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Leseprobe aus: Bergmann, Die Kunst der Elternliebe, ISBN 978-3-407-22922-9 © 2011 Beltz Verlag, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-407-22922-9

Leseprobe aus:Bergmann,Die Kunst der Elternliebe, … · Eltern undKind. WirElternmüssennur eineslernen–wir müssenuns vorbehaltlos darauf einlassen, unddas ist ganz einfachund

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Leseprobe aus: Bergmann, Die Kunst der Elternliebe, ISBN 978-3-407-22922-9© 2011 Beltz Verlag, Weinheim Basel

http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-407-22922-9

Eltern und Kind. Wir Eltern müssen nur eines lernen – wirmüssen uns vorbehaltlos darauf einlassen, und das ist ganzeinfach und gleichzeitig ganz schwer. So, wie alles mit Kin-dern. Ein heiterer Widerspruch: Ihn immer wieder zu beste-hen ist unser aller dringlichste Aufgabe.

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VON DERLIEBE,

DIE ALLESVERBINDET

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Die Kinderliebegleicht alles aus

Nein, keine Sorge, hier geht es nicht um den Bericht ei-nes frisch gebackenen Vaters, der heldenhaft von der

Geburt »seines« Kindes berichtet. Ich will nur von einemeinzigen Moment bei der Geburt meiner Tochter sprechen,von einem einzigen Augenblick. Davon, wie sie soeben müh-sam auf die Welt gekrochen, beziehungsweise gepresst wor-den war und zum ersten Mal die Augen aufschlug. Nun ja,aufschlagen ist nicht ganz der richtige Ausdruck. Eher wares so, dass sie zwischen verklebten Augenlidern hervorblin-zelte, dann aber riss sie die Augen plötzlich weit auf undschaute. Schaute mich an: der Blick noch verwirrt und wild,noch ganz befangen von seinen vernunftlosen Ursprün-gen. Ein abwesender und zugleich unendlich eindringlicherBlick, ich habe ihn seither nicht vergessen. In diesem Mo-ment nämlich schwor ich mir – und habe diesen heimlichenSchwur bis heute gehalten –, dass ich, wann immer ich inden kommenden Jahren einen kleinlichen Ärger (oder eineübermäßige Sorge wegen schlechter Schulnoten oder sonstwas) verspüren sollte, dass ich mich dann an diesen Augen-blick erinnern würde. Dass ich mich daran erinnern würde,dass dieses Kind zuallererst nicht mir oder meiner Frau zu-gehört, nicht unseren Absichten oder Plänen, nicht unsererEthik oder unseren Moralvorstellungen, sondern ganz alleinsich selber und dem Weltgeheimnis, aus dem es hervorge-gangen ist.

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7 Jahre später

Wir saßen in friedlich stiller Runde um den Abendtisch, daschaute meine siebenjährige Tochter versonnen von meinerFrau zu mir und wieder zurück, seufzte leise und erklär-te: »Mann, hab ich ein Glück, dass ihr beide euch getroffenhabt.«

Recht hat sie. Was der kleine Verstand da so gelassen be-griffen hatte, ist ja zum einen nur eine simple biologischeTatsache. Aber gleichzeitig ist es ein überwältigendes exis-tenzielles Faktum: Ohne meine Frau und ohne mich würdees dieses Kind nicht geben. Sein verschmitztes Lachen nicht,seine verwegene Cleverness, nicht sein oft herzergreifendesMitleid mit allem und jedem und tausend Dinge mehr – alleswäre einfach nicht existent.

Hundert und mehr Bücher kommen jährlich auf denMarkt, die von den Problemen der Eltern und Kinder han-deln, einige davon sind sehr nützlich und vernünftig. Aberkaum eines handelt von der Macht und Bedeutung, die Va-ter und Mutter für das Leben eines Kindes haben. (Und dasKind für das Glück oder Leid der Eltern.) Dies bezeichnet– wie die Elternliebe insgesamt – eine physische und meta-physische Ebene in unserem Leben.

