas Beispiele unterstützen diese Inter-pretation. Richtig ist daran, daß mit der These der Inkommensurabilität Kier-kegaard durchaus etwas Prinzipielles zum Ausdruck bringen wollte, doch wie ist dieses Prinzipielle zu verallgemeinern? Jedenfalls nicht so, daß jede Wahrnehmung von Verantwortung, weil sie andere gleichzeitige Verant-wortlichkeiten negieren muß, damit schon als Opfer auszugeben wäre. Men-schen wären dann ständig und immer „auf diesem Berge Moria“35, die un-umgängliche Verallgemeinerung der Ethik würde sozusagen von der Ausnahme- und Opfersituation her nachgestellt, eine Hyperkonzeption von Philosophie. Bleibt es dagegen mit Kierkegaard beim Nachweis der Inkom-mensurabilität als besonderer Sphäre, dann können Rationalität und Verall-gemeinerungsfähigkeit einerseits von vorrationaler Absolutheit im Gottes-verhältnis andererseits unterschieden werden.36 In diesem Sinne bleibt Kierkegaards Interpretation bescheiden, sie mahnt dazu, in der Hinführung zu Abraham die Reue nicht außer Betracht zu lassen, die schmerzliche Form ethischer Verallgemeinerung.

31 Vgl. SKS 4, 165f.; FZ, 81f. 32 Vgl. SKS 4, 171,29; FZ, 90. 33 SKS 4, 170,20f.; FZ, 88. 34 Derrida (Anm. 19), 394; und im Folgenden 395f. 35 Ebd. 396 (s. u. Anm. 58). 36 J. Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt am Main 2001, 27f., hat mit und gegen Der-

rida auf diese unaufgebbare Unterscheidung hingewiesen.

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4. Opfertat: Folgen des Entsetzlichen

[Indem Abraham] sich abwandte und das Messer zog, da sah Isaak, daß Abrahams Linke sich in Verzweiflung ballte, daß ein Schaudern durch seinen Körper ging – doch Abraham zog das Messer. Dann kehrten sie wieder heim, und Sara eilte ih-nen entgegen, aber Isaak hatte den Glauben verloren. Niemals ist in der Welt ein Wort darüber gesprochen worden, und Isaak erzählte niemals einem Menschen von dem, was er gesehen hatte, und Abraham ahnte nicht, daß einer es gesehen hatte.37

Auch in dieser Szene geht es um eine Folge des Ereignisses, diesmal aus der Perspektive des abhängigen Partners: Isaak ist aktiv im Beobachten der Ver-zweiflung, die mit Abraham vor sich geht, und er ist passiv in der innerli-chen Reaktion auf das Entsetzliche, das er gesehen hat. Auch damit wird eine Annäherung zum Glauben Abrahams versucht, die eine Warnung aufstellt: Das Resultat in Gen 22,16f. („Weil du das getan hast und deinen einzigen Sohn mir nicht vorenthalten hast, will ich dir Segen schenken in Fülle [...].“) ist nicht garantiert, nicht der Normalfall. Es kann geschehen wie in der Szene beschrieben, daß es zu einem Mißverhältnis und einseitig-dramatischen Mißverständnis kommt, das mit dem Gottesverhältnis verwechselbar er-scheint, sich aber doch um Welten von der Doppel-Bewegung in Resignation und Glaube38 unterscheidet: Das Dämonische – die Ausnahmeexistenz einer inneren Verschlossenheit, die sich vom Ethisch-Allgemeinen ebenfalls para-dox abhebt, vom Allgemeinen her gesehen unbegreiflich erscheinen muß, sich aber in keiner zweiten Bewegung in die Wirklichkeit, Offenheit und Freiheit eines neuen Lebensverhältnisses zurück gewinnen kann.39 Das Festhalten eines (schrecklichen) Geheimnisses allein ist also noch nicht der Ausweis des paradoxen Glaubens, Kierkegaard diskutiert die dazu fälligen Unterschei-dungen in Problema III unter der Frage: „War es ethisch verantwortlich von Abraham, daß er sein Vorhaben vor Sara, vor Elieser, vor Isaak verschwiegen hat?“ Die Antwort ist weder Ja noch Nein, sondern komplex: Nach dem Maßstab des Ethisch-Allgemeinen hat Abraham nicht verantwortlich gehan-delt, denn er hat sich weder verantwortet noch in der Kommunikation mit den Betroffenen geantwortet. Seine Antwort an Isaak in Gen 22,8 („Gott wird sich das Opferlamm aussuchen, mein Sohn.“) ist keine Antwort, denn sie sagt eigentlich nichts; genauer: sie bezeugt die Haltung der wissenden Un-wissenheit, die Kierkegaard mit Sokrates zu Recht als Ironie ausgezeichnet