Davon handelt dieses Buch.Nichts in meinem abwechslungsreichen Leben hat mich

so sehr mit (bescheidenem) Stolz erfüllt wie die Existenzmeiner Kinder. Nichts lässt mich so tief versöhnt mit mirselber sein, als wenn ich spät abends das Zimmer meinerschlafenden Tochter betrete und für Momente ganz stillverweile und einfach nur schaue. Oder wenn ich bemerke,dass sie, nachdem sie in einem schlechten Traum aufwein-te, doch wieder ganz geborgen und ruhig wird, wenn ichmeinen besorgt-kummervollen Kopf durch die Tür schiebeund anschließend ihr Zimmer betreten habe. »Sei still, mein

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Kind« – meine Worte trösten, sie beschwichtigen die Angst.Warum? Weil es die Worte, die Stimme, die Präsenz desVaters ist. Müttern gelingt dies alles übrigens noch besser.Auch davon soll in diesem Buch die Rede sein. Von der Ein-zigartigkeit dieser Mutter für dieses Kind und dieses Vatersfür dieses besondere Kind, die eine der tiefsten Arten desGlücks verspricht und, damit unmittelbar verbunden, vonelterlicher Kompetenz und Kraft.

Freilich, kompetent zu sein bedeutet immer, Verantwor-tung zu haben, daran führt kein Weg vorbei. Für keinenMenschen empfinde ich so viel Verantwortung wie für mei-ne Kinder, und Millionen von Müttern und Vätern geht esgenauso. Was für eine Macht des Humanen das ist! Ich wer-de ihr nicht wirklich gerecht, vielleicht nicht einen einzigenTag lang. Aber darauf kommt es nicht an. Die Kinderliebegleicht alles aus.

Ohne diese Besonderheit gäbe es keine Individualität inder Entwicklung der Kinder, ohne diese Liebeskraft gäbees kein Vertrauen und kein Mitgefühl – die moderne Bin-dungsforschung zeigt anschaulich, wie gestörte Elternliebeein kindliches Leben und damit alle seelische Kraft zerstörenkann; ohne sie gäbe es aber auch keine Gemeinschaftlichkeitunter Menschen, keinen gesellschaftlichen Zusammenhalt,keine Kultur. Dieses Einzelne, dieses ganz Besondere zwi-schen Eltern und Kind – es ist die Bedingung des indivi-duellen und sozialen Lebens. Jede Mutter und jeder Vaterhat ihren/seinen Anteil daran. Das Leben weitergeben unddadurch mit einer besonderen Intensität erleben, das ist dieBotschaft. Sie ist einfach.

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Angst gehört zur Elternliebe

Nun lebe ich schon seit sieben Jahren in kleineren undgrößeren Ängsten. Mal sind sie moderat, dann wieder

– geradezu anfallartig – heftig. Mein Trost besteht darin,dass sie ganz allmählich nachlassen…

Die Angst setzte ein, als unsere Tochter geboren wurde.Und zwar genau an diesem Tag, ach, was sage ich, pünktlichzu dieser Minute. Dabei war ich in den neun vorausgehen-den Monaten – seit meine Frau mir mitgeteilt hatte, dass wir,ungeplant, noch ein Kind erwarteten – alles in allem zuver-sichtlich und guter Dinge gewesen! Wieso auch nicht!?

Das Kind wuchs stetig – und auf eine für mich ganz un-vorstellbare Weise – im Körper seiner Mutter heran, seinWachsen wurde regelmäßig von einem Frauenarzt kont-rolliert. Die modernen bildgebenden Apparate zeichnetenhöchst eigenartig zerlaufende Flächen und Umrisse auf ir-gendwelche Folien, von denen meine Frau mir zu erläuternversuchte, wo – mitten in dem schwarz-grau zerfranstenDurcheinander – »unser Kind« zu erkennen sei.

Dies alles war durchaus geheimnisvoll, wie das reifendeLeben im Körper einer Frau für einen Mann nun einmal ist.Aber Sorgen machte ich mir eigentlich nicht.

Gewiss, vor jedem Kontrolltermin baute sich auch in mireine gewisse Spannung auf. Eine leise Ängstlichkeit, ob alles»in Ordnung« sei – aber mit geradezu infantiler Zuversichtging ich dann doch davon aus. Wird schon werden!

Meine Frau war gesund, erblühte seit Wochen in strah-

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lender Schönheit, zwischendurch hatte es auch schwierige-re Phasen gegeben (was sie, wie die meisten Frauen, tapferzu verbergen versuchte). Aber letztlich waren diese ganzenbiologischen Vorgänge für mich so wenig nachvollziehbar,dass ich nicht einmal mit meinen Ängsten ernsthaft darinverwickelt war.

Die kamen erst später, dann aber mit Macht!Denn kaum war es »da«, kaum hatte es sich in die Welt

gezwängt, dieses geheimnisvolle und von der ersten Sekun-de seines »Da-Seins« geliebte Wesen – da setzte prompt auchmeine Ängstlichkeit ein.

Noch heute stehe ich völlig verständnislos vor der Tat-sache, dass so viele junge Eltern ihre Kinder Risiken aus-setzen, bei denen mir – dem eigentlich unbeteiligt Zuschau-enden – der Atem stockt. Immer noch und immer wiederfrage ich mich, warum junge Mütter ihr 2½- oder 3-jährigesKind, auf unbeständigen wackeligen Beinen, auf dem Spiel-platz eine steile Kletterwand hochkrabbeln lassen, warumsie nicht aufschreien (nicht einmal aufstehen), wenn sich diekleinen Füße in dem Netzwerk von Seilen verfangen, war-um ihnen nicht der Schreck bis ins Innerste ihrer Gliederfährt, wenn ein Kind ausrutscht und vom Dach der Holz-hütte heruntergleitet und schließlich auf dem Boden landet,wo es erbärmlich brüllt. Bin ich zu ängstlich? Vielleicht!Vielleicht! Aber oft denke ich, dass diese moderne Kulturdes Wagemuts, der Selbstständigkeit und des Risikos vonvielen Eltern viel zu sehr verinnerlicht worden ist. Dass esdann nicht mehr um die Selbstständigkeit der Kinder geht,sondern sie sich im Moment der Gefahr im Stich gelassenfühlen, so stolz sie hinterher auch auf ihre Tapferkeit (»Ichhabe überhaupt nicht geweint!«) sein mögen.

Ich komme im nächsten Abschnitt dieses Buches nocheinmal darauf zurück.

Hier will ich erst einmal nur von mir berichten, von den

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ersten Tagen und Wochen, in denen ich mich an das neueWesen in unserer Wohnung gewöhnte, in denen ich zu be-greifen begann, dass mit dieser kindlichen Existenz nocheinmal eine neue Lebensspanne begann, mit ganz neuenAnforderungen, Sorgen, Planungen und Selbstbildern. Undeben Ängsten!

Nachts zum Beispiel!Schlafen bedeutet Trennung, sagt die Entwicklungspsy-

chologie. Sie meint damit den Seelenzustand des Kindes,vor allem des Kleinkindes. Wenn es sich in sein Bettchenkuschelt und schon fast in den Schlaf hinübersinkt, dannfallen ihm hundert Tricks ein, um sich wachzuhalten. Eswill partout nicht einschlafen! Einer der Gründe dafür: Die-ses Einschlafen bedeutet, dass unser Kleines hinüberwech-selt in einen Bereich der inneren Bilder, des inneren Selbst,und sich dabei von Papa und Mama, von Teddybär und denaufregenden Geheimnissen der elterlichen Wohnung ver-abschiedet. Das will ein Kind nicht. Deswegen strampeltes, zappelt und murrt, gerade in dem Moment, in dem derSchlaf es einzuholen beginnt.

Das Kind mag die Trennung nicht (uns, den etwas Grö-ßeren, geht es nicht anders). Es mag keinen Abschied, auchkeinen sanften und vorübergehenden. Es will eben immer»da sein«.

Ich glaube, dass noch eine weitere Ahnung in dem Kindaufschimmert. Jeder Abschied bedeutet Ungewissheit. Selbstdieser sanfte, dieser Abschied des Schlafes. Wer weiß schon,in welche inneren Räume ein Kind rückt, wer weiß schon,wie die Beschaffenheit der Träume ist? Wer weiß schon, wo-hin der Traum es entführt, und wer gibt ihm die Zuversicht,dass es zurückkehrt? Aus demselben bestürzenden Nichts,aus dem es entsprungen ist, entspringt auch seine Ängstlich-keit. Es sind nicht nur der aufregende, spannende Charakterder Welt und die liebevolle Bindung an Papa und Mama,

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weshalb ein Kind sich gegen das Einschlafen wehrt. Es ist,denke ich, auch die Abwehr dagegen, zurückzukehren ineine Abwesenheit (und sei es nur eine seelische, geistige),die an das Nicht-da-Sein erinnert, aus dem es hervorgegan-gen ist.