37 SKS 4, 111; FZ, 11. 38 SKS 4, 203,1-4; FZ, 131. 39 Vgl. die Analogie und Differenz von „dämonischem Paradox“ und „göttlichem“ in SKS 4,

194,25f.; FZ, 120; entsprechend SKS 4, 186f.; FZ, 110. – Die Kategorie des Dämonischen wird an mehreren literarischen Beispielen durchgeführt, das bekannteste ist Kierkegaards Interpretation des Märchenmotivs von „Agnete und dem Wassermann“, SKS 4, 183ff.; FZ, 106ff.; zu Kierkegaards Textvorlagen vgl. SKS K4, 149f.; zur ausführlicheren Interpre-tation vgl. Nientied (Anm. 9), 318ff.

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hat.40 Abraham ist unwissend im Bezug auf die bloß negative Resignation, die Möglichkeiten der Reue und des Dämonischen, er ist wissend im Bezug auf den Glauben, die Rückgewinnung der Wirklichkeit – und genau dies ist nicht kommunikationsfähig.

Das zu wahrende Geheimnis darf deshalb nicht ästhetisch bestimmt wer-den, weil damit (entsprechend Kierkegaards Auffassung des Romantisch-Ästhetischen) die Wirklichkeit der existentiellen Entscheidung und Verant-wortung gerade nicht erreicht würde; das Geheimnis kann aber aus den ge-nannten Gründen auch nicht ethisch-allgemein bestimmt werden – folglich bedarf es einer neuen, „späteren“ Unmittelbarkeit (gemessen an der ästheti-schen oder „ersten“).41 Diese liegt als Gottesverhältnis in der Doppel-Bewegung der Leidenschaft; in einem Geheimnis, das Schweigen verlangt, weil Widersprüchliches keiner Verallgemeinerung zugänglich ist.

Ist Gott heute keine kulturelle Selbstverständlichkeit mehr, was für Kier-kegaard trotz und wegen aller Zeitkritik durchaus noch der Fall war, so muß in diesem Punkt des absoluten und entscheidenden Geheimnisses die Fun-dierung des Gotteszugangs sozusagen mit verankert werden. Derridas Inter-pretation von Furcht und Zittern ist dafür typisch, und die bereits angespro-chene Problematik einer nach-kierkegaardianischen Verallgemeinerung des erreichten (paradoxen) philosophischen Befundes hängt nun ganz und gar vom Gelingen dieses Projektes ab. „Absolute Pflicht“ wird auf den „absolu-ten Anderen“ bezogen, und die beiden Konzeptionen erklären sich gegensei-tig.42 Diese Wechselseitigkeit liegt bei Kierkegaard allerdings so nicht vor; wenn er verallgemeinert, sichert er Unterscheidungen, z.B. die zwischen dem Ästhetischen, Ethischen und Religiösen. Andererseits eröffnet Kierkegaard indirekt eine Gotteserklärung, die über die absolute Andersheit der Aus-nahmesituation, wie sie sich in Abrahams Doppel-Bewegung spiegelt, nahe-gelegt wird. Diese Gotteserklärung hält sich aber in den dogmatischen Kate-gorien von Sünde und Glaube, sofern in Abrahams Glaubensparadox auch die schwierige Nähe und Ferne des christologischen Paradoxes bereits vor-scheint. Die Gleichzeitigkeit des Christus muß wie der Glaube Abrahams an „die Angst, die Not, das Paradox“43 gebunden werden; und es ist diese Sper-re, die doch einen Zugang zum religiösen Glauben nahelegen will. Nicht daß Kierkegaards Text ihn vollständig erklären, anpreisen oder gar vermitteln könnte, es scheint hier alles immer ausgesprochen schwer zu fallen; doch darin liegt umgekehrt wiederum die eigentliche Stärke und Erfahrungsnähe desselben Textes, wenn die extremen Kollisionen von Gen 22 nicht kaschiert, sondern gezielt exponiert werden. 40 SKS 4, 206f.; FZ, 136; vgl. die Aufnahme bei Derrida (Anm. 19), 403f. 41 SKS 4, 172,20ff.; FZ, 91f. 42 Derrida (Anm. 19), 399; vgl. S. 394ff. u. S. 404f.: „Wenn Gott der ganz andere ist, die Figur

oder der Name des ganz anderen, so ist jeder andere ganz anders/ ist jeder andere jeder ande-re“. – Zu Derridas Formel „tout autre est tout autre“ und seinem Rückgriff in dieser Sa-che auf E. Levinas vgl. die Darstellung bei Beyrich (Anm. 9), 165ff.

43 SKS 4, 158,30; FZ, 72.