Was das Kind empfindet, das fühlen auch die Eltern. Ichkann nur von mir sprechen. Denn auch mich ereilte Abendfür Abend und Nacht für Nacht eine tiefsitzende Angst.Nein, Angst ist nicht der richtige Ausdruck, eher war es einediffuse Ängstlichkeit, eine Unruhe, die ich mir gar nichtrecht erklären konnte.

Jedenfalls tappte ich, in den ersten Wochen alle halbeStunde, still und verstohlen, in das Zimmer, in dem das klei-ne Körbchen mit dem schlafenden Baby stand. Ich beugtemich voll Sorge darüber, nur um mich zu vergewissern, dasses noch atmet, dass der kleine Körper sich im Rhythmus derAtemzüge sanft bewegt, dass es, mit anderen Worten, »daist«. Ja, es atmet, die Augen sind zwar geschlossen, aber diekleinen Lippen pusten und die Bäckchen plustern leicht auf,die stille Reglosigkeit des kindlichen Körpers bedeutet nichtsBöses, nicht Bedrohliches, sondern nur, dass sein Schlaf tiefund sanft ist. Dann atmete ich selber tief durch, zog meinenbesorgten Kopf zurück und tappte auf Zehenspitzen zurück,die Tür ließ ich halb geöffnet.

Für eine halbe Stunde (später war es eine ganze Stunde,noch etwas später waren es auch mal zwei) befand ich michin einer relativ sorglosen Zufriedenheit, es ist ja alles in Ord-nung, dieses Kind ist kerngesund, den ganzen Tag strahltund plappert und blubbert es vor Lebensfreude – was sollschon schief gehen? Es weint selten, schreit kaum einmal,seine Lebenszuversicht scheint tief verankert, wirklich keinAnlass zur Sorge.

Doch in der nächsten Nacht tapste ich schon wieder ver-stohlen zu ihm hin, betrachtete besorgt seine Atemzüge und

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die milde Erschöpfung, von der es sich im Schlaf erholte.In dieser Phase ging ich viel zu spät ins Bett, als könnte ichmich gar nicht von meiner Sorge trennen. Halbe Nächte saßich am Computer und schrieb und schrieb – was zur Folgehatte, dass das Kind meiner publizistischen Produktivität ei-nen ganz unerwarteten Auftrieb gab.

Die Sorge hielt mich wach. Was für eine Sorge ist das?Sicher ist, dass wir Erwachsenen ein starkes Gefühl von

der Verletzlichkeit der kindlichen Existenz haben. Was al-les passieren kann! Wie viel Unglück ihm zustoßen kann,seelischer und körperlicher Art. Und gleichzeitig greift un-sere Sorge der Zukunft dieses Kindes zuvor. Wir möchtenjetzt schon alle Erschwernisse und alles Unglück von ihmabwenden. Bevor sie eingetreten sind! So wird unsere ver-zagte und tapfere Elternexistenz vom ersten Augenblick anmit Ängstlichkeit gefüllt. Sie hört nie wieder ganz auf.

Ich bin bei weitem nicht der Einzige, der Nacht für Nachtin das Schlafzimmer seines Kindes schleicht, um sich – sozu-sagen auf Zehenspitzen – davon zu überzeugen, dass es nochatmet, noch pustet, noch lebt. Nachdem ich einmal den Mutgefasst und einigen Freunden von meinen Seelenzuständenberichtet hatte, bekam ich erstaunliche Rückmeldungen. Ja,ja, nickte der eine oder andere, von dem ich es im Übrigennie erwartet hätte – so ein taffer Typ! –, das sei ihm nichtanders ergangen. Er erinnerte sich dann genau, wie er oft inder Nacht aufschreckte, kerzengerade im Bett saß und sichzum Bettchen des Kindes hinüberbewegte, um die Unver-sehrtheit des kindlichen Lebens im Schlaf zu überprüfen.

Ach, dachte ich, verblüfft und ein klein wenig beglückt,das ist ja alles höchst interessant. Der da, in seinem Berufs-leben einer der coolsten Geschäftsleute, oder jener, dessenRücksichtslosigkeit oder Großschnäuzigkeit einem schonein halbes Leben lang auf die Nerven geht, und jener sovergnügt-unbesorgt wirkende Mensch, sie alle teilen diese

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besorgten Gefühle. Gerade so, als gehörten sie zur Grund-ausstattung des väterlichen Lebens.1

Und so ist es wohl auch. Ich bin tief davon überzeugt,dass das Kind auf irgendeine schwer erklärbare Art undWeise etwas von der väterlichen Sorge und Liebe in sichaufgenommen hat. Sicherlich hat es nicht bewusst wahrge-nommen, wie sich Papas Kopf mit den superängstlichen Au-gen über sein Bettchen schob, wahrscheinlich hat es auchnichts gehört von dem unbeholfenen und zärtlichen Tapsen,mit dem unsereins versucht, seine Schritte im Schlafzim-mer abzudämpfen – natürlich nicht. Trotzdem behaupte ich,dass die väterliche Zuneigung auf irgendeine Weise in dasUnbewusste des Kindes geflossen ist und seinen Lebensmutstärkt.

Mütterliche und väterliche Zuwendung und Sorge wer-den unbewusst aufgenommen. Sie wirken in den verbor-genen Kammern der kindlichen Seele, in denen die Ängsteebenso wie die Begabung zu Liebe und Freiheit reifen.

1 Gleich zu Anfang dieses Buches möchte ich eine Tatsache festhalten und festschreiben,die in der gesamten Erziehungsliteratur vernachlässigt wird: Auch solche Väter, diespäter oft schwere und unverständliche Fehler machen, die oft so unbeeindruckbarund stur an Erziehungsprinzipien festhalten und ihrem Sohn oder ihrer Tochter einVersagen kaum verzeihen können – auch solche Väter haben einmal eine tiefe ängst-liche Sorge um dieses Kind mit sich herumgetragen. In allen leben eine Bereitschaftund, wenn man so mag, ein »Wissen«, das weit über ihr bewusstes Erziehungshandelnhinausreicht. In der psychologischen Elternberatung versuche ich immer, mich mit die-ser »unbewussten Väterlichkeit« zu verbünden. Oft gelingt es. Das ist dann immer einguter Start!

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Räum dein Zimmer auf

Details aus dem Alltag – in ihnen, in den Fugen des All-täglichen, nistet sich die Beziehung zwischen Eltern

und Kind ein und damit auch das, was wir so ungeschickt»Erziehung« nennen. Zum Beispiel diese:

Mütter haben mit geradezu biologischer Regelmäßigkeitdie Eigenart, aufzuräumen. Sie fuchteln mit dem Staubsau-ger, der in tinnitusähnlichen hohen Tönen sirrt, auf dem Flurund dem Boden des Wohnzimmers herum, sie wischen mitLappen, mal trocken, mal feucht, hinter Staubfitzelchen her,die jedem menschlichen Auge (außer ihrem!) verborgen sind,sie erläutern lautstark einem imaginären Publikum (aufräu-menden Müttern hört nie irgendjemand zu!), dass die Fens-ter dringend geputzt werden müssten, obwohl das Tages-licht völlig ungemindert in die Wohnstube hineinflimmert.Kurzum, sie schaffen Ordnung. Und das ist auch gut so.

In einem reinen Männerhaushalt gibt es keine Ordnung,das ist so unwahrscheinlich wie, dass ein blinder Maulwurfjemals seine Wohnung im Sonnenlicht errichtet.

Mama schuftet also, vielleicht summt sie vor sich hin –Putzen macht nicht immer Spaß, aber manchmal eben doch!So eine richtig hübsche Wohnung, ein aufgeräumtes Wohn-zimmer, geputzt bis an die Grenze der nervlichen Belast-barkeit der restlichen Familienmitglieder, ein Wischen undStaubsaugen quer über den Flur, das erzeugt höchst wider-sprüchliche Reaktionen bei Kindern. Vielleicht saß der klei-ne Sohn zu Hause, hockte über seinen Hausaufgaben und

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schaute und hörte halb mürrisch, halb grinsend den Mühenseiner Mutter zu. Wie immer sein kindliches Urteil ausfiel,eine schön aufgeräumte und hübsche Wohnung findet erauch ziemlich gut.

Nun reicht es doch, wenn Mama ganz kurz einmal, mög-lichst mit ihm gemeinsam, in seinem Zimmer vorbeiguckt,freundlich und nachsichtig auf das Chaos schaut – die Un-terhosen, in denn sich die Socken verwirrt haben, vier bisfünf Hosen, von denen kein Mensch mehr weiß, welchesauber sind und welche dringend die Waschmaschine be-nötigen, ein paar Essensreste dazwischengestreut, hier undda ein Schulheft, das einige Tage vorher verzweifelt gesuchtworden war. Mama also schaut versonnen auf das Chaosund hält jetzt eben keine mahnende Rede über den Nutzenvon Ordnung, redet überhaupt nicht viel, sondern sagt lä-chelnd: »Na ja, schön, dass unsere Wohnung noch mehr alsnur dieses eine Zimmer hat«, und verlässt schweigend denRaum. Wollen wir wetten, dass in dem Kleinen, egal, ob 8oder 14 Jahre alt, ein ganz heimlicher Wunsch nach Ord-nung und Sauberkeit wächst?

Jede Gardinenpredigt lässt den Wunsch natürlich innichts zusammenfallen, das versteht sich ja von selbst. El-tern brauchen Geduld. Sie müssen warten, bis der Sohn sichdarüber beklagt, dass sein Zimmer »grauenhaft« aussieht –Söhne, manchmal auch Töchter, tun dies bekanntlich in ei-nem Tonfall, der absolut keinen Zweifel daran duldet, dassdie gesamte Familie und die Mutter zuerst an dem Chaos inseinem Zimmer schuld seien. Er selber betrachtet diese Ent-wicklung mit höchstem Missfallen.

Dies ist der Augenblick, in dem man sich, ruhig ein we-nig zögernd, ruhig mit dem Hinweis: »Das ist eigentlichdein Zimmer und geht mich nichts an«, zaudernd dazu he-rablässt, der Unordnung zuleibe zu rücken. Natürlich folgtman dabei weder der Gewohnheit, energisch alles allein zu

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machen, noch folgt man dem Rat so vieler Ratgeber, denJungen dazu zu zwingen, gefälligst sein Zimmer allein auf-zuräumen – beides ist falsch.

Richtig ist es so: Sie nehmen zwei Kartons oder andereBehälter, beginnen mit einem der beiden mit dem Aufräu-men und zeigen dem Knaben – aber ganz konkret, haarge-nau – welchen Strumpf er wohin und welche Unterhose erin welchen Behälter packt, setzen im Übrigen Ihre Aufräum-aktion wie selbstverständlich fort und – jede Wette! – derKleine fängt anfangs zögernd, dann mit immer mehr Eiferan, mitzumachen. Teils, weil er sich blöd vorkommt, Mamaallein schuften zu lassen – bei aller Trägheit, das ist ja nunauch wieder peinlich! –, teils weil er angesichts ihrer ver-gnügten Laune das Gefühl bekommt, dass Aufräumen mög-licherweise eine ganz putzige Angelegenheit sein kann –putzig im Doppelsinn des Wortes, versteht sich. Hinterherist er so stolz, dass man vermuten könnte, er habe nicht nursein eigenes Zimmer, sondern die ganze Wohnung gesäubertund geordnet. Diesen kleinen Stolz soll man ihm lassen.

Der entscheidende Punkt ist wie bei fast allen dieser un-endlichen Fragen rund um Ordnung und Regeln dieser: Esgeht darum, einerseits einen eigenen elterlichen Lebensstilmit großer Selbstverständlichkeit, ohne Vorwurf durchzu-setzen, und gleichzeitig darum, einen Gemeinsamkeitspunktzu finden. Solch eine Übereinstimmung von Bedürfnis undInteresse findet sich zwischen Eltern und Kind fast immer.In diesem Fall lag er darin, dass die von Mama hergestell-te Ordnung dem Jungen irgendwie doch verführerisch er-schien. Das ist überhaupt kein Wunder, alle kleinen undgrößeren Jungen lieben Ordnung, solange sie sie nicht selberherstellen müssen. Dabei muss man ein bisschen vorbildlichschubsen, so, wie oben beschrieben!

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Wir sind beide doof

Mitunter wundert man sich. Erfahrungen mit Kindern –erst recht mit »schwierigen« – verlaufen oft ganz an-

ders als man sich vorgestellt hatte oder als alle pädagogischeTheorie geweissagt hätte. Ich spiele mit einem meiner ver-gnügten Kinder, mit einem »ungezogenen«, also herrischen,anmaßenden, manchmal aggressiven 12-jährigen Jungen.Der Junge ist empfindlich, das ist bekannt. Seine Mitschü-ler wissen es besonders genau, denn wenn man ihn kränkt,dann kann er manchmal abrupt um sich schlagen, sogar ge-zielt zuschlagen. Er hat sich schon viel Ärger damit einge-handelt.

Bei mir ist es nun aber so: Wenn ich spiele, dann spieleich, dann bin ich auch richtig drin im Spiel, dann vergesseich alle pädagogisch-therapeutische Behutsamkeit (nun ja,wir wollen nicht übertreiben: Meist vergesse ich sie nicht,nur manchmal, zum Beispiel dieses Mal). Nach einem völ-lig »vergurkten« Spielzug von ihm sage ich also, aus der In-brunst des Spieles heraus: »Mann, bist du doof.« Sollte nichtpassieren, passiert aber.

Ich bemerke meinen kleinen Fehler, ich spüre geradezu,dass er jetzt dazu neigt, sich gekränkt oder sonst wie »be-schädigt« zu fühlen, ich reagiere aber nicht hastig, das wäreein schwerer Fehler gewesen, sondern schaue ganz ruhigund ziemlich lange (mindestens für seine hyperaktiven Ver-hältnisse sehr lange) aus dem Fenster und sage dann: »Oderich bin doof, das kann auch sein.«

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Er verfällt in tiefes Nachdenken, allen Ernstes grübelt erjetzt, wer sich nun besonders blöd angestellt hat, er oderich? Und dann schauen wir uns an und mir fällt die Lösungder gar nicht leicht zu beantwortenden Frage ein, ich sagealso: »Weißt du was, ich glaube, wir sind beide doof.« Undnun wirkte er nicht nur irgendwie beschwichtigt, sondernein breites, grinsendes Strahlen ging über sein Gesicht. Ihmwar richtig anzusehen, wie sehr ihm dieser Gedanke gefiel –der Herr Bergmann und ich, wir sind beide doof, was jaauch hieß, dass wir in gewisser Weise, zumindest in diesemPunkt, »gleich« sind.

Aber warum gefiel ihm der Gedanke? Ganz offensichtlichweit darüber hinaus, dass eine kleine »Kränkung« dadurchrelativiert oder wieder aufgehoben wurde. Darum ging esgar nicht mehr! Es ging vielmehr darum, dass ihm bei denWorten »Wir sind wahrscheinlich beide doof« ein Gefühldurcheilte, das wiederum zwei Grundlagen hatte. Die erstewar der offenbar im Verlauf der vorhergehenden Therapie-stunden hergestellte Respekt vor dem Erwachsenen, sogarein ziemlich tief sitzender Respekt. Und der zweite Schrittwar, dass er mit meiner flapsigen Bemerkung auf dieselbeEbene gehoben wurde wie dieser respektierte Mensch. Nunstellte sich die Frage »Wer ist denn jetzt eigentlich der Doofevon uns beiden?« in einem ganz anderen Licht. Möglicher-weise war ja nicht er, sondern ich derjenige, der sich blödangestellt hat. Möglicherweise war er es selber. Der Respektvor dem Erwachsenen und die Freude, vielleicht ein Stücküber ihn hinausgewachsen zu sein, war so prägend, dass ersogar die Kränkung, die in dem Satz »Du bist doof« steckte,zu verarbeiten begann. Auf der Grundlage eines verinner-lichten Respekts war es ihm möglich, die Situation und da-mit seine empfindlichen Gefühle offenzuhalten. »Vielleichtist aber auch der Herr Bergmann doof« führte also – entge-gen allen Vermutungen der Gehorsamspädagogik – keines-

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wegs dazu, dass er den Respekt verlor, sondern im Gegen-teil, dass er ihn vertiefte. Denn für sein freudiges Gefühlbenötigte er diesen Respekt, damit die Aussage »Vielleichtbin ich schlauer« irgendeine seelische Bedeutung, eine tie-fere Bedeutung für ihn annehmen konnte. Dazu bedurftees dieses Respekts. Jetzt wollte er ihn noch weniger wiederaufgeben als zuvor.

Der 12-jährige Knabe hatte vieles gelernt in dieser kleinen,unauffälligen Situation. Zum einen, dass man ruhig Respekthaben darf und dass dieser Respekt zur Freude verführt undkeineswegs immer nur zu Gefühlen von Demütigung. Dazumuss man allerdings eine längere gemeinsame Geschichteder Ermutigung, des Vertrauens, des Austausches von be-stätigenden Blicken hinter sich gebracht haben. Und er hat-te, vielleicht noch wichtiger, ebenfalls gelernt, dass Kritik,sogar entwertende Kritik, überhaupt nichts Böses sein muss.Kritik muss einen nicht einschüchtern, man muss sich nichtkleingemacht fühlen, man muss also nicht um sich schlagen.Man kann einfach cool und gelassen feststellen, so wie iches ihm vorgemacht hatte: »Vielleicht bin ich doof.« Alleindieser Satz, diese kleine, mitschwingende Selbstkritik ohneVorbehalt, hat höchstwahrscheinlich seinen Respekt nochein kleines Stückchen weiter nach oben verschoben. Unddann kam ein dritter Satz, nicht planvoll, sondern intuitivaus der Situation heraus gesprochen: »Wir zwei beide ...«Dieses Grundgefühl, wir zwei beide, erlöste das Kind vonder Einsamkeit, die es sonst so oft durchlebte und die seineKränkbarkeit überhaupt erst ausmachte. Für einige Minutenwar der Junge aus dieser seelischen Isolation herausgerissen,indem er – respektvoll eben! – auf einen Erwachsenen schau-te, mit vielen wirbelnden Gefühlen im Kopf, und gleich-zeitig dachte: »Au ja, wir zwei beide: was für ein schönesGefühl.« Ich respektiere einen Erwachsenen – das ist eben

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etwas ganz anderes für einen 12-Jährigen als »Ich gehorcheihm« oder, noch ärger, »Ich verhalte mich diszipliniert, starrnach Regeln, vielleicht droht mir sonst Strafe«. Es liegt jaauf der Hand, dass solche Gefühle das schwierige und ver-letzte Selbstgefühl dieses Jungen nicht linderten, sondernintensivierten. Es liegt auch auf der Hand, dass der Jungeauf diese Weise niemals einen tief empfundenen Respektzu mir oder einem anderen Erwachsenen erwerben würde,sondern immer nur Abwehr, mal versteckt und ängstlich,mal offen und zornig. Es liegt auf der Hand, dass man Res-pekt erwirbt dadurch, dass man dem Gegenüber, dem Kind,dem Jugendlichen, das Gefühl gibt: »Wir beide, wir sindeinander ziemlich ähnlich.« Zugleich freilich muss man ei-nen vorausgehenden Respekt bei ihm erworben haben, eineGrundlage dafür, dass dieses »wir beide« ein wohliges undnicht ein abstoßendes Gefühl ist.

Es gibt ja immer alles im Leben, mitunter kommt man ausdem Staunen nicht heraus. Eben geht ein Vater mit seinemetwa 12-jährigen Sohn an mir vorbei, und der Kleine, nichteinmal zornig, sondern ganz gelassen, sagt zu seinem Va-ter: »Du Trottel.« Das Gesicht des Vaters blieb ganz unbe-wegt, offensichtlich war er solche Anrede gewohnt. Nun ja,ich brauche keine Gehorsamspädagogik und kein »Lob derDisziplin«, um festzustellen, dass Vätern, die sich von ihrenSöhnen »Trottel« nennen lassen, nicht zu helfen ist. Sie ha-ben den Respekt, den das Kind ihnen mit Sicherheit viel lie-ber entgegenbringen würde, auch tatsächlich nicht verdient.

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